Cover

AD ASTRA 1

ad astra 1

 

Das Meer der Finsternis

von Alfred Bekker

 

Da war nichts, außer einem unergründlichen Meer aus Dunkelheit.

Kein Gefühl, kein Licht, kein Geräusch.

Nicht einmal so etwas wie ein Gedanke.

Er hing im Nirgendwo, ohne sagen zu können, was vorher war oder später einmal sein würde; ohne zu wissen, wer er war...

Ohne überhaupt etwas zu wissen.

Sein Bewusstsein war dumpf und voller Furcht, die er nicht zu erklären vermochte.

Es war finsterste Nacht um ihn herum und er hatte das Gefühl, zu schweben, zu schwimmen, zu taumeln, sich zu drehen.

Und zu fallen.

Es herrschte eine abgrundtiefe Furcht in ihm, die alles regierte.

Diese Furcht schien das Hauptelement seines verschwommenen Ichs zu sein. Eine Furcht, die nicht durch die alles umgebende Finsternis verursacht wurde, sondern durch ihr Gegenteil, der Ahnung von brennender Flut greller Bilder - außerhalb des Nichts!

Langsam kam er hinauf zur Oberfläche seines Bewusstseins.

Es wurde heller, aber alles war noch verschwommen und unklar.

Es war so viel Licht, das da plötzlich von allen Seiten auf ihn zu strömte, dass es kaum auszuhalten war.

Konturen zeichneten sich ab.

Manche kamen ihm bekannt vor, andere nicht.

Beständig gewann alles um ihn herum an Klarheit und Schärfe, bis es wehzutun begann.

Er hörte jetzt auch Geräusche, so viele unklare, scheinbar zusammenhanglose Stimmen und Laute, deren Intensität in stetigem Zunehmen begriffen war und schließlich ohrenbetäubend wurde.

Das alles war ihm jetzt auf furchtbare Weise vertraut - und schmerzte.

Es schien ihm, als müssten seine sämtlichen Nervenendungen längst von diesem Feuerwerk verbrannt sein.

Die Furcht ergriff ihn wieder mit ihren eisernen Klauen, ließ ihn augenblicklich zurückfahren und wieder untertauchen.

Tief, immer tiefer, immer weiter weg von der Oberfläche und dem Licht und den Bildern und Stimmen...

Es war wieder dunkel um ihn.

Und still.

 

*

 

Ein Strand, ein Meer und ein Himmel, der vom konkurrierenden Zwielicht einer Doppelsonne beherrscht wurde.

Weit draußen brachen sich die Wellen; die Luft war erfüllt vom Geruch nach Salz und anderen Dingen, die undefinierbar waren.

Später wusste er, dass dieser Strand auf dem vierten Planeten des Sebuan-Systems lag, aber damals war er kaum älter als zweieinhalb Standardjahre gewesen und gerade erst aus dem Nebel der Unbewusstheit erwacht...

 

*

 

Er saß dumpf und reglos in seinem Computer gesteuerten Rollstuhl und blickte leer auf den endlos scheinenden Ozean von Rigel III (Trivialname: Asimov - nach einem altterranischen Schriftsteller).

Salz lag in der Luft und man konnte sehen und hören, wie sich die Wellen an der steinigen Küste von Morrow-Island brachen.

Der apathische Patient wurde von Larus den betonierten Weg entlang geschoben. Larus tat das nicht aus unmittelbarer Notwendigkeit heraus, denn erstens hätte er auch dem Computer die Fortbewegung des kleinen Gefährts überlassen können - und zweitens fiel diese Art der Betreuung auch überhaupt nicht in den Bereich seiner Pflichten.

Sein elektronischer Kofferpsychiater hatte ihm den Grund verraten - und im Grunde seines Herzens hatte er ihn immer gewusst.

Der Patient wandte nicht den Kopf, als die Strahlen der Sonne, um die Asimov seine Bahn zog, ihm ins Gesicht schienen. Er reagierte nicht auf seine Umwelt. Vielleicht konnte er es nicht, vielleicht wollte er es auch gar nicht.

Larus empfand eine tiefe Schuld gegenüber diesem pflanzenhaften Wesen.

Es ist unverantwortlich gewesen, das Experiment durchzuführen!, dachte Larus zum hundertsten Mal. Wir hätten es nicht tun dürfen! Das Risiko war viel zu groß!

Larus hatte von Anfang an Bedenken gehabt und diese auch geäußert.

Die wissenschaftlichen Grundlagen waren lückenhaft und unzureichend gewesen, die Versuche an Tieren hatten nicht den erhofften Durchbruch gebracht.

Aber es war dennoch geschehen und obwohl es Malejew gewesen war, der das letzte Wort gehabt hatte, konnte sich Larus eines unguten Gefühls nicht erwehren.

Du bist nur ein kleines, unbedeutendes Rädchen in der Hierarchie des Cartani-Konzerns!, versuchte er sich stets einzureden.

Er war zwar wissenschaftlicher Leiter des Forschungscamps, aber das hörte sich nach mehr an, als es in Wirklichkeit war.

Malejew war der Bevollmächtigte des Cartani-Konzerns für dieses Projekt, aber kein Nichtwissenschaftler. Und allein schon in dieser Befehlshierarchie manifestierte sich etwas, das Larus während seiner Arbeit gerne vergaß: Die Tatsache nämlich, dass es auf Morrow nicht in erster Linie um einen Dienst an der Wissenschaft ging, sondern darum, eine Möglichkeit zu schaffen, die Bevölkerung eines ganzen Planeten absolut kontrollieren und beobachten zu können.

Natürlich würde man als Nebenprodukt tiefe Einblicke in die Natur der menschlichen Wahrnehmung und des bisher kaum ausgeloteten Konflikts zwischen subjektiver und objektiver Realität erhalten.

Außerdem - wer hätte das mit Sicherheit ausschließen mögen? - bestand die Möglichkeit, dass durch ein Gelingen der Symbiose zwischen menschlichem Gehirn und gentechnologisch gezüchteten Plasmawesen ein Schritt nach vorn in der evolutionären Entwicklung des Menschen geschähe: Ein mit der Gabe der objektiveren (weil umfassenderen) Wahrnehmung ausgestatteter Übermensch.

Larus hatte sich trotz des unübersehbaren und in seinen Augen zumindest fragwürdigen Hauptzwecks des Projekts der Faszination, die im Allgemeinen von dieser Arbeit ausging, nicht entziehen können.

Es war etwas Großes, Bedeutsames, an dem er mitarbeitete, etwas, das einen besessen machen konnte und dem irgendwo auch etwas Gefährliches, Abgründiges inne wohnte.

Das erste Opfer gab es bereits zu beklagen: Es hieß Jesper Greene und war statt zum Übermenschen zu einer Pflanze geworden.

Es schien wie ein überaus zynischer Witz, den sich die Plasmawesen ausgedacht hatten, um alle, die auf der Morrow-Insel arbeiteten, der Lächerlichkeit preiszugeben.

Armer Greene!

Aber war er nicht ohnehin auf dem besten Weg in den Wahnsinn gewesen?

Lass deine kläglichen Versuche, dich zu rechtfertigen und zu entschuldigen!, wies Larus sich selbst zurecht. Es gibt keinerlei Anlass, deinen Anteil an Greenes Untergang zu relativieren!

 

*

 

Diese tägliche Ausfahrt des Patienten empfand Larus als sehr deprimierend.

Er fragte sich, wie es Dr. Lemieux und all den anderen (aber vor allen Dingen Malejew) gelang, so zu tun, als hätten sie mit dem Schicksal Greenes nichts zu tun, ja, als hätte er nie auf ihrem Operationstisch gelegen und als hätten sie ihn nie als ihr Versuchskaninchen benutzt.

Er konnte nicht verstehen, weshalb sie so wenig menschliche Regung zeigten (und wieder kam ihm dabei in besonderem Maße Malejew in den Sinn.)

Larus sah deutlich Malejews kahl geschorenen Schädel vor seinem geistigen Auge; um den Mund spielte ein zynisches Grinsen und auf dem Arm trug er seinen hirnlosen Pudel.

Vom Anfang ihrer Bekanntschaft an, als Larus hierher, nach Morrow auf Asimov gekommen war, um die wissenschaftliche Leitung dieses Projektes zu übernehmen, war sein Verhältnis zum Bevollmächtigten des Cartani-Konzerns gleichermaßen von Furcht und Unbehagen auf der einen und Interesse auf der anderen geprägt gewesen.

Aber bis zum heutigen Tag war es Larus nicht gelungen, größere Einblicke hinter Malejews äußere Fassade zu bekommen.

Der Kahlkopf schirmte sich geschickt gegen jegliche Versuche ab, in sein Inneres zu dringen. Daher war es fast unmöglich, mit ihm außerhalb des dienstlichen Bereichs Kontakt aufzunehmen - es sei denn, es ging um den Austausch einiger zynischer Bemerkungen.

Aber da konnte Larus nicht mithalten.

Wenn Malejew nicht gerade mit irgendwelchen dienstlichen Angelegenheiten beschäftigt war, fand man ihn stets allein, nur in Begleitung seines Pudels, der das einzige Wesen zu sein schien, mit dem ihn mehr als nur das unmittelbar Notwendige verband.

So kühl auch seine Beziehungen zu den ihn umgebenden Menschen gestaltet sein mochten, so war sein Verhältnis zum Projekt gänzlich anderer Natur.

Hier zeigte sich Malejew von geradezu fanatischer Besessenheit und konnte mitunter in einen Zustand überschwänglicher Euphorie gelangen.

Wenn Larus es recht betrachtete, dann wusste er nur sehr wenig über Malejew.

In den Datenspeichern von Morrow war fast

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5835-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Nähere Angaben zum Autor und Herausgeber Wilfried A. Hary siehe WIKIPEDIA!

Nächste Seite
Seite 1 /