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Grenzgänger

 

Roman von Stefan T. Pinternagel:

 

»Auftakt zu der genialen Trilogie

- mit 'Zombie' Graham!«

 

 

»Und so lang du dies nicht hast,

dieses Stirb und Werde,

bist du nur ein trüber Gast

auf der dunklen Erde.«

            (Goethe)

›Werbeslogan der McTribes-Sombi-Company‹

 

*

 

Grahams Schritte wurden schneller. Sie waren hinter ihm her, noch war der Abstand groß genug, das Gefühl panischer Angst ebenso weit entfernt wie ihr fauliger Atem; aber er wusste, sie würden ihn einholen - früher oder später.

Neongrelle Schriftzüge zerschnitten die Leichenfetzen aus Nebel, obszöne Zeichnungen prangten in flirrenden Farben an den Betonmauern. Die Umgebung war nicht gerade die beste Adresse der Stadt. Graham Haloon befand sich in Morbid-City, einem üblen Stadtviertel, das kurz nach der Machtübernahme durch die Amerikanische Liga den Horden der Obdachlosen und Kriminellen anheim gefallen war. Hier wurden krumme Geschäfte abgewickelt.

Minderjährige Prostituierte an jeder Straßenecke, Schüsse aus MSK-Gewehren (MSK = MikroSprengKöpfe), flackernde Feuer in Hinterhöfen, bellende Hunde, neurodimensionale Dealer und unzählige ›Personae non gratae‹, die in ausgeschlachteten Autowracks dahinvegetierten. Wäre Graham nicht schon vor anderthalb Jahren ums Leben gekommen, er hätte sich zu Tode gefürchtet.

Er war ein Zombie der dritten Generation.

Am 28. Dezember 2098, 23:34 Uhr, bei einem Datentransferunfall an Gehirnblutung verstorben, nach einer erfreulich kurzen Lagerungszeit am 29. Dezember 2098, 03:04 Uhr, reanimiert und das darauf folgende Jahr mit neuen Vorsätzen begonnen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Dann hatte er angefangen, Nachforschungen über seinen eigenen Tod anzustellen. Das war zwar nicht außergewöhnlich, aber auch nicht die Regel. Die meisten seiner Artgenossen begnügten sich mit der Sterbeurkunde und dem Befund der Autopsie, machten sich dann daran, das neue ›Leben‹ zu erforschen und die damit erworbenen Gaben zu trainieren, um sich in der freien Wirtschaft anzubiedern.

Er jedoch erfuhr die Details seines Todes: Bei der fehlerhaften Übertragung statistischer Daten in den Biochip seines Gehirns, hatte dieser, kurz vor der Überlastung seiner Kapazitäten, die überschüssigen Informationen abgeleitet. Dabei war es zur Gehirnblutung gekommen - und Graham war gestorben. Ein Fehler, der immer wieder mal auftrat. Die Intensität jener Daten hatte nebenbei auch die motorischen Bahnen des Unterzungennerves getroffen und beschädigt. Graham hatte seit seinem Dahinscheiden Probleme mit dem Sprechen. Er hatte versucht, seine Garantieansprüche auf eine einwandfreie Wiederbelebung geltend zu machen. Erfolglos. Die Gesellschaft hatte sich vertraglich gegen solche Regressansprüche abgesichert.

Graham ging den Weg der Nachforschungen weiter - zu weit, deshalb waren die Bälger der Finsternis hinter ihm her. Inkubus und Sukkubus, wohl auch der eine oder andere Kopfgeldjäger. Die Organisation zog alle Register, damit Graham ihnen nicht entkam.

Seine Entdeckungen waren nicht zu beweisen. Trotzdem konnten es sich die Oberhäupter der McTribes-Sombi-Company nicht leisten, dass das Gift der Wahrheit den Boden ihrer Äcker tränkte.

Graham musste sich beeilen. Er benötigte dringend einen sicheren Ort, an dem er für einige Zeit zur Ruhe kommen, Pläne schmieden und Kontakt zur JenseitsZone herstellen konnte. Möglicherweise gab es dort stichhaltige Beweise, welche die Umtriebe der Firma untermauerten.

In seiner Situation war ein Ausflug in diese Zone gefährlich genug, andererseits hatte er kaum eine andere Wahl, abgesehen davon, dass er seine feststoffliche Hülle aufgab und ein zweites Mal einem gewaltsamen Ende entgegensah. Doch er hatte sich nicht bis zu diesem Punkt vorgewagt, um jetzt alles aufzugeben.

Irgendwie glaubte er zu wissen, dass er kurz vor dem Ziel stand.

Graham kam an einem marode wirkenden Gebäude vorbei und huschte ungesehen durch den türlosen Eingang ins Innere des Hauses. Er hoffte, hier für kurze Zeit Entspannung zu finden.

 

*

 

Phosphoreszierende Gestalten und Gesichter zerfielen im Zeitraffertempo in ihre atomaren Bestandteile. Vater! Mutter! Seine jüngere Schwester lag in einem der Komatanks an Bord eines schweren Raumfrachters, schon waren die Positionslichter der Forschungsstation zu erkennen, da faulte ihr die Haut vom Körper, die Muskeln und Sehnen verschmorten, legten die Knochen für einen Augenblick lang blank, ehe diese in sich zusammenfielen und zu einem Häuflein Staub wurden.

Keime schossen aus dem Himmel, Bäume wuchsen in unglaublicher Geschwindigkeit, höher und höher, den Sternen so nah. Endlich entwurzelten sie sich und schwammen durch ein All aus schwarzen Aschepartikeln.

Im Inneren seines Kopfes hörte er seinen gellenden Schrei. Das letzte akustische Lebenszeichen vor dem Aus. Flatline. Dunkel - Licht. Eine Fusion aus Agonie, Schock und dem euphorischen Gefühl der Schwerelosigkeit. Die Dreifaltigkeit des Sterbens.

Dann Leere, Stille. Schließlich die sterile Umgebung der Z-Kammer.

»Zombiefikation abgeschlossen.«

Worte, so keimfrei wie der Ort der Wiedergeburt. Erster Kontakt mit einer neuen, alten Umwelt. Der gesprochene Klaps auf dem Po.

Erwachen.

 

*

 

Graham drückte sich mit Daumen und Zeigefinger auf die Augenlider. Schwarzweiße Muster erblühten auf seinen Netzhäuten. Er schüttelte seinen Kopf. Der Schlaf hatte nicht die erholsame Wirkung auf seine Psyche gehabt, so, wie er sich das eigentlich vorgestellt hatte.

Die Schatten der Vergangenheit waren zurückgekehrt. Wieder einmal bemerkte er, dass ihm manche Träume realistischer vorkamen als die Wirklichkeit. Er war dem Tod eher behaftet als dem Leben und so verkehrte sich für seinesgleichen das Sprichwort ›Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes‹ in ›Der Schlaf ist der kleine Bruder des Lebens‹.

Er konzentrierte sich auf sein Umfeld, das im Dunkeln lag, versuchte alarmierende Dunstschleier zu riechen und stellte erleichtert fest, dass ihm keine Gefahr in der näheren Umgebung drohte. Sein Geruchssinn war stark ausgeprägt. Er konnte den Schweiß von Männern und Frauen auf weite Entfernungen unterscheiden. Ihren Erregungszustand, ihre letzte Mahlzeit, die Ausdünstungen von Achseln und Scham. Er konnte die Aura der Dämonen riechen, dieses leicht salzige, mit Blutdunst vermischte Parfüm das Bösen. Die unterschiedlichen Tierarten auf diese Art und Weise zu erkennen bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Die Gegenwart seiner Spezies erkannte er an dem unbeschreiblichen Hauch aus Olibanum, Fäulnis, Tod und Wiedergeburt. So ganz anders als bei den Lebenden, die nach Geburt und Mutterwärme rochen.

So lächerlich es sich anhören mochte: Für die feinen Spürnasen der Hunde war das Erschnüffeln eines Zombies mit Urinstinkten verbunden. Sie rochen Aas, das sie liebend gerne gefressen hätten.

Für einen Reanimierten war es wenig ratsam, sich an einem Ort, der für Hunde erreichbar war, schlafen zu legen.

Graham stellte es sich schrecklich vor, zu erwachen und von einem Rudel Hunde zerrissen zu werden.

Selbst die Geister der Toten konnte er riechen, wenn er sich große Mühe gab. Sie umschmiegten ihn in jeder Sekunde seines Daseins; ein stetiges, unaufdringliches Lüftchen der Spiritualität, zu filigran, um ohne Konzentration wahrgenommen zu werden.

Und er war stärker geworden. In den Dimensionen eines Herkules zu rechnen wäre sicherlich stark übertrieben gewesen, doch trotz seiner schwächlichen Statur war es nun für ihn keine besondere Anstrengung mehr, einen schweren Stein zu schleppen oder ein dünnwandiges Rohr abzuknicken.

Auch sein Schmerzempfinden war so gut wie nicht mehr vorhanden. In diesem Punkt jedoch vermochte er nicht zu sagen, ob dies einen Vorteil darstellte.

Doch der Preis dieser Gaben war hoch: Ein beklemmendes Gefühl im Herzen und ein Zuschnüren der Atemwege würde ihn bis hin zum EndTot begleiten. Keine Geschmacksnerven in Mund und Rachen; alles schmeckte nach alten, hart gewordenen und ungewürzten Crackern, gleichgültig ob es sich um eine Zigarette, ein Glas Whiskey, eine Scheibe Roggenbrot oder ein deliziöses Mahl handelte, von dem selbst ein Gourmet geschwärmt hätte. Damit verlor jeder Zombiefizierte sein Interesse an Nahrung und Getränken. Man ernährte sich, damit war alles gesagt. Nicht mehr und eben auch nicht weniger.

Das Verlangen nach Sex war erloschen, die Libido zu einem Klumpen Eis verkümmert. Ebenso wie das Streben nach Macht und Geld. Für die Gesellschaft eine angenehme Nebenerscheinung - die Zombies verrichteten ihre vorwiegend körperliche Arbeit für einen Minimallohn und machten sich trotzdem mit allem Elan an ihre Aufgaben. Was hätten sie auch anderes tun sollen? Ein fester Arbeitsplatz hatte für sie den Stellenwert einer Beschäftigungstherapie. Die Zeit konnte sinnvoll bewältigt werden. Kein nutzloses Wesen darzustellen, selbst als Toter im Dienst der Öffentlichkeit stehen zu können, war für die Masse der Untoten die Pforte zum Glück.

Glück! Als ob es das für Graham noch gegeben hätte.

Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, der Gedanke an das vergangene Leben und den betrogenen Tod, für den er sich selbst entschieden hatte, nagten an seinem innersten Ich.

Dabei konnte er sich noch zu den Musterbeispielen seiner Spezies zählen. Damals, vor scheinbar ewigen Zeiten, in einem anderen Leben, als er in dieser überfüllten InfoBar an der Gehirnblutung verstarb, hatten zwei der Gäste rasch genug gehandelt und ihn sogleich in die McTribes-Sombi-Company verfrachtet. Er war schnell behandelt worden, was spätere Langzeitschäden ausschloss. Graham konnte sich relativ rasch bewegen, schlich nicht so langsam und bedächtig durch die Straßen und Gassen der Stadt, wie es so manch anderem auferlegt war.

Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen, dachte er noch, da fuhr ihm der scharfe Geruch einer geölten (und sicherlich auch durchgeladenen) Waffe ins Gehirn. Verdammt, er hatte nicht aufgepasst, hatte sich wieder in Gedanken verstrickt. Jetzt aber roch er es ganz deutlich: Zwei Lebende, ein Mann und eine Frau, kamen in seine Richtung. Die Intensität ihrer Anspannung nahm zu, beide atmeten hastig ein und aus; er konnte ihren warmen Lebensodem förmlich vor sich sehen. Sie hatten seit längerem nichts mehr gegessen, dafür umso mehr geraucht. Wenn Graham sich konzentriert hätte, hätte er sogar ihre Zigarettenmarken bestimmen können, aber dafür blieb jetzt keine Zeit.

So leise wie möglich tappte er auf die andere Seite des Zimmers; weg von den leeren Fensteraugen der Bauruine ins Innere, auf den Flur, rasch in den gegenüberliegenden Raum gehuscht und den Fluchtweg inspiziert, den er sich ausgesucht, als er dieses schäbige Lager bezogen hatte.

Graham erkannte das diffuse Leuchten am Horizont, als er aus einem der Fenster blickte. Die Sonne versuchte sich durch die Smogschicht zu drängen.

Auch das noch!, schoss es ihm durch den Kopf, als er den Blutdunst eines Dämons wahrnahm. Das Wesen schien sich ihm von rechts zu nähern; es hatte eine hohe Geschwindigkeit, denn der Geruch nahm rapide zu. Vorsichtig lugte Graham um die Ecke des Fensterausschnitts herum und als er den Sukkubus über die Dächer springen sah, zog er seinen Kopf rasch zurück. Das dunkle Wesen schnitt ihm den Fluchtweg ab. Jetzt musste er sich etwas einfallen lassen.

 

*

 

Zusammengekauert wartete er auf ein Geräusch aus den unteren Etagen. Graham hatte sich in den Dachboden geflüchtet - planlos und panisch. Er fand keinen klaren Gedanken mehr in seinem Kopf. Das Gehirn war ein Heuschober und die Logik die Staubpartikel in einem durchbrechenden Sonnenstrahl. Wirr tanzten die klaren Überlegungen auf und nieder, drehten sich oder standen still. Ein kreiselndes Chaos ohne ruhenden Mittelpunkt.

Stimmen.

Die Lebenden unterhielten sich flüsternd. Dann... das Beben einer bedrohlichen Stimme: »Haloon ist hier!« Der Sukkubus war zu den anderen Jägern gestoßen.

Verdammt! Die McTribes-Sombi-Leute mussten annehmen, dass Graham unumstößliche Beweise bei sich hatte. Wie sonst ließe sich der aufwendige und selbst für die Auftraggeber nicht ungefährliche Einsatz eines Dämons erklären?

Dabei hatte er doch keine Daten kopiert, hatte nichts mitnehmen können außer Furcht und Schrecken.

Thunder, sein Freund aus jugendlichen Zeiten, hatte sich im Laufe des Erwachsenwerdens zu einem der größten JenseitsHacker der Stadt aufgeschwungen. Als er von Grahams Zombiefikation gehört hatte, war es für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen, ihm bei seinen Nachforschungen zu helfen. Thunder hatte den Großteil seines Erfolgs einem Geistwesen namens Arod zu verdanken. Dieser treue und anhängliche Geist war ihm eines Nachts begegnet, als er wieder einmal verzweifelt versucht hatte, einen Kompagnon zu finden. »Dann war er plötzlich da und meine Möglichkeiten schienen unbegrenzt!«, hatte er Graham mit einem freudigen Glanz in den Augen erzählt. Thunder bediente sich, wie alle JenseitsHacker, eines Geistes, der seinen Computer als Medium und zweite Heimat ansah.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5836-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Nähere Angaben zum Autor und Herausgeber Wilfried A. Hary siehe WIKIPEDIA!

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