Teil 3
Mein Freund Helmut
Es war ungefähr vierzehn Uhr dreißig, als ich im Rückspiegel einen dunkelgrünen Volvo F 89, Sattelzug, rechts blinkend, hinter meinem Lkw, an den Straßenrand fahren sah. Ich stieg sofort aus, denn ich konnte es kaum erwarten, Helmut nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen. Die Begrüßung war wirklich herzlich und in mir stieg ein rich-tiges Glücksgefühl empor. Wie schön war es, endlich wieder einmal mit einem anderen Menschen zu sprechen, den man dazu noch mochte. Wie gut mir das tat, konnte niemand erahnen.
Wir hatten uns soviel zu erzählen, daß wir anfangs ganz darauf vergaßen, warum wir hier schon so lange standen. Seit vielen Tagen kam Gott sei Dank auch der Humor wie-der zum Vorschein. Während wir die von Helmut mitgebrachten Reifen montierten, redeten wir ununterbrochen miteinander und ich bemerkte, die Freude war gegensei-tig. Nach gut einer Stunde Arbeit und Späßchen machen, konnten wir unsere Fahrt endlich wieder fortsetzen. Seit Wochen hatte ich nicht mehr soviel gelacht wie in die-ser kurzen Zeit. Das war Balsam für meine Seele! Wir fuhren zu dritt hintereinander abermals nach Sofia, weiter nach Plovdiv Richtung türkische Grenze.
Doch bevor wir an den Feierabend denken konnten, durften wir eine Arbeit wiederho-len, die jedem Trucker ein Greuel ist. Nämlich, bei Marcel`s Anhänger diesmal gleich zwei Reifen zu wechseln. Bevor Marcel seinen Truck wegen eines Reifenschadens zum Stillstand bringen konnte, verriß es den zweiten auch gleich. Mittlerweile hatte ich den Eindruck, daß entweder der Anhänger total überladen war, oder es stimmte sonst et-was nicht. Das ganze kam mir langsam spanisch vor. Nach getaner Arbeit fuhren wir noch, da es wieder dämmerte, bis zum nächsten Restaurant und feierten unser Wie-dersehen bis spät in die Nacht.
Am nächsten Morgen setzten wir unsere Fahrt nach dem Frühstück Richtung Di-mitrovgrad und Kapikule fort. Doch gleich nach Dimitrovgrad war Endstation. Wie wir von einem entgegenkommenden Lkw Fahrer erfuhren, war ein vierzig Kilometer langer Lkw Stau vor der türkischen Grenze der Grund dafür. Dies bedeutete, zwei Tage und eine Nacht keinen Schlaf! Denn wir mußten mit der Kolonne immer wieder nachrücken, auch in der Nacht. Tat ich das aus irgendeinem Grund nicht, schlugen einem die Lkw Fahrer die hinter mir warteten, aus Wut und Zorn die Windschutzscheibe ein und fuhren vor. Dies galt es tunlichst zu vermeiden! Nicht schlafen und sich nicht all zu weit vom Fahrzeug entfernen war angesagt!
Am übernächsten Morgen, am 8. 12. 1981 fuhren wir alle drei mit unseren Lkw in den Zoll hof von Kapikule – Edirne. Die Ausreise ging ohne größere Probleme und ziemlich flott voran. Bei der Einreise in die Türkei, forderte mich Helmut auf, ein paar Geld-scheine in meinen Papieren zu deponieren. Ich war todmüde von der langen Warterei in der Kolonne. Alle fünfzehn bis zwanzig Minuten mußten wir ein Stückchen weiter fahren. An Schlaf war da nicht zu denken. Dann gingen wir gemeinsam zum Schalter, gaben unsere Papiere ab und warteten bei unseren Lkw`s, bis wir diese öffnen durften. Auf dem Zollgelände, das knöcheltief mit Schlamm und Wasser überflutet war, arbeiteten türkische Helfer, die auch, wenn man sie dreimal verschickte, einem gegen Geld unbedingt helfen wollten, die Plane und die Bordwände des Lkw`s zu öffnen. Doch um nichts auf dieser Welt hätte ich diesem pseudo Helfer von meinem Geld etwas gegeben. Wenn er schon meinte, mir helfen zu müssen, sollte er eben umsonst „arbeiten“. Auch, wenn er dies noch nicht wußte.
Während die Zollbeamten meinen Lkw durchsuchten, ertappte ich mein aufdringliches Helferlein immer wieder, wie er nach mir Ausschau hielt, ob ich mit der Verzollung wohl schon fertig bin. Denn bevor ich ihn verjagen konnte, zog er an meinem Auflieger die Zollschnur aus den Ösen und wollte dafür auch noch Geld. Irgendwie machte ich ihm dann verständlich, daß, wenn ich mit der Verzollung fertig wäre, zuerst Geld wechseln müsse und ich ihn dann bezahlen würde. Wie mir schien, glaubte er mir.
Es sollte noch zwei Stunden dauern, bis ich mit meiner Verzollung fertig war und im-mer wieder hielt dieser nach mir Ausschau.
Jedes mal, wenn ich ihn sah, spazierte ich von meinem Lkw weg und verschwand zwi-schen den anderen Fahrzeugen. Immer wieder spähte ich zwischen den Reifen durch und beobachtete ihn, wo er sich befand. Kam er mir zu nahe, huschte ich unter einem fremden Lastwagen unten durch und begab mich wieder zu meinem Auto. So hatte ich wieder ein paar Minuten Ruhe von dieser geldgierigen Klette. Je länger dieses Spiel dauerte, desto nervöser und hastiger hielt er nach mir Ausschau, was mich auf der ei-nen Seite nervte, aber auch gleichzeitig amüsierte. Denn er vergaß völlig auf seine „Arbeit“. Es kam ihm überhaupt nicht mehr in den Sinn, anderen Lkw Fahrern „zu helfen“ und auf die Nerven zugehen.
Mittlerweile begab ich mich zum Zollgebäude, das sich auf einer kleinen Anhöhe be-fand und blickte sicherheitshalber nochmals runter zu den Fahrzeugen. Fast im Lauf-schritt rannte er umher und suchte mich. Das ganze entwickelte sich zu einem regel-rechten Katz und Maus Spiel. Seine untersetzte Figur und seine sehr kurzen Beine lie-ßen das Spiel um ein vielfaches witziger wirken. Kam mir bei meiner „Flucht“ vor ihm ein anderer Helfer entgegen, verschwand ich einfach unter einem Lastwagen, denn ich wußte nicht ob sich diese Plagegeister untereinander absprachen.
Ziemlich zur gleichen Zeit bekamen Helmut, Marcel und ich unsere abgefertigten Pa-piere zurück und wir durften fahren. Da ich vor meiner Abfahrt zuerst meinen „Geld-eintreiber“ ablenken mußte, war ich der letzte von uns dreien, der den Parkplatz ver-lassen konnte.Die Straße hinderte mich daran, schleunigst von hier weg zu kommen, denn die Schlaglöcher waren viel zu groß. Somit fuhr ich mit angepaßter Geschwindig-keit weiter und wähnte mich schon in Sicherheit. Doch nach ca. sechshundert Meter kam die Endkontrolle, was mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt war. Routine-mäßig sah ich in meinen Rückspiegel und erblickte zu meinem Schrecken, das mir die-ser geldgierige Gnom mit hoch erhobenen Händen nachrannte. Zum gleichen Zeit-punkt sah ich das Gebäude in dem sich die Endkontrolle befand und gab Gas. In Anbet-racht der Tatsache, diesen Quälgeist im Nacken zu haben, fürchtete ich, meinen Sattel-schlepper auf diesem „Feldweg“ um zu werfen.
Ich stieg aus und reichte meine Papiere durch das kleine Fenster dem Beamten. Ver-stohlen blickte ich in die Richtung meines Verfolgers und betete zu Gott, er möge dafür sorgen, dass ich meine Papiere frühgenug zurückbekam und ich verschwinden konnte. Aus einiger Entfernung hörte ich diesen Oberidioten schreien. Nach vorne gebeugt blieb er abrupt stehen, stemmte die Arme auf seine Knie und rang nach Luft. Mich überkam große Angst, denn sollte mich dieser Bastard noch rechtzeitig erreichen, konnte er dem Beamten von der Endkontrolle erzählen was er wollte. Ich verstand kein türkisch und hätte mich nicht rechtfertigen können. Auf dieses Problem konnte ich gerne verzichten. Er hatte sich auf fünfzig Meter fuchtelnd und schreiend mir genä-hert, als mir der Zollbeamte endlich meine Papiere zurück gab und ich mich schleunigst davonmachen konnte. Erst als ich mich in Sicherheit wähnte, öffnete ich mein Seitenfenster und streckte meinen Mittelfinger demonstrativ hinaus.
Nach meiner „freundlichen“ Geste gab er, seine Hände in die Höhe werfend, auf, dreh-te sich enttäuscht um und ging sichtbar fertig, die sechshundert Meter wieder zurück. Tief beeindruckt von mir selber, gab ich Gas und genoß das erste Mal in meinem Leben die türkische Landschaft.
Da es bei unserer Abfahrt schon spät am Nachmittag war, entschlossen wir uns, auf je-den Fall bis Istanbul ins Londracamp durchzufahren. Erst kurz vor Mitternacht kamen wir, mit zwei von Marcels Reservereifen weniger, in Istanbul an. Wir hatten gerade einmal ein viertel unserer Reise hinter uns. Marcel hingegen war mit seinem Lkw nicht einmal tausend Kilometer gefahren und war imstande, auf dieser kurzen Etappe insge-samt sieben Reifen kaputt zufahren.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, ließen wir unsere Lastwagen waschen. Un-sere Scheiben waren so schmutzig, dass man außer an der Stelle, an der die Scheiben-wischer ihre Arbeit verrichteten, nichts mehr sehen konnte. Anschließend mußte bei meiner Zugmaschine noch die Auspuffhalterung, die schon in Bulgarien gebrochen war, geschweißt werden. Das Londracamp war ein riesiges Gelände, das von bewaffneten Soldaten bewacht wurde. Es beherbergte ein großes Restaurant, in dem man für türkische Verhältnisse recht gut essen konnte, einen Duty Free Shop, eine Tankstelle mit mehreren Spuren für Lkw und einer relativ gut eingerichteten Werkstätte. Da Helmut, Marcel und mir mitteilte, daß wir auf Emil, unseren Chef warten sollten, denn er sei bereits auch mit einem Lkw unterwegs nach Bagdad, ließen wir es uns richtig gutgehen. Wir besichtigten Istanbul, gingen in den Basar, den Fischmarkt und bestaunten die blaue Moschee. In der irakischen Botschaft in Istanbul besorgten wir uns das Visum für den Irak und kurvten mit dem Taxi kreuz und quer durch die riesige Stadt. Für mich als zwanzigjährigen Bursche, der von zuhause noch nie soweit weg war, konnte zu diesem Zeitpunkt nichts aufregender sein.
Am nächsten Tag zeigte uns Helmut, der diese Strecke schon oft gefahren war, auf der asiatischen Seite von Istanbul den sogenannten „Fleischberg“, das Hurenviertel dieser Großstadt. Zu dritt gingen wir auf ein großes eisernes Tor, das von einem bewaffneten Soldaten bewacht wurde zu. Bereitwillig öffnete dieser uns das Tor und wir befanden uns auf einer Straße, auf der hunderte von Männern zu sehen waren. Und fast alle drückten ihre Nasen gegen das Glas der Auslagescheiben, denn dahinter saßen die so-genannten Damen und präsentierten sich.
Es war fast kein Durchkommen bei diesem Gedränge. Diese Straße war sicher fünfhun-dert Meter lang und bei jedem Haus bot sich beidseitig dasselbe Schauspiel. Ich hatte bis jetzt so etwas noch nie gesehen. Helmut konnte sich plötzlich nicht mehr zurück- halten und wollte mich dazu überreden, mit ihm in ein sogenanntes „Kaufhaus“ zuge-hen. In Anbetracht der Tatsache, daß, wenn auch nur jeder zehnte dies auch tat, ver-ging mir schlagartig die Lust auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ob ich mit-gehen sollte oder nicht! Ob meine Entscheidung sich als richtig erwiesen hatte mit zu- gehen oder nicht, stellte sich nach drei Tagen von selber heraus. Helmut mußte zum Arzt. Mann war ich froh! Das hätte mir gerade noch gefehlt.
Anschließend überredete uns Helmut, eine Teppichmanufaktur zu besichtigen. Wäh-rend wir heißen Tee serviert bekamen, führten uns die Inhaber dieses Geschäftes ei-nen Teppich nach dem anderen vor. Irgendwann zeigte er uns einen kleinen Wandtep-pich aus reiner Seide, der es mir auf Anhieb angetan hatte. Da ich den Teppich nicht in den Irak einführen wollte, machte mir der Verkäufer den Vorschlag, eine Anzahlung zu leisten und diesen auf meiner Rückreise abzuholen. Da es kein Problem darstellte, in österreichischer Währung zu bezahlen, gab ich ihm gegen Rechnung eintausend Schil-ling. Der Kaufpreis dieses Schmuckstückes betrug umgerechnet zweitausendfünfhun-dert Schilling.
Emil traf mit einem Tag Verspätung und einer weiblichen Beifahrerin in Istanbul ein. Wer diese Frau war, konnte ich erst sehen, als sie ausstieg. Es war Andrea, die Ex-freundin von Helmut. Ich kannte sie ebenfalls, denn sie stammte auch aus Bludenz und jetzt waren sie und unser Chef ein Paar.
Wie sich herausstellte, fuhren sie zur gleichen Firma im Irak, wie Marcel und ich. Da ich mit Marcel nur das allernötigste sprach, freute ich mich riesig, noch zwei Bekannte an meiner Seite zu haben. Denn eine weibliche Begleitung würde diese strapaziöse Reise sicher etwas auflockern. Sie besaß den Lkw Führerschein und konnte mit einem Vierzigtonner recht gut umgehen. Somit hatten wir, sollte einem von uns etwas passieren, immer noch einen Ersatzfahrer und dies war kein Nachteil. Da es schon mitten am Nachmittag war und wir das nächste bewachte Camp vor der Dunkelheit nicht mehr erreicht hätten, entschlossen wir uns, erst am Morgen des nächsten Tages Richtung Ankara loszufahren. Als ob Emil meine Gedanken lesen konnte, entschuldigte er sich bei mir für sein plötzliches Verschwinden am Walserberg. Ich war ihm nicht mehr böse, sondern heilfroh, nicht mit Marcel alleine unterwegs sein zu müssen.
Helmut machte uns dann noch auf einen Umstand aufmerksam, von dem ich nichts gewußt und Marcel nicht daran gedacht hatte. Auf der Strecke bis zur irakischen Gren-ze befanden sich alle einhundert bis einhundertfünfzig Kilometer Kontrollposten, die es galt anzufahren und die Papiere abstempeln zu lassen. Dies hatte den Grund, daß wir die Transitroute nicht verlassen durften und die Beamten uns Fernfahrer so kontrollie-ren konnten. Dann fuhren wir endlich los. Mit vier Fernzügen unserer Firma fuhren wir im Konvoi über die berühmte Bosporusbrücke. In meinem Casettenradio lief gerade ein Lied von Pink Floyd, auf der linken Seite sah ich das schwarze Meer und zu meiner Rechten das Marmara Meer. In diesem Moment stieg in mir ein Glücksgefühl empor, das ich bis dato noch nicht kannte. Kaum hatten wir die Großstadt verlassen, änderte sich auch schon die Landschaft. Mit jedem gefahrenen Kilometer schwand der Reich-tum der kleinen Dörfer und der Einwohner sichtbar. Wir legten zig Kilometer zurück, bis wir wieder eine kleinere Stadt passierten. Die Landschaft war mit sanften Hügeln überzogen und da wir sehr früh am Morgen losgefahren waren, lag noch dichter Früh-nebel in den Senkungen.
Der Straßenverlauf führte auf einer leichten Erhebung entlang, von der man zwischen den kleinen Hügeln gut auf die Nebelfelder blicken konnte. Und genau aus so einem Nebelfeld ragten zwei kleine Zwiebeltürme und eine große Kuppel, die von mehreren Scheinwerfern mit türkisenem Licht angestrahlt wurden. Gleichzeitig berührten die ersten Sonnenstrahlen das orientalische Gebäude und die Nebeloberfläche. So war für den Betrachter nur das obere Drittel der Moschee sichtbar. Dieser Anblick war so fas-zinierend und märchenhaft, dass ich ihn bis heute nicht vergessen konnte. Zu gerne wäre ich stehen geblieben und hätte ein paar Erinnerungsfotos gemacht, aber Helmut, Marcel und Emil hatten kein Auge für solche Sachen und ich mußte mich beeilen, daß ich den Anschluß zu ihnen nicht verlor. So passierten wir Dorf für Dorf und in einem von ihnen mußte ich einem toten Esel, der halb auf der Straße, halb im Straßengraben lag ausweichen.
Er mußte schon mehrere Tage dagelegen haben, so dick und aufgeblasen wie er war. Aber die Menschen, die an ihm vorüber gingen, schenkten dieser Kreatur keine Beach-tung. Wir passierten den ersten Kontrollposten, ließen unsere Papiere abstempeln und erreichten das nächste bewachte Camp rechtzeitig vor der Dunkelheit. Unser Essen be-rei-teten wir uns von nun an selber, denn die Kochkunst und die Infrastruktur ließen immer mehr zu wünschen übrig. Wir ließen Ankara hinter uns und legten in Cicekdagi, einem kleinen Provinzkaff einen Zwischenstop ein. Wir mußten uns, zu meinem großen Bedauern, von Helmut verab = schieden. Unsere Wege trennten sich hier, da Helmut nach Teheran und wir nach Bagdad fuhren. Helmut und ich vereinbarten scherzhaft, bei unserer Rückfahrt, im Londracamp, am 24. 12.1981 den Gummibaum, der im Re-staurant stand, zu schmücken. Ich freute mich schon riesig auf unser Wiedersehen.
Doch bevor wir die Ortschaft Kayseri erreichten, hatte Marcel an seinem Anhänger wieder eine Reifenpanne.
Von nun an mußten wir alle etwas langsamer fahren, denn auf der Mittelachse befand sich auf der linken Seite nur noch ein Reifen. Die Belastung für diesen war enorm. Die Landschaft wurde immer karger und die Abstände zwischen den Dörfern von mal zu mal größer. Steppenartige Flächen mit großen Steinen übersät, dazwischen kleinere Berge, prägten das Bild. Menschen waren in dieser Gegend weit und breit keine zu se-hen. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, was wohl wäre, hier eine Panne, oder gar einen Unfall zu haben. Telefon gab es hier nirgendwo und eine Werkstätte, oder ein Krankenhaus zu finden, war für mich unvorstellbar. Diese Tatsache löste in mir abrupt großes Unbehagen aus. Nur der Umstand, daß Emil und Marcel bei mir waren und ich nicht alleine war, tröstete mich etwas.
Mit mäßiger Geschwindigkeit näherten wir uns der Stadt Adana. Vorher hatten wir noch das Taurus Gebirge zu überwinden. Die Straße war steil, kurvig und schmal. Die türkischen Lastwagen mit ihren kleinen Ladeflächen waren größtenteils total überla-den. Vier Meter hoch türmten sich die Waren, die sie mit Stricken kreuz und quer auf ihren Ladeflächen befestigten. Gesetze schien es nicht zu geben, denn alle von ihnen hatten zig Lichter und Lampen in allen Farben an ihren Fahrzeugen. Das war aber auch sehr gefährlich, denn wollte man ein langsameres Auto überholen, sah man blaue, grüne und rote Lichter auf der Gegenfahrbahn. Dies erweckte den Anschein, daß wei-ter vorne auch ein Wagen überholte. Fehlte es an Aufmerksamkeit, bemerkte man zu spät, daß sich dieser einem näherte.
Dieses Mißgeschick passierte mir nur einmal, dann traute ich mich fast nicht mehr zu überholen. Immer wieder ergaben sich dadurch haarsträubende Situationen, die ei-nem wirklich das Fürchten lehrten. Auch mit der Fahrzeugbreite nahmen es die türki-schen Trucker nicht so genau. Manche von ihnen kamen einem eineinhalb Mal so breit wie erlaubt entgegen, mit einer Geschwindigkeit, jenseits von gut und böse. Die vielen Autowracks am Straßenrand bestätigten diese Tatsache zur Genüge. Auf meiner Fahrt über den Taurus sah ich viele Autos, die gerade noch rechtzeitig ausweichen konnten. Manche hatten dieses Glück nicht, aber es blieb meistens bei Blechschäden, wenn sich die Fahrzeuge streiften, oder sie zu weit über den Straßenrand kamen. Auf jeden Fall war ich heilfroh, diese gefährliche Strecke hinter mir zu wissen.
Die Verpflichtung, meine Papiere bei den vielen TIR Kontrollstationen abstempeln zulassen, hätte ich, wäre ich alleine unterwegs gewesen, meistens vergessen. Diese Stationen befanden sich zwar immer am Straßenrand, doch ich sah nicht einmal einen Hinweis dafür. Sie waren unscheinbar entweder in einem verrosteten Container, oder in einer abbruchreifen Bude versteckt. Woher Emil oder Marcel dies wußten, war mir wirklich ein Rätsel.
Wir mußten das nächste bewachte Camp noch vor der Dunkelheit erreichen, weshalb wir uns entschlossen, in Adana keinen Zwischenstop einzulegen. Aus einiger Entfernung sah ich schon das mit Stacheldrahtwällen abgesicherte Gelände, in dem wir die nächste Nacht verbrachten. Früh am Morgen, nach dem Frühstück fuhren wir los. Knapp fünfhundert Kilometer waren es bis zur irakischen Grenze, die wir unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit erreichen mußten. In Europa war es kein Problem diese Strecke zu fahren, wenn man müde war, fuhr man einen Parkplatz an und legte sich schlafen.
Doch hier in der Türkei war solch ein Unterfangen lebensgefährlich, denn wir hatten im letzten bewachten Camp vor der Grenze übernachtet. Auch die Straßenverhältnisse waren mit denen in Mitteleuropa nicht zu vergleichen und mit Hindernissen aller Art mußte man hier immer rechnen. Die Geschwindigkeit war daher dementsprechend anzupassen. Wir ließen die Stadt Gaziantep hinter uns und kamen recht zügig voran. Zwischen den Dörfern wurden die Abstände immer größer. Meilenweit war keine Menschenseele zu sehen, als plötzlich, wie aus dem nichts, fünf Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren, am linken Straßenrand standen und mit einem Stein in der rechten Hand, wild gestikulierend nach Zigaretten verlangten. Warf man diesen Kindern keine Zigaretten zu, versuchten diese, mit ihren Steinen die Windschutzscheiben der vorüber fahrenden Lkw`s zu zertrümmern.
In meiner Unwissenheit winkte ich ihnen zu und schon hörte ich den Aufprall eines Steines an meiner Kabine. Ein Stein traf meinen Rückspiegel und ließ diesen zerspringen, zwei andere Steine verfehlten zum Glück ihr Ziel. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte ihnen den Arsch versohlt. Dies war aber zu gefährlich, denn ich wußte nicht, ob sich noch mehr von diesen kleinen Ganoven, oder gar Erwachsene in der Nähe aufhielten. Ein Trick dieser Banden war, den Fahrer zum Aussteigen zu bewegen. Ein oder zwei Burschen lenkten den Fahrer ab und provozierten ihn, während die übrigen Nachwuchsganoven blitzschnell die Fahrerkabine aussraubten. Zudem durfte ich den Anschluß an Emil und Marcel nicht verlieren, denn einen einzelnen Lkw konnten sie mühelos stoppen.
Noch einmal sollte mir so etwas nicht mehr passieren und blieb, als ich diese Wegelagerer nicht mehr sah stehen und sammelte mehrere kleinere Steine zusammen. Da ich meinen Müll nicht einfach zum Fenster hinaus warf, hatte ich noch einige leere Zigarettenschachteln auf Lager. Diese füllte ich dann mit den Steinen, sodaß sie ungefähr dasselbe Gewicht aufwiesen, wie eine volle Zigarettenpackung. Und meine Rechnung ging voll auf, denn die nächsten Wegelagerer ließen nicht lange auf sich warten. Nur wenige Kilometer weiter standen wieder einige und ließen mich von weitem wissen was sie wollten. Bevor sie einen Schaden an meinem Fahrzeug anrichten konnten, winkte ich mit ausge-strecktem Arm und einer Zigarettenschachtel in den Händen diesen kleinen Bastarden entgegen. Zwanzig Meter vor ihnen warf ich die Packung aus dem Fenster. Wie die Geier stürmten sie auf meine kleine „Spende“. Als sie den Betrug bemerkten, war ich schon außer Reichweite und in Sicherheit. Dieses Spiel widerholte sich noch einige Male und ich mußte mich nicht mehr um meine Windschutzscheibe sorgen. Nachdem ich stehengeblieben war, um die Steine einzusammeln, hatte sich der Abstand von Emil und Marcel zu mir, mehr als erwartet vergrößert. Kaum hatte ich die beiden eingeholt, nahm unsere Fahrt ein abruptes Ende. Marcel hatte wieder eine Reifenpanne!!
Nun hatte Marcel keinen Ersatzreifen mehr für seinen Anhänger. Die Mittelachse lag auf der linken Seite am Boden. Wir montierten den zerfetzten Reifen ab und waren gerade damit beschäftigt, die Achse mit Ketten hochzubinden, als plötzlich eine Horde Kinder um unsere Lkw schlichen. Weit und breit war keine Hütte, kein Dorf zu sehen und trotzdem vergingen keine fünfzehn Minuten bis zu ihrem Erscheinen.
Ich war der Meinung, dass hier ganz sicher kein Postbote mehr vorbei kommen würde. Woher diese Kinder plötzlich kamen war mir wirklich ein Rätsel. Emil erklärte mir, auf meine Frage, die Kinder betreffend, daß diese Menschen, die außerhalb der Dörfer und Städte lebten, in unterirdischen Höhlenwohnungen hausten.
Und genau solche Höhlenwohnungen mußten sich hier in unmittelbarer Nähe befinden. Man hatte in diesem Steinmeer nicht die geringste Möglichkeit, eine solche zu erkennen. Wir versperrten die Türen unserer Lkw`s und während Emil und Marcel versuchten, die Mittelachse mit Ketten hoch zubinden, was sich wegen des großen Gewichtes als äußerst schwierig erwies, patroullierte ich ununterbrochen zwischen unseren Autos, um einen Diebstahl, oder eine Sabotage zu verhindern. In dieser Gegend war ja absolut nichts los, weshalb ein Unfall, oder eine Panne, sich für diese Kinder als willkommene Abwechslung erwies und unter Umständen war ja auch etwas zu holen. Aber ich gab ihnen nicht die geringste Gelegenheit dazu, denn ich folgte ihnen wie ihr eigener Schatten, Schritt für Schritt.
Meine Wache entwickelte sich teilweise zu einem Katz und Maus Spiel, denn ging ich auf die hintere Seite unserer Lkw`s, verschwanden diese nach vorn. Begab ich mich auf die linke Seite, huschten sie nach rechts und hielten mich so die ganze Zeit ganz schön auf Trab. Die provisorische Reparatur zog sich ganz schön in die Länge und wir verloren kostbare Zeit. Laut Straßenkarte war das nächste Dorf über fünfzig Kilometer weit entfernt und wir hatten keine Gewißheit, ob wir dort die Möglichkeit hatten, die Achse am Rahmen des Anhängers anzuschweißen.
Denn wir wußten, daß die Ketten, mit denen wir die defekte Achse hochgebunden hatten, nicht allzulange halten würden. Würde eine Kette vor dem Erreichen des nächsten Dorfes reißen, hatten wir ein gröberes Problem. Nach ungefähr zwei Stunden harter Arbeit konnten wir endlich langsam weiterfahren. Mit ungefähr vierzig Stundenkilometer näherten wir uns langsam dem nächsten Ort. Am frühen Nachmittag erreichten wir das rettende Dorf. Wir hatten das unvorstellbare Glück, das sich in dieser Ortschaft eine kleine Schmiede befand. Sie befand sich direkt am Straßenrand und wir blockierten mit unseren drei Fernzügen fast die halbe Straße. Es war ein sehr kleines, armes Dorf mit einer Hauptstraße und wenigen schmalen Seitengassen. Die niedrigen Gebäude wirkten desolat und waren teilweise sehr renovierungsbedürftig.
War bei unserer Ankunft kaum eine Menschenseele zusehen, bot sich uns jetzt ein gegenteiliger Anblick an. Sämtliche Bewohner dieses Dorfes stillten ihre Neugierde und scharten sich um unsere Autos und wollten wissen, was wohl der Grund unserer Zwangspause war.
Fast eine ganze Stunde mußten wir warten, bis unser Schmied seine Werkstatt soweit aufgeräumt hatte, daß er sein vorsintflutliches Schweißgerät, das mit Carbid funktionierte, uns auf die Straße stellen konnte. Obwohl ich in meiner Karosseriespenglerlehre viel mit Schweißgeräten zu tun hatte, wußte ich nicht wie man dieses Gerät handhabte. Ich hatte bis dato so etwas noch nie gesehen. Nur Emil, mein Chef, wußte damit umzugehen, denn der freundliche türkische Schmied wollte an Marcel`s Anhänger unter keinen Umständen Hand anlegen. Die Verantwortung dafür konnte er nicht übernehmen. Mit Stockwinden hoben wir die Achse soweit es ging nach oben und schweißten sie, nachdem der Kessel genügend Temperatur hatte, mit zwei senkrechten Stahlprofielen am Rahmen des Anhängers fest.
Bis zur irakischen Grenze waren es noch gut dreihundert Kilometer, die wir vor Anbruch der Dunkelheit nicht mehr schafften. Da es in diesem Kaff für drei Fernzüge zuwenig Platz gab, entschlossen wir uns bis zur Dämmerung weiter zufahren und ausnahmsweise in einem Dorf zu übernachten. Ein bewachtes Camp befand sich auf dieser Strecke nicht mehr.
Mit mittlerer Geschwindigkeit setzten wir unsere Reise fort und fuhren bis es dunkel wurde weiter. Auf dem Parkplatz einer aufgelassenen kleinen Tankstelle hielten wir am Ende einer kleinen Ortschaft an und schlugen unser Nachtlager auf. Jetzt machten wir etwas, vor dem man mich eindringlich gewarnt hatte. Nämlich, außerhalb eines bewachten Camps zu übernachten. Aber es war viel zu gefährlich in der Nacht zu fahren und so mußten wir uns gezwungener maßen, wegen Marcel`s Panne dazu entschließen, dieses Risiko einfach einzugehen.
Jeder von uns kochte sich sein eigenes Abendessen. Ich machte mir auf meinem kleinen Gaskocher im Wasserbad eine Dose Ravioli heiß und aß dazu ein türkisches Fladenbrot, das man hier überall von den Kindern am Straßenrand kaufen konnte. Aber jedes dieser Kinder wollte sein eigenes Fladenbrot verkaufen und so entstand regelmäßig ein Gerangel und eine Streiterei unter ihnen. Marcel bereitete sich eine Gulaschsuppe zu, Emil und Andrea begnügten sich mit Fladenbrot, Wurst und Käse. Blieb man in einem Dorf nur kurz stehen, waren sofort einige Kinder zur Stelle und verkauften das köstlich frische, noch warme Brot. Anschließend legten wir uns in die Kojen um zu schlafen.
Es war ein ereignisreicher Tag mit sehr vielen Eindrücken, die es zu verarbeiten galt. Ich war todmüde und schlief auch sofort ein. Doch bei jedem noch so kleinen Geräusch wachte ich sofort auf und horchte angespannt, was draußen wohl vor sich ging. Immer wieder schob ich den Vorhang zur Seite und kontrollierte im Seitenspiegel, ob draußen alles in Ordnung war.
Immer nervöser drehte ich mich von einer Seite auf die andere. Meine Gedanken spielten verrückt, denn ich malte mir schon die gefährlichsten Szenarien aus. Würden wir uns auch wehren können, wenn uns eine Bande überfiel? Aber mit was sollten wir uns wehren? Wir besaßen doch keine Waffen. Ließen sie uns überhaupt am Leben? Wäre ich überhaupt imstande, einen oder mehrere Banditen für meine Sicherheit zu überfahren? Solche und viele andere Fragen hinderten mich am Einschlafen. Denn, nichts wußte ich! Nicht auf eine dieser vielen Fragen hatte ich eine Antwort. Und das machte mich noch nervöser! Hatte ich meine Gedanken für kurze Zeit im Griff, hinderte mich das Schnarchen von Marcel am Einschlafen. Total genervt und völlig fertig übermannte mich irgendwann der Schlaf.
Wie gerädert wachte ich am nächsten Morgen, als mich Marcel weckte, auf. Erholsam war diese Nacht für mich nicht, aber ich war heilfroh, sie ohne Zwischenfälle über-standen zu haben und noch am Leben zu sein. Emil kochte für uns eine Kanne starken Cafe auf seinem Gaskocher, der mir meine Lebensgeister unverzüglich wieder zurück brachte. Bis zur irakischen Grenze hatten wir noch ca. zweihundertachtzig Kilometer zu bewältigen und wir wußten, daß der Zustand der Straße nicht besser werden würde. Wenn nichts dazwischenkam, benötigten wir für diese Strecke ungefähr sechs bis sieben Stunden. Die Anzahl der Dörfer wurde immer spärlicher, demnach mußte die Zahl der Höhlenwohnungen zugenommen haben.
Aber nur ganz selten sah ich einen Menschen auf den Feldern. Was ich bis dato noch nicht wußte, war die Tatsache, das wir über den nordöstlichsten Zipfel Syriens in den Irak einreisen mußten. Als letzter von uns dreien fuhr ich hinter Emil und Andrea. Auf einmal stürmten von links und rechts einige Jugendliche vor meinem Lkw auf die Straße. Im ersten Moment dachte ich an einen Überfall und in meinem Schrecken gab ich Vollgas und bemerkte fast zu spät, daß Emil wegen eines Lkw Staus vor der Grenze angehalten hatte. Nur eine Vollbremsung rettete mich vor einem Auffahrunfall.
Wie sich dann herausstellte, wollten diese Jugendlichen nur ihr Fladenbrot verkaufen. Wir verließen die Türkei in Nusaybin und erreichten die irakische Grenze nach knapp fünfzig Kilometer in Tall Kochak. Die Einreiseprozedur verlief wie bei allen Grenzen zuvor und dauerte fast den ganzen Tag.
Fortsetzung in Teil 4
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Tag der Veröffentlichung: 21.01.2010
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