Cover

Titel: 

Weise Menschen haben viele schöne Zitate hinterlassen,

aber nur weise Menschen haben diese wahrgenommen.

 

Rüdiger Janson

 

 

 

EDEN

2610

Die Reihe ad astra erschien seit 1999 als Heftreihe bei www.HARY-PRODUCTION.de!

 

Auf besonderen Wunsch unserer Leser und auch unserer Autoren haben wir ab dem Jahre 2009 umgestellt auf das Buchformat!

Sämtliche vorher erschienenen Bände bis Einzelband 112 und Doppelband 121/122 sind natürlich nach wie vor erhältlich.

Beachten Sie dabei bitte auch unseren Paketpreis:

12 Ausgaben in direkter Folge zum Preis von 10!

 

Und jetzt NEU ganz besondere Bestseller

in unserer speziell dafür eingeführten Reihe

AD ASTRA Bestseller!

 

Diese Ausgabe  wurde noch einmal umfassend überarbeitet und für das Buchformat optimiert.

Endgültige Textfassung vom 23. Juni 2011!

Lektorat: Werner Schubert.

 

AD ASTRA Bestseller 005

ISSN 1614-3280

Copyright 2011 by HARY-PRODUCTION und Rüdiger Janson

Verlagsanschrift:

Canadastraße 30 * 66482 Zweibrücken

Fon: 06332-481150 * Fax: 0322 237 519 03

www.HaryPro.de

eMail: wah@HaryPro.de

Sämtliche Rechte vorbehalten!

Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung von

HARY-PRODUCTION!

 

Coverhintergrund und Logo: Anistasius

Titelbild: Gerhard Börnsen

 

 

 

Vorwort

 

Liebe Leser,

in dieser Geschichte wird nicht über fünf Seiten beschrieben, wie eine Rose duftet. Was ich hiermit hinterlassen will, ist ein Traum; es ist mein Traum. Es ist ein Traum von einer anderen, besseren Welt. Die Menschheit ist vielleicht nie imstande, in einer solchen Welt zu leben. Doch die Träume derer, die sich nicht von Glanz und Gloria blenden lassen, sind die einzige Hoffnung, die unserem Blauen Planeten noch bleibt. Ich will nicht viele Worte machen. Wenn Sie diese Geschichte aufmerksam lesen, werden Sie mich mit jeder Seite besser verstehen.

 

 

 

Den Wert einer Selbstverständlichkeit erkennt man erst dann, wenn sie nicht mehr selbstverständlich ist.

 

 

Ohne utopische Wunschträume kann kein Bauplan für eine bessere Welt entstehen.

 

 

Rüdiger Janson

 

 

 

 

 

1. Der Weg ins Paradies

 

Es wird immer wieder gesagt, die Zeit würde alle Wunden heilen. Meine Wunden hat die Zeit wirklich geheilt. Es dauerte jedoch 600 Jahre. Mein Name ist Peter Müller. Ich möchte eine Geschichte erzählen, die unglaublicher und fantastischer nicht sein könnte. Und doch hat sie sich genau so zugetragen. Es begann im Jahr 1993 im kanadischen Skigebiet Silver Star Mountains. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und studierte Geophysik. Damals lernte ich einen Mann kennen, der eine eigenartige und geheimnisvolle Wirkung auf mich hatte. Eigentlich war seine Existenz – und auch was er mir hinterließ, bevor er verschwand – nach damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht möglich. Und dennoch war er da. Doch wie fantastisch seine Gegenwart in unserer Zeit war, erfuhr ich erst viel später. Jeden Abend saß dieser geheimnisvolle Mann allein an einem kleinen Tisch in der Hotelbar und vertrieb sich die Zeit mit Schreiben. Ich wollte meinen Urlaub nicht beenden, ohne einmal mit ihm gesprochen zu haben. Er war etwa sechzig Jahre alt, sprach deutsch und hieß ebenfalls Müller. Eric Müller, so viel wusste ich. Also sprach ich ihn einfach an.

»Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«, fragte ich etwas verlegen. »Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten.«

»Ja natürlich, gern«, entgegnete er freundlich. »Ich habe Sie auf der Skipiste gesehen. Sie sind ein recht flotter Skifahrer.«

»Sie aber auch«, antwortete ich lachend. »Es soll Leute in Ihrem Alter geben, die nicht mehr zu solchen Leistungen fähig sind.«

Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, denn er wurde auf einmal recht schweigsam. Er lehnte sich zurück, sah aus dem Fenster und meinte schließlich: »Schauen Sie sich diesen wunderschönen Sonnenuntergang über den Bergen an. Ist das nicht herrlich? Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für solche Dinge. Ich genieße jeden neuen Tag meines Lebens wie ein Geschenk Gottes.«

»Wie darf ich das verstehen?«, fragte ich neugierig.

»Ich habe noch höchstens zwei Jahre zu leben«, sagte er, hob sein Glas und sprach mit feierlich klingender Stimme: »Auf die Zukunft.«

Nun fehlten mir die Worte. Ich sah verlegen aus dem Fenster und dachte an die schönen Dinge des Lebens, die mir nie so recht bewusst waren; wie dieser Sonnenuntergang, der wohl nirgendwo schöner war als hier in den Bergen. Ich dachte an die Abende, an denen ich einfach nur am Fenster stand und die Lichter der Stadt und die Sterne beobachtete. Ich dachte an meine Freunde und an die schöne Zeit, die ich mit ihnen schon verbracht hatte. Ich dachte an die kleinen Dinge des Lebens, die für mich so selbstverständlich waren, dass ich mich nie darüber freuen konnte. Doch diesem Mann war das alles offenbar bewusst. Er war mit dem Ende konfrontiert und er schien diese kleinen Dinge zu genießen.

»Sind Sie nun schockiert?«, fragte er überrascht. Bevor ich antworten konnte, sprach er weiter: »Wissen Sie, wenn man auf sein Leben zurückblicken muss wie ich, sieht man viele Dinge anders. Ich verstehe heute die Menschen besser als je zuvor. Es geht mir eine Menge durch den Kopf. Was habe ich aus meinem Leben gemacht und was machen andere aus ihrem Leben?«

Nun war ich dem entscheidenden Punkt schon etwas näher gekommen. Mich interessierte brennend, was er da die ganze Zeit schrieb. Neugierig und etwas zu auffällig blickte ich auf seinen Notizblock und fragte: »Ich nehme an, Sie schreiben über solche Dinge?«

Ich hoffte, dass ich nicht zu indiskret war. Eric sah auf seine Unterlagen, blätterte etwas darin herum und meinte: »Wissen Sie, eigentlich wollte ich die Welt verbessern. Aber um eine Botschaft an die Menschen zu richten, fehlt mir die Zeit. Und außerdem bin ich nicht der Mann, der mit einem Bestseller die Menschen zum Nachdenken bewegen kann. Seit Jahrtausenden gibt es geheimnisvolle Botschaften mit großer Weisheit, aber man hat diese Botschaften nicht verstanden – oder die Zeit war noch nicht gekommen, sie zu verstehen. Ich versuche nur ein paar Gedanken, Träume und Visionen von einer schöneren, besseren Zeit und einer schöneren Welt zu notieren. Es ist eine Flucht von dieser realen Welt in eine fast perfekte Traumwelt der Zukunft. Ich denke viel über das Leben nach und ich versuche, den Sinn meines Lebens zu verstehen.«

Eric sah wieder aus dem Fenster und atmete tief durch. Inzwischen war es dunkel geworden. Dann sprach er mit geheimnisvoller Stimme weiter: »Der Sinn des Lebens besteht darin, irgendwann sein Selbstbewusstsein zu erlangen, und wenn es eine Minute vor dem Ende ist. Man muss die Chance nutzen, die einem gegeben wurde. Wenn es einmal zu Ende ist, nimmt niemand etwas mit. Es lohnt sich nicht, für dieses kurze Leben Schlechtes zu tun. Ich habe keine Angst vorm schwarzen Mann. Wer sich im Leben nichts Böses zuschulden kommen ließ, braucht auch keine Angst vor dem Ende zu haben. Nur wer reinen Herzens ist, kann in Frieden sterben. Jeder muss einmal gehen, und wenn es so weit ist, sollte man entweder einen guten oder gar keinen Eindruck hinterlassen. Wem das Wort Rücksicht nichts bedeutet, dem muss klar werden, dass das Leben nur sehr kurz, die Ewigkeit jedoch sehr lang ist. Wenn die Menschen die Wahrheit kennen würden, würde niemand mehr etwas Schlechtes tun. Aber dann wäre ein Reinwaschen der Seelen nicht mehr möglich.«

Erics Worte klangen richtig bitter. Er sah mich einige Minuten schweigend an. Es war, als ob er durch mich hindurchblicke. Es sah aus als prüfe er, ob ich ihn ernst nähme. Ich wusste, dass er nur dann weiterreden würde, wenn ich ihn verstand.

Er überlegte wohl, ob er nicht schon zu viel gesagt hat. Dann trank er etwas Wein, schaute auf sein Blatt und las ein paar Zeilen vor: »Oh Herr, die Menschen sind deine schlechtesten Schüler. Du hast ihnen oft Nachhilfeunterricht gegeben, doch nicht jeder hörte dir zu. Oh Herr, vergib denen, die dich nicht gehört haben!«

Ich nickte zustimmend. Eric schien sich wirklich ernsthaft Sorgen um die Zukunft der Menschheit zu machen. Er träumte vom Weg ins Paradies, den wir nicht finden konnten, weil wir ihn nicht suchten; weil wir nicht ehrlich und aufrichtig miteinander umgehen konnten und weil wir nicht unsere alten Gewohnheiten ablegen und so leben konnten, wie es sich für eine hochentwickelte Zivilisation gehörte. Ich fragte ihn, ob es je für die Menschen ein zweites Paradies geben könne.

Er antwortete: »Wenn wir unsere Türen nicht mehr abschließen müssen, und Kontrolle und Misstrauen durch Vertrauen ersetzt werden kann. Wenn kein verstümmelter Mensch mehr auf dem Schlachtfeld liegt und wenn alle Menschen wissen, dass es Leiden gibt, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Wenn die Menschen wissen, dass man wahre Größe nur dann erreichen kann, wenn man begreift, wie gering man selber ist. Wenn das alles zutrifft, sind wir dem Paradies ein gutes Stück näher gekommen.«

Eric Müller schaute auf seine Notizen und fügte leise hinzu: »Warum mache ich mir eigentlich solche Gedanken? Wenn ich es mir recht überlege, glaube ich nicht, dass ich auch nur im Geringsten etwas ändern kann. Wenn man wie Sie mitten im Leben steht, denkt man nicht an solche Dinge. Und wenn man so alt ist wie ich, hat man oft nicht mehr die Zeit dazu. Die Menschen sind zwar bereit zu lernen, aber nicht bereit, sich belehren zu lassen.«

»Woran mag es liegen, dass so viele Menschen gegen jede Vernunft handeln?«, fragte ich.

»Es liegt wohl daran, dass das Leben nicht lang genug ist, um sehen zu lernen. Kommt das Erwachen erst dann, wenn man gehen muss, ist es oft zu spät. Ich habe lange über die Verhaltensweisen der Menschen nachgedacht. Viele Menschen haben kein Selbstbewusstsein, weil sie ihrer selbst nicht bewusst sind. Sie werden geboren, richten großen Schaden an und sterben wieder. Es wäre besser, wenn es sie nie gegeben hätte. Seit der Mensch weiß, was gut und böse ist, verhält er sich auch so.«

Eric sah mich wieder mit diesem prüfenden Blick an; dann stellte er mir eine seltsame Frage: »Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein Außerirdischer! Sie sind mit einem Raumschiff unterwegs und finden die Erde. Nun sollen Sie einen Bericht verfassen über die intelligenten Wesen, die dort leben. Was würden Sie berichten? Sie würden uns bestimmt nicht als vertrauenswürdige Lebewesen beschreiben, die man bedenkenlos besuchen kann.«

Eric beeindruckte mich immer mehr. Er meinte, wenn es wirklich intelligente Lebensformen im Weltall gebe, die uns besuchen könnten, müssten wir uns furchtbar schämen. Aber wer denkt schon über solche Dinge nach? Solange man sich über Autos oder Fußball unterhält, wird man ernst genommen. Wenn man jedoch solche Themen anspricht, wird man oft mitleidig belächelt oder als Moralprediger oder Weltverbesserer beschimpft.

Eric erzählte weiter von seiner fantastischen Traumwelt, und ich hörte seinen Schilderungen gespannt zu.

»Wie kann wohl das perfekte Leben aussehen?«, meinte er geheimnisvoll und fuhr fort: »Wie ist es machbar, dass es keinen Hunger mehr gibt? Wie kann man Armut, Angst, Falschheit, Verlogenheit, Hochmut, Gewalt und unendliches Leid aus der Welt schaffen? Mir wurde bewusst, dass man das Böse bekämpfen muss wie eine Krankheit. Die Vernunft und die Unvernunft sind Gegner, die sich so lange bekämpfen, wie es Menschen gibt. Ich versuchte, die Menschen zu verstehen, und musste feststellen: Wer die Menschen versteht, der leidet. Ich weiß, dass es einmal eine brüderliche und solidarische Welt geben wird. Es ist eine Welt, in der es kein Geld mehr gibt. Es ist eine Welt, in der Macht durch Liebe ersetzt wird, weil Macht oft der Samen des Bösen ist. Aber der Weg dahin ist entsetzlich grausam. Ich bin ein alter Mann und brauche keine Angst vor dem Tod zu haben. Aber ich habe Angst um jedes Kind, das mit großem Vertrauen an die Erwachsenen geboren wird. Es ist schrecklich mit anzusehen, wie dieses Vertrauen oft sehr früh und sehr jäh beendet wird.«

Ein Mann wie Eric war mir wirklich noch nicht begegnet. Woher wollte er wissen, dass die Menschen einmal in Frieden miteinander leben würden? Ich fragte mich, wer dieser alte Kauz eigentlich sei. Er sagte nur, er sei ein einfacher Handwerker, der sein Leben lang gearbeitet habe und nie auf einen grünen Zweig gekommen sei. Offenbar sah er die Welt mit den Augen eines Kindes, das das Vertrauen an die Menschheit verloren hat. Er saß da und berichtete von seinem jahrelangen aussichtslosen Kampf. Eine Maus konnte keinen Elefanten besiegen und er konnte wohl auch nicht die Welt verbessern. Das war jedenfalls meine Überzeugung. Vielleicht konnte man die Welt ein klein wenig verändern. Es mochte sein, dass alle intelligenten Lebensformen eine Hürde zu überwinden hatten, die sie vom Urwesen zu einer hochentwickelten Zivilisation führte. Man musste diese Hürde erkennen und meistern. Wie es dann aussehen könnte, mochte für uns wie eine Traumwelt wirken, die so unerreichbar war, dass viele nicht daran glauben konnten. Ich verstand allmählich, was er mir sagen wollte: Über der Welt schwebte ein Damoklesschwert, und er wollte uns warnen. Wie groß musste das Damoklesschwert noch werden, bis die Menschheit die drohende Gefahr erkannte?

Ich fragte ihn, ob er an Gott glaube. Seine Antwort war wieder einmal seltsam weise.

Er erklärte: »Das ist eine oft gestellte Frage, für die es meiner Ansicht nach nur eine ehrliche Antwort gibt: Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es ihn gibt. Es gibt Leute, die behaupten, dass sie fest an ihn glauben. Wenn sie jedoch einmal wirklich vor ihm stehen, wundern sie sich, dass es ihn wirklich gibt. Ich habe mich oft gefragt, warum Gott alles Schreckliche auf der Welt zulässt. Die Antwort ist ganz einfach: Die Menschen müssen die Entwicklungsphase allein durchmachen, sonst werden sie nie erwachsen. Eines sollte uns klar sein: Die wahre Realität ist mehr als das, was wir sehen können. Ich glaube, dass es eine andere Dimension gibt, in der alle Menschen eins sind. Dort wird ihnen klar werden, was sie in unserer Dimension anderen Menschen angetan haben.«

»Wieso sind Sie so feinfühlig geworden«, fragte ich wieder vorsichtig. »Ist es doch eine gewisse Angst vor dem Ende, die Sie über alles nachdenken lässt?«

Nach kurzem Überlegen meinte er: »Nicht nur die Augen sind zum Sehen da.« Ich verstand nicht, doch er redete gleich weiter: »Jemandem ist etwas Schreckliches widerfahren. Menschen haben ihn gefesselt und bei lebendigem Leib verbrannt.«

Ich fragte erstaunt, wo und wer das sei. »Hat man die Täter gefunden und bestraft?«

Eric antwortete: »Giordano Bruno, am 17. Februar 1600 auf dem Campo di Fiore.«

»Ach so, ja, weiß ich«, antwortete ich, »ein italienischer Philosoph. Das ist doch schon alles vergessen und sehr lange her.«

Eric sah mich lange schweigend und vorwurfsvoll an. Dann meinte er: »Ach so, es ist lange her und es war weit weg. Wahrscheinlich hat er auch deshalb beim Sterben weniger Schmerzen empfunden.«

Nun begriff, ich wie primitiv meine Denkweise war. Ich schwieg verlegen. Er erzählte mir weiter von seinen Träumen und Visionen einer besseren Welt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie eine solche Welt aussehen sollte.

Eric sah auf seine Notizen, wartete wieder eine Weile und fing schließlich zu erzählen an: »Es gibt Menschen, die glauben, sie könnten die Zeit überlisten. Sie lassen sich einfrieren, um in einer besseren Welt wieder geweckt zu werden. Sie gehen davon aus, dass sie in einer solchen Welt auch willkommen sind. Aber genau das ist nicht der Fall. Die zukünftigen Generationen, die das Böse auf der Welt ganz besiegt haben, werden die eingefroren konservierten Menschen bestimmt nicht willkommen heißen. Das weiß ich. Mit den technischen Neuerungen würden die Konservierten bestimmt noch fertig werden. Doch sie würden mit dem geistigen Unterschied nur schwer zurechtkommen. Sie könnten die Bewusstseinsveränderung der neuen Generation kaum noch aufholen.«

Eric redete so, als hätte er in die Zukunft sehen können. Ich wurde immer neugieriger und lauschte gebannt seinen Worten.

»Können Sie sich vorstellen, in die Vergangenheit zu reisen, um dort den Rest Ihres Lebens zu verbringen? Es gibt keine Zeit, in die ich gerne zurückreisen möchte. Die gleichen Gefühle würde eine zukünftige Generation auch für uns empfinden. Wie würden wir heute mit Menschen zurechtkommen, die aus dem Mittelalter stammen? Wir müssten ihnen erklären, dass es keine Hexen gibt. Laufende Bilder in einem kleinen Kasten würden sie als Teufelswerk bezeichnen. Wir könnten erkennen, wie sehr sich die Menschen schon verändert haben. Es gibt zwar immer noch Leute, die ihren schlechten Charakter hinter Prunk und schönen Kleidern verbergen, doch es hat sich schon eine ganze Menge geändert. Leider machen nicht alle Völker zur gleichen Zeit diese Bewusstseinsveränderung durch. Darum wird es noch lange Zeit so bleiben, wie es ist. Wann auch immer sich die Welt zum Besseren wendet: Für uns wird man dann keine besondere Sympathie empfinden. Ich kann mir die Zukunft so schön vorstellen. Es wird eine Zeit ohne Kriege, Hass und Gewalt sein. Es wird eine bessere Welt, eine schönere Zeit, eine friedlichere Zukunft sein. Man wird in Zukunft anders denken. Was heute noch indiskutabel ist, wird dann selbstverständlich sein. Selbst wenn die von Krisen geschüttelte Menschheit ihr Wissen genauso rasant fortsetzen kann wie in Vergangenheit, sind viele von uns immer noch die, die mit ihrer Keule vor der Höhle stehen und ihrem Nächsten den Schädel einschlagen. Darum wird eine solche Bewusstseinsveränderung nur sehr langsam vonstattengehen. Es muss schon etwas Schlimmes passieren, um die Menschen endlich alle zum Nachdenken zu bewegen. Wenn die Menschen nach einer katastrophalen Vergangenheit zur Ruhe kommen wollen, müssen sie die Chance nutzen, aus dieser Vergangenheit zu lernen. Bis es eine perfekte Welt geben wird, wird noch viel Zeit vergehen. Ich will nicht darüber nachdenken, wie diese Zeit aussehen wird. Es mag schwer sein, eine Welt zu verstehen, die ohne Hunger und Tyrannei, ohne Kummer, Tragödien und Leid auskommt. Aber Menschen, die in einer solchen Welt leben, verstehen uns genauso wenig. In unserer Welt gibt es viele Völker, Religionen und Rassen, die so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Doch wenn Menschen von heute in die Zukunft reisen, treffen wirklich Welten aufeinander. Was kann also ein einfacher Mann wie ich tun, um seine Träume anderen Menschen zu vermitteln? Man müsste eine Botschaft an alle Menschen richten. Es müsste ein Schrei nach Vernunft sein, den man hoffentlich eines Tages versteht. Aber weil die Menschen in dieser Zeit nicht vernünftig, sensibel oder sentimental genug sind, um so zu werden wie die Kinder, glaube ich nicht, dass man diesen Schrei zurzeit hört und versteht. Vielleicht können auch einmal andere Menschen von einer friedlicheren Zeit träumen. Denn wenn die Menschen ihre Träume verlieren, verlieren sie auch die Hoffnung auf ein Paradies. Der Schlüssel ins Paradies liegt in uns selbst. Nur wenn jeder Mensch ihn sucht und auch wirklich finden will, kann die Tür ins Paradies geöffnet werden.«

Eric sah mich wieder an und lachte. Dann meinte er weiter: »Ja, meine Fantasie ist die einzige Flucht aus dieser unschönen Realität. Doch wer hat schon die Zeit, sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen? Für die meisten Menschen ist das Leben wie ein schlechter Film ohne Happy End. Und die, die immer im Sommersonnenschein gelebt haben, können nicht wissen, wie es im kalten Winter ist.«

Ich fragte Eric, wieso er so verzweifelt versuche, die Welt zu verbessern.

»Ich bin nur ein Mann, der viel nachgedacht hat. Und ich bin müde. Ich bin müde und ich habe auch keine Lust mehr zu kämpfen.«

Dann übergab er mir seine Mappe mit den Unterlagen und meinte: »Hier, nehmen Sie. Ich möchte, dass Sie sich dieses Manuskript einmal durchlesen. Ich möchte, dass Sie diese Geschichte behalten. Es liegt auch ein Brief für Sie darin.«

»Für mich?«, fragte ich erstaunt. »Sie kannten mich doch bis eben noch gar nicht.«

»Ich kenne dich schon sehr lange«, antwortete er und verschwand.

 

Ich habe ihn erst viele Jahre später wieder gesehen.

Er hinterließ mir ein Manuskript mit einer Geschichte; mit meiner Geschichte. Ich wusste damals nicht, dass es meine eigene Lebensgeschichte war, die ich da in Händen hielt. Das erfuhr ich erst viel später. In dem Brief stand, dass ich diese Geschichte nicht mitnehmen sollte, wenn ich in zwölf Jahren eine weite Reise begänne. Ich sollte sie zurücklassen. Ich lachte und hielt ihn nun doch für verrückt.

 

 

Das Tragische an einer möglichen Rückkehr ins Paradies ist,
dass der Weg dorthin wie ein Puzzle zusammengesetzt werden muss.
Und jeder erwachsene Mensch hat ein Stück davon.

Rüdiger Janson

 

 

 

 

 

 

2. Die Hoffnung liegt im Paradies.

 

Elf Jahre später.

Das Schicksal schlägt oft grausam zu und wir alle glauben oder hoffen, dass es uns nicht trifft. Ich war 35 Jahre alt, als ich erfuhr, dass meine Zeit gekommen war. Was ich nie für möglich gehalten hatte, traf nun ein. Die Ärzte sagten, ich hätte Leukämie. Wenn man keinen geeigneten Spender für eine Knochenmarktransplantation fände, hätte ich nur noch wenige Monate zu leben. Wie in Trance verließ ich die Arztpraxis und ging ziellos durch die Stadt, bis ich irgendwann in einer Kneipe landete und so viel Alkohol trank, wie noch nie in meinem Leben. Stundenlang saß ich da und träumte vor mich hin. Ich musste an Eric denken und seine Geschichte. Genau das hatte sich in seiner Geschichte auch zugetragen. Ein junger Student erkrankt und lässt sich einfrieren, bis ihn eines Tages eine zukünftige Generation heilen kann. Ich war völlig verwirrt. Das Erlebnis mit Eric kam mir vor wie ein Traum. Aber das Manuskript war der Beweis, dass Eric existierte.

Ich wusste nicht wie es weitergehen sollte. Alles war so sinnlos geworden: das Studium, die langen Jahre des Lernens und der Entbehrungen, meine Ziele und meine Träume. Freunde fanden mich in diesem Zustand und brachten mich nach Hause. Den nächsten Tag verbrachte ich mit Nachdenken. Ich war einem Nervenzusammenbruch nahe. Ich fragte mich, ob ich einmal so richtig auf den Putz hauen sollte – die Puppen tanzen lassen, eine Weltreise machen, Rauschgift nehmen und Alkohol trinken oder irgendwie gegen das Gesetz verstoßen. Wer wollte mir jetzt noch etwas verbieten? Alles konnte ich tun; für mich gab es keine gesellschaftlichen Regeln mehr, die ich einhalten musste. Es gab so viele Dinge, die ich jetzt hätte tun können, für die mir früher der Mut gefehlt oder die ich mir selbst nicht zugetraut hatte. Doch dazu war ich zu gut erzogen. Ich überlegte, was ich ernsthaft tun konnte. Die einzige Chance, die ich noch sah, war, meinen Onkel, Professor Dr. Johann Müller, um Hilfe zu bitten. Ich hatte in Deutschland keine Verwandten mehr. Wenn ich noch hoffen durfte, dann lag diese Hoffnung bei ihm.

Onkel John war Leiter eines Forschungszentrums in Washington. Ich bewunderte ihn sehr. Er war ein Lebenskünstler, der immer einen Ausweg wusste, war die Lage auch noch so hoffnungslos. Aber konnte er mir noch helfen? Gab es noch einen Strohhalm, an den ich mich klammern konnte? Ich war nicht der Erste, der mit diesem Schicksal konfrontiert wurde. Doch jetzt erst wusste ich, was diese Menschen fühlten. Die Welt würde sich weiterdrehen. Menschen, die mir begegneten, durften weiterleben. Sie konnten für die Zukunft planen, doch ich? Das Leben hat keinen Sinn mehr für jemanden, der nur noch wenig Zukunft hat. Wenn ich es doch nur so leicht hätte nehmen können wie damals Eric Müller!

Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer meiner Verwandten. Sonst freute ich mich immer, wenn ich anrief, aber diesmal fiel mir das Wählen schwer. Als die Verbindung aufgebaut wurde, wusste ich immer noch nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Onkel John begrüßte mich sehr herzlich. Auch Tante Ireen und Cousine Sally freuten sich über meinen Anruf. Doch die Stimmung trübte sich, als ich alles berichtete.

»Noch ist nicht aller Tage Abend«, meinte Onkel John. Er versuchte mir wieder Mut zu machen. Er meinte, dass ich jetzt nicht resigniert aufgeben dürfe.

»Du bist doch immer ein Kämpfer gewesen, nun zeige uns deine wahre Stärke! Komm zu uns nach Amerika, wir werden alles tun, um dir zu helfen!«

Ich schöpfte wieder etwas Hoffnung. Mein Onkel redete noch eine Weile auf mich ein. Ich hörte ruhig zu. Ich konnte dieses Schicksal nicht allein bewältigen. Ich fühlte mich dazu nicht stark genug.

Das Manuskript von Eric übergab ich einem befreundeten Schriftsteller. Vielleicht konnte er etwas damit anfangen. Dann erledigte ich noch einige Formalitäten und verabschiedete mich von meinen Freunden, denn ich hatte nicht die Absicht, nach Deutschland zurückzukehren.

 

Auf dem Flughafen in Frankfurt liefen viele Menschen umher. Hastig, nervös, aufgeregt; alle hatten irgendwelche Sorgen. Doch wie gering waren diese Sorgen gegen die, die ich jetzt hatte! Ich sah auch lachende Menschen; Menschen, die sich auf ihren Urlaub freuten. Wie jemand, der vom Leben betrogen worden war, beneidete ich jeden, den ich sah. Hass stieg in mir auf. Laut schreiend warf ich meinen Koffer auf eine Stuhlreihe. Die Leute gingen kopfschüttelnd an mir vorbei. Noch nie hatte ich geraucht, doch nun brauchte ich eine Zigarette. Ich kaufte mir eine leichte Marke und ein Feuerzeug. Nervös öffnete ich die Packung und steckte mir eine an. Ich hustete nach dem ersten Zug, doch ich rauchte weiter. Das Feuerzeug und die Zigaretten steckte ich ein und folgte dem Aufruf meiner Maschine. Im Flugzeug ließ ich mich müde und ausgelaugt in den Sitz fallen. Die letzten beiden Tage hatte ich kaum geschlafen. Ich schnallte mich an und schloss die Augen. Eine Art Gleichgültigkeit überkam mich. Alles war mir plötzlich egal geworden. Aber ich durfte mich nicht so einfach aufgeben. Dann schlief ich ein.

 

Auf dem Flughafen in Washington wurde ich bereits von meinen Verwandten erwartet.

»Hallo Peter, mein Junge!«, sagte ein großer bärtiger Mann. Mein Onkel war 49 Jahre alt und wirkte auf den ersten Blick etwas einfach.

»Hallo«, grüßten auch Tante Ireen und Sally etwas mitleidig. Wiedersehensfreude und Traurigkeit ließen sich nur schwer miteinander verbinden.

»Ich habe bereits mit einigen guten Freunden telefoniert, die dir vielleicht helfen können«, meinte mein Onkel.

 

Ich wusste, dass mein Onkel eine Menge einflussreicher Leute kannte, die alles Menschenmögliche tun würden, um mir zu helfen. Nun war ich mit meinem Problem nicht mehr allein. Mein Onkel John hatte ein wunderschönes Grundstück außerhalb der Stadt. Sein Haus erinnerte mich immer wieder an die Alpenländer, und auch im Inneren war alles noch so schön, wie ich es in Erinnerung hatte. Er lebte zwar schon viele Jahre in Amerika, doch seine Liebe zur Heimat konnte er nicht verleugnen. Etwas war allerdings anders.

Im Garten war eine Bühne aufgebaut. Ich hatte Onkel Johns Geburtstag vergessen. Als ich verwundert vor der Bühne stehen blieb und fragte, was das sei, meinte Sally: »Ach Peter, morgen spielt eine Countryband bei uns. Vater wird morgen 50 Jahre alt.«

»50 Jahre jung«, verbessert John direkt.

Ich entschuldigte mich verlegen, doch sie hatten alle Verständnis. Ich war mit meinen Sorgen in Onkel Johns fünfzigsten Geburtstag geplatzt. Ich wünschte mir, noch ein paar Tage gewartet zu haben.

»Ach, das ist doch nicht schlimm. Sing für John ein paar Lieder aus deinem Repertoire. Das wird ihn sicher sehr freuen. Ein besseres Geschenk kannst du ihm gar nicht machen«, sagte Tante Ireen.

»Ja«, meinte Sally, »kannst du immer noch so gut Gitarre spielen und singen?«

»Ja, ich übe regelmäßig. Ich habe einige schöne Songs parat«, antwortete ich wenig begeistert. Sie wollten mich natürlich damit aufmuntern, das war mir klar.

Abends redeten John und ich noch lange miteinander. Mir blieb nicht viel Zeit, um einen geeigneten Knochenmarkspender zu finden. Der nächste Tag war schon besser. Ich vergaß für einen Moment meine Sorgen. Abends konnte ich alle Gäste mit Gesang und Gitarrenspiel begeistern. Ich war ein guter Musiker und Sänger, doch ich konnte nicht so locker und fröhlich spielen und singen wie sonst. An den folgenden Tagen war ich nur noch ein Nervenbündel. Man versuchte mich zu trösten, jeder auf seine Art, doch die Ungewissheit ließ mir keine Ruhe.

 

Ein Jahr später gab es wirklich keine Hoffnung mehr. Alle Versuche, meine Krankheit zu bekämpfen, waren erfolglos geblieben. Es ging mir immer schlechter. Die einzige Möglichkeit, die ich und John noch sahen, war eine Heilung in ferner Zeit; so, wie Eric es in seiner Geschichte beschrieben hatte. John wunderte sich sehr über diese Geschichte. Auch er wollte wissen, wer dieser Eric gewesen sei. Wenn seine Geschichte stimmte, würde man sicher irgendwann meine Krankheit heilen können und auch in der Lage sein, konservierte Menschen wieder ins Leben zurückzurufen. Wenn es wirklich nur diese einzige Möglichkeit gab, dann sollte es so sein. Besser in einer ungewissen Zukunft weiterleben, als dem sicheren Ende entgegengehen.

Es dauerte einige Zeit, bis John meine Tante und meine Cousine von dieser einzigen Chance überzeugt hatte. Aber schließlich sahen auch sie ein, dass es nur noch diese einzige Möglichkeit gab.

Ich fühlte mich wie ein Delinquent, der auf den Henker wartete. Doch ich wusste, dass es für mich eine Zukunft geben konnte, wenn sie auch noch so weit weg war. Der Gedanke, eingefroren zu werden, ohne die Gewissheit, wieder ins Leben zurückzukehren, ließ mich erschauern. Aber ich hatte keine andere Wahl. Mein Körper war nur noch ein Wrack.

 

Ich verbrachte nur noch wenige Tage bei meinen Verwandten. Schon bald hatte John alle Vorbereitungen getroffen. Nun konnte ich die Reise ins Ungewisse antreten. John erinnerte mich wieder an Eric Müller. Die Geschichte war noch nicht veröffentlicht worden. Die angeschriebenen Verlage waren nicht interessiert. Aber wer war dieser Eric Müller gewesen? Würde die Welt der Zukunft wirklich so friedlich sein, wie er sie beschrieben hatte? Dann bestand Hoffnung. Denn in seiner Geschichte wurden viele eingefrorene Menschen wieder aufgetaut und ins Leben zurückgerufen. Aber, wenn ich wirklich wieder aufgetaut werden konnte, würde ich die Zukunft dann auch verstehen? Würde man mich überhaupt noch verstehen und mich auch willkommen heißen? Müsste ich alles vergessen, was ich über das Leben wusste, um die neue Welt akzeptieren zu lernen?

Ich wusste damals noch nicht, wie recht ich hatte mit meinen Vermutungen. Als ich meine Reise ohne Rückkehr begann, gingen mir viele solcher Gedanken durch den Kopf, und ich hatte Angst. Ich hatte sogar Todesangst. War mein Leben nun zu Ende? Kryonisch konserviert und die Hoffnung reanimiert zu werden, war das nicht zu viel Zuversicht? Erics Geschichte gab mir Hoffnung.

 

 

Wenn rundum die Welt immer ärmer wird, wird Reichtum zum Fluch.

Rüdiger Janson

 

 

 

 

3. Reise in die neue Zeit.

 

Viele Jahre, Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte vergingen. Doch als die Menschen endlich in der Lage waren, die Konservierten zu wecken und zu heilen, war man nicht mehr bereit »die Alten«, wie sie die Konservierten nannten, in die Gesellschaft aufzunehmen. Man schob die Entscheidung immer mehr hinaus. Doch eines Tages mussten sich die Menschen dann doch entscheiden.

 

Man schrieb das Jahr 2610. Die Menschen lebten in einer fast perfekten Welt. Bereits im 22. Jahrhundert hatte eine neue Zeit begonnen. Habgier, Größenwahn, Falschheit, Verlogenheit und Arroganz waren bekämpft und besiegt worden. Die neue Generation hatte aus der Geschichte gelernt. Es war der Anbeginn einer Zeit, die ohne Kriege, Hass und Gewalt auskam. Es war ein sehr langer Weg, bis alle Menschen gleich waren. Doch das war lange her.

 

Eine Botschaft wurde an alle Menschen der Welt gerichtet. Eine Frau, die man »die Weise« nannte, sprach:

»Liebe Brüder und Schwestern. Die Zeit ist gekommen, die Konservierten aus ihrem Todesschlaf zu befreien. Ihre Existenz lastet auf uns wie eine Sünde aus einer längst vergangenen Zeit. Ein hochzivilisiertes Volk wie wir darf nicht solch ein Geheimnis mit sich herumtragen. Wir werden uns von dieser Last befreien. Dazu müssen wir sie auftauen und weiterleben lassen. Wir müssen alles genau planen. Es ist, als ob wir unsere Gesellschaft mit Viren verseuchen. Die Informationen, die wir über sie besitzen, sind leider sehr dürftig. Nur von wenigen haben wir detaillierte Berichte. Alles deutet darauf hin, dass unter den Alten auch ein paar Gerechte sind. Wir werden erst einen, zwei Wochen später einen weiteren Konservierten auftauen. Dann werden wir sehen, ob wir einige der Alten in unsere Gesellschaft integrieren können. Viele werden uns jedoch nicht verstehen. Unsere Lebensweise ist für sie fremd und unverständlich. In ihrer Zeit lebten sie nach dem Gesetz des Stärkeren. Die Alten müssen erst lernen, dass heute alles anders ist. Sie sind zwar bereit zu lernen, aber nicht bereit, sich belehren zu lassen. Denen, die nicht nur intelligent, sondern auch weise sind, werden wir jede Chance geben, die sie brauchen. Die ersten beiden, die geweckt werden, scheinen geeignet zu sein. Wir werden sie überwachen und beobachten, wie sie auf unsere Lebensart reagieren. Dann werden wir weitersehen. Ihr könnt jedoch sicher sein, dass wir kein Risiko eingehen. Und allen Weltuntergangspropheten mag gesagt sein, dass solch negative Schwarzseherei unserer neuen Generation seit langer Zeit fremd ist. Auch das Reanimieren der Konservierten sollte daran nichts ändern. In der Vergangenheit der Menschheit wurden solche Weltuntergangstermine schon oft vorausgesagt, und nie ist etwas passiert. Es wird auch jetzt nichts passieren. Habt keine Angst!«

 

Dann geschah das Unglaubliche. Ich war der Erste, der erweckt wurde. Ich schlug die Augen auf, doch es dauerte einige Zeit, bis die Erinnerung wiederkehrte.

»Bleib ruhig liegen, Peter, es ist alles in Ordnung!«, sagte eine junge Frau. »Mein Name ist Karda; ich werde dir später alles erklären.«

Ich konnte mich kaum bewegen. Mühsam schaute ich mich um. Es dauerte lange, bis ich begriff, was ich sah. Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, aber dass ich mitten in einem wunderschönen Park aufgewacht war, erschien mir schon etwas seltsam. Ich sah Bäume, Sträucher, Wiesen und viele Blumen, die in einem riesigen Raum gepflanzt worden waren. Ein Bach lief über einen Felsen in einen kleinen Teich. Ich versuchte mich erstaunt aufzurichten, aber Karda drückte mich wieder auf mein Lager nieder. Sie lächelte mich sanft an und sprach kein Wort. Ich musste erst langsam zu mir kommen. Dann erblickte ich riesige Fenster, durch die man das Weltall sehen konnte. Doch als ich die Erde durch eines dieser Fenster sah, versuchte ich erneut aufzustehen.

»Bleib bitte ruhig liegen, Peter, du kannst noch nicht aufstehen!«, meinte Karda und drückte mich wieder auf mein Bett zurück.

»Die Erde«, stammelte ich, »da ist die Erde!«

Es dauerte eine Weile, bis ich registrierte, dass ich mich auf einer Raumstation befand. Ich schaute mich weiter um und sah fröhlich lachende Menschen.

»Du hast sicher viele Fragen«, sagte Karda. »Wenn du dich erholt hast, werden wir dir alle Fragen beantworten.«

Ich fühlte mich wie niedergeschlagen. Der Gedanke, dass ich mich offenbar in der Zukunft befand, war überwältigend. Ich konnte es fast nicht glauben. Ich erinnerte mich daran, dass ich eingefroren wurde, und jetzt war ich wieder wach. Ja, es gab nur eine Erklärung: Ich war in der Zukunft.

»Wie viele Jahre, wie lange, was für ein Jahr?«, fragte ich mit leiser Stimme.

Karda schaute mich prüfend an und antwortete: »Du hast 600 Jahre geschlafen. Heute ist Dienstag, der 4. 12. 2610.«

Karda war eine außergewöhnlich hübsche Frau, die mich wie ein Engel anlächelte. Ich sah sie erstaunt an. Mit einer so langen Zeit hatte ich nicht gerechnet.

»Und meine Krankheit, ist sie besiegt?«, fragte ich ungläubig.

»Ja Peter, du bist wieder vollkommen gesund«, sagte Karda mit ruhiger Stimme.

Das Glücksgefühl, das ich in diesem Augenblick empfand, war einzigartig. Ich hatte es geschafft – ich war gesund in der Zukunft angekommen!

Schwach und leise stellte ich Karda noch eine Frage: »Die Erde, was ist mit der Erde? Haben wir gute oder schlechte Zeiten, Krieg oder Frieden?«

Karda lächelte mich wieder an und meinte: »Es sind sehr gute Zeiten. Die besten, die unsere alte Erde je gesehen hat. Es gibt schon seit 400 Jahren keine Kriege mehr, und kriminelle Vergehen sind sehr selten geworden.«

»Nun bin ich neu geboren«, sagte ich leise, dann schlief ich wieder ein.

 

Dass ich aus dem Tiefschlaf aufgewacht war, wussten natürlich alle Menschen, die auf der Station arbeiteten. Der Erste, der sich nach mir erkundigte, war Kajus. Er war ein gut durchtrainierter blonder Hüne.

»Wie geht es ihm?«, wollte er wissen.

»Es geht ihm gut, Kajus. Du kannst schon morgen mit dem Training beginnen«, antwortete Karda.

»Ich bin gespannt, was er für Charaktereigenschaften hat«, meinte Kajus.

Karda schaute mich an und meinte: »Ich glaube, sehr gute. Er wollte gleich wissen, in was für Zeiten wir leben.«

»Dann haben wir mit ihm einen guten Fang gemacht«, meinte Kajus. »Ich denke, dass nur wenige der Alten gleich zu Beginn ihres Erwachens diese Frage stellen werden.«

»Ja, Kajus, diese Frage werden nur wenige stellen. Viele werden wohl erst einmal nach dem Telefon fragen, weil sie mit ihrer Bank telefonieren wollen«, bemerkte Karda etwas zynisch.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand ein Mädchen an meinem Bett. Es war höchstens achtzehn Jahre alt. Seine schwarzen Haare reichten bis zu den Hüften. Es hatte ein Kleid an, das seine Reize voll zur Geltung brachte.

»Hallo, na bist du endlich wach, du Schlafmütze?«, sagte es. »Ich heiße Alessa. Ich habe den Auftrag, dich zu wecken, und ich soll dir etwas auf die Beine helfen.«

Ich sah es ungläubig an. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein so junges Mädchen auf einer Raumstation arbeitete, aber dann erinnerte ich mich, dass ich ja in einer ganz anderen Zeit lebte.

»Komm«, sagte Alessa, »versuch einmal aufzustehen.«

Sie half mir auf. Ich setzte mich langsam und vorsichtig auf die Bettkante. Eigentlich fühlte ich mich außergewöhnlich gut. Nichts drehte sich, und mir war auch nicht schwindlig. Alessa erklärte mir, dass man meinen Körper wieder so weit instand gesetzt habe, dass ich schon bald wieder topfit sei.

»Ich werde dich gleich zu Kajus in den Trainingsraum bringen«, meinte sie und schob mir einen Stuhl zu.

Ich setzte mich darauf. Alessa drückte ein paar Knöpfe, und schon fing der Stuhl zu schweben an.

»Für mich ist das alles wie ein Traum – ein schöner Traum«, sagte ich nachdenklich.

Ich wollte mehr von dieser neuen Welt wissen und versuchte Alessa auszufragen. Doch sie unterbrach mich und meinte: »Peter, heute Abend sind wir alle im Freizeitraum versammelt. Dann werden wir gemeinsam deine Fragen beantworten. Jetzt bekommst du erst einmal ein gutes Frühstück.«

Ich war damit natürlich nicht einverstanden. Die Neugier quälte mich. Ich wollte doch endlich wissen, wo ich gelandet war.

Ein kleiner Roboter schob einen schwebenden Tisch in den Raum.

»Na, wenigstens an dem Essen hat sich nichts geändert«, bemerkte ich, als ich das Frühstück sah.

Alessa sah mich vorwurfsvoll an. Schließlich meinte sie: »Hast du wirklich einmal richtiges Fleisch von getöteten Tieren gegessen?«

Ich verstand ihre Frage nicht so ganz. Es gab doch auch Wurst bei dem Frühstück. Bevor ich fragen konnte, erklärte sie: »Unsere Wurstsorten sind nicht von getöteten Tieren. Wir stellen Wurst und Fleisch künstlich her.«

»Warum?«, fragte ich erstaunt.

Alessa wartete etwas mit der Antwort. Sie wollte sich wohl nicht mit längst vergessenen Moralvorstellungen auseinandersetzen. Schließlich meinte sie: »Wir müssen keine Tiere mehr schlachten. Das möchte ohnehin heute niemand mehr tun. Aber das wirst du später noch verstehen.«

Ich sah Alessa fragend an. Aber sie hatte wohl keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Nach dem wirklich guten Essen brachte sie mich in den Trainingsraum, wo Kajus schon auf mich wartete.

 

 

Der Mensch hat zwar vom Baum der Erkenntnis gegessen,
die Frucht aber noch lange nicht verdaut.

Rüdiger Janson

 

 

 

 

4. Die neue Welt

 

Der Trainingsraum war so groß wie ein Fußballfeld, aber es waren nur wenige Trainingsgeräte vorhanden. Kajus erklärte mir, dass ich mit diesen Geräten alle Muskelgruppen optimal trainieren könne und alles sei vom Computer überwacht und gesteuert. Mit dem Computer könne man sogar holografische Personen erzeugen. Man könne diese Personen so echt darstellen, dass sie sogar als Sparringspartner dienen könnten. Ich war überwältigt von den Spielereien dieser Zeit. Ich stand nur da und staunte über seine Schilderungen.

»Hast du früher einmal Sport betrieben?«, fragt Kajus.

»Ja«, antwortet ich, »ich habe etwas Karate trainiert.«

»Gut, dann machen wir das jetzt auch«, meinte Kajus und drückte wieder ein paar Knöpfe am Computer. Nach kurzer Zeit erschien das Hologramm eines japanischen Karatemeisters.

»Darf ich dir deinen Sensei vorstellen?«, fragte Kajus lächelnd. Dabei zeigte er mit seiner rechten Hand auf den Meister. »Du kannst mit ihm auch richtig kämpfen, wobei sich die Schwierigkeitsstufen regulieren lassen. Aber das lässt du heute schön bleiben. Du wirst bei gedrosselter Schwerkraft mit deinem Meister ein paar einfache Übungen machen. Am Ende werden wir noch deine Muskeln etwas belasten.«

Kajus startete das Programm.

Ich fühlte mich während des Trainings sehr gut. Kajus war erstaunt, dass ich mich schon wieder so gut bewegen konnte. Seine Aufgabe war aufzupassen, dass ich mich nicht überanstrengte. Darum stoppte er nach einer halben Stunde das Programm.

»Peter, deine Werte sagen mir, dass du für heute Schluss machen solltest.«

»Gut«, bestätigte ich erschöpft, »meine Muskeln spielen noch nicht so richtig mit.«

»Kein Wunder nach 600 Jahren Tiefschlaf«, meinte Kajus anerkennend.

Ich wischte mir mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht und ging auf Kajus zu. Ich sah ihn an und fragte: »Sag mal, Kajus: Ich bin doch nicht der Einzige, der eingefroren wurde. Was ist eigentlich aus den anderen geworden?«

»Ich habe schon befürchtet, dass du mir diese Frage stellen wirst.« Kajus blickte etwas bedrückt aus dem Fenster ins All hinaus. Mit der rechten Hand streifte er durch sein Haar und atmete tief durch. Wie sollte er mir auch die Gründe für den langen eisigen Schlaf erklären? Schließlich hätte man ja die Alten schon viel früher wecken können. Doch man wollte sie wohl einfach vergessen, und jede Generation hoffte, dass die Nachkommen schon einen Ausweg finden würden. So waren 600 Jahre vergangen.

»Wir werden dir alles heute Abend erklären, Peter. Aber so viel kann ich dir jetzt schon sagen: Stell dir vor, im 20. Jahrhundert hätte es Eingefrorene gegeben, die aus dem Mittelalter stammten! Aus einer Zeit, als die Menschen noch an Hexen und Dämonen glaubten. Wenn man solche Menschen mit eurer Welt konfrontiert hätte – was, glaubst du, wäre wohl geschehen? Das Erwachen wäre doch nicht ganz unproblematisch gewesen. Oder bist du anderer Meinung?« Bevor ich antworten konnte, redete Kajus weiter: »Wir haben ein Problem, und du sollst uns dabei helfen, Peter. Die anderen Konservierten zu wecken ist nicht so einfach, wie du glaubst. Wir haben keine schwarzen Schafe mehr in unserer Herde, und das soll auch so bleiben. Ich kann dir jetzt nicht die Gefühle schildern, die man euch gegenüber empfindet. Das wäre noch zu früh und würde auch zu weit führen, aber du kannst mir glauben, dass wir alle etwas Angst vor den Alten haben.«

Mit einer solchen Erklärung hatte ich nicht gerechnet. Ich antwortete: »Mit euren technischen Möglichkeiten dürfte es doch nicht schwer sein, mit ein paar Menschen fertigzuwerden, die aus einer wilderen Zeit stammen! Und außerdem kann ich nicht glauben, dass ihr wirklich so anders seid als wir. Was für eine Bewusstseinsveränderung habt ihr wohl durchgemacht, dass ihr euch so überlegen fühlt? Seid ihr wirklich so anders als wir?«

»Ja, wir sind anders«, antwortete Kajus leise. »Viele von euch werden nie verstehen, wie anders wir sind.«

 

Als wir den Trainingsraum verließen, wirkte Kajus besorgt und nachdenklich. Ich sah noch einige wunderliche Dinge wie die Dusche, die computergesteuert allen Wünschen gerecht wurde. Eine erotische Frauenstimme fragte nach den Bedürfnissen, dann wurde man von allen Seiten mit Wasser, Schall und Licht gewaschen. Alles war viel besser als in meiner Zeit. Aber war wirklich alles besser? Ich begann zu zweifeln.

»Irgendwo ist hier der Wurm drin«, sagte ich leise zu mir selbst.

 

Alwin war mit 55 Jahren der Älteste auf der Station. Er wartete vor dem Trainingsraum auf mich. Der bärtige Mann strahlte eine innere Ruhe aus und vermittelte ein Gefühl der Geborgenheit. Als ich ihn sah, musste ich an meinen Onkel John denken. Die beiden waren sich irgendwie ähnlich.

»Hallo Peter, ich bin Alwin«, sagte er mit dunkler, kräftiger Stimme. »Ich werde dir jetzt deine Unterkunft zeigen. Du musst entschuldigen, dass wir deinen Privatbereich nach unseren Vorstellungen gestaltet haben. Auf der Erde werden wir uns selbstverständlich nach deinen Vorstellungen richten.«

Ich sah Alwin ungläubig an. Mit so viel Gastfreundschaft hatte ich nicht gerechnet. Ich fragte mich, wie das alles finanziert wurde und was man von mir erwartete. Alwin lachte verwundert als diese Fragen laut äußerte.

»Finanziert?«, fragte er überrascht. »Damit meinst du wohl den altmodischen Umgang mit Geld, was man auch als Bezahlen bezeichnet. Es gibt schon lange kein Geld mehr. Wir benötigen keines. Weißt du, wenn sich jeder das nimmt, was er braucht, nicht mehr und nicht weniger, wozu braucht man dann noch Geld? Wir haben alles, was wir brauchen, und es geht uns sehr gut. Wenn das nicht so wäre, hätten wir nicht das Recht, uns als wirklich hochzivilisierte Wesen zu bezeichnen.«

Ich konnte nicht glauben, dass das so einfach sein sollte. Alwin erklärte mir etwas vom »Gesetz der Vernunft«. Ich wusste nicht, wie er das meinte. Was verstand die neue Generation unter dem Begriff »Einzig wahre Vernunft«?

Alwin erklärte: »Gott gab uns vor langer Zeit zehn Gebote, weil die Menschen nicht in der Lage waren, diese Gebote selber zu machen. Doch wer hat Gott diese Gebote gegeben? Oder Buddhas achtfacher Pfad! Wenn es also keine einzig wahre Vernunft geben kann, nach welchen Kriterien wurden dann diese Gebote geformt? Wer an ein Leben nach dem Ende glaubt, der möchte doch bestimmt in den Himmel oder in ein Paradies oder wie auch immer man das nennen mag. Was, glaubst du, kostet dort ein Zimmer? Und wer definiert dort das Wort Gerechtigkeit? Ein Volk, das sich für hochzivilisiert hält, sollte doch auf dicke Gesetzbücher verzichten können! Es gibt immer eine vernünftige Handlungsweise. Es kann doch auch Gerechtigkeit geben ohne Präzedenzfälle. Wer wahre Größe erreicht hat, der hat auch keine Schwierigkeiten mit dem kollektiven Denken. Aber ich erwarte nicht, dass du das sofort verstehst.«

»Weißt du, Alwin, zeig mir erst einmal die Station und meine Unterkunft! Das ist mir alles noch zu hoch. Wir können ja später noch darüber reden.«

Alwin lachte. »Du wirst das sicher bald besser verstehen, du hast ja Zeit.«

 

Mein Wohnbereich war wunderschön eingerichtet. Vor einer großen Monitorwand stand ein bequemer Sessel mit einigen Knöpfen auf der rechten Lehne. Ein kleiner Dienstroboter, den ich »Little Joe« taufte, gehörte auch zum Inventar. Die Wohnung war eingerichtet wie ein altes Blockhaus, mit Möbeln aus Holz und einem Kamin. Ein wunderschöner Springbrunnen stand zwischen herrlich blühenden Pflanzen. Das Wasser lief über einen Stein in ein Aquarium mit Meeresfischen. Sogar eine Gitarre war da. Sie hatten an alles gedacht.

Alwin bemerkte mein Erstaunen und fragte mich, ob in meiner Zeit nicht alle Menschen Anspruch auf lebensnotwendige Dinge gehabt hätten. Ich bemerkte immer mehr, dass sich die Zeiten nicht vergleichen ließen. In dieser Zeit gab es offenbar keine Menschen, die sich auf der faulen Haut ausruhten. Jeder schien das zu tun, was er konnte, und wurde auch dann gerecht mit dem belohnt, was alle hatten. Das kollektive Denken und der Zusammenhalt waren unglaublich groß. Als ich Alwin nach Kommunismus und Sozialismus fragte, wollte er wissen, was das sei. Natürlich wusste er es, aber warum er nichts davon wissen wollte, verstand ich nicht.

Aber darauf konnte ich mich im Moment nicht konzentrieren. Als ich in meinen Wohnbereich kam, musste ich an meine Familie denken. Was war wohl aus ihnen geworden? Alwin wusste die Antwort auf diese Frage.

»Peter, mein Junge, ich weiß, dein Onkel war ein großer Mann, der sein Leben der Wissenschaft gewidmet hat. Er wird dir fehlen. Aber hier, in unserer Zeit, wirst du viele Leute finden, die so sind wie dein Onkel und seine Familie.«

Ich schaute Alwin lächelnd an und sagte: »Er hat auch immer ›mein Junge‹ zu mir gesagt.«

»Das wissen wir. Professor Dr. Johann Müller hat zwei Jahre nach deinem Einfrieren den Nobelpreis bekommen. Das war auch einer der Gründe, warum wir dich zuerst geweckt haben«, meinte Alwin mit ernster Stimme.

Ich fragte Alwin, wieso sie Angst vor den anderen Konservierten hätten.

»Angst ist vielleicht nicht das richtige Wort«, erwiderte Alwin. »Wir verzichten zum Beispiel auf Gewaltfilme, auf gewalttätige Musik und überhaupt auf jede Art von gewalttätigen Geschichten. Unsere Generation ist bei Weitem nicht so hartherzig wie eure. Deine konservierten Kollegen sind der neuen Generation an Härte überlegen. Ihr Verhalten wird die Menschen der heutigen Zeit oft erschrecken und schockieren. Die Vergangenheit ist mitleidlos, voller Gewalt und Leid. Mitleid galt als Schwäche und überflüssige Humanitätsduselei. Wie armselig dumm doch diese Denkweise war! Eine friedliche Zukunft kann nur auf Mitgefühl und Weisheit aufgebaut werden. Wir haben aus der Geschichte gelernt, aber wir beschäftigen uns nicht gerne damit. Sie lastet auf uns wie ein schwerer Stein. Doch wir dürfen diesen Stein nicht wegrollen und unsere Geschichte vergessen. Das wäre ein nicht wieder gutzumachender Fehler. Aber vielleicht hast du recht, vielleicht haben wir wirklich Angst vor euch. Eure eingefrorene Existenz ist für uns wie eine Warnung aus vergangener Zeit. Ihr habt die Erinnerung an die Geschichte aufrechterhalten; eine Erinnerung, die nie verloren gehen darf.«

Ich diskutierte noch eine ganze Weile mit Alwin. Ich erklärte ihm, dass auch in meiner Zeit Menschen gelebt hätten, die mit Weisheit und Güte gesegnet gewesen seien.

»Die Macht lag aber nicht in ihren Händen«, sagte er geheimnisvoll. »Es gab zu wenig gute Menschen. Ich meine jetzt solche, die auch bereit waren, wirklich umzudenken, um der Zukunft eine Chance zu geben. Deine Generation folgte einem uralten Instinkt: dem Eigennutz. Es gab immer schon außergewöhnliche Menschen. Es waren gute und vernünftige Menschen; Menschen mit guten Vorsätzen. Es gab aber zu wenige gute Menschen, um die Welt wirklich zu verändern. Wir versuchen seit fünfhundert Jahren, nach den Regeln der Vernunft zu leben, und es gibt nur einen Weg, so zu leben.«

Alwin sah mich an und betonte die letzten Worte besonders: »Unser Weg.«

Ich antwortete, dass ich Zeit brauche, um über alles nachzudenken. Jetzt verstand ich auch, warum sie solche Informationen nur stückchenweise herausrückten.

Alwin zeigte mir noch den Computer. Er war einfach zu bedienen. Die kühnsten Träume der Vergangenheit waren hier längst überholt. Mir stand alles Wissen der Menschheit zur Verfügung. Allerdings waren geschichtliche Fragen und Fragen zur Gesellschaft noch gesperrt. Meine Lehrer wollten mich persönlich unterrichten. Als Alwin sich verabschiedete, saß ich bereits im Sessel und begann, den Computer zu testen.

Während ich mich später auf meinem Bett ausruhte, versammelten sich die anderen im Konferenzraum und gaben dem obersten Rat auf der Erde einen ersten Bericht.

 

Ich dachte über das Erlebte nach und wurde durch das Läuten der Türglocke aus meinen Träumen gerissen. Alessa stand draußen. Ihr Roboter schob das Mittagessen zur Tür herein. Sie schaute mich lieb an und tat so, als ob sie mich schon viele Jahre kenne. Ich fühlte mich gut in ihrer Nähe. Mir war jedoch nicht bewusst, was sie vorhatte. Die Bräuche und Sitten der neuen Zeit waren mir nicht bekannt. Ein Augenzwinkern bedeutete wesentlich mehr als zu meiner Zeit. So konnte ich auch die Blicke und das Lächeln Alessas nicht richtig deuten. Aber das war auch nicht notwendig. Sie war ziemlich direkt. Ich war ihrer Geschicklichkeit völlig erlegen.

 

 

Wer das wahre Paradies im Geiste nicht entstehen lassen kann, sollte sich niemals beschweren, wenn es ihm für immer verwehrt bleibt.

Rüdiger Janson

 

 

 

 

5. Neue Freunde

 

Alessa hatte mich völlig überrumpelt. Dass sie mit mir eine Liebesstunde erleben wollte, hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich wollte nicht danach fragen, aber mich hätte wirklich brennend interessiert, wie man in der neuen Zeit mit einer Partnerschaft umgeht. Doch dazu kam ich nicht mehr. Alessa war schneller aus ihren Kleidern gehüpft, als ich mir das vorstellen konnte. Sie schubste mich auf mein Bett und ich ließ alles mit mir machen. Ich wusste nicht, ob ich mich auf eine überaus erotische neue Zeit freuen solle. Ich fragte mich, ob das hier normal sei. Als wir uns genügend ausgetobt hatten, machten wir einen langen Spaziergang über die Station. Nun konnte ich endlich die ganze Pracht und Schönheit der Station sehen. Wir kamen in einen Raum mit seltsam schwarzen Wänden. Am Eingang befand sich ein Computer. Alessa drückte schnell ein paar Tasten. Ich war gespannt, was jetzt kommen würde.

Rundherum erschienen plötzlich die Sterne. Es hatte den Anschein, als befände ich mich außerhalb der Raumstation. Alessa schaltete auch noch die Schwerkraft aus. Dazu lief sanfte Rockmusik. Es war so, als ob wir außen um die Raumstation schwebten. Es war wunderschön. Ich fühlte mich wie im Himmel. Alessa schwebte lachend zu mir. Wir erlebten wunderschöne Stunden. Sie hatte ihr Netz gespannt, und ich hatte mich darin verfangen.

»Wie viele Frauen hast du eigentlich schon gehabt?«, wollte sie nach diesem Erlebnis wissen.

Na, die Frauen schienen sich nicht sonderlich geändert zu haben. Diese Frage hatte ich fast schon erwartet. Zuerst überrumpelte sie mich, und dann stellte sie anspruchsvolle Fragen. Ich hatte die Frauen in meiner Zeit schon nicht verstanden. Darum war ich mit meiner Antwort auch sehr zurückhaltend.

»Da waren nur Mädchen, die es mit der Liebe nicht so genau nahmen«, antwortete ich. »Die Letzte war mir von meiner Cousine Sally zugespielt worden. Sie sollte mir die letzten Tage etwas verschönern, doch zu diesem Zeitpunkt hatte ich andere Dinge im Kopf als Frauen.«

Ich wollte nicht zu viel von meiner Vergangenheit erzählen. Ich wusste damals noch nicht, dass sie sowieso alles über mich erfahren würden.

 

Als wir im Park ankamen, waren schon alle dreiundzwanzig auf der Station befindlichen Menschen versammelt.

Die Begrüßung war herzlicher, als ich es mir eigentlich gewünscht hatte. Ich wollte distanziert reagieren, aber sie taten, als sei ich der verlorene Sohn, der nach langer Reise endlich nach Hause gekommen sei. Außer Alwin, Kajus, Karda und Alessa begrüßten mich noch Cassian, David, Felipe, Glorius, Jeronimus, Justus, Klaudius, Lanzelot und Samuel.

Die Frauen hießen Mia, Nelly, Sanny, Sarina, Terry, Elina, Denise, Conny, Blanche und Frieda.

Ich sah mir meine neuen Freunde genau an. Sie saßen oder lagen alle bequem auf dem Rasen. Als Unterlage hatten sie weiche Kissen und Matten. So hatte ich mir eine Versammlung nicht vorgestellt. Irgendwie erinnerte mich das an die Hippiezeit in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie hatten Musikinstrumente dabei und sangen und spielten fröhliche Lieder. Ihre Kleider waren schlicht, bequem und einfach. Aber da war noch etwas, das mir schon an Alessa und den anderen, die ich bereits kannte, aufgefallen war. Sie trugen alle kleine golden oder silbern glänzende Plaketten an ihren T-Shirts. Auf den Plaketten waren Zeichen zu erkennen, die wie Hieroglyphen aussahen. Ich konnte damit nichts anfangen.

Ich fragte nach den Nachnamen, aber die gab es nicht.

Cassian erklärte mir: »Nachnamen spielen in unserer Zeit keine große Rolle mehr. Daher versuchen die heutigen Menschen immer, Vornamen zu finden, die nicht so häufig vorkommen.«

Mit jeder Frage, die mir beantwortet wurde, wurde meine Verwirrung nur noch größer. Jede Frage brachte eine neue Frage mit sich. Langsam wurde mir bewusst, dass ich diese Welt nicht an einem Abend verstehen konnte.

Ich setzte mich hin und dachte nach. Alessa setzte sich dicht neben mich und schaute listig lächelnd in die Runde. Ich fragte nach den Plaketten, denn das interessierte mich am meisten. Sie verhielten sich alle, als müssten sie einem kleinen Jungen die Welt erklären. Frieda war mit 45 Jahren die älteste Frau auf der Station; sie antwortete:

»Weißt du, wir haben unsere Untugenden auch noch nicht ganz beseitigt, aber wir haben sie ganz gut in den Griff bekommen. Nun willst du sicher wissen, wie. Nun, das ist so: Wir treffen uns zweimal im Jahr mit etwa zwölf Personen zur Beichte. Der ganze Vorgang wird von jemandem überwacht, den du vielleicht am ehesten als Pfarrer bezeichnen würdest. Pfarrer können nur die werden, die bei solchen Beichten in einer Stadt am besten abschneiden. Lügen ist sinnlos, das würde der Computer sofort anzeigen. Dadurch können wir auch, in Verbindung mit einer leichten Hypnose, verborgene Aggressionen oder sexuelle Probleme erkennen. Du hast für diese Dinge sicher kein Verständnis, aber merke dir: Wer nicht bestohlen werden will, der darf auch nicht stehlen. Wer nicht belogen werden will, der darf auch nicht lügen. Und wer nicht betrogen werden will, der darf auch nicht betrügen.

Wenn du in einer besseren Welt leben willst, musst du erst selbst einmal besser werden. Aber um das zu verstehen, musst du noch eine Menge Dinge zu akzeptieren lernen. Als wir zum ersten Mal mit dieser Beichte anfingen, war es erschreckend zu sehen, wie viele Menschen seelische Probleme hatten. Es war auch schlimm zu erkennen, wie viele Menschen Verbrechen begangen hatten. Es waren Menschen darunter, denen man nie ein Verbrechen hätte nachweisen können. Wir haben das Böse bekämpft wie eine Krankheit, denn auch ein braver Bürger kann in seinem Innersten von einer schlimmen Tat träumen. Und was die Plaketten angeht, das ist einfach: Man kann darauf erkennen, was der Träger für Fähigkeiten hat, was er bisher geleistet hat, was er für einen Sport treibt, kulturelle Dinge, Hobbys oder sonstige Dinge. Man kann auch erkennen, ob jemand zur Gewalt neigt oder andere schlechten Eigenschaften hat. Natürlich sind auch die guten Eigenschaften erkennbar.«

Ich hatte mir das mit Entsetzen angehört. Ich bekam kein Wort heraus. Was ich gerade hörte, war unfassbar. Frieda wollte weiter erklären, wie man schlechte Eigenschaften bekämpfte, denn ich wusste noch längst nicht alles. Doch ich unterbrach sie. Ich wollte im Moment gar nicht mehr hören.

Dennoch erläuterte Justus, dass es keine Diktaturen oder totalitäre Systeme mehr gebe. Als ich wieder nach der Regierungsform fragte, meinte er etwas spöttisch: »Himmelismus. Aber wem das nicht gefällt, der kann gerne sein Unwesen in der Hölle weitertreiben.«

Ich hatte sie an einer verwundbaren Stelle erwischt. Sie wollten nicht mit der Geschichte in Verbindung gebracht werden. Nicht mit Kommunismus, Sozialismus, Demokratie oder anderen missglückten Regierungsformen. Sie meinten nur, es gebe keine Regierungsform, mit der die Menschen der Vergangenheit auf Dauer hätten vernünftig umgehen können.

Ich dachte über ihre Worte nach. Auch in meiner Zeit träumten Menschen von einer himmlischen Erlösung. Aber keiner konnte ein Bild vom Himmel malen. Mir wurde bewusst, welche Probleme es geben würde, wenn sie alle anderen eingefrorene Menschen wieder ins Leben zurückholten.

Schließlich beendete Alessa das Gespräch und meinte: »Hört doch auf, über Politik zu reden! Heute kommt der Nikolaus, lasst uns feiern!«

»Der Nikolaus kommt?« Ich lachte. »Ich glaub’ es nicht.«

»Ja«, meinte Alwin, »wir feiern immer am 5. Dezember Nikolausabend und am 24. Dezember Heiligabend. Das war doch schon in deiner Zeit so.«

»Ja, allerdings, und ich bin froh, dass sich daran nichts geändert hat. Allerdings ist der Nikolaustag erst morgen.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1902-6

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