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Prolog

Aufmerksam sah sie sich um. Menschen konnte sie keine sehen. Um genau zu sein, konnte sie so gut wie gar nichts sehen. Einzig die Bäume in ihrer unmittelbaren Nähe, waren als Schemen zu erkennen. Der Mond lag hinter einer dicken Wolkenschicht verborgen und einzig ein etwas hellerer Fleck in diesen Wolken ließ er ahnen, wo der Mond sich befinden musste. Es ging ein leichter Wind, der die Äste zum Schwanken und die Blätter zum Rascheln brachte.

Alles in Allem war es also die perfekte Nacht, um einen neuen Horrorfilm zu drehen. Selbst die nachtaktiven Waldtiere schienen sich heute nicht aus ihren Höhlen und Nestern zu trauen.

Keine Angst, hier gibt es keine Wölfe oder Bären, versuchte sie sich Mut zu zu sprechen, als es plötzlich neben ihr im Gebüsch raschelte. Doch die Angst wollte nicht so ganz weichen. Tief Luft holen und weiter gehen. Nur noch ein paar Meter, dann bist du da.

Der eigenen Anweisung folgend, lief sie weiter und versuchte, nicht von den herunterhängenden Ästen getroffen zu werden. Schließlich erreichte sie eine kleine Schlucht. Erleichtert lehnte sie sich an den nächsten Baum. Diese Schlucht kannte sie wie ihre Westentasche, hier konnte ihr nichts passieren.

Okay, Mama hat dir erklärt, wie es geht. Konzentrier dich auf deine Gefühle. Finde heraus, welches das Stärkste ist. In diesem Fall war es nicht schwer. Jetzt wo die Angst gewichen war, blieb nur noch Aufregung in ihr zurück.

Und jetzt nimm dir dieses Gefühl. Blende alles andere aus. Die Geräusche, die Gerüche, die Gedanken, die anderen Gefühle. Es darf nur noch dieses eine Gefühl in deinem Kopf sein. Sie befolgte die Anweisungen und nach und nach wich alles andere zurück. Es blieb nur noch die Aufregung.

Und dann merkte sie, wie sie fiel. Aber ihre Füße standen doch noch auf dem Boden. Panisch wollte sie nach etwas greifen, doch ihre Hände waren keine Hände mehr. Dort, wo noch vor wenigen Minuten ihre Arme gewesen waren, sah sie nun riesige, braune Flügel, die sich elegant zusammen falteten, als sie ihre Arme zu sich heran zog.

Als sie sich nun auf den Rest ihres Körpers konzentrierte, bemerkte sie, dass ihr ihre Haare nicht länger ins Gesicht fielen. Und dort, wo sonst immer die Nase saß, sah sie nun einen orangenen Flecken.

Auch ihre Augen hatten sich merklich gebessert. Trotz der eigentlich fast stockdunklen Nacht konnte sie jetzt die Bäume in ihrer Umgebung gestochen scharf erkennen.

Ihr „Sturz“ war inzwischen beenden. Sie spreizte vorsichtig ihre Flügel und legte sie wieder an, bis sie sich vollkommen an das neue Gefühl gewöhnt hatte. Dann versuchte sie, zu fliegen.

Ihre ersten Versuche scheiterten kläglich. Würde sie nicht immer wieder hüpfen, würde sie nicht einen Millimeter vom Boden abheben. Sie schlug vergebens mit den Flügeln. Es war, als wäre die Luft überhaupt nicht da.

Frustriert gab sie es auf und wandte sich stattdessen ihrer Umgebung zu. In der Nacht sah die Schlucht vollkommen anders aus, als am Tag. Die Dunkelheit ließ sie groß und bedrohlich wirken. Einen Moment betrachtete sie noch die Umgebung, dann versuchte sie erneut zu fliegen.

Das Ergebnis blieb das selbe.

Schließlich gab sie es erneut auf und forschte nun in ihrem Innern, ob es da irgendwelche Instinkte gab, die ihr sagten, was sie machen musste. Und tatsächlich, da war eine Idee. Sofort versuchte sie sie, in die Tat um zu setzen. Diesmal spürte sie zumindest die Luft unter ihren Flügeln.

Nach ein paar Anläufen, stieg sie schließlich immer weiter zu den Bäumen auf und kurz darauf durchbrach sie das Blätterdach des Waldes. Immer weiter stieg sie auf, hinaus in den Himmel. Ein Glücksgefühl machte sich in ihr breit, als sie realisierte, wo sie sich befand. Am liebsten hätte sie laut gejubelt und ein kleiner Schrei entschlüpfte auch tatsächlich ihrem Schnabel. Sie unterdürckte ihn aber sofort, als sie merkte, wie weit er trug.

In ihrem Innern jedoch, jubelte sie noch lauter weiter. Sie war frei. Sie konnte fliegen. In ihr erfüllte sich der Traum eines jeden Kindes, ja eines jeden Menschen. Fliegen, ohne an ein Flugzeug gebunden zu sein.

Als sie einen Blick nach unten warf, wurde sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Sie war höher gestiegen, als sie beabsichtigt hatte. Doch schon im nächsten Moment war ihr das wieder egal. Aus einer spontanen Idee heraus legte sie die Flügel eng an den Körper und ließ sich einfach fallen.

Adrenalin rauschte durch ihren Körper, als sie im freien Fall den Aumwipfeln entgegen raste. Erst kurz vor den ersten Wipfeln breitete sie die Flügel aus und unterbrach so ihren Fall. Mit Wucht wurde sie von der Luft auf gefangen und gebremst. Jetzt glitt sie mit ausgebreiteten Schwingen über die Baumwipfel.

In diesem Moment wünschte sie sich, man könnte sie Zeit einfrieren. Sie wäre am liebsten für immer hier oben in der Luft geblieben.

Aber sie wusste, dass sie zurück musste. Sie konnte nicht für immer ein Adler bleiben. Der Mensch gehörte noch immer zu ihrem Wesen und würde auf immer dazu gehören. Sie würde es nicht aushalten, ihr ganzes Leben als Adler zu verbringen.

Also seufzte sie innerlich und flog im Sinkflug unter die Bäume. Zu ihrer Erleichterung, fand sie die Schlucht sofort wieder. Sie musste sich also nicht erst neu orientieren.

Sie landete auf einem Steinbrocken und konzentrierte sich auf ihre Gefühle. Nun war die Aufregung einer unbändigen Freude über das eben Erlebte gewichen. Ihre Arme wurden wieder zu Armen, ihre Beine wuchsen und ihre schwarze Lockenpracht ergoss sich wieder über ihre Schultern.

Kurz um: Sie war wieder ein Mensch.

Hätte sie jemand dabei beobachtet, hätte er gesehen, wie ein Schauer über ihren Körper lief und sie sich mit diesem Schauer verwandelt hatte.

Vorsichtig sah sie sich um. Ihre Augen hatten durch die Verwandlung nichts an ihrer Sehkraft eingebüßt. Obwohl sie jetzt wieder ein Mensch war, konnte sie noch genau so gut sehen, wie als Adler.

Als sie sich schließlich auf den Weg nach hause machte, durchströmte sie Erleichterung. Ja, es war schön gewesen, ein Vogel zu sein, aber sie war eben doch auch ein Mensch und sie war froh, ihren menschlichen Körper wieder zu haben. Diesen Körper kannte sie.

Als sie nun auf dem Rückweg auf ihre Umgebung achtete, bemerkte sie auch, dass ihre Ohren besser geworden waren. Dabei bemerkte sie, dass doch einige Tiere unterwegs waren. Man hörte es leise rascheln und knistern, wenn die Tiere durchs Gebüsch huschten.

Als sie schließlich den Waldrand erreichte und auf ihre Straße zu steuerte, überkam sie das unbändige Gefühl, beobachtet zu werden. So unauffällig wie möglich schlich sie an den Häusern entlang und war unglaublich erleichtert, als sie schließlich ihres erreicht hatte.

Schnell schloss sie die Tür auf und huschte hinein. Doch je näher sie ihrer Wohnung im Erdgeschoss kam, desto stärker wurde das Gefühl, dass sie nicht alleine war. Als sie in der Wohnung am Schlafzimmer der Eltern vorbei kam, überkam sie plötzlich eine Welle von Gefühlen, die nicht zu ihr gehörten: Freude, Stolz, Erleichterung, Neugierde, Angst.

Erschrocken hielt sie den Atem an und genauso plötzlich, wie die Welle gekommen war, verschwand sie auch schon wieder.

Hinter ihr knarrten die Bodendielen und sie fuhr panisch herum. Sie konnte eine Gestalt im Türrahmen der Küche erkennen. Ein Einbrecher?

„Schätzchen, was machst du denn um diese Zeit auf dem Flur?“, ertönte da die Stimme ihres Vaters. Erleichtert atmete sie auf. „Konntest du nicht schlafen?“

„Nein. Ich habe nur Durst.“ Jetzt erkannte sie auch sein Gesicht. Schnell schob sie sich an ihm vorbei in die Küche. Sie durfte ihn nicht misstrauisch machen. Er durfte ihr Geheimnis nicht erfahren. Sie hatte Mama versprochen, dass sie es weder Papa noch Jako erzählen würde. Und wenn sie etwas versprach, dann hielt sie es auch.

„Na dann.“ Papa lächelte. „Aber trink nicht zu viel, sonst musst du nachher auf die Toilette und kannst deshalb nicht schlafen.“

Sie nickte brav und hörte kurz darauf die Schlafzimmertür klappern. Jetzt war alles still. Sie setzte sich an den Küchentisch, legte die Arme dort ab und den Kopf auf sie drauf. So blieb sie sitzen.

Was war das für ein seltsames Gefühl, dass ihr folgte, seit sie aus dem Wald gekommen war? Und wo waren die Gefühle hergekommen, als sie vor Mamas und Papas Zimmer stand?

Als das komische Gefühl wieder stärker wurde, versuchte sie es aus ihrem Kopf zu verbannen, doch je stärker sie es versuchte, desto hartnäckiger blieb es. Nun fühlte sie sich wirklich beobachtet.

Es war, als würde sie über einen großen Platz laufen und alle Augen würden ihr folgen. Nur dass es in diesem Fall nur ein Augenpaar war, dass sie beobachtete.

Vorsichtig hob sie den Kopf und sah zur Tür. Dort erkannte sie Mama, die sie liebevoll anlächelte. Und wieder waren da diese Gefühle, die ihr nicht gehörten. Freude, Stolz, Erleichterung, Neugierde, Angst.

„Wie war es?“ Ihre Mutter flüsterte die Worte nur, aber sie konnte sie gut verstehen. Wie konnte sie die Erlebnisse am besten beschreiben? Das unbändige Glücksgefühl, als sie geflogen war?

Ein Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht ihrer Mutter.

„Nun, mein Schatz.“ Sie holte tief Luft. „Meine Aufgabe hier ist fast erfüllt. Es gibt nur noch eine Sache, die du wissen musst. Als Gestaltwandler kann man das Bewusstsein anderer Menschen und Gestaltwandler spüren. Am Anfang fühlt es sich einfach so an, als würde man beobachtet werden. Aber dieser Sinn ist wie ein Muskel: Wenn man ihn trainiert, wir er immer stärker und belastungsfähiger. Wenn du lange genug trainierst, kannst du über die Bewusstsein der anderen sagen, wo sie sind und wer es ist. Je mehr du trainierst, desto größer wird der Radius, in dem du die Menschen um dich herum spüren kannst.“

Tod und Sterben

Schnell huschte sie durch die Schatten der dunklen Straße. Gleich war sie da. Nur noch zwei Häuser, dann war sie endlich wieder zuhause. Auf Dauer waren solchen nächtlichen Aktionen echt anstrengend und vor allem nervig. Seit nun mehr sechs Jahren schlich sie sich mindestens zwei mal in der Woche nachts aus dem Haus, um zu fliegen.

Aber diese Aktionen waren sehr schlafraubend und würde sie das fliegen nicht so sehr vermissen, wenn sie zu lange nicht raus kam, hätte sie es wohl schon längst aufgegeben. Da Vinci hatte vollkommen recht gehabt, als er gesagt hatte: Wenn du das Fliegen einmal erlebt hast, wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet. Denn dort bist du gewesen und dort wird es dich immer wieder hinziehen.

Sie stimmte diesem Satz aus vollem Herzen zu. Sie wusste: Egal, wo sie war, sie würde immer einen Weg finden, zu fliegen.

Geschicht und fast ohne ein Geräusch öffnete sie schließlich die Haustür. Das erste Hindernis war geschafft. Jetzt noch die Wohnungstür. Sie war über die Jahre alt geworden und die Scharniere protestierten ab einem bestimmten Winkel immer. Sie musste unbedingt mal daran denken, die Tür zu ölen. Das würde sowohl ihr als auch ihrem Vater zu gute kommen.

Vorsichtig drehte sie den Schlüssel im Schloss und schob die Tür auf. Als der Spalt breit genug war, dass sie hindurch passte, betrat sie leise die Wohnung. Mit angehaltenem Atem schloss sie die Tür wieder und lauschte gleichzeitig in die Wohnung hinein.

Ihr Vater schlief in seinem Bett. Sie konnte sein Bewusstsein spüren. Aber wo war Sam? Sie konnte es sich nicht leisten, dass er plötzlich auf tauchte und sie lautstark begrüßte.

Doch heute schien sie Glück zu haben. Sam meldete sich nicht zu Wort. Sie fand ihn in ihrem Bett, wo er es sich gemütlich gemacht hatte und leise schnarchte. Lächelnd strich sie ihm einmal über den Kopf, zog sich dann ihre Schlafsachen an und legte sich neben ihm.

Vorsichtig, um ihren Schatz nicht zu wecken, zog sie sich die Bettdecke zurecht und schloss die Augen. Fast sofort war sie eingeschlafen. Der Flug heute war anstrengend gewesen, da sich kaum ein Lüftchen geregt hatte.

 

Langsam, ganz langsam öffnete sie die Augen wieder. Irgendetwas stimmte nicht. Das Licht war zu hell, die Musik ihres Handyweckers zu lauf, die Matratze zu hart. Nichts passte. Außerdem war es kalt.

Vorsichtig tastete sich mit einem Arm die Matratze neben sich ab. Leer. Da lag nur die Bettdecke. Das waren dann wohl die zwei Gründe, warum es so kalt war.

Hey, I just met you. And this is crazy. But here's my number. So call me maybe, trällerte ihr Handy fröhlich vor sich hin. Stöhnend stellte sie den Wecker aus. Wer hatte dieses verdammte Lied als ihren Weckton eingestellt? Jeder, wirklich jeder, der sie kannte, wusste, dass sie dieses Lied hasste. Wer auch immer das getan hatte, würde dafür büßen müssen, das stand fest.

Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett. Wenn sie schon wach war, konnte sie auch gleich aufstehen und duschen gehen.

Aber natürlich musste das Bad besetzt sein. Der Stimme nach zu urteilen, die da grade schrecklich schief ein Lied mit trällerte, war es ihr Vater.

Wer auch sonst. Mehr Leute lebten ja schließlich nicht in dieser Wohnung. Und Hunde konnten wohl schlecht die Badezimmertür abschließen und singen.

Gut, dann halt erst Frühstück. Dann verschonte sie ihren Vater halt noch etwas länger mit ihrer Morgenmuffeligkeit. Der Flug steckte ihr noch immer in den Knochen, da konnten auch sieben Stunden Schlaf nicht helfen. An solchen Tagen wünschte sie sich immer, einfach bis zum nächsten Tag durchschlafen zu können.

Zu ihrer Müdigkeit kam noch die schlechte Laune wegen des verstellten Weckers hinzu. Müdigkeit und Ärger waren keine gute Kombination. Sie wurde dann immer unausstehlich. Da war es immer am sinnvollsten, ihr für die ersten ein oder zwei Stunden aus dem Weg zu gehen.

Zehn Minuten, also ein Schoko-, ein Marmeladentoast und eine Tasse Cappuccino später, betrat dann auch endlich der werte Herr Papa die Küche. Sofort verließ sie ohne ein Wort die Küche und verbarrikadierte sich im Bad, bevor ihr Vater noch auf die Idee kam, noch etwas dort vergessen zu haben.

Schnell entledigte sie sich ihrer Boxershorts und dem überdimensionalen T-Shirt, in dem sie schlief und stieg unter die Dusche. Mit geschlossenen Augen und dem Gesicht nach oben ließ sie den warmen Tropfenregen auf sich hinunter prasseln.

Ja, jetzt konnte der Tag beginnen.

Erst eine halbe Stunde später verließ sie das Bad wieder. Ihre Haare waren noch nass von der Dusche, aber das störte sie nicht. Obwohl es schon September war, war es draußen noch angenehm warm und da sie wusste, dass ihre Haare schnell trockneten, machte sie sich nicht die Mühe, sie zu föhnen.

Sie hatte noch eineinhalb Stunden Zeit, bevor Karin, eine Freundin aus der Schule, vorbei kommen wollte. Genug Zeit also, um noch einen ausführlichen Spaziergang mit Sam zu machen. Blieb nur noch die Frage, wo er sich versteckt hatte.

Sie entdeckte ihn im Wohnzimmer auf der Couch, wo er seelenruhig schlief. Und sie ließ er im Schlaf erfrieren. So was schimpfte sich also bester Freund des Menschen. Verräter.

Sie schüttelte belustigt mit dem Kopf und klatschte zwei mal in die Hände. Sofort schoss der Kopf des Border Collies hoch. Einen Moment sah er sie aufmerksam an, dann sprang er von der Couch und kam auf sie zu getrottet. Aus treuen, feuchten Augen sah er zu ihr hoch, wedelte schwach mit dem Schwanz und stupste sie dann leicht am Knie an.

„Vergiss es, Dicker. So leicht kommst du mir damit nicht davon“, erklärte sie ihm entschlossen und befestigte die Leine an seinem Halsband. Heute würde sie ihn mal ein bisschen ins Schwitzen bringen.

Ihr Vater winkte ihr aus der Küche noch kurz zu, dann verließ sie die Wohnung und schlug den altbekannten Weg ein. Zu sehr wollte sie Sam auf seine alten Tage nicht mehr verwirren. Sie war ja schließlich kein Monster.

Eine halbe Stunde, kurze Joggingeinlagen, ein Wäldchen und ein Hundehaufen später standen sie wieder vor ihrer Wohnungstür. Schnell schloss sie die Tür auf und sofort drängte sich Sam an ihr vorbei in die Wohnung. Wie immer ignorierte er sie dabei vollkommen.

Seufzend folgte sie dem Hund und warf einen kurzen Blick in die Küche, um sich bei ihrem Vater zurück zu melden.

„Ah, Verena“, wurde sie von ihrem Vater begrüßt. Sie verdrehte die Augen. Seit Jahren versuchte sie ihn davon zu überzeugen, dass sie von ihrer Familie lieber Marie genannt werden wollte. „Karin hat eben angerufen. Sie kann heute doch nicht kommen. Ihr ist wohl irgendwas dazwischen gekommen.“ Marie nickte leicht. Dann hatte sie wohl den ganzen Tag frei. „Wenn du jetzt doch nichts vor hast, können wir doch die Großeltern besuchen, meinst du nicht? Wir waren schon so lange nicht mehr dort.“

„Ja, gerne.“ Sie nickte erneut und ihr Vater griff zum Telefon, um sich bei den Großeltern anzukündigen.

 

Geschickt lenkte ihr Vater den Wagen durch den Verkehr in Hannover. Hinten im Kofferraum quengelte Sam. Er hasste es, eingesperrt zu sein. Im Radio lief ein Lied aus den Charts, aber Marie hörte nicht zu.

In Gedanken war sie weit weg bei ihrer Mutter. Sie war vor vier Jahren an Krebs gestorben. Zwei Jahre später war dann ihr großer Bruder ausgezogen, um in Hamburg zu studieren. Und seitdem lebte sie alleine mit ihrem Vater. Sie vermisste die beiden.

Ihren Bruder, weil er sie in ihrer Trauer immer am besten verstanden hatte und einer ihrer besten Freunde war und ihre Mutter, weil sie einfach wundervoll gewesen war. Sie war die perfekte Mutter und immer für sie da gewesen. Sie hatte mit ihr gelacht, wenn etwas komisches passiert war und mit ihr geweint, wenn sie sich verletzt hatte.

Sie hatte Marie viel Vertrauen geschenkt und doch klare Grenzen gesetzt, was sie durfte und was nicht. Sie war es gewesen, die Marie erklärt hatte, wer bzw. was sie war. Sie hatte ihr alles wichtige beigebracht.

„Verena, ist alles in Ordnung?“, riss sie da ihr Vater aus den Gedanken zurück in die Gegenwart. „Du siehst traurig aus.“ Besorgt sah er sie an und legte eine Hand auf ihr Bein.

„Ja, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur grade an Mama gedacht.“ Sie starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen, und spürte doch seinen Blick auf ihr. „Ich vermisse sie immer noch.“

„Ich auch, mein Liebling, ich auch. Aber sie wird …“

WUMM!!!

Marie wurde in ihrem Sitz nach vorne geschleudert und in den Gurt gedrückt. Hinten hörte sie Sam erschrocken aufjaulen. Neben ihr hatte ihr Vater den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Sie krallte sie in ihren Sitz. Das Auto überschlug sich. Immer abwechselnd waren Himmel und Erde zu sehen. Sie verlor die Orientieren.

Wo war oben? Wo unten? Verzweifelt versuchte sie, sich in ihren Sitz zu drücken, aber ihr Kopf wurden trotzdem herum geschleudert. Mit dem Hinterkopf knallte sie gegen die Kopfstütze. Der Gurt schnitt ihr durch das Top ins Fleisch. Die Airbags gingen auf.

Und plötzlich standen sie wieder still. Genauso schnell, wie das Chaos begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Die Stille wurde nur von Sams leisem Winseln im Kofferraum durchbrochen. Wo waren sie überhaupt gegen geknallt?

Ihr Vater neben ihr regte sich nicht, aber er lebte noch. Sie konnte sein Bewusstsein noch schwach spüren. Sie spürte ihn kaum noch.

Ihr Kopf tat von dem Zusammenstoß mit der Kopfstütze weh. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen und trübten ihr Blickfeld. Sie wollte nach Papa rufen, ihn fragen, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Aber behutsam und doch energisch schob sich die Schwärze immer mehr vor ihre Augen. Langsam kroch die Dunkelheit von allen Seiten heran und verschlag ihren Vater.

Und dann hatte sie sie voll im Griff. Sams Winseln wurde immer leiser, bis es schließlich nicht mehr zu hören war. Stattdessen sah sie jetzt ein Frau vor sich. Es war nur ein verschwommenes Bild. Wie eine lange zurück liegende Erinnerung oder ein schlecht aufgenommener Film.

 

Über ihr taucht ein Gesicht auf. Fröhlich streckt sie die Arme aus und will danach greifen, doch das Gesicht in schon wieder weg. Jetzt fängt sie an zu schreien. Sie will nicht allein sein.

Keine Angst, meine Klein, ich bin doch da.“ Sofort ist das Gesicht zurück. Eine Hanf erscheint in ihrem Blickfeld. Sie kommt zu ihr herunter und kitzelt sie am Bauch. Sie muss lachen.

Schatz, wir müssen los. Der Flieger.“ Ein weiteres Gesicht erscheint neben dem ersten. Eine weitere Hand gesellt sich zu der an ihrem Bauch. „Komm, je länger wir bleiben, desto schlimmer wird es.“

Das erste Gesicht nickt. Die Augen glitzern feucht. Dann verschwinden beide wieder. Das kleine Mädchen steht auf und will ihnen folgen, aber sie kann nicht weit laufen. Da ist ein Zaun, hinter dem die zwei Personen jetzt sind. Sie ruft nach ihnen, aber sie scheinen sie nicht zu hören.

Und dann gehen sie einfach. Sie kann sie nicht mehr sehen. Wo gehen sie hin? Sie ruft, schreit, weint, aber niemand hört sie.

Sie ist allein.

Panik macht sich in ihr breit. Sie haben sie verlassen. Sie sind weg. Sie werden nicht mehr wieder kommen und sie holen. Irgendwann hört sie auf zu schreien. Er hört sie ja doch niemand.

 

Hunger. Sie hat Hunger. Auf der Such nach etwas zu essen läuft das Kind durch die Räume, die nicht durch den Zaun abgetrennt sind. Da ist die Küche. Und da der Kühlschrank. Eigentlich darf sie da nicht ran, aber es ist ja keiner da, der es sieht. Sie treckt sich, um die Tür zu öffnen.

Kühle Luft kommt heraus. Genau auf ihrer Augenhöhe liegen diese leckeren Schokoriegel. Die bekommt sie, wenn sie brav war. Aber es ist niemand da, der es ihr verbieten kann. Schnell nimmt sie einen Riegel, bevor das schlechte Gewissen einsetzt.

 

Es ist spät. Draußen wird es dunkel. Wie lange ist sie jetzt schon allein? Leise hört sie etwas klimpern. Es hört sich an, wie der Schlüsselbund, den der Mann vorhin in der Hand hatte, als sie die Wohnung verlassen haben.

Das Mädchen fängt wieder an zu schreien. Das Klimpern hört auf. Hat die Person sie gehört?

Keine Ahnung. Sie ruft weiter. Irgendwann kann sie nicht mehr. Aber was ist das? Das hört sich an, wie eine Tür. Die Wohnungstür. Die quietscht immer an der einen Stelle.

Hallo?“ Die Stimme hört sich nach einem Mann an. „Ist hier jemand?“ Aber es ist nicht Papa.

Das Mädchen läuft zum Gitter und macht sich bemerktbar. Da taucht ein Mann auf. Er kommt zu ihr herüber und kniet sich vor ihr hin.

Hallo, meine Kleine. Wo sind denn deine Eltern?“

Weg“, schluchzt sie.

Hey, komm mal her.“ Er öffnet den Zaun und nimmt das Kind auf den Arm. „Es wird alles gut werde, Verena. Wir werden deine Eltern finden, okay?“

Sie nickte heftig und zieht die Nase hoch. Der Mann kramt in seiner Tasche und holt ein Taschentuch hervor. Damit putzt er ihr die Nase und lächelt sie an. „Na komm, lass uns ein paar Sachen zusammen suchen. Heute darfst du bei mir schlafen und morgen suchen wir deine Eltern.“

Sie nickt. Ihr wurde beigebracht, dass sie nicht mit fremden Leuten mitgehen soll, aber diesen Mann kennt sie. Er war schon ein oder zwei Mal in der Wohnung.

Komische Gefühle

Nachdenklich kaute Marco auf seinem Stift herum. Ihm fehlte nur noch diese eine Aufgabe, dann hatte er seine Arbeiten für heute erledigt. Aber irgendwie wollte sich ihm der Lösungsweg nicht erschließen.

Neben ihm regte sich sein Rottweiler. Er war grade mal ein halbes Jahr alt und er hatte ihn erst vor einem Monat bekommen. Jetzt krabbelte Chilli von Marcos Bett und tapste zu seinem Herrchen herüber. Marco lächelte und hob den Welpen auf seinen Schoß. Gut, dann halt nicht arbeiten.

Denn eines hatte Chilli ihm schon ganz klar bei gebracht: Wenn er kam, dann wurde gefälligst gespielt. Einen reinrassigen Rottweiler ließ man nicht einfach warten. Sonst konnte er ganz schön böse werden.

Also setzte Marco den Hund wieder auf den Boden und ging auf die Suche nach dem kleinen Tau, mit dem der Welpe für sein Leben gern spielte. Das einzige Problem dabei war, dass Chilli das Tau immer an einem anderen Ort liegen ließ und es dann meistens dort vergaß.

Ächzend bückte der Student sich, um unter dem Bett nach zu sehen. Mit einem Seufzen registrierte er, dass dort dringend mal wieder Staub gewischt werden musste. Das Tau war allerdings nicht da.

Nachdenklich richtete Marco sich wieder auf. Wo kam Chilli noch hin? Unterm Schreibtisch war einer seiner Lieblingsplätze. Sein Blick wanderte zum Schreibtisch zurück und tatsächlich saß Chilli dort, das Tau im Maul und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.

Marco seufzte leise, gleichzeitig huschte ihm aber auch ein Lächeln übers Gesicht. Diesem kleinen Fellball konnte man einfach nichts abschlagen. Und wenn er einen so bittend an sah, konnte man ihm auch nicht mehr böse sein.

„Na dann komm mal her, du kleiner Kämpfer“, erklärte Marco lächelnd und Chilli sprang sofort auf, und tapste zu ihm herüber, die Ohre freudig aufgestellt. Direkt vor Marco ließ er das Tau auf den Boden fallen und sah auf. Marco bückte sich, um das Tau zu greifen, doch da schnappte Chilli es sich wieder und wich knurrend ein paar Schritte zurück.

Marco hockte sich hin und streckte langsam den arm aus, um das Tau ebenfalls zu fassen zu bekommen. Das ließ Chilli sogar noch zu, doch sobald sein Herrchen es in der Hand hatte, verbiss er sich in dem Seil und zerrte daran, was das Zeug hielt.

Die Kraft, die er dabei aufwand, war eher unbeeindruckend, da er noch ein Welpe war, doch um sein Selbstbewusstsein zu stärken, ließ Marco sich kurz darauf nach vorn fallen und gab so dem Zug nach.

Als Chilli merkte, dass er gewonnen hatte, ließ er das Tau los und gab ein Quietschen von sich, das wohl später einmal bellen werden sollte.

„Marco, bist du da?“ Erstaunt hob der Angesprochene den Kopf und sah auf die Uhr. Halb fünf. Heute war Freitag. Aber Jakob wollte doch erst morgen wieder kommen, oder nicht? Vorsichtig streckte Marco sein Bewusstsein aus.

Jakob war nicht allein. Da war noch eine weitere Person. Ein Mädchen. Mensch.

„Marco?“ Jakobs Stimme hörte sich erschöpft und ausgelaugt an. Chilli ließ das Tau fallen und gab ein erneutes Pseudobellen von sich.

„Ich bin hier“, erklärte er schließlich seinem Kumpel und Mitbewohner. Er öffnete die Zimmertür und Chilli schlüpfte an ihm vorbei, um Jakob zu begrüßen. Schnell realisierte er jedoch, dass da noch eine andere Person war. Und diese Person war groß, böse und furchteinflößend.

Auf Marco wirkte sie eher klein, drahtig und erschöpft. Ihre schwarze Haare wirkten stumpf, waren aber zu einem ordentlichen Zopf zurück gebunden. Ihre Augen waren eine Mischung als hellbraun und gold. In gewisser Weise erinnerten sie an Bernstein.

Doch diese wunderschönen Augen waren dunkel. Fast so dunkel, wie die schwarze Trauerkleidung, die die junge Frau trug. Unter den Augen entdeckte Marco tiefe Augenringe, die auch bei Jakob zu sehen waren.

Das Mädchen sah Jakob ähnlich und irgendwie auch nicht. Beide hatten markante Gesichtszüge, aber ihre waren doch noch etwas weicher als seine. Äußerlich war das schon alles, was man an Ähnlichkeit finden konnte, aber die Außstrahlung der beiden war eine sehr ähnliche. Man merkte, dass sie einen starken Charakter hatten und schon viel zusammen durchgestanden hatten.

Körperlich hingegen sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich. Jakob war mehr als einen Kopf größer als sie und eher schlaksig.

Durch die schwarze Kleidung und den ernsten Blick in diesen Augen, die eigentlich fröhlich funkeln sollten, wirkte sie wie mindestens neunzehn. Dabei hatte Jakob doch gesagt, sie wäre erst vor ein paar Monaten siebzehn geworden.

Und dann war da noch ihr Bewusstsein. Auf den ersten Blick wirkte es wie das eines Menschen, aber wenn man es sich etwas genauer ansah, bemerkte man leichte Risse und Lücken in dieser Erscheinung. Es wirkte fast wie ein Ei, kurz vor dem Schlüpfen. Sie wirkte so unglaublich verletzlich.

Ihr Bewusstsein war zu stark für einen Menschen und zu schwach für einen Gestaltwandler, also was war sie?!

„Bist du bald fertig, oder muss ich hier noch länger Modell stehen?“, fragte plötzlich eine monotone Stimme. Erschrocken und verlegen sah Marco das fremde Mädchen an.

„Sorry, ich wollte nicht unhöflich sein.“ Er trat einen Schritt vor und streckte seine Hand aus. „Marco Hoffman“, stellte er sich vor. „Meines Zeichens Jakobs bester Freund und Mitbewohner. Es freut mich dich endlich kennen zu lernen, auch wenn die Umstände nicht grade die besten sind.“ Er lächelte freundlich und wies dann nach unten, wo sich Chilli hinter seinen Beinen versteckte. „Und der kleine Angsthase hier unten ist Chille.“

Beim Klang seines Namens stellte Chilli die Ohren auf und kam vorsichtig aus seinem Versteck heraus. Für eine Millisekunde huschte ein Lächeln über das Gesicht von Jakobs Schwester. Das ließ erahnen, dass sie wirklich wunderschön sein musste, wenn sie richtig lächelte oder lachte. Aber selbst jetzt, mit den tiefen Augenringen und den stumpfen Haaren konnte man die Schönheit erkennen, die darunter verborgen lag.

„Verena.“ Fast hätte Marco die Vorstellung nicht gehört, so leise und monoton sprach sie. Jakob seufzte neben ihr.

„Ihres Zeichens meine kleine Schwester. Sie wird vor erst hier wohnen. Macht ist es okay, wenn ich solange bei dir schlafe? Dann kann sie mein Zimmer haben.“

„Ich hab nichts dagegen. So lange du mit Chillis Schnarchen im Ohr schlafen kannst …“

Jakob verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Ich denke, das werde ich überleben. Ich habe mir nämlich sagen lassen, dass ich lauter bin als dein kleiner Welpe. Komm, ich zeige dir dein Zimmer“, erklärte er dann Verena gewandt.

Sie folgte ihm in das Zimmer und Chilli war ihnen dicht auf den Felsen. Im Zimmer erklomm er mit einigen Mühen Jakobs Bett und machte es sich dort auf dem Kissen gemütlich. Sein Mut war also zurück gekehrt. Er traute sich sogar, den „bösen“ Rottweiler zu zeigen, wenn Verena dem Bett zu nahe kam.

Bis jetzt wirkte er allerdings nicht, als würde er später ein wirklicher Wachhund werden. Eher ein Schoßhund, der ab und an mal Wachhund spielen wollte.

In der Zwischenzeit hatte Verena ihre Tasche neben das Bett gestellt und sah sich in dem Zimmer um. Die Wände waren voller Fotos, aus denen nach und nach eine Collage entstanden war. Aber Verenas Blick war abwesend. Sie sah die Fotos gar nicht an, sondern war mit ihren Gedanken an einem anderen Ort.

Jakob sah seine Schwester eine Weile schweigend von der Seite an, dann seufzte er. „Das Bad ist neben an, die Küche gegen über und Marcos Zimmer die Tür rechts neben der Küche. Ich bin da, falls du mich brauchst“, erklärte er schließlich, als Verena keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder ähnliches.

Gemeinsam mit Jakob verließ Marco das Zimmer und sofort folgte Chilli ihnen. So groß war sein Mut dann doch wieder nicht. Chilli kletterte zu Marco aufs Bett, sobald die beiden Studenten sich gesetzt hatten.

„Willst du mir sagen, was los ist?“, fragte Marco schließlich vorsichtig nach, als Jakob fünf Minuten lang nichts gesagt hatte. Der Student sah seinen Mitbewohner an, ohne ihn wirklich wahr zu nehmen. In seinen Augen lagen tiefe Trauer und Schmerz.

Zitternd holte er Lust. „Sie hatten einen Autounfall. Mein Vater hat nicht richtig auf den Verkehr geachtet und ist in ein Auto gerast, das vor einer roten Ampel stand. Er ist im Krankenhaus gestorben. Sie hat den Unfall allerdings erstaunlich unbeschadet überlebt, ein paar Kratzer und Schrammen und eine kleine Platzwunde am Hinterkopf. Die Ärzte haben gesagt, es ist ein Wunder, dass sie sich nichts gebrochen hat.“

Ein paar Tränen liefen Jakob übers Gesicht. Chilli sah Jakob einen Moment mit großen Augen an, dann tapste er zu Marcos Freund hinüber und stupste ihn vertrauensvoll an. Jakob lächelte ein bisschen und hob Chilli dann auf seinen Schoß.

„Bis geklärt ist, wo Verena hin soll, wohnt sie hier.“

„Und danach werde ich in eine Pflegefamilie abgeschoben?“, fragte plötzlich eine bittere Stimme von der Tür. Erschrocken und verwundert sahen die beiden Studenten zu der Quelle der Stimme. Dort stand Verena und sah ihren Bruder wütend und traurig zu gleich an. „Das willst du doch, oder nicht? Damit ich dir nicht am Hals hänge und eine Last für dich bin.“

„Marie …“ Jakob setzte Chilli wieder auf dem Boden ab und ging zu ihr hinüber. „Am liebsten würde ich dich nie mehr gehen lasse. Ich will dich nicht auch noch verlieren.“ Er umarmte sie. „Aber das können wir nicht entscheiden. Wenn das Jugendamt sagt, dass du in eine Pflegefamilie sollst, dann können wir da nichts tun.“

„Ich will hier nicht weg“, hörte Marco Verena ganz leise sagen. Ihre Stimme war von den Tränen erstickt. „Ich will nicht weg von dir.“

„Ich weiß.“ Beruhigend streichelte Jakob ihr den Rücken. „Ich weiß, Marie. Ich werde alles tun, damit du hier bleiben kannst. Und wenn ich das Studium abbrechen und arbeiten muss, damit du hier bei mir bleibst.“ Verwirrt sah Marco auf. Er wollte die beiden nicht belauschen, aber warum nannte Jakob sie Marie? Hieß sie nicht Verena?

Nun gesellte sich Chilli zu den Geschwistern und versuchte ebenfalls, Verene zu trösten. Winselnd stupste er sie immer wieder am Bein an. Schließlich löste sie sich aus Jakobs Umarmung und beugte sich hinunter, um Chilli zu streicheln.

Das wiederum schien Chilli dann doch wieder zu viel zu sein, denn er brachte sich schnell hinter Jakobs Beinen in Sicherheit. Doch kaum war er dort angekommen, steckte er den Kopf aus seinem Versteck heraus und beobachtete Verena aufmerksam. Nach kurzem Zögern wagte er es sogar, an Verenas ausgestreckter Hand zu schnuppern.

Ein Lächeln huschte über Verenas Gesicht und Marco beobachtete zufrieden, wie die Magie, die einen jeden Welpen um gab, langsam bei Marie zu wirken begann.

Ein Knurren, das in der Stille des Moments laut durch das Zimmer hallte, ließ Chilli erschrocken aufquietschen und Jakob rot werden.

„Hat noch jemand so einen Hunger?“, versuchte er sich vor der Peinlichkeit seines Magens zu retten. Chilli sah nun aufmerksam zu ihm hoch. Vermutlich versuchte er grade heraus zu finden, wo das Geräusch hergekommen war und ob es Gefahr bedeutete. Versuchsweise machte er das Geräusch sogar nach, doch sein Knurren klang eher wie der kleine Bruder von Jakobs Magen.

Marco grinste. „Ich hätte vermutlich auch langsam Hunger. Reicht euch Brot und Aufstrich, oder könnt ihr noch ein paar Minuten länger auf warmes Essen warten?“

Jakob verzog das Gesicht. „Ich denke, ich kann warten. Mein Magen und ich sind nicht so begeisterte Fans von Brot. Außerdem hatten wir heute noch nichts warmes. Was steht denn auf dem Speiseplan?“

„Nun, in Anbetracht der Tatsache, dass du heute schon wieder da bist und wir außerdem noch Zuwachs erhalten haben, wird es wohl auf Nudeln mit einer einfachen Tomatensoße hinauslaufen.“ Marco erhob sich und verließ das Zimmer. „In zehn Minuten sollte das Essen fertig sein. Vielleicht auch zwanzig.“

Tatsächlich stand das Essen zwanzig Minuten später auf dem Tisch. Jakob sah hungrig auf die Nudeln, hatte aber dennoch den Anstand, erst Marie etwas zu essen zu geben. Sie wollte nicht viel. Es lag nur ein winziger Haufen Nudeln auf ihrem Teller, der von einem kleinen Klecks Soße bedeckt wurde. Besorgt betrachtete Marco ihre Portion.

„Sicher, dass dir das reicht? Du kannst auch noch mehr haben.“ Fragend zog er eine Augenbraue hoch.

„Ich habe keinen Hunger.“ Sie schüttelte den Kopf und Marco seufzte leise. So lange sie nicht immer so wenig aß, war alles in Ordnung. Sie sollte ihnen schließlich nicht vom Fleisch fallen.

Marco wollte grade anfangen zu essen, als von unten leises Winseln zu hören war. Chilli hatte ebenfalls Hunger.

Also erhob Marco sich wieder und füllte den Napf des Welpen. Als er ihn wieder auf den Boden stellte, wollte Chilli sich sofort darauf stürzen, doch schnell hob Marco den Napf wieder hoch.

„Sitz“, befahl er streng. Mit großen Augen sah Chilli sein Herrchen an, tat aber nicht. Er widerholte den Befehl und diesmal rutschte sein Hintern ein Stückchen nach unten. „Chilli, sitz“, befahl Marco zum dritten mal. Nun plumpste der Welpe eine Etage tiefer. Als der Napf den Boden berührte, zuckte Chilli und wollte schon wieder aufstehen, doch sofort war der Napf wieder weg.

Diese Diskussion zog sich noch mehrere Minuten hin, bis Chilli schließlich sitzen blieb, auch wenn Marco auf seinem Stuhl saß. Der Blick des Welpen wanderte traurig zwischen Marco und seinem Fressen hin und her.

Als Marco schließlich den Befehl aufhob, stürzte sich Chilli auf sein Futter, als wäre er kurz vor dem Verhungern. Aus dem Augenwinkel registrierte der Student, dass Verena lächelte.

Er lächelte ebenfalls. Die Magie der Welpen hatte voll zu geschlagen.

Erinnerung

Müde ließ Marie sich auf ihren Stuhl fallen. Sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen und war dementsprechend demotiviert, zur Schule zu gehen. Aber zum einen war sie mitten im Schuljahr auf diese Schule gekommen und zum anderen war Müdigkeit kein Grund, die Schule zu schwänzen.

Um sie herum ordnete sich langsam das Chaos der ankommenden Schüler und schließlich saßen alle auf ihren Plätzen, sodass der Unterricht beginnen konnte. Der Lehrer stand vorne an der Tafel und musterte den Kurs kurz, bevor er sich räusperte, um sich Gehör zu verschaffen. Tatsächlich wurden die Gespräche erstaunlich schnell eingestellt und es wurde ruhig.

Der Lehrer bat die Schüler ihre Hausaufgaben heraus zu holen, damit sie sie vergleichen konnten und mehr oder minder motiviert öffneten die Schüler ihre Mappen und Hefte.

„Verena, would you read out your text, please?“, riss der Lehrer die Angesprochene plötzlich aus ihren Gedanken. Sie riss die Augen auf und versuchte, sich auf den Text vor ihr zu konzentrieren, aber die Buchstaben verwischten immer wieder vor ihren Augen.

Reiß dich zusammen, Marie! Du willst hier in eineinhalb Jahren Abi machen, also konzentrier dich gefälligst, schimpfte sie mit sich selbst und tatsächlich schien es zu helfen. Die Buchstaben wurden klarer und die Wörter ergaben wieder einen Sinn.

 

In der Pause ging sie langsam zu ihrem nächsten Raum. Dort setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand an, um sich vor der nächsten Stunde noch etwas aus zu ruhen. Aber sobald sie die Augen schloss, kamen die Bilder von ihrem Albtraum zurück. Das Uato, das gegen das andere prallte; ihr Vater, der sich nicht mehr bewegte; sein besorgter Blick kurz vor dem Unfall.

Es waren immer nur Momentaufnahmen und sie kamen plötzlich und ungeordnet. Völlig schonungslos, jedes Mal, wenn sie auch nur für einen kurzen Augenblick die Augen schloss. Seit drei Wochen hatte sie wegen dieser Bilder nicht mehr richtig schlafen können und es war nicht abzusehen, dass es in nächster Zeit besser wurde.

„Entschuldigung?“ Marie schlug die Augen auf, froh über die Ablenkung, aber gleichzeitig auch genervt, über diese Störung.

Vor ihr stand ein Junge. Etwa eins achtzig groß, braune Haare, warme braune Augen. Sie kannte ihn nicht und soweit sie wusste, war er auch in keinem ihrer Kurse.

„Hey, alles in Ordnung mit dir?“ Was denn, hatte er sie nur gestört, um zu fragen, ob mit ihr alles in Ordnung war?

Sie schnaubte leise. Ja klar, alles bestens. Mein Vater ist nur vor drei Wochen gestorben und meine Mutter habe ich schon vor fünf Jahren verloren. Aber klar, mir geht’s super. Sie ließ ihren Kopf nach vorne auf ihre verschränkten Arme fallen. Er sollte sie gefälligst in Ruhe lassen.

Aber natürlich ging er nicht einfach wieder. Es lag wohl in der Natur des Menschen zu bleiben, wenn er nicht erwünscht war. Aber ihm sei verziehen. Schließlich hatte er sie etwas gefragt und sie hatte keine Antwort gegeben. Da war es wiederum tatsächlich normal, dass man blieb, um auf die Antwort zu warten.

Als sie ihm nicht antwortete, setzte er sich neben sie, sagte aber nichts weiter. Irgendwann hob sie den Kopf wieder und sah ihn durchdringend an. „Kannst du nicht jemand anderen mit deiner Anwesenheit nerven? Ich möchte allein sein“, fuhr sie ihn nicht grade freundlich an. Der Junge hob entschuldigend die Hände und stand wieder auf.

„Sorry, aber du sahst so aus, als könntest du etwas Gesellschaft vertragen. Ich wollte dich nicht dabei stören, wie du im Selbstmitleid versinkst.“ Er sah ausdruckslos zu ihr hinunter, aber sie konnte trotzdem sehen, dass sie ihn verletzt hatte.

Nun erhob sie sich ebenfalls langsam. Er war noch immer fast einen Kopf größer als sie, aber nun kam sie sich wenigstens nicht mehr so viel kleiner als er vor.

„Nein, mir tut es leid“, entgegenete sie. „Ich meine, du kennst mich doch gar nicht. Du weißt nicht, warum ich so bin, wie ich bin. Also urteile auch nicht über mich.“ Sie sah ihn ebenfalls emotionslos an. „Ober weißt du irgendetwas über mich?“

„Ich weiß, dass du Verena Schröder heißt, dass du siebzehn Jahre alt bist und dass dein Vater vor kurzem gestorben ist. Und es tut mir wirklich leid, dass du ihn verloren hast. Aber trotzdem. Das Leben geht weiter. Du kannst nicht ewig um ihn trauern.“

Sie holte zitternd Luft. Wenn er nicht in einem ihrer Kurse war, woher wusste er dann soviel über sie? Und wer war er überhaupt?!

„Weißt du, ich wünschte, ich könnte wieder ein einigermaßen normales Leben führen. Denn ich weiß, dass das Leben weiter geht und nicht auf mich wartet. Aber ich kann nicht. Was soll ich denn machen, wenn mich der Unfall die ganze Zeit verfolgt? Was soll ich denn machen, wenn ich nicht richtig schlafen kann, weil ich jedes mal, wenn ich die Augen schließe, die Unfallszene wieder vor mir sehe? Und im Übrigen steht es mir ja wohl zu, eine Zeit lang um meinen Vater zu trauern, oder nicht?!“

Die letzten Worte schrie sie schon fast heraus, dann schnappte sie sich ihre Tasche und stürmte an dem Jungen vorbei. Seinen erstaunten und traurigen Blick sah sie gar nicht mehr. Das einzige was sie wusste war, dass sie hier ganz schnell raus musste. Sie brauchte endlich Ruhe und sie musste endlich diese verdammten Albträume los werden.

Auf dem Schulhof hielt sie kurz an und sah sich um. Um sie herum gingen die Schüler alleine oder in Gruppen ihren Beschäftigungen nach. Einige von den Jüngeren spielten Fangen, andere saßen in Grüppchen zusammen und genossen die warme Spätsommersonne und wieder andere betraten oder verließen das Schulgebäude. Und in mitten dieses geschäftigen Treibens stand Marie und wusste nicht mehr, was sie machen sollte.

Langsam holte sie ihren Stundenplan heraus. Was hatte sie überhaupt als nächstes für ein Fach? Ja, richtig. Geschichte. Und danach zwei Freistunden. Geschichte war nur ein Abdeckerkurs. Den konnte sie auch mal ausfallen lassen. Vielleicht bekam sie ja zuhause einen klaren Kopf?

Entschlossen nickte sie. Auf nach hause, auf in die Ruhe.

Niemand achtete auf sie, als sie das Schulgelände verließ und in der Stadt verschwand. Wie gerne würde sie jetzt fliegen. Das würde so viel besser helfen als jede Medizin. Fliegen war ihre beste Medizin.

 

Erschöpft ließ Marie sich schließlich in ihr Bett fallen. Drei Wochen war der Unfall jetzt her. Drei Wochen, in denen sie kaum geschlafen hatte. Drei Wochen, in denen sie nicht mehr geflogen war. Sie musste sich bald einen Park oder ähnliches suchen, sonst würde sie hier noch eingehen.

Es war schlimm genug, dass sie jetzt mitten in der Stadt wohnte, aber dann auch noch nicht fliegen zu dürfen? Nein, das durften sie ihr nicht auch noch nehmen. Nicht ihr Leben.

Klar, Jakob und Marco kümmerten sich um Marie. Marco war ein wundervoller Koch, sodass sie nie nein sagen konnte, wenn er ihr noch einen Nachschlag gab. Jakob war immer für sie da, wenn es ihr mal wieder besonders schlecht ging. Und wenn sie Probleme mit den Hausaufgaben gab, konnte sie beide Fragen. Marco in den Naturwissenschaften und Jakob in den Sprachen.

Was ihr aber noch immer zu schaffen machte, war Marcos Ausstrahlung. Sein Bewusstsein war so viel stärker als das eines Menschen. Es fühlte sich vollkommen anders an, als das von Jakob. Aber was war er? Konnte sie ihm vertrauen? Nein. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Sie kannte Marco nicht und sein stärkeres Bewusstsein sollte sie Misstrauisch und nicht Neugierig machen. Leider konnte Jakob ihr auch nicht helfen, sonst hätte sie die Lösung bald gehabt.

Ein Lichtblick in ihrer momentanen Situation war allerdings der Welpe. Er wusste alles über sie. Dass sie sich die Schuld am Unfall gab, dass sie eine Geschaltwandlerin war, dass sie wieder fliegen musste. Chilli wusste einfach alles.

Genau wie Sam. Die beiden waren sich sehr ähnlich. Tollpatschig, liebenswürdig, kuschel bedürftig. Sam war als Welpe genau so gewesen. Sam …

Was würde sie dafür geben, dass er noch am Leben wäre. Dass sie ihn wenigstens noch ein letztes Mal sehen konnte. Was würde sie dafür geben, dass der Unfall nie passiert und ihr Vater noch am Leben wäre oder den Unfall wenigstens überlebt hätte.

Eine einzelne Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und krabbelte langsam ihre Wange hinunter. Aber sie erreichte Maries Kinn nicht. Noch bevor sie auf Höhe ihres Mundwinkels war, spürte sie plötzlich weiches Fell an ihrer Wange, in dem die Träne versank.

Aber heute schaffte es der kleine Rottweiler nicht, sie zu trösten. Heute schaffte er es eher, dass es ihr noch schlechter ging. Und plötzlich kam die Erinnerung an den Unfall ihrer Mutter zurück.

 

Papa, du musst den Ball richtig werfen, sonst fliegt er nicht richtig und Sam kann ihn nicht fangen“, erklärt das kleine Mädchen ihrem Vater. „Guck mal, so musst du das machen.“ Sie nimmt ihm den Ball ab und wirft ihn mit aller Kraft von sich. Der Hund jagt dem Ball sofort hinterher und fängt ihn noch aus der Luft.

Der Vater lacht. „Okay, kleine Maus. Dann werde ich mal auf die große Meisterin hören.“ Er nimmt Sam den Ball ab. „Also, den Ball über den Kopf werfen, oder was meinst du?“ Sie nickt. „Okay, dann werde ich das mal versuchen.“

Er hebt den Wurfarm und schleudert den Ball in hohem Bogen durch die Luft. Sam läuft dem Geschoss fröhlich bellend hinterher.

Plötzlich klingelt das Telefon. Der Vater seufzt leise. Am liebsten würde er sich hinsetzen und leisen, aber er hat seiner Tochter schon so lange versprochen, dass sie zusammen Ball spielen. Und mit ihr hat er immer so viel Spaß.

Er versucht schon die ganze Zeit, seine Müdigkeit vor der Tochter zu verbergen, aber sie ist eine aufmerksame Beobachterin und hat es sicherlich schon bemerkt.

Das Telefon klingelt noch immer. Es ist ein hartnäckiger Anrufer. Der Vater geht rein und nimmt ab. Mit dem kabellosen Telefon geht er zurück zur Terrassentür. Die Person am anderen Ende der Leitung bestreitet den Hauptteil des Gespräch. Der Vater hört eigentlich nur zu, nickt zwischendurch, als ob der andere ihn sehen könnte, und bestätigt etwas. Dann wird er plötzlich blass. Sein Blick bleib an Sam hängen, der neben dem kleinen Mädchen sitzt und den Ball vor ihre Füße hat fallen lassen.

Jetzt sagt der Vater gar nichts mehr, sondern hört nur noch zu. Irgendwann verabschiedet er sich und starrt an einen Punkt, den seine Tochter nicht erkennen kann.

Papa?“, fragt sie vorsichtig, als er sich nicht rührt. Aber er sagt immer noch nichts. Das ist unheimlich. Die kleine hockt sich neben den Hund und schlingt die Arme um ihn. Der Border Collie rührt sich nicht vom Fleck.

Papa, sag doch etwas“, fleht sie ihn an, als er sich nach ein paar Minuten noch immer nicht gerührt hat. Im Hintergrund hört sie ihren Bruder leise rufen, dass er daheim ist. Sie drängt sich an ihrem Vater vorbei ins Haus und läuft zu Jakob.

Jako, Papa bewegt sich nicht mehr.“ Ängstlich sieht sie ihn an. Er ist viel größer als sie. Sie schnappt sich seine Hand und zieht ihn ins Wohnzimmer. Der Vater steht noch immer in der Tür.

Papa?“, versucht er nun auch Jakob. „Alles in Ordnung?“ Er legt dem Vater eine Hand auf die Schulter. Und endlich bewegt er sich wieder. Langsam dreht er sich um und guckt Jakob an. Er hebt eine Hand und legt sie auf die Schulter des Mädchens.

Eure Mutter hatte einen Unfall“, bringt er schließlich hervor. Ängstlich sieht die Kleine zu ihrem Vater auf.

Wo ist Mama, Papa?“, fragt sie und drückt sich an Jakob. Aber ihr Vater reagiert schon wieder nicht. Stattdessen kniet Jakob sich hin und sieht sie an.

Mama ist im Krankenhaus, Marie. Die Ärzte werden sich um sie kümmern, damit sie bald wieder nach Hause kann.“ Er streichelt ihr übers Haar. „Du wirst sie bald wieder sehen.“ Liebevoll sieht ihr großer Bruder sie an.

 

Das war der Anfang vom Ende gewesen. Der Unfall. Ihre Mutter war tatsächlich nach hause gekommen. Aber erst nach vielen Untersuchungen, da bei einer Routineuntersuchung der Verdacht auf Krebs aufgekommen war.

Er hatte sich bestätigt.

Sie musste zur Chemotherapie, aber die setzte ihr ganz schön zu. Die Familie musste das Haus verkaufen, da es zu viele Treppen hatte. So waren sie von einem Dorf kurz vor Hannover in einen der Vororte gezogen.

Aber es wurde nicht mehr besser. Die Mutter war immer leicht abwesend. Zwar kümmerte sie sich noch immer genau so liebevoll um Marie und Jakob, aber es kam immer häufiger vor, dass sie etwas nicht mehr machen konnte. Zudem wurde ihr Bewusstsein immer schwächer.

Es ist schon schlimm genug, einen geliebten Menschen sterben zu sehen, aber wenn man dann auch noch sieht, wie das Bewusstsein immer schwächer und schwächer wird, ist es eine regelrechte Folter.

Für Marie war es eine Tortur. Zu spüren, wie das Bewusstsein immer schwächer wurde und die natürlichen Mauern, die es von Geburt an umgaben, langsam zu bröckeln begannen, war um so vieles schlimmer, als einfach nur zu sehen, wie der Körper durch die Krankheit und die Behandlungen langsam starb.

Und um es noch etwas schlimmer zu machen, hatte sie als Gegensatz immer Jakob und ihren Vater gehabt, deren Bewusstsein stark und gesund waren. Es war, als wollten sie sie verhöhnen.

Viele Aufgaben übernahmen bald die Männer, da ihre Mutter zu schwach wurde. Und irgendwann wachte sie einfach nicht mehr auf. Marie erinnerte sich noch genau daran. Es war an einem Samstag gewesen.

 

Vorsichtig lugt Marie aus ihrem Zimmer. Papa ist wie immer früh zur Arbeit gefahren und Jakob schläft noch. Sie will ihn nicht wecken. Er ist immer schrecklich drauf, wenn sie ihn weckt. Dabei ist es doch schon halb elf. Langsam könnte er doch aufstehen, oder?

Aber ihn zu wecken, traut sie sich auch nicht. Das eine Mal hat er sie aus dem Zimmer geschubst und die Tür geknallt, weil sie ihn geweckt hatte. Seitdem traut sie sich das nicht mehr.

Aber wo ist Mama? Sie steht doch sonst immer gegen neun oder halb zehn auc. Marie kann sie in der ganzen Wohnung nicht finden. Weder körperlich, noch geistig.

Schließlich öffnet sie ganz leise die Tür zum elterlichen Schlafzimmer. Es ist noch dunkel, weil die Rollläden herunter gezogen sind. Sie hält den Atem an, um besser lauschen zu können. Es ist ganz still. Also knipst sie das Licht an.

Im Bett liegt ihre Mutter.

Mama?“ Sie bewegt sich nicht. Da ist kein Bewusstsein, wie es eigentlich sein sollte. „Mama, du musst aufstehen.2 Noch immer reagiert sie nicht. Also geht Marie zu ihr. „Mama …“ Sie rüttelt sie an der Schulter.

Keine Reaktion. Im Kopf sucht sie noch immer nach ihrer Mutter.

Mama, bitte. Sag doch was.“ Ängstlich guckt sie ihre Mutter an. Dann läuft sie schnell aus dem Zimmer. Ihre Füße tragen sie zu Jakobs Zimmer. Ohne anzuklopfen stürmt sie in das Zimmer hinein und rüttelt Jakob kräftig. Der brummelt aber bloß etwas unverständliches und dreht sich um. Sie rüttelt ihn erneut.

Jako, wach auf“, fleht sie. Sie hat diesen Spitznamen seit dem Unfall ihrer Mutter nicht mehr benutzt. „Mama bewegt sich nicht mehr.“ Eine Träne läuft ihr über die Wange. „Jakob, Mama wacht nicht auf.“ Jetzt weint sie richtig.

Und endlich wacht Jakob auch auf. Er guckt seine Schwester verschlafen an und streckt die Arme aus, um sie unter die Decke zu ziehen.

Alles ist gut, kleine Maus. Es war nur ein Albtraum“, erklärt er verschlafen.

Nein“, bestreitet sie und klammert sich ängstlich an seinen Arm. „Mama atmet nicht mehr.“ Mamas Bewusstsein ist weg, will sie am liebsten heraus schreien, aber sie hat Mama versprochen, dieses Geheimnis zu bewahren.

Immer mehr Tränen laufen dem Mädchen über das Gesicht. Endlich ist Jakob wirklich wach. Schnell schlägt er die Decke zurück und läuft aus dem Zimmer.

Seine Schwester folgt ihm ängstlich. Sie will nicht zurück in das Zimmer ihrer Eltern, aber alleine sein will sie auch nicht.

Jakob bleibt nicht lange im Schlafzimmer der Eltern. Als er das Zimmer wieder verlässt, sieht er schockiert aus. Mechanisch greift er nach dem Telefon und wählt eine Nummer. Er braucht nicht lange zu warten, bis jemand abnimmt.

Hallo, hier spricht Jakob Schröder. Ich rufe wegen meiner Mutter an. Ich glaube … Sie …“ Er kann nicht weiter sprechen und muss schlucken. „Sie atmet nicht mehr.“ Kurz lauscht er der Stimme am Telefon. Dann gibt er die Adresse durch und beantwortet noch einige Fragen.

Während der ganzen Zeit weicht Marie nicht von seiner Seite. Ihr Blick wandert die ganze Zeit zwischen Jakob und dem Schlafzimmer hin und her. Ihr Bewusstsein klammert sich an Jakobs Präsenz, wie an einen Rettungsanker.

Nachdem Jakob aufgelegt hat, wählt er sofort eine zweite Nummer. „Papa? Kannst du bitte nach hause kommen? Es ist wegen Mama.“ Das Telefonat ist kurz. Es scheint, als versteht der Vater sofort, was Jakob ihm sagen will.

Und endlich wendet er sich seiner kleinen Schwester zu. Er hockt sich vor ihr auf den Boden, nimmt sie ganz lange in den Arm und sieht ihr dann fest in die Augen.

Marie … Mama … Sie …“ Er stockt. Auch er weint jetzt. „Sie wird nicht mehr aufwachen.“ Er sieht sie unglaublich traurig an. „Mama wird nicht mehr zurückkommen.“

Neiiin!“ Marie schluchzt auf und ihr Bruder zieht sie zurück in seine Arme.

Sch. Alles wird gut.“ Er streichelt ihr über den Rücken und versucht so, sie zu beruhigen. „Ist gut Marie. Ich bin ja da.“

Bleib bei mir, Jako“, schluchzt sie. „Bitte bleib hier. Lass mich nicht alleine.“

Tapetenwechsel

„Marco!“ Erschrocken sah der Angesprochene auf. Er hatte Jakob nicht so früh zurück erwartet. Sonst war er Donnerstags immer lange in der Uni. „Marco, ist Marie hier?“

Marco runzelte die Stirn. „Nein, seit ich zuhause bin, habe ich sie noch nicht gesehen.“ Oder gespürt, fügte er in Gedanken hinzu. Noch immer zuckte er jedes Mal zusammen, wenn Marie in seine Nähe kam. Ihr Bewusstsein war ihm noch immer nicht geheuer.

Er hob Chilli auf seinen Schoß und kraulte den Hund nachdenklich hinter den Ohren. „Wieso denn?“

„Ich wollte sie heute von der Schule abholen, weil wir gleich einen Termin beim Jugendamt haben. Aber sie war nicht vor der Schule. Und in dem Bus, mit dem sie immer fährt, war sie auch nicht.“

Jakob betrat das Zimmer und sah seinen Freund besorgt an. „Und du bist dir ganz sicher, dass sie nicht hier ist?“

„Ja, sonst wäre Chilli nämlich nicht hier bei mir“, entgegnete dieser trocken. Und ich wäre nicht so entspannt. Ein kurzes Lächeln huschte über Jakobs Gesicht, dann kam der besorgte Ausdruck zurück. „Wo kann sie nur sein?“

„Hast du schon versucht, sie auf dem Handy anzurufen?“ Jakob schüttelte stumm den Kopf und verließ das Zimmer wieder, um zu telefonieren. Marco hörte ihn draußen im Flur etwas sagen und als er wieder zurück kam, sah er nicht mehr besorgt aus. Jetzt sah er eher wütend aus. Marco zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Sie ist im Park.“ Er runzelte die Stirn. „Sie hat sich wohl in der Schule mit jemandem gestritten und ist danach einfach gegangen, obwohl sie noch Unterricht hatte.“ Er sah seinen Kumpel an und gleichzeitig sah er durch ihn hindurch. Dann seufzte er. „Naja, ich hole sie dann mal ab. Der Termin ist in einer halben Stunde. Wir sehen uns dann nachher.“

Und schon sah er wieder weg. Marco war immer wieder fasziniert, wie er sein Leben meisterte. Denn es verging eigentlich kein Tag, an dem er nicht wegen irgendetwas im Stress war. Und nebenbei hatte er auch noch die Zeit, seine Freundschaften zu pflegen und die Probleme anderer Leute zu lösen. Aber trotz allem ging er in seinem Stress nicht unter.

„Na komm, Chilli, lass uns raus gehen. Frische Luft ist jetzt genau das, was ich brauche. Und dir wird ein Besuch im Park auch nichts ausmachen.“ Marco setzte seinen Fellball wieder auf den Boden und erhob sich von seinem Stuhl. Im Flur ergriff er Chillis Leine und legte sie dem Welpen an. Dieser sah ihn mit großen Augen an. Als er dann begriff, was Marco vor hatte, sprang er aufgeregt herum und drängte zur Tür.

„Wow, immer schön langsam“, bremste Marco den kleinen Wildfang. Schnell überprüfte er, ob er alles dabei hatte, dann verließen sie die Wohnung. Das Treppenhaus überwanden sie für Chillis Verhältnisse erstaunlich schnell und sobald sie das Haus verlassen hatten, drängte Chilli auf dem altbekannten Weg zum Park. Die ersten Meter ließ Marco den Welpen gewähren, aber schließlich pfiff er ihn zurück. Und auch wenn der kleine Rottweiler oft noch stürmisch und etwas ungezogen war, hörte er doch auf sein Herrchen, wenn dieser ihn zurecht wies.

Im Park drehten sie ihre gewohnte Runde und Chilli stattete seinen Lieblingsbäumen einen kurzen Besuch ab. Da sie sich für den Spaziergang Zeit ließen, brauchten sie über eine Stunde, bis sie wieder vor der Haustür standen. Jakob und Verena waren noch nicht wieder da, aber das hatte Marco auch nicht erwartet.

Die beiden würden vermutlich auch noch eine Weile weg bleiben, da Verenas Situation nicht die einfachste war. Die Frage war, was Marco jetzt machen sollte. Die Uniaufgaben hatte er schon alle fertig, mit Chilli war er grade draußen gewesen und kochen war nicht sinnvoll, wenn nicht klar war, wann Jakob und Verena nachhause kommen würden.

Während Marco nachdachte, beobachtete er seinen Hund, der verzweifelt unter dem Bett herum schnüffelte und versuchte, sein Tau zu finden. Schmunzelnd bemerkte Marco, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, das Tau dort unten zu finden, da Chilli es zuletzt in Verenas Zimmer getragen hatte.

Ein kleines Lächeln schlich sich auf Marcos Gesicht, als Chilli wieder unter dem Bett hervor kam und sein Herrchen mit großen, traurigen Augen ansah. Marco stand langsam auf, verließ das Zimmer und drehte sich im Flur wieder um. Chilli stand noch immer an Ort und Stelle und sah ihm gespannt hinterher.

Als Marco dann Verenas Tür ein Stückchen aufstieß, verstand Chilli und rannte los, um sein Tau zu holen. Als der Hund das Zimmer wieder verlassen hatte, schloss Marco die Tür und betrat wieder sein eigenes Zimmer.

Aber eine Beschäftigung hatte er noch immer nicht gefunden. Sein Welpe war damit zufrieden damit, auf dem Boden zu liegen und sein Tau zu malträtieren. Nachdenklich wanderte sein Blick durchs Zimmer und blieb schließlich an seinem Nachttisch hängen. Richtig, er wollte ja noch das eine Buch zu Ende lesen, bevor der Stress mit den Klausuren in der Uni begann.

 

„Marco, wir sind wieder da“, erklang Jakobs Stimme. Marco sah von seinem Buch auf und konnte grade noch Chillis Schwanz erkennen, der um die Ecke verschwand. Mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht, folgte Marco seinem Hund. Im Flur standen Jakob und Verena und sahen aus, als hätten sie grade einen Marathon hinter sich.

„Was haltet ihr von Essen? Ich könnte schnell Griesbrei warm machen.“

„Das wäre super.“ Jakob lächelte schwach und auch Verena konnte sich ein mehr oder weniger zustimmendes Geräusch abringen. „Danke, Marco.“

Der nickte nur, um zu zeigen, dass er seinen Freund verstanden hatte, dann zog er sich in die Küche zurück, um das Essen vorzubereiten.

Keine zehn Minuten später kamen auch die Geschwister, vom Geruch des Essens angelockt, indie Küche. Marco verteilte das Essen und eine zufriedene Stille legte sich über die kleine Wohnung.

„Wir brauchen eine neue Wohnung“, durchbrach Jakob plötzlich die Stille. Erstaunt sah Marco auf. Er hatte nicht erwartet, sobald etwas über den Tag heute zu erfahren. „Marie darf bleiben, wenn entweder einer von uns auszieht, oder wir uns zusammen eine neue Wohnung suchen.“

Nachdenklich stocherte Marco in seinem Essen herum. Eine neue Wohnung also. Tatsächlich war er schon seit längerem am Überlegen, ob sie sich eine neue Wohnung suchen sollten. Chilli wurde langsam zu groß für diese drei Räume.

Die alles entscheidende Frage war jedoch, ob und wo sie jetzt, wo das Semester schon angefangen hatte, noch eine Wohnung finden sollten, sie die beiden mit ihrem Studentengehalt zahlen können. Aber vielleicht …

„Dann fangt schon mal an, die Wohnungsanzeigen durch zu blättern. Ich muss noch mal kurz weg, aber danach helfe ich euch sofort. Könnt ihr vielleicht schon den Abwasch machen?“ Marco hatte aufgegessen und erhob sich vom Tisch. Jakob konnte nur überrumpelt nicken und bevor er wirklich verstanden hatte, was Marco gesagt hatte, war der schon aus der Wohnung verschwunden.

Keine Minute später klopfte es jedoch schon wieder an der Wohnungstür. Marco sah Verena mit einem schiefen Grinsen an.

„Hab meinen Schlüssel vergessen.“ Sie öffnete die Tür bloß noch etwas weiter und verschwand dann in ihrem vorübergehenden Zimmer.

 

Nach zehn Minuten hielt Marco schließlich seinen alten Opel vor einem Fachwerkhaus. Man sah ihm die Jahre an, die es nun schon dem Wetter und der Großstadt trotze, aber es war noch immer sehr gut in Schuss gehalten und wirkte sehr einladend. Der Efeu kletterte an der Fassade empor und verdeckte an einigen Stellen sehr blickdicht die weiße Fassade. Die braunen Fensterläden waren frisch gestrichen und auch die Tür sah so aus, als wäre ihr letzter Anstrich noch nicht sehr lange her.

Marco brauchte einen Moment, um den richtigen Schlüssel zu finden, verschaffte sich aber schließlich völlig problemlos Zugang zum Haus. Von innen schlug ihm angenehm kühle Luft entgegen, die ihn geradezu dazu einlud, einzutreten.

Schnell folgte der Student dieser unsichtbaren Einladung und schloss die für diese Jahreszeit sehr schwüle Luft auf der Straße damit aus. Mit schnellen Schritten überwand er die Treppe in den ersten Stock. Dort zögerte er kurz, bevor er schließlich an die Wohnungstür klopfte.

Schon nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und eine genervt aussehende Studentin stand Marco gegenüber.

„Was ist?“, fragte sie, noch während sie die Tür öffnete. Als sie jedoch erkannte, wer da vor ihr stand, verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck in wenigen Sekunden von genervt zu einem fröhlichen Grinsen.

„Hey Marco, wie komme ich denn zu der Ehre deines Besuches? Komm doch rein.“ Sie öffnete die Tür vollkommen und Marco folgte der Einladung. „Möchtest du etwas trinken? Oder essen? Ich hab noch Ravioli übrig.“ Kaum war Marco in der Wohnung wurde er auch schon mit einem Schwall Wörter überschüttet und teilweise wechselte das Thema schon mit dem nächsten Satz. Für Antworten ließ die junge Frau ihm keine Zeit.

„Wo ist denn Chilli? Du lässt ihn doch sonst nie alleine zu hause.“ Ihr Blick heftete sich auf ihn, nachdem er das Treppenhause abgesucht hatte. „Ihm ist doch nichts passiert, oder?“ Entsetzen schlich sich in ihren Blick. „Bitte sag mir, dass es ihm gut geht.“

Nun wartete sie seine Antwort tatsächlich ab. Marco seufzte leise. „Ja, Chilli geht es gut. Jakob passt auf ihn auf. Aber wegen Chilli bin ich nicht zu dir gekommen. Es ist wegen …“

„Geht es Jakob gut? Ach wie konnte ich nur so dusselig sein und ihn vergessen? Natürlich passt er auf Chilli auf, wenn du mal nicht da bist. Wie geht es seiner Schwester? Wurde schon entschieden, was mit ihr passiert? Ach, das arme Ding. Erst die Mutter und jetzt der Vater. Sie muss ja völlig verstört sein. Aber sie hat ja Jakob. Hat sie sich denn gut eingelebt?“

„Jetzt lass mich doch mal ausreden“, unterbrach Marco sie genervt. Er mochte sie. Er mochte sie wirklich. Sie war seine Cousine und eine seiner besten Freunde, aber manchmal konnte sie ihn wirklich zur Weißglut treiben, wenn sie ununterbrochen vor sich hinplapperte.

„Also. Jakob geht es gut. Und Verena auch. Sie waren heute beim Jugendamt und es wurde entschieden, dass sie bleiben darf, we …“

„Sie darf bleiben?“ Seine Cousine quietschte vergnügt und entlockte Marco erneut ein genervtes Schnauben. „Ach, das freut mich. Sie jetzt noch zu völlig fremden Menschen zu schicken, wäre nicht fair für sie. Wo sie doch schon fast ihre ganze Familie verloren hat.“

„Sofia, könntest du mich bitte mal ausreden lassen?“ Langsam wurde Marco wirklich ungeduldig. Sie war doch sonst nicht so aufgedreht. „Verena darf bleiben, wenn entweder ich ausziehe, oder wir uns eine neue Wohnung suchen. Ich meine, ich kann die verstehen. Die Wohnung ist nicht für drei Leute gemacht. Dafür ist sie einfach zu klein. Das merke ich ja jetzt schon manchmal.“

„Und was habe ich mit dem ganzen zu tun?“ Neugierig sah Sofia ihren Cousin an. „Also, ihr sucht eine neue Wohnung. Okay. Soll ich euch bei der Suche helfen?“

„Ja. Nein. Also, die Wohnung hier ist ja recht groß und du wohnst hier ja momentan alleine. Und ich habe gehört, du suchst noch ein paar neue Mitbewohner, weil du hier sonst nicht bleiben kannst …“ Marco brach ab und sah Sofia unsicher und fragend an.

„Und deshalb hast du dir überlegt, dass ihr hier einziehen könntet.“, schlussfolgerte Sofia vollkommen richtig. „Ich weiß ja nicht. Was Jakob erzählt hat, ist Verena ja recht schwierig. Und Chilli ist ja auch nicht ganz ohne …“ Sie zögerte und sah Marco nachdenklich an. „Bis wann müsst ihr die neue Wohnung haben?“

„Möglichst in den nächsten drei Wochen. In einer Woche fangen für Verena die Herbstferien an und in drei Wochen hören sie wieder auf. Bis dahin würden wir den Umzug gerne über die Bühne gebracht haben.“

Sofia seufzte. „Lass mich darüber nachdenken, okay? Ich will jetzt keine Entscheidung treffen und sie dann nachher bereuen. Weißt du, ich würde euch unglaublich gerne helfen, aber ich habe auch schon ein paar andere Anfragen bekommen. Einige kommen mit ihren Mitbewohnern nicht so gut klar oder so. Ich versuche euch Sonntag Bescheid zu geben. Dann habe ich drei Tage darüber nachgedacht. Morgen und Samstag treffe ich mich mit den anderen Bewerbern.“

Okay, danke Sofia. Du bist ein Schatz. Ich geh dann mal wieder. Jakob fragt sich bestimmt schon, wo ich so lange bleibe.“ Er umarmte Sofia zum Abschied herzlich und verließ die Wohnung wieder. Im Treppenhaus blieb er kurz stehen und warf einen Blick nach oben. Sollte er, oder sollte er nicht?

Mit einem Seufzen beschloss er, dass es eine gute Idee war, wenn er schon mal da war.

Und so machte er sich auf den Weg in den dritten Stock, wo er mit einem seiner Schlüssel die Tür öffnete. Im Flur schlug ihm ein Duft entgegen, der ihn seine ganze Kindheit über begleitet hatte: Erbeer und Ananas. Seine Mutter hatte mal wieder gebacken.

„Mama? Papa?“ Keine Antwort. Kein Bewusstsein. Seltsam. Hatte er nicht ihr Auto an der Straße gesehen? Neugierig betrat Marco die Küche und tatsächlich: Im Ofen stand ein noch warmer Erdbeer-Ananas-Kuchen. Kurz war er versucht, sich ein Stück abzuschneiden, aber er wusste, dass seine Mutter es nicht gerne sah, wenn man einfach von ihren Kuchen naschte.

Das Geräusch von Krallen auf Laminat, lenkte Marco von seinen Überlegungen ab. Kurz darauf kam der alte Golden Retriever seiner Eltern herein und begrüßte Marco mit freundlichem Hecheln und Schwanzwedeln. Sofort hockte Marco sich hin, um seinen alten Freund zu begrüßen.

„Hey Schatz, was machst du denn hier?“ Erstaunt hob Marco den Blick. Seine Mutter stand hinter Johnny in der Tür und sah ihn lächelnd an. „Wie schön, dass du mal wieder vorbei schaust. Wie geht es dir denn?“

„Mir geht es gut, danke. Ich war grade unten bei Sofia und dachte mir, ich statte euch mal einen kurzen Besuch ab. Es könnte sein, dass ich bald da unten einziehe.“

Seine Mutter sah ihn erstaunt an. „Wieso denn? Stimmt etwas mit deiner Wohnung nicht? Hast du dich mit Jakob gestritten? Deswegen musst du doch nicht gleich ausziehen. Jeder streitet sich mal.“

Marco schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein, ich habe mich nicht mit Jakob gestritten. Aber seine kleine Schwester ist bei uns eingezogen und das Jugendamt will, dass entweder ich ausziehe oder wir uns zusammen eine neue Wohnung suchen. Und da hab ich mich halt erinnert, dass Sofia doch noch ein paar Mitbewohner sucht.“

Trauer

„Keine Angst, Marie. Du wist Sofia mögen.“ Jakob lächelte seine Schwester aufmunternd an. „Sie ist manchmal etwas extrem gut drauf, aber eigentlich ist sie echt nett. Auch wenn sie gerne mal zu viel redet. Wenn es drauf ankommt, kann sie den Mund halten.“

Marie seufzte. „Jakob, ich sage doch gar nichts gegen den Umzug. So lange ich zu keiner Pflegefamilie muss, ziehe ich von mir aus auch nach Bayern oder so.“ Sie sah zu ihm hoch. „Also könntest du bitte aufhören, mich die ganze Zeit voll zu quatschen?“ Sie seufzte erneut müde. „Ich geh dann mal meine Sachen packen. Soll ich die Sachen auf deinem Zimmer auch shcon mal ein bisschen sortieren?“ Jakob nickte und lächelte entschuldigend und dankbar. „Okay, bringst du mir dann einen Karton, wenn sie angekommen sind?“ Wieder nickte er. „Danke.“

Langsam betrat sie das Zimmer, in dem sie die letzten Wochen gelebt hatte. Es lagen kaum Sachen von ihr herum. Nur ihre Anziehsachen und die Schulsachen. Die Klamotten waren schnell in den zwei Koffern verstaut, in denen sie her gekommen waren und auch ihre Schulsachen brauchten nicht lange, um ihren Weg in die Tasche zu finden.

Nun blieben nur noch Jakobs Sachen. Viel war es auch nicht. Also na ja, wenn man ein halbes Regal voller Bücher, ein paar Fotos, ein Poster und sonstigen Schreibtischkram als wenig bezeichnen wollte. Die Bücher allein würden bestimmt schon zwei Kartons füllen. Der Rest passte hoffentlich in einen Karton. Aber mit den richtigen Packtechnik sollte es auf jeden Fall funktionieren. Bei ihren Sachen hatte sie es ja schließlich auch geschafft.

„Hey, die Kartons sind da. Jakob meinte, du könntest ein paar davon gebrauchen?“ Marco hatte den Kopf durch die Tür gesteckt und Chilli hatte sofort die Gelegenheit ergriffen, sich ins Zimmer zu quetschen.

Marie nickte auf Marcos Frage und begrüßte gleichzeitig Chilli mit einem Lächeln. „Ich schätze, ich brauche so an die drei Stück.“

Marco nickte und verschwand wieder aus Maries Blickfeld. Kurzdarauf schoben sich drei gefaltete Umzugskartons durch die Tür. Schnell nahm Marie sie an und begann, Jakobs Bücher zu verstauen. Lange dauerte es nicht, die zwei Kartons zu füllen. Allerdings nahmen die Bücher doch mehr Platz ein, als sie gedacht hatte und so kamen auch ein paar in den dritten Karton. Trotzdem hoffte Marie, dass die Sachen vom Schreibtisch noch alle hinein passten. Wenn noch etwas übrig war, konnte sie das aber auch noch zu ihren eigenen Sachen packen. Sie hatte noch etwas Platz.

Als erstes räumte sie den Schreibtisch leer und kontrollierte dabei alle Kugelschreiber auf ihre Schreibfähigkeit. Die leeren wanderten sofort in den Müll, die noch funktionstüchtigen kamen in eine kleine Box, damit sie nicht im ganzen Karton herum flogen. Als nächstes waren die Zettel an der Reihe. Sie überflog jedes Blatt und versuchte das Papierchaos irgendwie thematisch zu sortieren. Dabei fragte sie sich, ob Jakob wohl jemals von der Erfindung der Schnellhefter gehort hatte. Entdecken konnte sie jedenfalls keinen auf seinem Schreibtisch.

Zum Schluss waren dann die Fotos an der Reihe. Mit mehr oder minder großem Entsetzen stellte sie fest, dass es sich um etwas mehr als nur ein „paar“ Fotos handelte. Jakob hatte im Laufe der letzten Jahre eine ganze Fotocollage zusammengestellt, die nun stolz an seiner Wand hing. Hinzu kamen einige Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch. Das würde also auf jeden Fall noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Mit einem leisen Seufzen stellte Marie sich der momentan unmöglich erscheinenden Aufgabe und fing an, die Fotos vorsichtig von der Wand zu nehmen. Ein Großteil der Fotos waren Landschaftsaufnahmen, aber es waren auch einige Bilder von Personen. Mal als Portrai, mal als Gruppenaufnahmen. Es war alles dabei. Selbst Bilder von Chilli und Sam konnte Marie entdecken.

Viele der Bilder, auf denen Leute zu sehen waren, waren Bilder von Jakobs Freunden. Marie kannte kaum jemanden. Die Meisten schienen hier in Hamburg geschossen worden sein. Aber es gab auch Fotos von der Familie.

Ein Foto zeigte beispielsweise Marie und ihre Eltern im Urlaub in Schweden. Sie standen am Ufer eines großen Sees und hinter ihnen ging grade die Sonne unter und tauchte den See und die Haare ihrer Mutter in rotes Licht.

Das Foto war in dem Urlaub vor dem Unfall ihrer Mutter aufgenommen worden. Es war eines der letzten Bilder, auf sie noch ohne jegliche Gehhilfen oder Rollstühle zu sehen war.

Marie spürte, wie die Tränen sich in ihre Augen drängten, als sie an diesen letzten wundervollen Urlaub dachte. Energisch schüttelte sie den Kopf und hoffte, so die Tränen vertreiben zu können. Es klappte nicht.

Schnell nahm sie die letzten Fotos von der Wand. Sie beim Spielen mit Sam, als er noch ein Welpe und sie vielleicht sechs Jahre alt war. Mutter und Vater auf der Terrasse, wo sie über irgendetwas lachen. Marie mit drei oder vier schlafend auf dem Schoß ihrer Mutter.

Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurück halten. Viel zu viele Erinnerungen an ihre Eltern drängten sich in ihr Gehirn. Schöne, aber auch traurige.

Sie, wie sie versuchte einen Kuchen zu backen und mit ihrer Mutter lachte, weil es nicht richtig klappt.

Ihr Vater, wie er ihr das Fahrrad fahren bei bringt.

Ihre Eltern, die sie stolz zu ihrer Einschulung bringen.

Ihr Mutter, die reglos im Bett liegt.

Jakob, der Marie erklärt, dass ihre Mutter nicht mehr aufwachen wird.

Ihr Vater, der weinend auf dem Sofa sitzt und nicht ansprechbar ist.

Jakob, der sie in die Arme schließt, sie tröstet und in seinem Bett schlafen lässt.

Ihr Vater, der ihr erklärt, dass ihre Verabredung für den Tag geplatzt ist.

Sie selbst, wie sie ihren Vater vom Geschehen auf der Straße ablenkt.

Der besorgte Blick ihres Vaters, kurz bevor sie in die Gurte geschleudert werden.

Zum Ende hin wurden die Bilder immer schneller und endeten schließlich mit dem Bild ihres Vaters, der reglos hinter dem Steuer sitzt. Nicht ansprechbar, ohne das geringste Lebenszeichen.

Ein Schluchzen entfuhr ihr und sie spürte etwas weiches an ihrer Wange.

Chilli.

Er drückte sich an sie und versuchte sie so zu trösten. Froh, ihn zu haben, schloss Marie ihn in ihre Arme. Erst jetzt viel ihr auf, dass sie nicht mehr vor dem Karton stand, sondern eingerollt auf dem Boden lag. Sie wusste nicht wann oder wie sie dort hingekommen war.

„Essen!“, ertönte es da plötzlich von draußen und Marie zuckte erschrocken zusammen. Sie wischte sich die Tränen ab, doch es kamen immer noch welche nach. Vorsichtig setzte sie sich auf, behielt Chilli dabei aber auf dem Arm. Er tat ihr so gut. Er konnte sie schon mit seiner bloßen Anwesenheit trösten.

„Verena?“ Zitternd holte Marie Luft und versuchte, die nachkommenden Tränen zu unterdrücken. Es klappte. Mehr oder weniger jedenfalls. Chilli streckte sich hoch und leckte ihr das Gesicht ab, was Marie ein kleines Lächeln entlockte. Sie drückte den Hund wieder fest an sich.

„Hey, ist alles in Ordnung hier drinnen?“ Marco hörte sich wirklich besorgt an. Wer würde das schließlich auch nicht, wenn er ein heulendes Mädchen auf dem Fußboden entdecken würde?

Marie spürte, wie sich jemand neben sie setzte, aber sie wollte nicht aufschauen. Marcos Bewusstsein war direkt neben ihr und sagte ihr sehr genau, wer da war. Sie hatte ihr Gesicht in Chillis Fell vergraben und kämpfte dort erneut gegen die Tränen an. Denn dort, mit dem Hund auf dem Arm, wo sie die Welt nicht sehen konnte, konnte sie ganz gut mit all den Erinnerungen umgehen, die grade in ihrem Kopf herum spukten.

Etwas raschelte leise und Marie vermutete, dass Marco das Foto aufgehoben hatte, dass vor ihr auf dem Boden lag.

„Ist das deine Mutter?“, bestätigte Marco da ihre Vermutung. Sie konnte bloß nicken, denn sie wusste genau, welches Foto er sich da grade ansah: Sie und ihre Mutter auf dem Sofa.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und ließ sie erschrocken zusammen fahren. Vorsichtig begann die Hand, ihren Rücken auf und abzufahren. Diese gleichmäßige Bewegung beruhigte Marie langsam und schließlich hatte sie sich genug gefangen, um aufsehen zu können.

„Vermisst du sie sehr stark?“

Wieder nickte sie bloß. Zum Sprechen hatte sie noch nicht genug Kraft. Es würde nun wieder in Tränen enden. Marco sagte nichts weiter zu dem Thema, sondern sah sich das Foto noch eine Weile an. Schließlich legte er das Foto einfach zu den anderen in den Karton und erhob sich.

Marie folgte seinen Bewegungen mit den Augen und als Chilli sich in ihren Armen wandt, um zu seinem Herrchen zu gelangen, gab sie ihn lächelnd frei. Noch einmal holte sie tief Luft, bevor sie sich schließlich ebenfalls erhob.

„Sagtest du nicht, es gibt Essen?“

Langsam nickte Marco und sah sie forschend an. „Geht's wieder?“ Nun war es an ihr zu Nicken. Sie brachte sogar ein recht überzeugendes Lächeln zustande. Nun lächelte auch Marco. „Jakob musste noch mal weg“, erklärte er auf dem Weg zur Küche. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, heute mal nur mit meiner Wenigkeit zu essen.“

„Kein Problem.“ Marie schnupperte neugierig. „Was gibt es denn überhaupt? Spagetti, Bolongnese?“ Sie schnupperte erneut. Nein, das war keine Bolongnese. Als sie erkannte, was es gab, wurden ihre Augen groß. „Lasagne? Oh, du glaubst gar nicht, wie lange ich keine Lasagne mehr hatte. Ich hoffe, du hast viel gemacht.“

Marco öffnete grinsend den Ofen. „Habe ich. Und da Jakob nicht da ist, ist sogar noch mehr da.“ Marie musste ebenfalls grinsen, aber ihr entging Marcos erleichterter Gesichtsausdruck nicht. Sie wusste, dass er und Jakob sich um sie sorgten, weil sie in den letzten Wochen so wenig gegessen hatte. Aber sie hatte einfach keinen Appettit gehabt.

Während Marie noch darüber nachdachte, hatte Marco die Lasagne schon in großzügige Stücke auf geteilt und ein großes auf Maries Teller geschaufelt. Und Marco beobachtete in den nächsten zwanzig Minuten erstaunt, wie Marie eine riesig große Portion Lasagne vertilgte, ohne sich einmal zu beschweren, dass sie zu viel auf dem Teller hatte. Am Ende sah sie sogar kurz so aus, als wollte sie um Nachschlag bitten. Das ließ sie dann aber doch bleiben.

„Das Essen war mal wieder großartig“, erklärte sie schließlich, als der letzte Happen Lasagne in ihrem Mund verschwunden war. „Ich glaube, ich habe noch nie so gute Lasagne gegessen. Und das will was heißen, wo doch eigentlich mein Vater die beste Lasagne der Welt macht.“ Marie lehnte sich zufrieden auf ihrem Stuhl zurück. „Aber jetzt erzähl mal: Wo hast du eigentlich so kochen gelernt?“

„Meine Mutter hat es mir beigebracht.“ Marco sah einwenig verlegen aus. „Sie meinte immer, wenn ich später mal alleine wohne oder eine Freundin hab, muss ich doch schließlich wissen, wie ich mich oder sie bekochen kann.“ Nun grinste er. „Im Übrigen ist es gar nicht so schwer. Man braucht nur ein wenig Übung, die richtigen Rezepte und den richtigen Lehrer.“

„Bringst du es mir irgendwann mal bei?“ Marie sah die Lasagne seufzend an. „Ich werde diese Lasagne definitiv vermissen, sollte einer von uns beiden irgendwann mal ausziehen.“

Marco nickte lachend und Marie konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Es war ein befreiendes Lachen, denn es war das erste mal, seit vier Wochen, dass sie wieder richtig lachen konnte.

 

Müde lehnte Marie den Kopf an die Fensterscheibe des Autos, als Jakob endlich losfuhr. Es waren zwar einige Freunde von Jakob und Marco zum Helfen eingetrudelt, doch Umzüge waren nun mal eine stressige und nervenaufreibende Angelegenheit. Und hinzu kam noch, dass Marie auf Grund ihrer Albträume sowieso nur schlecht schlafen konnte. Stress und Schlafmangel waren keine gute Kombination und wenn es nicht bald besser wurde, würde sie garantiert irgendwann jemandem an die Gurgel gehen.

Sie war schon immer leicht reizbar gewesen, wenn sie müde oder gestress war. Wenn beides in Kombination stand, tat man gut daran, sich lieber wenn möglich von ihr fern zu halten. Zur eigenen Sicherheit.

Aber zu ihrer aller Glück hatten sie es ja bald geschafft. Bloß noch die Sachen in die neue Wohnung tragen und auspacken, dann war sie den Stress zumindest los. Nicht zum ersten mal war Marie froh, dass es geklappt hatte, den Umzug in den Ferien zu legen. Es wäre nicht auszudenken, was passieren würde, wenn zu ihrem jetztigen Gemütszustand auch noch der Schulstress kommen würde.

„Et voilà, dein neues Zuhause.“ Erschrocken zuckte Marie zusammen und sah aus dem Fenster. Sie hatten vor einem hübschen, dreistöckigen Fachwerkhaus gehalten. Jakob stieg aus und Marie folgte ihm langsam. Keine sekunde später wurde die Haustür aufgerissen und Sofia kam heraus gestürmt.

Hey ihr zwei“, begrüßte sie die Geschwister fröhlich. „Ihr seid die ersten. Keine Ahnung, wo Marco und Konsorten stecken geblieben sind.“ Die junge Frau steuerte auf den Anhänger zu, der an Jakobs Auto hing und löste die Plane. „Aber wir können ja schon mal angfangen, diese Sachen hier reinzutragen.“ Sie schnappte sich den ersten Karton und verschwand wieder im Haus.

Marie konnte nur die Augen verdrehen. Jakob hatte völlig recht gehabt: Sofia konnte manchmal wirklich nervig sein. Außerdem redete sie jetzt schon zu viel, zu gerne und viel zu schnell. Das hatte Marie schon bei ihrem ersten Treffen gemerkt, als sie sich die Wohnung angeguckt hatten. Aber wer weiß, vielleicht würde ja Sofias aufgedrehte Natur einwenig helfen, Marie wieder aufzupäppeln.

Marie seufzte und schnappte sich ebenfalls einen der Kartons aus dem Hänger, um Sofia ins Haus zu folgen. In der Wohnung stellte sie den Karton erst einmal ab, um zu sehen, zu wem er gehörte. Er war als „Jakobs Schreibtischkram“ beschriftet, weshalb Marie ihn in Jaobs Zimmer abstellte.

Eine halbe Stunde später hatten sie den Anhänger und den Kofferraum leer geräumt. Inzwischen waren auch die anderen eingetroffen und so herrschte reges kommen und gehen in der Wohnung.

Insgesamt brauchten sie etwas über eine Stunde, um alle Sachen an ihren Bestimmungsort zu räumen. Die fleißigen Helferlein wurden von Sofia noch auf eine Tasse Kaffee oder Tee eingeladen, doch Marie war erschöpft und entschuldigte sich. Sie sollte nur noch in ihr Zimmer und möglichst schnell schlafen.

Die Wohnung erstreckte sich über das ganze Stockwerk und war U-Förmig um das Treppenhaus herum aufgebaut, wobei es zwei kurze Seiten außen und eine lange Seite in der Mitte gab. Die Tür lag an der langen Seite, also grade aus, wenn man die Treppe hoch kam. Durch die Wohnungstür betrat man einen lange, schmalen Flur, der sich über die gesamte breite der Wohnung erstreckte. Rechts waren ein Bad und die Zimmer von Sofia und Marie, links kam man zur Küche, einem zweiten Bad und Jakobs Zimmer. Marco hatte sein Zimmer in der Mitte der Wohnung, direkt gegenüber der Wohnungstür.

Und genau dort hatten sich nun alle Umzugshelfer auf einen Kaffee versammelt und freuten sich, dass alles an einem Tag geschafft war.

In ihrem Zimmer, das direkt an Marcos anschloss, ließ Marie sich erschöpft aufs Bett fallen und schloss kurz die Augen. Auspacken konnte sie auch morgen noch. Jetzt wollte sie einfach nur noch schlafen. Sie schlang die Arme um das Kopfkissen und legte den Kopf darauf.

Den einen Moment freute sie sich noch, dass die Erinnerungen sie heute wenigstens in Ruhe gelassen hatten, den nächsten Moment war sie eingeschlafen.

Bitte was?!

Müde massierte Marco sich die Schläfen. Sie hatten gestern nach dem Umzug eindeutig noch zu lange zusammen gesessen und gequatscht. Bis der letzte verschwunden war, war es schon nach Mitternacht gewesen.

Und das, obwohl sie doch alle heute zur Uni mussten. Am meisten bereute Marco grade vor allem, dass er sein Zimmer angeboten hatte, um die Kaffeerunde zu starten. Denn andernfalls hätte er sich irgendwann genau wie Verena einfach entschuldigen können. Sofia hatte es sogar gemacht. Jakob war einer der wenigen Glücklichen, die heute erst Mittags zur Uni mussten.

Marco seufzte. Er hätte einfach die erste Vorlesung ausfallen lassen können. Bei den Kopfschmerzen konnte er sich sowieso nicht konzentrieren. Glücklicherweise hatte er sich heute morgen dazu entschieden, die Straßenbahn zu nehmen. Auto fahren wäre jetzt nicht unbedingt die beste Idee.

Nach der Vorlesung verließ Marco schon fast fluchtartig den Hörsaal und rettete sich an die frische Luft. Und tatsächlich bestätigte sich mal wieder die alte Weisheit, dass frische Luft die beste Medizin gegen Kopfschmerzen ist. Kaum trat er aus dem Unigebäude in die Sonne des späten Donnerstagvormittags, spürte er auch schon, wie die Kopfschmerzen weniger wurden.

Auf der Treppe zu einem der Nebeneingänge ließ Marco sich nieder und genoss die erstaunlich warme Herbstsonne. Er holte seine Flasche heraus und nahm einen tiefen Schluck, als sich plötzlich ein Schatten über ihn schob und ihn so zwang, seine Augen zu öffnen.

„Hey Marco.“ Die Stimme kam von schräg oben und klang eindeutig weiblich. Das bestätigte auch das Bild von zwei hübschen, in Röhrenjeans steckenden Beinen, die auf der Stufe vor Marco zum Stehen gekommen waren. „Wie geht’s? Ich hab gehört, du bist umgezogen?“

Marco unterdrückte ein Seufzen. Woher wusste sie das jetzt schon wieder und warum stand sie ihm eigentlich in der Sonne? Denn dass die Stimme zu Laura gehörte, hatte Marco inzwischen heraus gefunden. Laura, die der festen Überzeugung war, dass er und sie befreundet waren und bald sogar zusammen kommen würden.

Absoluter Bockmist, da Marco mit ihr nur redete, wenn es unbedingt nötig war, also wenn sie mal wieder auf ihn zu kam, und ihr ansonsten eigentlich immer versuchte aus dem Weg zu gehen.

„Hi Laura“, gab er sich schließlich geschlagen, als sie keine Anstalten machte, zu verschwinden. „Danke, mir geht’s gut. Und ja, ich bin umgezogen.“ marco erhob sich und schulterte seine Tasche. Da er eine Stufe höher als Laura stand und sie sowieso um einige Zentimeter überragte, war er nun mehr als einen Kopf größer als sie. „Und wie geht’s dir?“

„Super, danke“, strahlte die junge Frau. Ihre dunkelblonden Haare waren in einer kunstvollen Flechtfrisur verarbeitet und ihre braunen Augen wurden durch das dezente Make-Up gut hervorgehoben, sodass sie richtig strahlten. Wenn die Sonne richtig stand, hatten ihre Augen sogar einen ganz leichten Goldstich. Fast so wie bei Verena, nur dass Verenas Augen diesen Goldstich immer hatten und nicht nur bei Sonneneinstrahlung.

„Tja, wenn du mich dann entschuldigst, ich muss zur nächsten Vorlesung.“ Marco drehte sich um und betrat wieder das Gebäude. Laura folgte ihm auf den Fuß. Marco verdrehte die Augen in Richtung Decke und hoffte, dass Laura sich bald verziehen würde.

„Du, sag mal, Marco, hast du heute Nachmittag vielleicht Zeit Ich hab das eine Thema in der Mathevorlesung nicht verstanden. Könntest du mir da vielleicht helfen?“ Sie sah ihn aus großen Augen an und lächelte bittend.

Marco seufzte und massierte sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren noch immer da und noch immer ziemlich stark.

„Weiß ich noch nicht genau. Ich sag dir nachher Bescheid, okay?“ Laura nickte begeistert und machte sich auf den Weg zu ihrer nächsten Vorlesung. Nicht ohne ihm noch ein strahlendes Lächeln und ein überschwängliches Dankeschön zuzuwerfen.

Vielleicht hatte er ja Glück und sie fand ihn nachher nicht mehr?

 

„Aber warum ist das Ergebnis denn jetzt plötzlich negativ? Eben war es doch noch positiv.“ Laura starrte erst das Blatt und dann Marco verwirrt an. Er stieß frustriert die Luft aus. Warum hatte er ihr bloß zu gesagt, zu helfen?

„Ja, eben war es noch positiv“, erklärte er dann und versuchte dabei den Drang zu unterdrücken, Laura zu schüttelen, bis sie es erkannte. „Aber wen du es mit einer negativen Zahl multipizierst, wird es automatisch negativ.“ Ein bisschen kam Marco sich vor, als würde er einer Sechstklässlerin Mathe erklären. Dabei war Laura doch eine Mathestudentin!

Besagte Studentin betrachtete nun mit schiefgelegtem Kopf die Aufgaben. „Oh“, war das einzige, was ihr dazu einfiel.

Plötzlich schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Du hast recht. Ich habe mich verlesen. Irgendwie stand da für mich plus sechs und nicht minus sechs.“

„Schon gut.“ Marco lächelte. „Das kann jedem mal passieren. Hast du es denn jetzt verstanden?“

Langsam nickte Laura un dmarco lehnte sich erleichtert in seinem Stuhl zurück. Na immer hin etwas.

„Okay, dann erklär es mir jetzt noch mal, damit ich sicher sein kann, dass du es auch wirklich verstanden hast.“

Sofort verwandelte sich Lauras fröhliches Lächeln in einen unsicheren Blick. „Bist du sicher?“ Ihr Blick wanderte zum Blatt. „Ich glaube so gut habe ich es dann doch noch nicht verstanden.“

„Laura, versuch es doch einfach mal. Es ist doch nicht schlimm, wenn du irgendwas nicht weißt. Und so können wir auch am besten überprüfen, was du noch üben musst und was du schon kannst.“

„Also gut.“ Laura holte tief Luft und wollte grade anfangen zu erklären, als Verena an Marcos Zimmertür klopfte und kurz darauf das Zimmer betrat.

„Hey.“ Ihr Blick wanderte von Laura zu Marco und zu den Blättern auf dem Tisch. Ein schüchternes Lächeln schob sich auf ihr Gesicht. Zum ersten Mal, seit Marco Verena kannte, war er froh, ihr seltsames Bewusstsein zu spüren.

„Ich wollte euch nicht stören. Ich hab nur eine kurze Frage, Marco.“ Der Angesprochene zog eine Augenbraue hoch und bedeutete Verena so, fortzufahren. „In Mathe, bei den Ableitungsfunktionen. Wie funktioniert noch mal die Kettenregel?“

„Innere Ableitung mal äußere Ableitung“, erklärte Laura, bevor Marco irgendwas sagen konnte. Dann erhob sie sich in einer geschmeidigen Bewegung und ging auf Verena zu. „Hi, ich bin Laura, Marcos Freundin.“

Schockiert fuhr Marcos Kopf nach oben, als er Lauras Worte hörte. Seit wann war er denn bitte mit Laura zusammen?!

„So? Marcos Freundin also …?“

Laura nickte mit einem strahlenden Lächeln. „Und du bist?“

„Verena“, meinte diese einfach nur schlicht, als würde das alles erklären. Laura schwieg. Ihren Blick konnte Marco nicht erkennen, aber sie schien nicht so recht zu wissen, was sie mit dieser nicht gegebenen Information anfangen sollte. Schließlich seufzte Verena. „Jakobs Schwester.“

„Ach, Jakob hat eine Schwester?“ Laura hörte sich ehrlich verblüfft an. Fast so, als wüsste sie sonst alles über Jakob. „Warum hat er mir das denn nie erzählt?“

„Vielleicht, weil sich nicht immer nur alles um dich dreht?“, mischte Marco sich nun beton gelangweilt in das Gespräch ein. „Denn weißt du Laura, du musst nicht immer alles über jeden wissen. Manchmal ist es auch in Ordnung etwas nicht zu wissen.“

„Ja, aber schließlich ist Jakob einer meiner besten Freunde. Da kann man doch wohl erwarten, dass er mir ein bisschen was über seine Familie erzählt, oder etwa nicht?“, schnappte Laura beleidigt.

„Und sein wann genau bin ich 'einer deiner besten Freunde'?“, fragte plötzlich Jakob von der Tür. „Als wir uns das letzte mal unterhalten haben, meintest du doch noch, dass ich viel zu unmodisch gekleidet bin und dass du dich deswegen nicht mit mir abgeben würdest.“ Marcos bester Freund hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Laura herausfordernd an. Mit einem Seitenblick zu Marco fügte er noch hinzu: „Und wenn wir beste Freunde sind, warum hast du mir dann nicht erzählt, dass ihr zwei jetzt zusammen seid? Ich dachte beste Freunde erzählen sich so etwas.“

„Weil ich bis eben auch noch nichts davon wusste“, stellte Marco klar, bevor Laura noch mehr Lügenmärchen in die Welt setzen konnte. „Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kommt. Ehrlich.“

Zu Marcos Glück gab sich Jakob für den Moment mit dieser Erklärung zufrieden, aber Marco wusste, dass das noch ein Nachspiel haben würde. Jakob würde das nicht einfach vergessen, so viel stand fest.

„Und was ist deine Entschuldigung, Laura?“ Drei Augenpaare waren auf sie gerichtet und warteten mehr oder minder gespannt auf eine Antwort.

„Ich habe mich versprochen. Ich meinte, dass ich eine Freundin von Marco bin. Und das, was ich zu dir gesagt habe, Jakob, war nur ein Scherz. Natürlich gehörst du zu meinen Freunden. Marcos Freunde sind auch meine Freunde.“ Und schon wieder hörte es sich an, als seien Marco und Laura zusammen. Jakob warf seinem besten Freund einen Blick zu, der genau das sagte. Marco konnte nur die Augen verdrehen.

„Wollen wir nicht lieber mit Mathe weiter machen, Laura?“, wechselte Marco schnell das Thema, bevor Laura noch mehr Schaden anrichten konnte. „Ich habe hier noch ein paar Aufgaben für dich.“ Die junge Frau drehte sich um und stolzierte zum Tisch zurück. Geschmeidig ließ sie sich auf ihren Platz fallen, nicht ohne Marco dabei einen schmollenden Blick zu zu werfen.

Wortlos schob Marco ihr das Blatt zu und sie machte sich mehr oder weniger begeistert daran, die Aufgaben zu rechnen. Erleichtert, dass Laura nun erstmal beschäftigt war, stand Marco auf und trat zu den beiden Geschwistern.

„Hast du noch eine Frage, wegen Mathe?“

„Ich hatte nach der Kettenregel gefragt“, erklärte Verena. „Aber das hat Laura schon ganz gut erklärt. Ich konnte meinen Notizzettel bloß nicht mehr finden. Wenn ich doch noch Probleme habe, komme ich noch mal rüber oder frage jemanden aus meiner Klasse.“

Es blitzte noch einmal ganz kurz ein Lächeln über Verenas Gesicht, dann verließ sie zusammen mit Jakob das Zimmer.

Marco seufzte. Das würde er sehr interessantes Abendessen werden.

 

Konzentriert verteilte Marco das Essen auf den vier Tellern vor sich und versuchte die Blicke von Jakob und Verena zu ignorieren. Wobei es hauptsächlich Jakob war, der seinen besten Freund die ganze Zeit anstarrte. Verena schien das ganze Theater von heute Nachmittag relativ egal zu sein.

Als Marco das Essen verteilt hatte, setzte er sich und zog seinen Teller zu sich hin. Auch die anderen nahmen sich ihre Teller.

„Guten Appetit“, wünschte Marco in die Stille hinein und widmete sich dann seinem Essen. Aber auch während dem Essen warf Jakob immer wieder komische Blicke in Marcos Richtung. Schließlich seufzte dieser genervt und sah zu Jakob hinüber. „Also gut, was willst du wissen?“

„Was war das bitte vorhin?“ Jakob sah seinen Kumpel nun ganz offen fassungslos an. „Wie kommt sie denn bitte auf die Idee, dass ihr beide zusammen seid und ich ihr bester Freund bin?“

Marco seufzte erneut. „Ich habe keine Ahnung. Ich war genauso überrascht von dieser Neuigkeit, wie du.“

„Wer weiß, vielleicht hatte sie ja Angst, dass Verena und du zusammen sein könnten und hat versucht ihr damit zu zeigen, dass du ihr gehörst“, mischte sich nun Sofia in das Gespräch ein. Offensichtlich hatte Jakob sie inzwischen eingeweiht. „Immerhin versucht sie doch schon seit Ewigkeiten an dich ran zu kommen. Sie hat ja nicht mal vor mir halt gemacht und mir sonst was gedroht, damit ich mich ja nicht an dich ran schmeiße.“

„Bitte nicht“, stöhnte Marco. „Bitte sag mir nicht, dass es jetzt noch schlimmer wird mit ihrer Anhänglichkeit.“

„Tja, wenn du Pech hast, wirst du sie jetzt gar nicht mehr los.“ Jakob und Sofia grinsten Marco beide fröhlich an. „Schon allein, um dich mal ein bisschen leiden zu sehen, müsste ich es ja befürworten. Und ich denke, dafür könnte ich es sogar in Kauf nehmen ihr neuer bester Freund zu sein.“

„Ach, und wer denkt an mich? Muss ich sie dann etwa jeden verdammten Tag ertragen, oder was?“, protestierte nun Verena. „ich meine, ich muss dann doch jeden Tag zu hören bekommen, wie toll Marco als Freund ist? Und dass die zwei für einander bestimmt sind? Und dass ich ihn nie bekommen würde? Nicht, dass ich das wollte“, erklärte sie schnell, als sie Sofias Blick bemerkte. „Aber nervig ist es trotzdem. Ich bitte dich Jakob, willst du das deiner eigenen Schwester antun?“

Jakob schüttelte grinsend den Kopf. „Du hast recht, Marie. Ich schätze, ich werde mir etwas anderes überlegen müssen, um ihm bei zu bringen, dass man solche Leute nicht mit nach Hause bringt.“ Er sah seine Schwester grinsend an. „Wie haben wir Sam noch mal beigebracht, dass er den garten nicht einfach verlassen darf?“

Nun musste auch Verena grinsen. „Meinst du etwa, das klappt? Bei Sam hat es ja angeschlagen, okay. Aber er ist auch ein Hund.“ Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich bezweifle irgendwie, dass das bei Marco klappen wird. Aber apropro Hund, wo ist eigentlich Chilli?“

Erstaunt sah Marco auf. Er hatte während dem Gespräch zwischen den beiden Geschwistern mehr oder weniger auf Durchzug geschaltet, da er genau wusste, dass für die nächsten Minuten nichts produktives mehr kommen würde.

„Ich dachte, der wäre bei dir gewesen. Zumindest habe ich ihn nicht in meinem Zimmer gesehen.“

„Kann ich ihm nicht verübeln. Ich würde mir das auch nicht freiwillig an tun“, meinte Sofia und grinste. „Aber ich hab vorhin Geräusche aus deinem Zimmer gehört, nach dem Laura weg war und du gekocht hast. Ich dachte, das wärst du, weil ich dich nicht in der Küche gesehen habe, aber vielleicht war das doch Chilli.“

Marco sprang sofort auf und verließ die Küche. Vorsichtig öffnete er seine Zimmertür und betrat den Raum. Er kam nicht weiter als durch die Tür, da wurde er auch schon von einem überdrehten Welpen angefallen. Lachend beugte der Student sich hinunter, um den Hund zu beruhigen.

„Okay, okay. Alles gut, Chilli“, versuchte er seine Freude zu dämpfen. „Tut mir leid, dass ich dich den ganzen Tag im Zimmer gelassen habe. Aber warum hast du den nichts gesagt, als ich das Zimmer vorhin verlassen hab, hm?“

Chilli bellte noch einmal kurz und wuselte dann in Richtung Küche davon. Von dort hörte Marco kurz darauf Gelächter und als er den Raum wieder betrat, saß Chilli auf Marcos Stuhl und sah von ihm zu seinem Napf und wieder zurück.

Marco seufzte leise und holte Chillis Futter aus dem Schrank. Begeistert sorang Chilli auf den Boden, setzte sich vor seinen Napf und sah erwartungsvoll zu seinem Herrchen hoch. Lächelnd hob Marco den Napf hoch, füllte ihn auf und stellte ihn dann wieder auf den Boden. Chillis Hintern zuckte ganz kurz hoch, war aber schnell wieder auf dem Boden angekommen, bloß um Marco weiter sehnsüchtig anzustarren.

Marco ließ sich auf seinen Stuhl fallen und beobachtete Chilli dabei. Der Welpe hatte in den letzten Wochen gute Fortschritte gemacht und brauchte immer weniger Versuche, bis er sitzen blieb. Heute war das erste mal, dass er keinen zweiten Versuch brauchte.

Da er so brav gewartet hatte, gab Marco ihm auch schnell das Zeichen, dass der Welpe jetzt fressen durfte. Mit Heißhunger machte sich der kleine Rottweiler über sein Fressen her.

„Okay, also noch mal zum Mitschreiben“, griff Sofia das Gepsärch wieder auf und Marco stöhnte leise. „Laura hat behauptet, dass ihr zusammen seid und dass Jakob ihr bester Freund ist, richtig?“ Die beiden genannten nickten. „Aber vor nicht all zu langer Zeit hat sie noch behauptet, dass Jakob es nicht weit sei, zu ihren Freunden zu zählen. Richtig?“

„Im übertragenen Sinne, ja.“

„Okay.“ Sofia schwieg einen moment und sah Marco dann verständnislos an. „Warum genau seid ihr noch mal mit ihr befreundet?“

„Wer hat denn gesagt, dass wir befreundet sind?“, schoss Marco sofort zurück. „Ich habe ihr nur bei Mathe geholfen. Das ist alles.“

Sofia nickte, sah aber nicht wirklich überzeugt aus. Marco verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr. Dieser Tag war einfach nur schrecklich. In jeglicher Hinsicht.

 

Eltern

Froh, endlich Schulschluss zu haben und zuhause zu sein, schloss Marie nach acht Stunden Schule die Haustür auf und betrat das Haus. Sie wollte die Tür grade hinter sich zu ziehen, als eine Frau auf sie zu kam. Sie war schätzungsweise Mitte bis Ende Vierzig und hatte eine volle Kiste mit Einkäufen in den Händen. In der einen Hand hatte sie zusätzlich noch eine Tasche.

Spontan hinterte Marie die Tür daran, zu zu fallen und ermöglichte es der Frau so, ins Haus zu kommen, ohne noch die Kiste abstellen zu müssen.

„Danke schön.“ Die Frau lächelte sichtlich erleichtert, dass sie diese Hilfe erhalten hatte. „Sind Sie neu hier her gezogen?“

Marie nickte. „Ja, ich bin mit meinem Bruder vor etwas über einer Woche in die Wohnung im ersten Stock gezogen. Zu Sofia Bergmann.“ Marie lächelte freundlich, doch innerlich wand sie sich. Ihr Bewusstsein war ander. Ähnlich wie Marcos, nur noch stärker.

„Ah, dann sind Sie also die junge Dame, von der mir Marco erzählt hat.“ Die Frau lächelte wissend. Erstaunt hob Marie eine Augenbraue. Woher kannte sie denn bitte Marco?

„Oh, verzeihen Sie, ich bin so unhöflich. Ich bin Marcos Mutter. Mein Mann und ich wohnen oben im dritten Stock“, erklärte Frau Hoffmann da auch schon, als hätte sie Maries Gedanken gelesen. Diese Information veranlasste Marie, ihre Gegenüber etwas genauer zu betrachten.

Wenn man genau hin sah, erkannte man die Ähnlichkeit zu Marco. Die Frau vor ihr hatte die gleichen blonden Strähnen ihren braunen Haaren, genau wie Marco. Und auch die markanten gesichtszüge erinnerten an den jungen Studenten. Einzig die Augen unterschieden sich von Marcos. Während seine von einem kräftigen, strahlendem grün waren, waren die Augen seiner Mutter braun mit goldenen Sprenkeln.

„Wie sieht es aus, haben Sie nicht Lust, heute zum Kaffeetrinken vorbei zu schauen?“ Marcos Mutter machte sich an den Anstieg der Treppe und Marie schloss sich ihr an. „Marco wollte sowieso kommen und eine Person mehr ist auch nicht dramatisch.“ Frau Hoffmann lächelte freundlich. „Marco hat erzählt, dass Sie bei Ihrem Bruder wohnen. Wo sind denn Ihre Eltern?“

Marie schluckte hart. „Meine Mutter ist vor vier Jahren an Krebs gestorben. Und mein Vater hatte diesen Sommer einen Autounfall, den er nicht überlebt hat“, erklärte sie schließlich und drängte erfolgreich die Tränen zurück, die sich in ihre Augen schleichen wollten.

„Oh nein!“ Marcos Mutter sah die junge Frau neben sich traurig an. „Tut mir leid, das wusste ich nicht. Aber sagen Sie, sind wir uns schon mal begegnet? Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor …“

„Nein, nicht dass ich wüsste. Vielleicht denken Sie an meinen Bruder oder so?“

„Jakob? Nein. Sie sehen Jakob gar nicht so ähnlich. Nein, ich muss mir das eingebildet haben.“ Sie sah Marie lächelnd an. „Okay, Sie kommen dann si gegen fünf hoch zum Kuchenessen?“

„Gerne, Frau Hoffmann.“

„Ach bitte, nennen Sie mich doch Hannah. Schließlich sind Sie ja eine Freundin von Marco. Und bitte sagen Sie 'du' zu mir.“

„Okay.“ Marie lächelte ebenfalls. „Ich bin Verena.“ Sie lächelte Hannah noch einmal zu und schloss dann die Wohnungstür auf. Marcos Mutter war wirklich nett. Das würde bestimmt ein netter Nachmittag werden. Aber im nächsten Moment kam Marie ein anderer Gedanke. Was, wenn Marco gar nicht wollte, dass sie ihn zum Kuchenessen mit seinen Eltern begleitete?

 

Nervös stieg Marie um kurz nach fünf zusammen mit Marco die Treppen hoch in den dritten Stock. Chilli hüpfte fröhlich vor den beiden her und bellte die ganze Zeit. Ein kleines Lächeln huschte über Maries Gesicht. Der Welpe war einfach nur knuffig.

„Und es ist für dich wirklich in Ordnung, wenn ich mitkomme?“ Unsicher sah Marie Marco an. Er hatte ihr zwar gesagt, dass es für ihn okay war, aber es war ihr trotzdem irgendwie unangenehm.

„Ja, es ist wirklich in Ordnung“, beruhigte Marco sie. „Mama hat sich in den Kopf gesetzt dich kennen zu lernen. Übrigens schon vor ein paar Wochen. Dass du ihr im Treppenhaus begegnet bist, war nur Zufall. Ansonsten wäre sie irgendwann bei uns unten aufgelaufen, um sich mal mit dir zu unterhalten.“

„Beruhigend“, murmelte Marie. „Habe ich jetzt Glück, dass ich sie so kennen gelernt habe, oder wäre es besser gewesen, wenn sie einfach irgendwann aufgetaucht wäre?“ Marie zog eine Augenbraue hoch und sah Marco fragend an.

„Ich denke, mit dieser Situation hast du eher Glück gehabt. So hattest du immerhin ein bisschen Zeit, um dich darauf vorzubereiten und sie fällt nicht mit der Tür in die Wohnung.“ Marco lächelte noch mal ermutigend und schloss dann die Tür zur Wohnung seiner Eltern auf.

Chilli flitzte sofort rein, als der Spalt groß genug war und kurz darauf hörte man sein hohes Bellen vermischt mit einem tieferen Bellen. Marie zog erneut eine Augenbraue hoch, aber bevor sie etwas fragen konnte, war die Tür ganz offen und sie sah, wie Chilli grade einen schon etwas älteren Retriever attackierte. Das entlockte Marie ein Lächeln. Der ältere Hund ließ sich einiges von Chilli gefallen, aber als der Welpe nach den Ohren schnappte, knurrte er. Sofort hörte Chilli auf, duckte sich und fiebte leise.

„Ah, Verena. Schön, dass du wirklich gekommen bist“, begrüßte Hannah die junge Frau da auch schon. Sie stand in einer Tür hinter den zwei Hunden. „Kommt schnell rein. Hier zieht es sonst.“ Die beiden jungen Menschen betraten die Wohnung und Hannah führte sie ins Wohnzimmer. Die Wohnung hatte den gleichen Grundaufbau, wie die, in der Marie lebte, aber die Hoffmanns hatten die Räume etwas anders aufgeteilt. Küche und Bad waren an der gleichen Stelle, aber da wo Marcos Zimmer im unteren Stockwerk lag, hatten die Hoffmanns sich ihr Wohnzimmer eingerichtet.

„Setzt euch doch. Mein Mann kommt auch gleich und dann können wir essen.“ Hannah deutete auf das Sofa und den Sessel. „Sag mal Verena, wie alt bist du jetzt eigentlich?“

„Siebzehn. In einem dreiviertel Jahr werde ich achtzehn.“

„Ach, dass bist du ja vier Jahre jünger als Jakob.“ Hannah sah ehrlich erstaunt aus. „Also, versteh mich bitte nicht falsch. Aber als Marco von dir als Jakobs kleiner Schwester erzählt hat, dachte ich irgendwie, dass ihr näher zusammen liegt. Jakob ist ja schließlich auch schon einundzwanzig.“

„Na ja, also …“ Marie zögerte. „Ich …“ Tief Luft holen, Marie!, redete sie sich selbst Mut zu. „Ich wurde mit vier Jahren adoptiert.“ In dem Moment, als sie es aussprach, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. In dem Versuch ihn lozuwerrden, schluckte sie, doch es half nicht. Und zusätzlich kamen nun auch noch die Tränen.

„Meine leiblichen Eltern kenne ich nicht.“ Verdammte Tränen, verschwindet endlich wieder! „Angeblich sind sie irgendwann plötzlich verschwunden. Der Vermieter hat mich gefunden. Die Schröders haben mich dann aufgenommen, weil sie noch aus der Schulzeit mit meinen Eltern befreundet waren. Erst war ich nur ihr Pflegekind, aber ein oder zwei Jahre später haben sie mich dann adoptiert. Von meinen richtigen Eltern habe ich nie etwas gehört.“

Aber, was niemand wusste: Sie erinnerte sich wieder. All die Jahre hatte sie nicht eine Erinnerung gehabt. Erst bei dem Unfall hatte sie sich plötzlich wieder erinnert. Der Tag, an dem sie verscwunden waren. Es war die einzige Erinnerung und sie trug nicht grade dazu bei, dass Marie ihre Eltern irgendwie mochte oder sich nach ihnen sehnte.

„Oh, Verena. Das tut mir so leid.“ Hannah sprang vom Sofa auf und kniete sich vor Marie hin. „Ich wollte nicht in diesen alten Wunden wühlen.“

Ein misslungenes Lächeln hob Maries Mundwinkel ein wenig an, aber richtig lächeln konnte sie nicht. Dafür war da immer noch zu viel Trauer. „Schon gut“, beruhigte sie Marcos Mutter. „Das konntest du ja nicht wissen. Mama hat mir mal erzählt, dass meine Eltern hier aus Hamburg kommen. Aber mehr weiß ich auch nicht.“

„Halli hallo, der Kuchen ist da!“, ertönte plötzlich eine Männerstimme aus dem Flur. Erschrocken zuckte Marie zusammen. Sie versuchte grade ihre Tränen zu trocknen, als ein Mann das Wohnzimmer betrat. Schon wieder so ein starkes Bewusstsein. Diese Familie wurde immer seltsamer, stellte Marie fest.

„Ich hoffe, ihr seid mit einem Streu…“ Der Mann unterbrach sich selbst, als er Marie aufgelöst im Sessel sitzen sah. „Oh Gott, Helen, was ist denn los?“

Hannah hatte Anstalten gemacht, sich zu erheben, hielt jetzt aber mitten in der Bewegung inne. Verständlich, wenn man bedachte, dass der Mann, mit dem sie seit etwa fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, sie mit einem falschen Namen ansprach.

Aber Hannah sah nicht wütend oder so aus. Verwirrt sah Marie zu Marco und dann wieder zu dem Mann in der Tür. Er sah Marie richtig besorgt an und kurz fragte die junge Frau sich, ob er vielleicht sie gemeint hatte und nicht seine Frau, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder.

Die Stille, die in dem Raum herrschte, dauerte immer länger an und Marie fing an, sich unwohl zu fühlen. Unbehaglich sah Marie wieder zu Hannah. Diese sah sie ebenfalls an und in ihrem Blick lag sowohl etwas nachdenkliches, als auch Erstaunen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich Hannah schließlich und trat zu ihrem Mann. „Hallo Schatz, schön, dass du da bist. Das ist Verena. Jakobs keine Schwester. Ich habe sie heute im Treppenhaus getroffen und zum Kuchen eingeladen.“

Hannah gab ihrem Mann zur Begrüßung einen Kuss und schob ihn dann sanft, aber nachdrücklich zur Küche. Dort redete sie weiter, aber Marie konnte nicht verstehen, was sie sagte.

Aber das war gar nicht so schlimm. So hatte sie wenigstens etwas Zeit, sich wieder zu beruhigen, bis der Kuchen kam. Sie atemete tief durch und nahm das Taschentuch, das Marco ihr anbot, mit einem etwas missglückten, aber dankbaren Lächeln entgegen. Als Marcos Eltern wieder aus der Küche kamen, hatte Marie sich wieder beruhigt und die Tränen waren versiegt. Marcos Vater lächelte sie freundlich und schon fast entschuldigend an.

„Hallo Verena. Schön, dich kennen zu lernen. Tut mir leid wegen eben. Ich war etwas neben der Spur.“ Er kam auf die junge Frau zu und ise stand auf, um ihm zur Begrüßung die Hand zu schütteln.

„Nicht schlimm.“ Marie lächelte ebenfalls. „Ich war ja auch nicht ganz bei mir. Es freut mich auch, Sie kennen zu lernen, Herr Hoffmann.“

„Ach bitte.“ Er winkte ab. „Nenn mich Wolfgang.“ Er lächelte erneut. „So alt bin ich nun auch wieder nicht. So, wie sieht es aus? Ich für meinen Teil bin ja am verhungern. Wollen wir essen?“

Hannah lachte und stellte einen Streuselkuchen auf den Tisch. Wolfgang rieb sich die Hände und sah erwartungsvoll in die Runde.

„Tja, dann würde ich mal sagen, guten Appetit. Wem darf ich ein Stück anbieten?“

Schnell hatte jeder ein Stück und es breitete sich gefräßiges Schweigen aus. Allerdings nur für kurze Zeit. Dann sah Wolfgang wieder von sienem Teller auf, musterte Marie kurz und meitne dann völlig unvermittelt: „Du bist also Jakobs geheimnisvolle Schwester.“

Erstaunt hob Marie eine Augenbraue. Seit wann war sie denn bitte geheimnisvoll?

Hannah schüttelte nur den Kopch und lächelte leicht. Marco hingegen konnte sein Lachen kaum verstecken.

Maries Blick wanderte von Marcos Vater zu Marco. Abwehrend hob der Student die Hände, als hätte Marie irgendwas gesagt, gegen das er sich verteidigen musste.

„Den Ausdruck hast du Mama zu verdanken. Sie hat dich immer als geheimnisvolle kleine Schwester bezeichnet.“ Er grinste erneut. „Papa hat den Ausdruck nur übernommen.“

 

Nachdenklich überflog Marie mit ihren Augen den Tisch mit T-Shirts. Aber so richtig bei der Sache war sie nicht. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dem Nachmittag, an dem sie bei Hoffmanns eingeladen gewesen war. Es war wundervoll gewesen. Sie hatte sich in diesem Wohnzimmer richtig wohl gefühlt. Trotz des komischen Gefühls wegen der drei extrem starken Bewusstsein.

Und obwohl Marie noch kurz vor dem an ihre Eltern hatte denken müssen und deswegen auch geweint hatte, waren ihre Gedanken an dem Nächmittag zum ersten Mal seit dem Unfall wirklich richtig frei gewesen. In keiner Ecke hatten die Erinnerungen gehockt, um sie zu quälen. Wenn Erinnerungen gekommen waren, dann waren es schöne gewesen.

„Oh, Verena, schau dir nur dieses T-Shirt an, das musst du dir unbedingt kaufen“, riss sie plötzlich die überdrehte Stimme von Sofia aus den Gedanken. Verwirrt schaute Marie auf und brauchte dabei einen Moment, um wieder in der Realität an zu kommen. Sofia hielt ihr ein gelbes Shirt hin, auf dem in fetten Lettern Don't Care stand.

„Ich kann es ja mal anprobieren.“ Mit einem leisen Lächeln nahm sie Sofia das T-Shirt aus der Hand. „Hast du sonst noch was entdeckt? Ich wollte mir eigentlich noch mal einen Pulli für den Winter kaufen. Mein Lieblingspulli hat schon so viele geflickte Stellen, der fällt bald auseinander.“

„Bis jetzt noch nicht. Aber die Pullis sind da hinten. Da können wir uns ja mal umschauen.“

Marie ließ sich von Sofia mitziehen. Ihr Blick glitt dabei über die Kleiderständer. Vielleicht entdeckte sie ja noch irgendwas anderes hübsches, das sie sich zu legen könnte.

Während sie bei den Pullis suchten, schweiften Maries Gedanken wieder ab. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie an Hannahs Bezeichnung für sie dachte. Jakobs geheimnisvolle kleine Schwester.

„Hey, woran denkst du?“ Sofia sah ihre neue Freundin neugierig an und hielt ihr gleichzeitig einen Pulli hin. Marie schüttelte den Kopf. Zum einen, um Sofia zu sagen, dass sie den Pulli nicht wollte, zum anderen, um ihr zu zeigen, dass sie nicht darüber reden wollte. Vorerst zumidnest nicht.

„Mhm.“ Sofia nickte wissend. „Wie ist er denn so?“

Marie schüttelte erneut den Kopf, noch immer lächelnd. Diesmal aber über Sofias Vermutung. „Es ist nicht das, was du denkst“, erklärte sie schließlich. „Ich meine, wer sagt denn, dass ich an einen Jungen denke? Es gibt schließlich auch noch andere schöne Momente im Leben, an die man sich gerne erinnert.“

„So so.“ Sofia lächelte ebenfalls. „Schön, dass duw ieder lächeln kannst. Damit sieht du gleich viel hübscher aus.“ Sie nahm einen Pulli vom Ständer, hielt ihn vor Marie und betrachtete das Bild kritisch. Marie konnte dabei nur sehen, dass der Pulli braun war, aber nicht ob und wann ja, was für ein Motiv er hatte. Schließlich nickte Sofia zufrieden.

„Nimm den hier. Der steht dir.“ Marie zog einen Augenbraue hoch, nahm Sofia den Pulli ab und drehte ihn um sodass sie das Motiv auch betrachten konnte. In der Mitte war ein süßer Teddybär abgebildet. Darunter stand Free hugs to the World. Der Pulli selber war aus einem schönen weichen Stoff, in dem man versinken konnte. Das könnte ein super Kuschel-Pulli werden.

„So, und jetzt ab zu Umkleide.“ Die Studentin schob Marie energisch vorwärts. „Ich will sehen, wie das aussieht, wenn du es anhast.“

„Warte, ist der Pulli überhaupt in der richtigen Größe?“

„L. Stimmt doch, oder?“ Sofia grinste frech.

„Dir ist schon klar, dass ich eigentlich S trage?“

„Und dir ist hoffentlich klar, dass das ein perfekter Kuschelpulli ist und man solche Sachen immer zwei Nummern größer kauft?“

Seufzend gab Marie sich geschlagen und betrat eine der Umkleiden. Als erstes probierte sie das T-Shirt an. Als sie sich im Spiegel betrachtete, musste sie lächeln. Es war perfekt.

„Hey, du weißt aber, dass ich sehen will, wie du in den Sachen aussiehst, oder?“, ertönte da Sofias Stimme vor der Kabine. Lächelnd zog Marie den Vorhang zur Seite und sah die Studentin erwartungsvoll an. Diese schwieg eine Weile und nickte dann langsam.

„Sieht nicht schlecht aus. Kannst du nehmen.“

Marie verdrehte die Augen und zog den Vorhang wieder zu. Als nächstes war der Pulli dran. Er war von innen gefüttert, weishalb er einfach nur wunderbar bequem war. Und gut aussehen tat er auch noch. Dadurch, dass Sofia ihn ihr zwei Nummern zu groß gegeben hatte, reichte der Pulli fast bist zur Mitte ihrer Oberschenkel, aber das war nicht schlimm.

Marie zog den Vorhang wieder auf und grinste Sofia an. „Er ist perfekt“, erklärte sie der Studentin.

„Sehr gut.“ Auch Sofia grinste. „Er sieht auch echt super aus. Richtig schön bequem.“ Marie nickte nur zustimmend. „Okay, dann zieh dich mal wieder um. Ich bekomme langsam Hunger. Und weil es viel zu lange dauern würde, jetzt nach Hause zu fahren und da was zu essen, werden wir uns hier schon was besorgen“, erklärte Sofia Marie, während diese sich umzog. „Was hälst du von Döner? Oder Pizza?“

„Döner ist super.“ Marie trat aus der Kabine und gemeinsam steuerte die beiden jungen Frauen auf die Kasse zu. „Wo ist denn hier der nächste Dönerladen?“

„Gleich um die Ecke.“

Marie gab der Kassiererin die Sachen und bezahlte den genannten Preis. Sie ließ sich die Sachen in einer Tüte geben und sie verließen das Geschäft.

„Perfekt. Ich habe heute alles Wichtige gefunden. Von mir aus können wir dann nach dem Essen nach Hause.“ Marie nickte bloß zustimmend.

Geschickt drängten sie sich durch die Menschenmassen, die heute nur aus ein paar vereinzelten Leuten mit Regenschirmen bestanden. Mit schnellen Schritten steuerten sie den Dönerladen ein paar Meter weiter an und retteten sich dort in sein warmes, trockenes Innerste. Während sie auf ihre Bestellungen warteten, sah Marie Sofia nachdenklich an.

Sofia hatte sie dazu gedrängt heute schoppen zu gehen, weil sie dringend noch etwas gebraucht hatte. Da Marie sowieso nach einem Pulli gesucht hatte, hatte sie nicht lange gezögert ja zu sagen.

„Sag mal, sind du und Marco eigentlich zusammen oder so?“, fragte Marie schließlich.

Sofia sah ihre Freundin verdutzt an. „Nein, wieso?“

„Ach, es hatte mich nur interessiert, weil ihr zwei irgendwie so vertraut wirkt und so. Und irgendwie würdet ihr auch zusammen passen.“

Sofia grinste. „Also, bis wir zwei zusammen kommen, muss schon mindestens die Welt untergehen“, erklärte sie schließlich. Marie hob fragend eine Augenbraue. „Er ist mein Cousin.“

Plötzlich merkte Marie, wie sie rot wurde. Hups, okay. Peinlich, dachte sie, aber Sofia grinste bloß wieder. „Keine Angst, du bist nicht die erste. Uns haben schon öfter Leute gesagt, dass wir ein hübsches Paar abgeben würden.“

„Peinlich ist es trotzdem“, meinte Marie und war froh, dass der Döner fertig war. „Vor allem, weil ich mit Marco jetzt schon seit zwei Monaten zusammen lebe und es noch nicht mitbegkommen habe, dass wir zu seiner Cousine gezogen sind.“

„Ist doch nicht so schlimm.“ Sofia sah sie lächelnd an. „Wir hänge es halt nicht so an die große Glocke, dass wir verwandt sind.“

„Ist es dir zu peinlich mit ihm verwandt zu sein, oder ist er es, der die Verwandschaft absteitet?“ Nun neugierig geworden sah Marie ihre Mitbewohnerin an.

„Es ist so eine stille Übereinkunft“, erklärte Sofia. „Man muss ja schließlich nicht immer jedem gleich seine halbe Lebensgeschichte erzählen.“

Zwickmühle

„Sie ist eine von uns.“ Hannah sah Marco an und dieser merkte, dass sie sich nicht von ihrer Meinung abbringen lassen würde. „Hast du ihr Bewusstsein bemerkt?“ Sie stand vom Sofa auf und lief im Wohnzimmer umher. „Sie ist eine Wandlerin, hat sich aber noch nie gewandelt.“

„Woher weißt du das?“, fragte Marco zweifelnd. „Sie könnte doch auch irgendetwas anderes sein. Ein besonders willensstarker Mensch. Sie hat ihre Eltern verloren. Alle vier, wenn du so willst.“

„Nein.“ Wolfgang schüttelte den Kopf. „Selbst ein noch so willensstarker Mensch hat nicht so eine Ausstrahlung. Marco, sie ist fast achtzehn und hat sich nocht nicht gewandelt. Und genau so fühlt sich auch ihr Bewusstsein an. Es ist überreif zu schlüpfen, wird aber gefangen gehalten.“

„Erinnerst du dich noch daran, was ich dir mal über das Bewusstsein der Menschen und speziell das der Wandler beigebracht habe?“ Hannah sah ihren Sohn liebevoll an, der langsam nickte.

„Er verändert sich, ist nie ganz ausgewachsen, lernt immer noch dazu“, antwortete er.

Jetzt nickte auch Hannah. „Richtig. Deshalb ist man auch nicht von Geburt an dazu fähig sich zu wandeln. Das Bewusstsein muss sich erst entwickeln. Genau wie der Rest des Körpers. Wenn wir uns zu früh verwandeln wollen, kann es passieren, dass der Körper sich wehrt. Die meisten, die das versucht haben, waren danach teilweise gelähmt.“

„Aber zu lange darf man auch nicht warten. In der Regel muss die erste Wandlung vor dem achtzehnten Geburtstag geschehen, sonst wird es schwierig.“ Wolfgang sah Marco ernst an. „Entweder verwandelt der Körper sich einfach von selbst, oder man verliert seine Gabe und wird zu einem normalen Menschen.“

„Und bei Verena ist es bald soweit. In einem dreiviertel Jahr wird sie achtzehn. Bis dahin muss sie es wissen.“ Hannahs Blick zeigte Entschlossenheit. Sie würde für ihre Rasse kämpften, das wusste Marco. „Aber jetzt noch nicht. Jetzt ist es noch zu frph. Nicht so kurz nach dem Tod ihres Vaters.“ Damit war das Thema für sie beendet. Marco nahm an, dass seine Eltern es Marie irgendwann sagen würden.

Wie? Er wusste es nicht.

Wann? Sie sagten es ihm nicht.

Wo? Nun, vermutlich in der Wohnung oder irgendwo, wo man fliegen konnte.

Warum? Weil die Rasse der Gestaltwandler nicht aussterben durfte.

Das Wandler-Gen wird wie jedes andere Gen auch weiter gegeben. Wenn beide Elternteile es besitzen, ist das Kind ein Wandler. Wenn nur ein Elternteil das Gen besitzt, ist die Chance eins zu vier, dass das Kind ein Wandler wird.

Das Gen der Gestaltwandler ist rezessiv. Es ordnet sich dem der Menschen unter. Das ist auch der Grund, warum es nur so wenige Wandler gibt. In ganz Deutschland sind es vielleicht ein paar hundert Wandler. In Europe eine knappe Million und in der ganzen Welt? Das wusste niemand.

 

Der Regen peitschte ans Fenster und ließ Marco entnervt aufstöhnen. Wer hatte dieses Wetter denn jetzt schon wieder bestellt? Da hatte man als armer, überarbeiteter Student mal einen Tag frei und wollte den nutzen, um ans Meer zu fahren, und dann regnete es.

Das wirklich schlimme war allerdings nicht der Regen selbst. Das Problem war eher, dass es erst angefangen hatte zu regnen, als Marco schon fast da war. Es waren nicht mal mehr fünf Minuten bis zu dem Parkplatz, wo er sein Auto immer stehen ließ.

Missmutig hielt er an einer roten Ampel und beobachtete die Scheibenwischer dabei, wie sie versuchten Herr über die Wassermassen zu werden.

Der Regen war plötzlich gekommen und es war mehr als nur ein paar Tropfen. Es goß wie aus Kübeln und es sah nicht so aus, als würde sich der Regen genau so schnell wieder verziehen, wie er gekommen war.

Die Ampel wurde wieder grün und Marco fuhr los. An der nächsten Ampel verließ er die Schnellstraßen und folgte einer kleinen Landstraße bis zum Wasser. Der Prakplatz war im Sommer, wenn es warm war und die Sonne schien, immer mehr als voll, aber an einem Tag wie heute, traute sich fast niemand hier an die Klippen. Es stand bloß ein anderes Auto dort. Der Himmel weiß, wer so verrückt war, bei so einem Wind und Regen an die Steilküste zu fahren.

Außer Marco natürlich. Er würde alles tun, um regelmäßig fliegen zu können. Aber in der Stadt war es zu gefählich. Wenn ihn jemand entdecken würde, müsste er aus Hamburg verschwinden und würde außerdem noch seine Familie gefährden. Und grade jetzt, wo er das mit Verena herausgefunden hatte, durfte er nicht verschwinden.

Der Student zog die Jacke enger um den Körper und die Kapuze über den Kopf und stemmte sich dann gegen den Wind. Fünf Minuten, die ihm heute wie eine halbe Ewigkeit vor kamen, folgte er einem schmalen Trampelpfad, bevor er auf einen kaum sichtbaren Pfad abbog. Keine drei Minuten später verlor sich der Pfad im Gras und Marco stand in einer kleinen Kuhle.

Er war da. Jetzt konnte der Spaß erst richtig losgehen. Obwohl der junge Mann in einer kleinen Bodensenke stand, musste er gegen den Wind ankämpfen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Zu stark. Das schaffst du nicht, erklärte er sich selbst und schüttelte den Kopf. Nein, heute würde er wohl doch nicht fliegen. Man musste schließlich immer realistisch bleiben.

Ja, er hatte heute sonst nichts zu tun. Ja, er war den weiten Weg gefahren, um hier her zu kommen. Ja, er wollte endlich mal wieder fliegen.

Aber nein, er war nicht verrückt. Zumindest nicht vollkommen. Nein, er war nicht lebensmüde. Zumindest die meiste Zeit. Nein, er würde bestimmt nicht bei den Anfängen eines Herbststurmes fliegen. Auch wenn es garantiert lustig wäre. Nein, er wollte nicht im Krankenhaus landen. Man stelle sich bloß mal vor, die würden irgendwie feststellen, dass er nicht so menschlich ist, wie er sein sollte.

Marco drehte sich in den Wind, breitete die Arme aus und schloss die Augen. Wenn er schon nicht fliegen konne, dann wollte er wenigstens die Illusion eines Fluges erleben. Es fühlte sich sogar tatsächlich fast an wie fliegen.

Aber Fliegen war besser. Beim Fliegen war man schwerelos. Beim Fliegen zerrte der Wind nicht an einem und versuchte nicht, einen umzuschmeißen. Beim Fliegen trug der Wind einen. Beim Fliegen wurde man eine Einheit mit dem Wind. Man fühlte ihn, stellte sich auf ihn ein, ließ sich von ihm leiten.

„Warum?!“, schrie er in den Regen hinein. „Warum heute?“ Frustriert ließ er die Arme sinken und drehte sich um.

Der Rückweg ging deutlich schneller als der Hinweg, was vor allem daran lag, das der Wind Marco nun in den Rücken bließ, als wollte er sagen: Verschwinde bloß von hier. Du solltest nicht hier sein.

Das andere Auto war nicht mehr da. Wem auch immer es gehörte, die Person hatte wohl auch eingesehen, dass es einem Selbstmordkommando gleich kam, bei diesem Wetter in dieser Gegend zu sein.

 

Durchgefrohren und noch immer völlig nass betrat Marco eine halbe Stunde später endlich wieder das Haus. Jakob und Sofia waren nicht da. Das konnte er sogar hier im Treppenhaus spüren. Immerhin zwei Leute weniger, die ihn fragen würden, warum er so nass war.

Noch vor der Wohnung zog Marco seine Schuhe aus. Dann hierlt er inne. Er könnte auch schnell hoch zu seinen Eltern und sich dort etwas trockenes anziehen. Andererseits müsste er dann noch zwei Treppen hoch steigen und eigentlich wollte er nur eine warme Dusche haben. Da erfand er lieber eine Ausrede gegenüber Verena.

Also schloss er die Wohnungstür auf und trat ein. Verena war in der Küche. Genau die Richtung, in die Marco auch musste.

Egal.

Er versuchte, ohne viel zu tropfen in sein Zimmer zu kommen, aber man sah trotzdem eine nasse Spur von der Wohnungstür bis zu seinem Zimmer. Er seufzte. Darum durfte er sich also auch noch kümmern.

Mit sauberen, trockenen Sachen ausgestattet, lief Marco schnell ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Part eins war geschafft. Verena hatte ihn noch nicht bemerkt. Vielleicht musste er ihr ja gar nicht ekrlären, warum er so nass war?

Seine Hoffnungen wurden zu nichte gemacht, als er plötzlich ein Kratzen von der anderen Seite der Tür hörte.

Chilli.

„Marco?“ Verena klopfte an die Tür. „Bist du das?“

Er seufzte. Ade, ihr süßen Träume. „Ja, ich bin's. Kannst du Chilli bitte noch eine Weile ablenken? Ich will kurz duschen und mir was trockenes anziehen.“ Marcos Blick fiel auf die Uhr und eine Idee nahm in seinem Kopf gestalt an. „Sag mal, erinnerst du dich noch an die Lasagne, die ich mal gemacht habe?“

Mit angehaltenem Atem lauschte er auf Verenas Antwort.

„Wie könnte ich die vergessen? Etwas besseres habe ich noch nie gegessen“, kam auch sofort die Antwort. Erleichterung durchströmte den jungen Studenten. Und Freude. Freude, dass es ihr wirklich geschmeckt hatte. Dass sie es so lecker gefunden hatte.

„Was hältst du davon, wenn ich dir heute beibringe, wie man die macht? Wenn ich mich recht entsinne, war Lasagne auch Sofias Lieblingsessen. Und Jakob konnte auch nie nein dazu sagen. Sie würden sich bestimmt freuen.“

„Gerne.“ Marco konnte das Grinsen aus Verenas Stimme heraus hören. „Kann ich schon irgendwas vorbereiten?“

„Nein, gib mir bloß fünf Minuten. Ich bin gleich da.“

Es wurde ein lustiger Nachmittag. Verena hörte genau zu und befolgte alle Anweisungen. Zwischnedurch stolperten die beiden fast über Chilli, der es nicht lassen konnte, zwischen ihren Füßen umherzuwuseln.

Und obwohl Marco ihn jedes Mal ausschimpfte, blieb der Hund doch in der Kuche und verfolgte jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen.

Inzwischen fühlte Marco sich in Verenas Anwesenheit nicht mehr unwohl. Jetzt, wo er wusste, woher das Gefühl kam, war ihre Anwesenheit schon fast beruhigend. Außer seinen Eltern und ihm selbst lebten keine anderen Gestaltwandler in Hamburg. Verenas Anwesenheit zeigte ihm, dass die Hoffmanns nicht die einzigen waren. Marco hatte noch nie einen anderen Wandler getroffen.

Und Verena lachen zu sehen, war gleich doppelt schön. Zum einen, weil sie eine Wandlerin war und sie dadurch ein Geheimnis teilten, auch wenn sie davon noch nichts wusste. Zum anderen, weil sie sowieso so selten lachte. Es war wirklich schön zu sehen, dass sie sich von der Trauer um ihren Vater erholte und wieder lachen konnte.

Ein warmes Gefühl breitete sich in Marcos Bauch aus, als er Verena dabei beobachtete, wie sie die Lasagne in der Auflaufform herrichtete. Die ganze Zeit lag ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Wieder einmal stellte Marco fest, dass sie wirklich schön war. Die langen, glatten Haare, diese faszinierenden Augen, die von Zeit zu Zeit gerne mal ihre Farbe zu ändern schienen, wenn sich ihre Stimmung änderte.

 

„Wir müssen es ihr sagen“, erklärte Hannah ohne große Vorreden. Ein halbes Jahr war inzwischen seit dem ersten Kuchenessen bei den Hoffmanns vergangen. „Sie wird in drei Monaten achtzehn. Wenn sie es bis dahin nicht weiß, wird es kritisch.“

„Sie ist noch nicht so weit.“ Marco schüttelte den Kopf. „Sie hat vor einem dreiviertel Jahr ihren Vater verloren. Sie steht praktisch ganz alleine da. Natürlich, sie ist inzwischen wieder relativ normal und sie hat Freunde gefunden. Aber wenn wir ihr das jetzt sagen … ich weiß nicht, wie sie darauf reagieren wird.“

Hannah seufzte. „Ich weiß es auch nicht genau. Und glaub mir, ich bin auch nicht grade glücklich über diese Situation.“ Sie sah ihren Sohn traurig an. „Gäbe es einen anderen Weg, würde ich ihn sofort gehen. Aber was sollen wir denn machen? Riskieren, dass sie sich plötzlich von selbst verwandelt? In aller Öffentlichkeit? Wir können es nicht vor ihr verheimlichen. Das sind wir ihren Eltern schuldig.“

„Und wie sollen wir das bitte anstellen? Wie willst du ihr erklären, dass alles, was sie immer über sich und ihre Eltern geglaubt hat, eine einzige große Lüge ist?“ Marco war frustriert. „Wie willst du ihr bitte erklären, dass ihre Eltern vielleicht wirklich noch leben? Wie willst du das anstellen?!“

„Nicht ich“, flüsterte Hannah. „Du. Du wirst es ihr erklären.“

„Ach, jetzt schiebst du diese Aufgabe also auf mich ab?“ Aus der Frustration wurde langsam Wut. Wut auf seine Mutter, weil sie das von ihm verlangte. Wut auf Verenas Eltern, dass sie ihre Tochter im Stich gelassen hatten. Und Wut auf sich selbst, weil er Schiss hatte, es ihr zu sagen.

„Mach es, wie ich es damals bei dir gemacht habe.“ Hannah erwiderte Marcos wütenden Blick liebevoll. „Du schaffst das, mein Sohn. Ich bin mir sicher, dass du das schaffen wirst. Ich glaube an dich.“

Marco schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kann das nicht, Mama. Erklär du es ihr. Erklär du ihr, wer ihre Eltern waren. Sind. Erklär du ihr, wer sie ist. Ich kann das nicht. Das sollten eigentlich ihre Eltern machen. Ihre Mutter sollte ihr erklären, wer sie ist. Dass sie eine Begabung hat. Dass sie fliegen kann. So was sollte man nicht von fremden Leuten erfahren.“

„Und genau deshalb wirst du es ihr erklären.“ Hannahs Blick war sanft. „Dich kennt sie. Dir vertraut sie. Mich hat sie nur ein paar Mal gesehen, geschweige denn mit mir gesprochen. Vertrau mir, Marco. Es ist besser, wenn du das machst.“

Resigniert raufte Marco sich die Haare. Er wusste ja, dass seine Mutter recht hatte. Ihm würde sie eher zu hören als ihr. Er war schließlich einer ihrer besten Freunde. Wenn ihre Mutter es ihr schon nicht sagen konnte und auch sonst keine Verwandten bekannt waren, war Marco wohl oder übel der, der übrig blieb.

„Okay, dann mache ich es.“ Marco sah seine Mutter entschlossen und auch ein kleines bisschen traurig an. „Aber wenn sie mir nicht glaubt, werde ich keinen zweiten Versuch starkten. Ich will ihre Gesundheit nicht dafür aufs Spiel setzen. Wenn die mir nicht glaubt, werde ich sie garantiert nicht zu irgendwas zwingen.“

Hannah nickte nur. Aber eine Welle aus Stolz und Ermutigung brach über Marco herein. Es war genau das, was er auch in ihrem Gesicht lesen konnte.

Sie musste nichts mehr sagen. Marco wusste, dass sie ihn verstand. Sie würde ihm keinen Vorwurd machen, sollten seine Erklärungsversuche scheitern.

Freunde

Es war einmal ein junges Mädchen, das ihren Vater bei einem Autounfall verloren hatte. Sie lebte fortan bei ihrem Bruder. Ihre Trauer war groß, doch die Monate zogen ins Land und sie fand neue Freunde.

Okay, Schluss mit dem Schwachsinn.

Maries Vater war jetzt seit einem dreiviertel Jahr tot. Sie musste immer noch oft an ihn denken, aber ihre Freunde halfen ihr, dass es glückliche Erinnerungen waren. Sie vermisste ihn.

Sie vermisste ihn sogar sehr.

Auch wenn die nicht mit ihm verwandt war, so war er für sie doch immer wie ein richtiger Vater gewesen. Genau wie ihre Mutter. Und daran würde sich nie etwas ändern. Ihre leiblichen Eltern hatten sie verlassen, als sie noch ein kleines Kind war. Die einzige Erinnerung an sie war der Tag, an dem ihre Eltern gegangen waren. Sie kannte sie nicht. Elena und Mike waren ihre Eltern. Und das würden sie auch immer bleiben.

„Verena, wo bleibst du denn?“ David sah sie grinsend an. „Hast du schon wieder geträumt?“ Sein Blick wurde tadelnd. „Verena, was haben wir dir über Tagträume beigebracht?“

„Die gehören, wenn überhaupt, in die Schule oder in den Mittagsschlaf.“ Marie musste ebenfalls lächeln. David war einer ihrer besten Freunde geworden. Und das, obwohl die beiden damals keinen so guten Start gehabt hatten. Er war der Junge gewesen, derr ihr gesagt hatte, sie solle nicht stehen bleiben, das Leben gehe weiter.

Irgendwann haben sie sich dann noch mal getroffen. An einem Tag, an dem Marie nicht mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Da hatten sie sich gut verstanden. Und jetzt zählte David zu dem engeren Kreis von Maries Freunden.

„Hallo, Erde an Verena“, weckte David die junge Frau erneut. „Du träumst heute eindeutig zu viel und zu häufig. Ist irgendwas besonderes?“ Sie schüttelte den Kopf. „Gut. Dann komm jetzt. Die anderen werden nicht ewig warten.“ Er packte ihre Hand und zog sie mit sich.

Erst jetzt registierte Marie, dass sie die letzten im Schulgebäude waren. Sie hatten heute nach der achten Stunde Schluss und danach hatten Maries Tagträume angefangen. Oder wie auch immer man ihre geistige Abwesenheit bezeichnen wollten.

Vor dem Schulgebäude wandt sie ihre Hand aus Davids Griff und blieb stehen, um die frische Luft zu genießen. Der Frühling ist neben dem Herbst Maries Lieblingsjahreszeit. Die Natur wacht wieder auf, die Luft ist frisch und duftet angenehm nach Wiesen und Wald. Zumindest war das in Hannover immer so, als sie noch am Stadtrand gewohnt hatten.

Hier in Hamburg ist es nicht ganz so schön, was die Luft angeht, aber das Wetter war trotzdem wundervoll. Es wehte immer ein schöner leichter Wind vom Meer her. Vor allem der Tag heute wäre ein perfekter Tag zum Fliegen. Da blieb es bloß zu hoffen, dass es heute Nacht noch immer so schön war.

Marie hatte einen Ort gefunden, wo nachts nichts los war, sodass sie sich dort verwandeln konnte. Sie versuchte einmal in der Woche dort hinzugehen, aber es gab auch Wochen, in denen sie nicht flog, weil einfach so viel für die Schule zu tun war. Aber das Wichtigste war, dass sie endlich wieder fliegen konnte. So lange sie das irgendwie konnte, war sie glücklich.

„Och komm schon, Verena. Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ David sah sie beleidigt an. „Da will man dich mal zu einer Überraschung bringen und du bleibst alle paar Minuten stehen, um die verpestete Stadtluft einzuatmen.“

Marie grinste. Er hatte schon Recht, die Luft war wirklich nicht grade die Beste. Aber wie sagt man so schön? Was sein muss, muss sein.

„Ist ja gut, ich komme ja schon.“ Marie schloss wieder zu Dave auf und sah ihn neugierig von der Seite an. „Wie lange müssen wir denn noch laufen?“

„Das kommt darauf an, wie oft du noch stehen bleibst. Wenn wir jetzt ohne weitere Unterbrechungen weiter gehen, sind wir in ungefähr fünf Minuten da. Und ansonsten immer plus die Zeit, die du für einen Zwischenstopp brauchst.“ Er seufzte. „Manchmal frage ich mich echt, ob mit dir alles in Ordnung ist.“

„Mit mir ist nichts in Ordnung, Dave. Das solltest du eigentlich langsam wirklich wissen.“ Sie stieß ihn freundschaftlich von der Seite an. „Ich meine, wie lange kennen wir uns jetzt schon? Ein dreiviertel Jahr ist es doch fast. Und unser erstes Treffen war ja nicht unbedingt das Beste. Also so langsam solltest du mich schon kennen.“

David schüttelte langsam den Kopf. „Ja, vermutlich hast du Recht. Ich will halt einfach nur nicht einsehen, dass ich mich einer Verrückten befreundet bin.“ Er grinste. „Meine Eltern wären schockiert, würden sie jemals herausfinden, wie du dich in ihrer Abwesenheit verhältst.“

„Sind wir bald da?“, wechselte Marie abrupt das Thema.

David sah sie schief an. „Überleg mal scharf, was ich dir vor ein oder zwei Minuten gesagt habe und setz dein schlaues Köpfchen ein, um die neue Zeit auszurechnen. Dann weißt du es.“ Marie seufzte bei seinen Worten. Besserwisser. „Aber sag mal, hast du grade versucht, das Thema abzulenken?“

„Nein. Ich wollte das Thema einfach wechseln, weil es zu dem anderen Thema nichts mehr zu sagen gab. Warum also weiter darüber reden?“ Sie hielt kurz inne und stutzte. Die Gegend kannte sie doch … „Wo wollen wir eigentlich hin?“

„Da, schon wieder ein Themenwechsel.“ David sah Marie fassungslos an. „Und mal davon abgesehen, dass ich es dir nicht sagen werde, wird der Ort dir sowieso nichts sagen.“

Marie zog eine Augenbraue hoch. „Was macht dich da so sicher?“

„Würdest du ihn kennen, hättest du mir davon erzählt.“

„Was denn, so überzeugt bist du von dir und deinem Einfluss auf mich?“ Sie sah ihn schockiert an. „Glaubst du wirklich, ich würde dir alles erzählen, was ich hier in Hamburg erlebe?“

„Was? Nein.“ David erwiderte ihren Blick konsterniert. „So war das doch gar nicht gemeint. Ich meine nur, dass du den Ort so sehr gemocht hättest, dass du mir davon erzählt hättest. Du erzählst mir doch immer, wenn du irgendwas cooles oder so erlebt hast.“

Marie schüttelte belustigt den Kopf. „Schon mal daran gedacht, dass ich da vielleicht war, bevor wir uns angefreundet haben?“ Sie bog in die nächste Straße ein und David folgte ihr ohne Protest. Er sah sie nur noch verwirrter an.

„Du warst hier echt schon?“

„Ja. Marco, Jakob und Sofia haben mich mal hier hin geschleppt, als wir grade frisch bei Sofia eingezogen waren.“ Vor einem Haus blieb Marie stehen und sah an der Fassade hoch. „Auf dem Dach ist es einfach nur wundervoll.“ Grinsend wanderte ihr Blick zu Dave. „Wie sieht es aus, wer als erster oben ist?“

David nickte nur und schon stürmten die beiden Schüler los. Durch die offene Tür, die Treppen hoch. Zehn Stockwerke.

Es endete darin, dass beide die Treppen hoch krochen und sich wünschten, der Fahrstuhl wäre noch funktionstüchtig. Und sie hätten nicht dieses blöde Wettrennen veranstaltet.

Aber die Anstrengung lohnte sich. Das Dach des Hochhauses war einfach nur genial. Es war komplett zu gewuchert und glich schon fast einem kleinen Wäldchen. Hier oben roch es wirklich nach Frühling.

 

„Okay, ich muss los. Soll ich dich noch nach Hause bringen?“ David erhob sich und sah Marie fragend an.

„Nein, ich bleibe noch ein bisschen hier und genieße den Frühling.“ Sie lächelte zu ihrem besten Freund hoch. „Aber danke fürs Angebot.“ Sie erhob sich ebenfalls und begleitete Dave noch bis zur Tür. „Also dann, bis morgen.“ Sie umarmten sich zum Abschied, bevor David sich an den Abstieg über die zehn Stockwerke machte.

Lächelnd kehrte Marie zu ihrer Tasche zurück und setzte sich. Sie hatten hier oben viel Spaß gehabt. Es waren noch zwei andere vorbei gekommen, aber die hatten nicht so viel Zeit gehabt, weshalb sie nach etwa einer Stunde schon wieder gegangen waren.

David und Marie waren nochmal fast eine Stunde allein dort oben geblieben, bevor Dave dann schließlich nach hause musste. Sie hatten über alles mögliche gesprochen. Die Lehrer, das Abi, das nächstes Jahr auf sie beide wartete, ihre Freunde und zwischendurch hatten sie auch kurz über seine Eltern gesprochen. Die waren so ganz anders als Maries. Oder Marcos.

Seine Eltern waren streng. Sie erwarteten von ihrem Sohn, dass er nur die besten Noten aus der Schule mitbrachte. Und seine Freunde durften auch nur ganz exklusiv sein. Es erstaunte Marie immer wieder, warum sie ihn auf eine öffentlichen Schule geschickt hatte, wo sie sich doch eine Privatschule leisten konnten.

Das Klingeln ihres Handys riss Marie aus ihren Gedanken. Sie kramte es aus ihrer Tasche und warf einen Blick auf das Display. Marco rief an.

„Hey Marco, was gibt’s?“, begrüßte sie ihn, nachdem sie den Anruf entgegen genommen hatte.

„Verena, hey. Du, ich muss mit dir reden. Wo bist du?“

„Erinnerst du dich noch an das verlassene Hochaus, bei dem Jakob, Sofia, du und ich im Herbst mal waren? Ich bin da auf dem Dach.“

„Okay.“ Marco hörte sich an, als würde er Lächeln. „Ich bin in einer Viertelstunde da.“ Und schon hatte er wieder aufgelegt. Was er wohl wollte?

Nachdenklich legte Marie sich auf den Rücken und beobachtete durch die dünen Zweige der Bäume die Wolken am Himmel.

Marco war nicht ganz unschuldig daran, dass sie den Tod ihres Vaters so gut verkraftet hatte. Er war immer für sie da gewesen. Genau wie Sofia und Jakob. Egal wie scheiße es ihr ging, Marco war da. Wenn sie reden wollte, hörte er zu und fand immer die richtigen Worte. Wenn sie einfach nur Gesellschaft brauchte, war er still. Saß einfach da, sagte nickte und überließ es ihr, ein Gespräch anzufangen, wenn sie doch reden wollte.

Er drängte sich ihr nie am. Und sie war ihm wirklich dankbar, dass er da gewesen war. Damals, beim Umzug zum Beispiel. Als sie die Fotos von ihren Eltern gesehen hatte. Er hatte sie irgendwie verstanden, obwohl er noch beide Elternteile hatte. Er war ihr bester Freund. Mit Sofia, Jakob und David zusammen. Ihne die vier wäre Marie nicht die, die sie heute war.

Ein Schatten schob sich über die Sonne und Marie musste blinzeln, um etwas zu erkennen.

„Na, genießt du die Aussicht?“ Marcos Stimme nach zu urteilen, lächelte er. Sein Bewusstsein hatte sich im letzten dreiviertel Jahr nicht geändert, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Sie fand es nicht mehr beängstigend. Inzwischen war es eher beruhigend, ihn in der Nähe zu spüren. Denn dann wusste sie, dass jemand da war, zu dem sie mit all ihren Sorgen kommen konnte und der sie verstehen würde.

„Klar, die Wolken sind heute wundervoll.“ Marie setzte sich auf. „Worüber wolltest du denn mit mir reden?“

Marco seufzte und ließ sich neben Marie auf den Boden fallen. Er schwieg lange. Sein Blick wirkte abwesen und war irgendwo in die Ferne gerichtet. Auf einen Punkt, den Marie nicht erkennen konnte.

Irgendwann sah er sie an. Und noch später fing er schließlich an zu reden.

„Ich … ich wollte mit dir über deine Eltern reden. Deine richtigen Eltern.“ Mit diesen zwei Sätzen gewann er sofort ihre unbeschränkte Aufmerksamkeit. Diese beiden Personen kannte sie zwar nicht, aber sie würde schon gerne erfahren, warum sie sie damals im Stich gelassen hatten.

„Erinnerst du dich noch an dein erstes Treffen mit meinem Vater? Damals, als du bei uns zum Kuchessen eingeladen warst?“ Marie nickte langsam. Worauf wollte er hinaus? „Er stand damals in der Tür und hat dich Helen genannt. Weißt du noch?“

Erneut nickte sie vorsichtig. „Damit hat er mich gemeint? Ich dachte irgendwie, dass er Hannah angesprochen hatte.“

Marco lächelte. „Nein, er meinte dich.“ Er brach ab und holte tief Luft. „Er hat dich mit deiner Mutter verwechselt. Helen Hausmann. Unsere Eltern kannten sich.“

Marco sprach nicht weiter. Er schien zu merken, dass sie das erstmal verkraften musste. Seine Eltern kannten die ihren. Sie konnten ihr vielleicht sagen, warum ihre Eltern damals abgehauen waren. Warum sie ihr einziges Kind zurück gelassen haben – sofern sie überhaupt ihr einziges Kind war und nicht noch einen Bruder oder eine Schwester hatte, die sie aber mitgenommen hatten.

Marie spürte Marcos Blick auf sich. Als sie aufsah, sah sie Verständnis in seinen grünen Augen aufblitzen. Als würde er sie verstehen, obwohl er das eigentlich nicht verstehen konnte. Sie hatte noch nichts gesagt, seit er ihr das mitgeteilt hatte.

Schließlich holte sie zitternd Luft. „Wissen deine Eltern, warum die damals verschwunden sind?“, fragte sie leise. Sie hatte Angst vor der Antwort. Wollte die Frage nicht laut aussprechen.

Marco schüttelte traurig den Kopf und zerstörte mit dieser kleinen Geste Maries gesamte Hoffnung. „Nein, sie waren gute Freunde, aber Helen und Lukas haben ihnen nie irgendwas gesagt, dass sie weg wollten oder so. Aber meine Eltern haben eine Theorie.“ Er sah Marie prüfend an, schien zu überlegen, ob er ihr das wirklich zu muten konnte. Sie nickte langsam und gab ihm so zu verstehen, dass sie es wissen wollte.

Auch Marco nickte langsam. „Weißt du, deine Eltern … Sie waren anders.“ Marie zog fragend die Augenbraue hoch und Marco holte tief Luft. „Sie waren keine normalen Menschen. Sie … sie konnten sich verwandeln. In Adler. Ich weiß, das hört sich komisch an. Aber du kannst mir glauben, ich würde dir nie irgendwelchen Mist erzählen, was dieses Thema angeht. Meine Eltern sind ebenfalls Gestaltwandler, genau wie ich. Normalerweise wandelt man sich mit ungefähr zehn oder elf, manchmal zwölf, Jahren das erste mal. Aber das kann man nur, wenn man davon weiß. Ansonsten passiert gar nichts. Man lebt als ganz normaler Mensch weiter.“

Marco unterbach sich selbst und sah Marie lange schweigend an. „Wenn man sich aber nicht bis zum achtzehnten Geburtstag gewandelt hat, dann verliert man die Fähigkeit sich zu wandeln. Das Gen dazu wird von den Eltern vererbt. Da deine beiden Eltern Wandler waren, genau wie alle deine Großeltern, bist du ebenfalls zu hundert Prozent eine Wandlerin.“

Wieder schieg Marco. „Meine Eltern vermuten, dass das irgendwie mit dem Verschwinden deiner Eltern zu tun hat. Warum sonst sollte man sein einziges Kind verlassen und Hals über Kopf in eine andere Stadt ziehen, ohne irgendjemandem davon zu erzählen?“

Mehr sagte er nicht. Er ließ Marie nachdenken. Auch wenn ihre Gedanken wohl etwas anders waren, als er annahm. Woher sollte er schließlich wissen, dass sie das alles schon längst wusste? Was sie viel wichtiger fand, war die Tatsache, dass Marco ebenfalls ein Wandler war. Deswegen war sein Bewusstsein so stark. Das hatte ihr ihre Mutter doch damals erzählt. Aber sie war nie einem anderen Wandler begegnet. Woher sollte sie dann wissen, wie sich anderen Wandler-Bewusstsein anfühlten?

Irgendwann sah Marie Marco wieder an. „Das ist alles?“, fragte sie. „Mehr kommt nicht mehrt? Keine große Verschörungstheorie, warum meine Eltern getürmt sind? Nur Fakten, die ich alle schon kenne?“ Marie stand auf. „Schade. Als du mir erzählt hast, dass unsere Eltern sich kannten, ahbe ich wirklich gehofft, sie könnten wissen, warum das damals so laufen musste.“

Langsam ging Marie zum Rand des Daches. „Ich hatte gehofft, sie hätten wenigstens einen wirklich guten Grund gehabt.“ Ihre letzten Worte klangen verbittert. Aber was sollte sie tun? Ihre Eltern hatten sie als Kleinkind zurückgelassen. Da durfte sie sie doch wohl hassen, oder nicht?

„Ich hoffe wirklich für sie, dass sie doch einen Grund hatten und ihn nur nicht verraten haben.“ Mit diesen Worten ließ Marie sich nach hinten fallen und konzentrierte sich auf ihren Hass auf ihre Eltern. Marcos erschrockenen Ruf hörte sie nur noch schwach.

Schmerz

„Verena!“ Erschrocken sprang Marco auf und hechtete an die Dachkante. Fassungslos beobachtete er, wie Verena immer tiefer fiel und der Straße immer näher kam. Nein. Nein, das durfte doch nicht sein! Wie sollte er das denn bitte Jakob erklären?

Und dann setzten die Haluzinationen ein. Marco wünschte sich so sehr, Verena würde sich verwandeln, dass er jetzt schon dachte, sie könnte es tatsächlich.

Langsam ließ Marco sich auf die Knie sinken. Gleich würde sie auf den Boden aufschlagen. Gleich würde er ihren verdrehten Körper dort unten auf dem Asphalt sehen. Aus der Traum, sie wäre wirklich ein Adler.

Er wollte grade den Blick abwenden, wollte nicht sehen, wie sie dort unten aufschlug. Aber er konnte nicht. Sein Blick war gefanngen von diesen braunen Schwingen und diesem wunderschönen weißen Kopf.

Moment. Marco schüttelte verwirrt den Kopf und sah genauer hin. Braune Schwingen? Weißer Kopf? Verena hatte doch schwarze Haaren, oder?

Verena wusste doch nicht, wie man sich verwandelt. Oder?

Verena hatte doch noch nie vor heute von den Gestaltwandlern gehört. Oder?!

Aber dort unten stieg grade ein wunderschöner Weißkopfseeadler auf. Dort unten hatte Verena sich grade verwandelt. Wie konnte sie das alles wissen, wenn sie doch ihre Eltern nicht gekannt hatte? Doch dann erinnerte sich Marco daran, was sie kurz vor ihrem mehr als dramatischen Abgang gesagt hatte.

Nur Fakten, die ich alle schon kennen? Sie hatte es gewusst. Irgendwer hatte ihr das alles schon erklärt.

Verena landete neben Marco auf dem Dach, aber er ignorierte sie. Warum hatte sie nie etwas gesagt? Hätte sie sich nicht denken können, dass sie sich Sorgen machen würden? Mit jeder Frage wurde die kurzzeitige Erleichterung, dass sie noch am Leben war, in Wut, dass sie nichts gesagt hatte.

Marco drehte sich zu Verena um. „Warum hast du uns nichts gesagt?“, fuhr er sie wütend an. Er wusste genau, dass sie ihn verstehen konnte. „Du lebst jetzt schon seit einem dreiviertel Jahr mit mir zusammen in einer Wohnung und gibst mir nicht einmal einen Hinweis, dass du davon weißt? Vertraust du mir so wenig?“ Verletzt sah Marco sie an. „Du hättest doch an meinem Bewusstsein erkennen können, dass ich ebenfalls ein Wandler bin.“ Er schüttelte den Kopf. „Und bitte verwandel dich zurück. Ich will vernünftig mit dir reden.“

Zögerlich kam Verena seiner Aufforderung nach. Kurz darauf stand sie wieder als Mensch vor ihm. Aber irgendwie machte es das nicht wirklich besser.

„Was hast du dir überhaupt dabei gedacht, dich mitten in der Stadt zu verwandeln?!“ Seine Wut kam zurück. „Willst du vielleicht, dass sie ganze Stadt, das ganze Land oder noch besser die ganze Welt erfährt, dass es uns gibt?! Bist du etwa lebensmüde?!“

Uschon fast vor Wut schäumend sah Marco Verena an. In seiner Brust machte sich ein stechender Schmerz breit. Er war enttäuscht von ihr. Sie hatte einfach ihrer aller Geheimnis aufs Spiel gesetzt. Ohne darüber nach zu denkne, was das vielleicht für die anderen Wandler bedeuten konnte. Was das für Marco und seine Familie bedeuten konnte. Für die Leute, die in der Zeit der Trauer für sie da gewesen waren. Für Sofia.

„Wieso? Hier ist doch niemand.“ Verena erwiderte seinen Blick schon fast trotzig.

„Wieso …?“ Fassungslos starrte Marco zurück. „Du willst wissen wieso? In einer Stadt wie Hamburg ist man nie allein, Verena. Nie. In einer Stadt wie Hamburg kannst du dich nicht einfach am helllichten Tag von einem Hochhaus stürzen und erwarten, dass das niemand síeht!“ Seine Stimme wurde immer lauter und zum Schluss brüllte er sie fast an.

Er holte tief Luft und versuchte wieder ruhiger zu sprechen. „Im Ernst, Verena, du kannst von Glück reden, wenn diese Aktion grade niemand gesehen hat. Warum bist du überhaupt gesprungen?“

„Ich weiß nicht, vielleicht sind meine Gefühle mit mir durchgebrannt oder so.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Marco leicht gekränkt an. „Oder ich konnte deine Gesellschaft einfach nicht mehr ertragen und hatte keine Lust die Treppen zu nehmen.“

Be ihren Worten verspürte Marco wieder einen unglaublichen Schmerz in der Brust. Wie als wenn ihm jemand mit einem Messer ins Herz gestochen hätte.

Verena wandte sich von der Dachkante ab, schnappte sich ihre Tasche und betrat die Treppe. Seufzend setzte Marco sich in Bewegung, um ihr zu folgen.

Eher widerwillig stieg Verena unten angekommen in seinen Wagen und ließ sich mit nach Hause nehemn. Die gesamte Fahr über starrte sie schweigend aus dem Fenster. Und kaumw aren sie da, verließ sie das Auto und betrat das Haus. Marco seufzte und blieb noch kurz sitzen und versuchte heraus zu finden, wann genau die Situation auf dem Dach genau eskaliert war.

Warum hatte er sie bloß angeschrien? Warum hatte er nicht vernünftig mit ihr geredet? Sie musste doch einen Grund haben, warum sie gesprungen war. In Hannover hatte sie am Stadtrand gelebt. Da war das alles ganz anders.

Merco schüttelte den Kopf. Am liebsten würde er seinen Kopf jetzt gegen das Lenkrad schlagen. Was war er doch für ein bescheuerter Idiot. Besser hätte er den Konflikt wirklich nicht lösen können.

Nach gefühlten fünf Minuten konnte er sich dann auch endlich dazu aufraffen, aus dem Auto zu steigen. Dieser Tag wirklich zum Kotzen. Und um dem ganzen noch das Sahnehäubchen oben auf zu setzen, kam in diesem Moment Hannah um die Ecke. Natürlich musste sie ihren Sohn bemerkten und feststellen, dass etwas nicht stimmte.

„Marco, was ist denn los? Du siehst besorgt aus. Falten stehen dir nicht.“ Besorgt sah Hannah ihn an. Marco konnte nur erneut seufzen.

„Ich habe es ihr heute gesagt.“

„Aber das ist doch wunderbar“, freute sich Hannah. „Jetzt musst du dich nicht mehr damit quälen, dass du nicht weißt, wie du es ihr sagen sollst.“

Marco schüttelte den Kopf. „Es wäre wunderbar, wenn sie es nicht schon gewusst hätte.“

„Und was ist daran jetzt schon wieder schlimm?“ Hannah sah ihren Sohn verwirrt an. „Ist es nicht eher gut, dass sie es schon wusste?“

„Ja, natürlich ist es das.“ Marco zögerte. Er wollte es ihr nicht sagen. Alles in ihm wehrte sich dagegen.

„Aber ich fürchte, ich bin etwas lauter geworden, als ich wissen wollte, warum sie sich nicht schon längst zu erkennen gegebn hat“, umschrieb Marco schließlich ihren Streit. „Und wenn du mich jetzt entschuldigst, die anderen warten auf ihr Essen.“

Hannah nickte nur. Sie sah verwirrter aus, als am Anfang, das konnte Marco ihr deutlich ansehen. Und er konnte es ihr auch nicht verdenken. Sie hatte ja recht. Er verstand es ja selber nicht so ganz.

 

Marco und Verena hatte im letzten halben Jahr oft zusammen gekocht. Es hatte ihm Spaß gemacht, mit ihr in der Küche zu stehen und die Zutaten zu schnippeln oder ähnliches. Heute hatten sie eigentlich mal wieder Lasagne machen wollen. Traurig bereitete Marco alleine alles vor. Eigentlich sollte Verena jetzt hier stehen und das Mett würzen.

Beim Essen ignorierte sie ihn komplett. Sie erzählte Jakob und Sofia von ihrem Tag, wobei sie das Treffen auf dem Dach nicht mit einem Wort erwähnte. Sie war mit ein paar Freunden dort oben gewesen.

Es versetzte Marco einen Stich zu hören, wie viel Spaß sie mit diesem David gehabt hatte. Warum musste er es ihr denn unbedingt da oben erzählt haben? Hätte er doch bis zum Wochenende gewartet und wäre mit ihr ans Meer gefahren. Da wäre alles nicht so schlimm gewesen.

„Hey, was ist los?“ Sofia sah ihren Cousin besorgt an. Das Abendessen war vorbei und er war grade dabei, die Küche zu Ende aufzuräumen. „Erst hängt ihr ein halbes Jahr fast nur zusammen in der Wohnung rum und plötzlich ignoriert ihr euch gegenseitig und sprecht nicht ein Wort mit einander?“

„Wir … wir haben uns gestritten“, erklärte Marco zögernd. „Ich weiß, es war dumm. Und es ist meine Schuld. Ich … Mein Temprament ist mit mir durch gegangen.“

„Jetzt plötzlich?“ Sofia sah ihn ungläubig an. „Nachdem ihr ein dreiviertel Jahr zusammen gelebt habt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Glaub ich dir nicht. Erstens hast du dich noch nie mit jemandem so richtig verkracht, dass ihr danach nicht mehr miteinander gesprochen habt und zweitens hast du es noch nie geschafft, dich mit deinen besten Freunden zu verkrachen. Ich meine, Verena und Jakob sind sich vom Charakter her ähnlich. Und mit Jakob hast du dich doch noch nie gestritten. Höchstens diskutiert.“

„Mit Verena ist das was anderes“, versuchte Marco Sofia zu beruhigen. Schlechte Idee.

„Ach, was ist denn anders? Dass ihr zusammen wohnt? Tun du und Jakob auch. Dass sie ein Mädchen ist? Bin ich auch.“ Sofia sah ihn traurig an. „Du willst dir nicht helfen lassen, oder?“

„Nein. Ich würde mich über Hilfe freuen. Aber du kannst mir nicht helfen. Das muss ich selber wieder grade biegen.“

Sofia nickte langsam und verließ die Küche. Niedergeschlagen ließ Marco sich auf einen der Stühle fallen. Sofia würde mit Verena reden. So viel war sicher. War nur die Frage, was die sagen würde. Sie würde doch nicht ihr Geheimnis ausplaudern, oder?

Klar, Sofia gehörte zur Familie, aber sie wusste nichts von den Gestaltwandlern. Sie war eine Cousine mütterlicherseits. Und Hannahs Vater war ein Mensch gewesen.

 

Hannah öffnete am nächsten Tag kommentarlos die Tür und ließ Marco in die Wohnung. Sie wusste genau, worüber Marco reden wollte. Und er wusste, dass sie, wenn er erstmal angefangen hatte, erst Ruhe geben würde, wenn sie alles wusste.

Also erzählte er ihr,w as wirklich passiert war. Dass Verena sich mitten in der Stadt gewandelt hatte; dass Marco sie deswegen zusammen gestaucht hatte; dass sie deswegen nicht mehr mit ihm redete.

Als er fertig war, schwieg Hannah. Sie sah ihren Sohn lange nachdenklich an. Schließlich erhob sie sich von ihrem Platz auf der Couch und ging in die Küche. Marco folgte ihr nicht.

„Du musst noch mal mit ihr reden“, erklärte sie schließlich. „Du musst mit ihr ans Meer fahren und dort mit ihr reden.“

Marco seufzte. „Ja, das sollte ich wohl. Wie soll das Wetter am Wochenene werden?“

„Sonne und Wolken. Ein leichter Wind. Aber auch nur vierzehn Grad.“

„Okay. Dann komm ich wohl mal wieder in den Genuss eines schönen Frühlingslüftchen am Meer.“

Hannah nickte und lächelte. „Das wird schon wieder. Ich bin sicher, ihr schafft es, das Problem zu klären.“

„Ja, sicher.“ Irgendwie war Marco nicht so recht überzeugt. Er hatte Verena regelrecht zusammen geschissen. Mit einem einfachen „Es tut mir leid“ war das nicht vergessen. Da musste schon mindestens ein ausführliches Gespräch her, wenn nicht sogar noch mehr.

„Ach Marco, jetzt mach dich doch nicht so fertig deswegen.“ Hannah legte ihm eine Hand auf den Arm. „Das wird schon werden.“

Ja, klar. Das wird schon werden. Marco schnaubte. Es war ja nicht so, als hätte er seine beste Freundin fast angebrüllt. War ja nicht so, als würden sie sich nocht nicht sehr lange kennen. War ja nicht so, als würden sie ein Geheimnis teilen.

„Nein, Mama.“ Marco schüttelte den Kopf. „So einfach wird das nicht.“ Niedergeschlagen ließ er den Kopf fallen und starrte auf seine Hände. „In diesem Fall kann ich mich nicht einfach entschuldigen und alles wird wieder gut.“

„Ich weiß. Natürlich geht das nicht so einfach, aber ich bin mir sicher, du wirst eine Lösung finden.“

Marco nickte langsam. „Hoffen wir es. Du, ich muss wieder runter. Da wartet noch was von der Uni auf mich.“ Marco erhob sich. „Bis dann.“

Fliegen

Marie verstand die Welt nicht mehr. Marco war ein Gestaltwandler. Genau wie sie. Genau wie ihre Eltern. Und seine Eltern. War Sofia dann auch eine Gestaltwandlerin?

Nein. Ihr Bewusstsein war schwach. Wie das eines Menschen. Wie Jakobs. Wie das ihrer Mutter. Wie das ihres Vaters. Wie das von jedem Schüler an ihrer Schule einschließlich David.

Marco war ein Gestaltwandler.

Mussten sie dann nicht zusammen halten? Mussten sie sich dann nicht gegenseitig unterstützen? Warum hatte er sie dann so angeschrien? Es war kein Mensch in den umliegenden Häusern gewesen. Und sie war nicht hochgenug geflogen, um von einem anderen, weiter entfernten Hochhaus gesehen zu werden. Trotzdem hatte er sie angeschrien, sie solle sich wieder zurück verwandeln. Es hätte sie jemand sehen können.

Ärgerlich schlug Marie auf ihr Kissen ein, um es zu einem kleinen Ball zusammen zu knautschen. Als ob sie so blöd wäre, sich vor anderen Menschen zu verwandeln. Als ob sie jetzt, nach fast einem Jahr in Hamburg plötzlich entscheiden würde, dass sie gesehen werden wollte.

Sie hatte ihrer Mutter versprochen, ihr Geheimnis niemals leichtfertig preiszugeben. Marco hatte es gekannt. Es war nicht leichtfertig gewesen, sich zu verwandeln. Sie kam zu diesem Haus, seit die Drei es ihr damals gezeigt hatten. Fast jede Woche genoss sie dort oben die Stille des schlafenden Riesen.

Marie warf sich in ihrem Bett herum und vergrub den Kopf im Kissen. Sie sollte schlafen und sich nicht über Marco den Kopf zerbrechen. Morgen schrieb sie eine wichtige Klausur, da war es nicht grade vorteilhaft, wenn sie müde und unausgeschlafen war.

Sie konnte ihn ja verstehen, wenn er erschrocken war, dass sie sich schon wandeln konnte. Aber dass er sie gleich zusammenstauchen würde, hätte sie nicht von ihm erwartet. Er war doch sonst auch eher der ruhige Typ. Und plötzlich war er aufbrausend?

Vielleicht hatte sie ihn ja mehr erschreckt, als er zugeben wollte? Vielleicht war der Zorn wirklich nur aus dem Schrecken über ihr Wissen entstanden. Hatte er ihr nicht auch vorgeworfen, dass sie es ihm hätte sagen sollen?

Verdammt, Marie, du musst endlich schlafen, erklärte die Schülerin sich selbst und wälzte sich erneut in ihrem Bett herum. Dieser Typ raubt dir noch den Schlaf. Und wenn er wirklich sauer auf dich ist, dann hat er Pech gehabt. Du kannst nicht nur wegen diesem Typen aufhören zu fliegen. Er bestimmt doch sonst auch nicht, was du tun oder lassen sollst.

Ja, warum jetzt plötzlich? Marie seufzte. Sie kannte die Antwort. Er war der erfahrenere Wandler, was Städte und ihre Gefahren anging. Sie sollte mit ihm reden. Morgen. Übermorgen. Am Wochenende. Nächste Woche. Irgendwann.

Er musste es ihr erklären. Seinen Zorn. Warum er sauer auf sie war. Vielleicht hatte es ja auch gar nichts mit dem Wandeln zu tun, es war ihm nur in dem Moment wieder eingefallen?

Eine Welle aus Trauer überkam Marie, als sie daran dachte, wie zornig er sie auf dem Dach wieder empfangen hatte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Mauer weiter aufrecht zu erhalten. Sein Bewusstsein war kurz fast übergeschäumt vor Wut und Enttäuschung. Aber er war auch verletzt gewesen. Das hatte Marie gespürt. Auch wenn sie nicht so recht wusste, weshalb.

Traurig starrte sie durch das Fenster in den Himmel und betrachtete die wenigen Sterne, die am Himmel zu sehen waren. In ihrem kleinen Vorstadthäuschen in Hannover hatte man viel mehr sehen können. Und als sie noch in irgendeinem kleinen Ort vor Hannover gewohnt hatten, waren es noch mehr gewesen.

Es schien so, als würde sie immer ein paar Sterne zurück lassen, wenn sie einen alten Wohnort hinter sich ließ.

Ihre Tür knarrte leise, als sie sich einen Spaltbreit öffnete und Chilli sich in ihr Zimmer quetschte. Lächelnd beobachtete Marie, wie er als inzwischen ziemlich großer Schatten zu ihrem Bett huschte und dieses mit einem einzigen Spring erklomm. Dabei landete er halb auf ihr, was sie ihm aber verzieh. Das Bett war halt zu schmal, als dass Chilli neben ihr noch stehen konnte.

Schließlich ließ er sich glücklich neben sie fallen und drückte seine Schnauze an ihren Hals. Sie streichelte seinen Kopf, was ihn aufschnaufen ließ. Und irgendwann schaffte sie es wirklich einzuschalfen.

 

Der Test verlief besser als gedacht. Anscheinend hatten die Nachhilfestunden in Mathe bei Marco doch etwas gebracht. Aber irgendwie konnte Marie sich trotzdem nicht richtig über den Erfolg freuen.

Sie hatte es Marco zu verdanken, dass sie so gut gewesen war. Aber würde das auch in Zukunft so sein? Marie konnte immer noch nicht richtig nachvollziehen, warum Marco wütend auf sie war. Und so lange das so war, würde sie ihm lieber aus dem Weg gehen, wenn er sie nicht ansprach.

David textete sie die ganze Pause nach dem Test zu und fragte immer wieder nach irgendeinem von Maries Lösungswegen. Sie erklärte ihm wage, wie sie wo vorgegangen war, aber sie konnte sich nicht richtig auf das Gespräch konzentrieren. Sie war gestern erst geflogen, aber grade in diesem Moment wünschte sie sich die Freiheit eines Vogels. Die Freiheit, die sie immer nur zeitweise genießen konnte.

Zuhause machte Marie sich sofort daran, ihre Hausaufgaben zu erledigen. Viel war es nicht. Die Lehrer waren grade alle damit beschäftigt die Abiklausuren zu korrigieren und hatten keine Zeit und auch nicht wirklich Lust, sich auch noch mit den Elftklässlern herumzuschlagen.

Als sie mit den Hausaufgaben fertig war, lehnte Marie sich auf ihrem Stuhl zurück. Und jetzt? Es war Freitag. Ihre drei Mitbewohner kamen da meistens alle zusammen gegen fünf aus der Uni. Vielleicht Essen kochen? Das war eigentlich Marcos Job, aber Marie hatte nichts zu tun und die drei würden sich bestimmt über etwas warmes auf dem Tisch freuen.

Oder würde das Marco nur noch wütender machen? Unsicher, was sie machen sollte, lief Marie in der Wohnung umher. Suchte nach einer sinnvollen Beschäftigung, bei der sie Marco nicht wütend machen konnte. Mit Chilli rausgehen? Der Rottweiler war vollkommen verunsichert von Maries auf- und abgerenne. Er hatte sich in der Küche unter dem Tisch verkrochen und beobachtete mit großen Augen Maries Weg durch die Wohnung.

Sonst hatte Marco doch auch nichts dagegegn gehabt, wenn sie mit dem Hund raus gegangen war. Oder war das vielleicht sogar das Problem gewesen?

Marie seufzte. Egal. Sie brauchte Bewegung und Chilli würde sich bestimmt auch freuen, raus zu kommen. Außerdem hätte Marco doch etwas gesagt, wenn ihn das störte.

„Komm Chilli, wir gehen raus.“ Marie schnappte sich die Leine, machte sie ihm am Halsband fest und verließ dann mit dem Hund die Wohnung. Wie von selbst fanden Maries Füße den Weg zum Park.

Sie ging langsam und genoss die frische Frühlingsluft. Es war noch recht kalt. Fast schon zu kalt dafür, dass es schon Ende April war. Im Radio hatten sie etwas davon gesagt, dass es dieses Jahr einen Jahrhundertsommer geben sollte. Wenn sich das Wetter jedoch nicht bald änderte, würde daraus nichts werden.

Mit zehn bis fünfzehn Grad Durchschnittstemperatur konnte man keinen Jahrhundertsommer auf die Beine stellen. Außer vielleicht den kältesten Sommer seit einem Jahrhundert oder so. Mehr aber auch nicht.

 

Zwei Wochen waren seit Marcos Erklärung wegen den Gestaltwandlern, Maries Ausbruch von Enttäuschung wegen ihren Eltern und ihrem Streit vergangen. Zwei Wochen in denen sie sich fast ausschließlich angeschwiegen hatten. Viel länger hielt Marie dieses Schweigen nicht mehr aus. Sie wollte nicht, dass Marco wütend auf sie war, aber sie wusste auch nicht, was sie machen sollte.

Mit Sofia und Jakob konnte sie über das Problem nicht sprechen. Dann hätte sie ihnen von den Gestaltwandlern erzählen müssen. Und mit wem sonst konnte sie reden? Alle ihre Freunde waren Menschen, von Marco abgesehen. Aber er war der Ursprung des Problems.

Und dann endlich kam die Rettung. Marco sprach wieder mit Marie. Zwar war es nur kurz, um ihr mit zu teilen, dass sie am Wochenende ans Meer fahren würden. Aber es war immerhin ein Anfang. Und vielleicht würde er am Meer endlich wieder anfangen richtig mit ihr zu reden.

Marie war normalerweise nicht schüchtern oder zurückhaltend, was Problemlösungen anging, aber irgendwas hielt sie davon ab, Marco direkt zu fragen. Als wäre da irgendein teil in ihr, der Angst vor ihm hatte. Vielleicht ein Instinkt, der ihr sagte, dass Marco Recht hatte?

 

Samstag Morgen fuhren sie los. Das Wetter war recht angenehm. Die Sonne schien von einem blauben Himmel und versuchte, die Kälte der letzten Tage zu vertreiben. Sie hatten inzwischen Mitte Mai, aber es war noch immer unangenehm kalt.

Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde, dann hielt Marco auf einem recht gut befüllten Parkplatz an. Sie stiegen aus und folgten dem Weg an der Küste entlang. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Es war eine unangenehme, drückende Stille.

Obwohl der Parkplatz gut gefüllt gewesen war, begegneten die beiden jungen Menschen kaum jemandem. Die meisten waren wohl in die anderen Richtung vom Parkplatz gegangen. Irgendwann bog Marco auf einen kleinen, kaum sichbaren Trampelpfad ab. Und noch später, als man den Hauptweg nicht mehr sehen konnte, weil sie in einer kleinen Kule waren, blieb er schließlich endlich stehen und drehte sich zu Marie um.

Seine grünen Augen waren traurig. Sie waren nicht richtig auf Marie fokussiert. Eher auf das Meer hinter ihr.

Langsam ließ Marco sich dort wo er stand auf den Boden sinken und Marie folgte seinem Beispiel. So saßen sie lange da. Marie beobachtete Marco, gespannt darauf, was er von ihr wollte. Er sah immer wieder so aus, als würde er gleich etwas sagen, brach dann aber jedes mal wieder ab.

Als er dann schließlich anfing zu sprechen, war sein Blick auf seine Hände gerichtet. Nicht mehr auf sie oder das Meer hinter ihr. Seine Stimme klang bedrückt, als wüsste er nicht, ob er das, was er sagte, wirklich sagen wollte.

„Damals auf dem Dach …“ Er zögerte weiter zu sprechen. „Warum bist du gesprungen?“

Marie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie hatte selber darüber nachgedacht. Warum war sie an dem Tag gesprungen, wo sie doch eigentlich wusste, dass es nicht ganz ungefährlich war?

„Ich weiß nicht. Vielleicht brauchte ich es einfach wieder. In dem dreiviertel Jahr, dass ich jetzt schon hier bin, konnte ich nur selten und immer nur ganz kurz fliegen. Mir haben die Höhe und die Aufwinde einer aufgeheizten Stadt gefehlt“, erklärte sie schließlich langsam. „Ich bin noch nie am Tag geflogen. Nicht in Hannover und hier erst recht nicht. Ich wollte wissen, wie es sein würde, unter der Sonne zu fliegen.“ Marie wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie wollte ihn nicht schon wieder verärgern.

„Und warumhast du dich nie als Gestaltwandlerin zu erkennen gegeben?“ Marco sah sie traurig an. „Du hast irgendwas mit der Ausstrahlung deines Bewusstseins gemacht, so dass es sich so anfühlte, wie es sich jetzt anfühlen würde, wenn du dich noch nicht gewandelt hättest.“

Marie lächelte schwach. „Mama hat es mir beigebracht. Es hat etwas mit dem Unterbewusstsein zu tun. Mit dem Teil, der immer weiß, dass du ein Wandler bist. Wenn du um diesen Teil … im Prinzip eine Mauer baust, ähnlich der, die von Natur aus um unser Bewusstsein ist, dann unterdrückst du die starke Ausstrahlung der Wandler.“

„Aber deine Mutter … Wie konnte sie dir das erklären, wenn du sie doch mit zwei oder so das letzte mal gesehen hast?“ Marco war sichtlich verwirrt, aber Marie konnte es ihm nicht verdenken. Sie wäre in seiner Situation auch verwirrt.

„Nicht die Mutter. Jakobs Mutter. Ich habe euch doch mal erzählt, dass meine Eltern sich kannten. Und Mama war in ihr Geheimnis eingeweiht. Ich glaube, sie wusste sogar, warum sie weggegangen sind. Vielleicht hätte sie es mir irgendwann erklärt, wenn sie noch am Leben wäre.“

Warum erzählte sie ihm das überhaupt? Und warum wirkte er so gar nicht wütend, nach dem er ihre Erklärung fürihren Sprung gehört hatte? Und bei der Frage danach. Er hatte eher traurig und enttäuscht als wütend geklungen.

„Verena …“ Marie sah auf, sah in sein markantes Gesicht, sah in seine strahlenden grünen Augen. Wie sehr wünschte sie sich, er wäre nicht sauer auf sie und würde sie Marie nennen …

„Vor zwei Wochen auf dem Dach … Es tut mir leid, dass ich dich so angebrüllt habe.“ Die Worte kamen langsam und mit Bedacht aus seinem Mund. „Ich war außer mir. Zum einen vor Sorge, weil ich nichts von deinem wahren Ich wusste. Zum anderen vor Wut, weil du dich einfach so mitten am Tag, mitten in der Stadt verwandelt hast.“ Unsicher sah Marco Marie an. Er sah schon fast schüchtern aus.

„Bist du deswegen irgendwie sauer oder beleidigt? Es tut mir wirklich leid“, fügte er schnell hinzu, als Marie grade etwas erwidern wollte. „Ich wollte dich nicht beleidigen oder so. Aber nach dem du nicht mehr mit mir gesprochen hast und so …“ Er hielt inne, sah Marie unsicher an und senkte dann schnell den Blick auf seinen Handflächen in seinem Schoß.

„Marco, ich bin nicht sauer auf dich. Ich kann dich ja auch irgendwie verstehen. Ich habe direkt neben dir gelebt, ohne zu wissen, wer du wirklich bist. Ohnr dir etwas zu sagen.“ Marco starrte Marie bei diesen Worten ungläubig an, aber sie sprach schnell weiter, um nicht von ihm unterbrochen zu werden. „Ich bin am helllichten Tag von einem Hochhaus mehr oder weniger mitten in Hamburg gesprungen. Ich kann deine Wut sehr gut verstenen.“

Marco schüttelte den Kopf. „Ich bin dir doch gar nicht mehr wütend. Aber du hast nicht mit nir geredet.“ Er sah sie verzweifelt an. „Du hast mich praktisch ignoriert. Ich dachte, du wärst wütend auf mich, weil ich dich so angeschrien habe.“ Er hielt kurz inne. „Und was meintest du damit, as du sagtest, du wüsstest nicht, wer ich bin?“

Marie schwieg lange. „Mama hat mir das alles mit den Gestaltwandlern erklärt, obwohl sie selber keine ist. Sie hat es von meiner Mutter gewusst und dieses Wissen an mich weiter gegeben, damit ich es lernen konnte. Aber ich bin nie einem anderen Gestaltwandler begegnet. Ich wusste nie, wie sich ihre Bewusstsein anfühlen. Und als ich dann deines und das deiner Eltern gespürt habe, die so viel stärker waren als alle, denen ich je begegnet war, hatte ich Angst. Ich wusste ja nicht, ob es noch anderen Wesen gab.“

Nach dieser Erklärung schwiegen sie beide lange. Irgendwann erhob sich Marco und streckte den Arm nach Marie aus.

„Du meintest doch, du wärst noch nie am Tag geflogen. Ich finde heute ist der perfekte Tag für das erste Mal“, meinte er. „Ich bin dir nicht mehr böse. Das war ich schon an dem Abend nicht mehr.“

Marie ergriff Marcos Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Und dann verwandelte sie sich zum ersten mal in ihrem Leben wirklich richtig am helllichten Tag. Nach der Wandlung saß sie noch kurz im Gras und genoss die Sonne auf ihren Federn, dann folgte sie Marco hinauf in den Himmel.

Es kostete sie einige Anstrengungen, vom Boden aus zu starten. Nach dem sie es so lange nicht mehr gemacht hatte, erinnerten ihre Bemühungen in gewisser Weise an ihre ersten Flugversuche damals im Wald.

Aber kaum war sie in der Luft, spürte sie den Wind unter ihren Flügeln, der sie ganz automatisch hoch hob. Sie genoss die frische Seeluft und die warme Sonne. Irgendwo schrie ein Vogel. Marco. Er kreiste ein Stück über Marie.

Als sie zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter wieder die natürliche Mauer um ihr Bewusstsein fallen ließ und Marco ihre Glücksgefühle sandte, fühlte Marie sich wirklich frei. Marco erwiderte die Gefühle.

Wäre Marie ein Mensch, hätte sie jetzt glücklich gelacht. Aber sie war ein Vogel. Ein Weißkopfseeadler. Also schrie sie ihre Freude hinaus.

Doch plötzlich entdeckte sie unter sich ein paar Spaziergänger. Sorge überkam sie auf der Stelle. Hier gab es doch eigentlich keine Adler wie sie, oder? Was würden diese Menschen wohl denken? Sie sahen schon so komisch zu ihen hoch.

Verzweifelt versuchte Marie, Marco auf die Fußgänger aufmerksam zu machen, wusste aber nicht wie.

Wandler verständigen sich in ihrer Tiergestalt unter einander, in dem sie sich zum Beispiel Gefühle oder Bilder schicken, ertönte da plötzlich die beruhigende Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf.

Sofort versuchte Marie es in die Tat umzusetzen. Sie sandte ein Bild der Fußgänger unter ihnen und ihre Sorge an Marco. Fast sofort spürte sie ein beruhigendes Gefühl der Normalität seiner Seits. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Bild von drei Seeadlern auf, die über der Küste kreisten.

Flogen er und seine Eltern hier etwa öftern? Wollte er ihr das damit sagen?

Marie warf noch einen Blick zu den Menschen unten auf der Erde. Sie gingen weiter und achteten inzwischen nicht mehr auf die zwei Adler. Vielleicht war es ja normal an diesem Küstenabschnitt, dass hier gelegentlich Adler kreisten.

Mit einem innerlichen Seufzer versuchte Marie die Sorge zu unterdrücken und stieg noch weiter hin den Himmel hinauf. Marco folgte ihr in weiten Kreisen und als sie schließlich hoch über dem Meer waren, legte Marie einfach die Flügel an und ließ sich fallen.

Ach, wie sehr hatte sie dieses Gefühl des freien Falls in ihrem Jahr in Hamburg doch vermisst. Und mit diesem berauschenden Gefühl des Fallens verließ sie auch der letzte Rest Sorge und Bedrücken.

Jetzt war sie wirklich frei. Sie konnte am Tag fliegen, musste nicht befürchten, jeden Moment von irgendwelchen menschen entdeckt und gejagt zu werden. Hier, an der Küste bei Hamburg konnte sie endlich ohne Angst fliegen. Und dafür war sie Marco unendlich dankbar.

Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie Marco in diesen zwei Wochen wirklich vermisst hatte. Erst jetzt, wo sie gemeinsam durch die Lüfte glitten, wurde ihr bewusst, dass Marco ein unersetzlicher Bestandteil ihres Lebens geworden war. Ohne ihn würde etwas fehlen. Etwas sehr großes.

Die Freiheit.

Eifersucht

Sie flogen fast zwei Stunden. Marco konnte Verenas Freude über diese Zeit fühlen und als sie schließlich irgendwann landeten und sich zurück verwandelten, umarmte sie ihn.

„Danke“, flüsterte sie ihm leise in Ohr und ein warmes Gefühl durchströmte Marco. Er erwiderte die Umarmung. Froh, dass sie wirder miteinander redeten. Den ganzen Weg zum Auto und auf der Rückfahrt schwiegen sie, aber es war ein angenehmes Schweigen. Sie viel schöner, als auf dem Hinweg, wo Marco verzweifelt versucht hatte, ein vernünftiges Gespräch zu starten, sich dann aber doch nicht getraut hatte.

„Wir müssen das unbedingt so bald wie möglich wiederholen“, erklärte Verena schließlich irgendwann und sah Marco mit leuchtenden Augen an. Sie waren noch viel schöner, wenn sie vor Freude und Glück strahlten, stellte Marco mit einem Lächeln fest.

„Meinst du, wir können das jedes Wochenende machen? Es ist so herrlich, dort über dem Meer zu schweben und zu wissen, dass man frei ist. Ohne die Angst zu fliegen, jeden Moment gejagt zu werden, ist so viel schöner und befreiender.“

Marco lächelte. „Mal sehen. Ich bezweifle, dass es jedes Wochenende gehen wird, aber du bist ja bald achtzehn. Dann kannst du auch mal alleine raus fahren.“ Er hielt inne. „Hast du eigentlich einen Führerschein?“

Verena nickte. „Ja, aber ich bin nicht mehr gefahren, seit mein Vater tot ist, weil er der einzige war, den ich als Beifahrer angegeben hatte. Würdest du mir denn dann dein Auto leihen, damit ich überhaupt an die Küste komme?“ Sie sah ihn fragend an.

„Mal sehen“, erwiderte Marco und grinste. „Je nach dem, wie gut du mich von deinen Fahrkünsten überzeugen kannst.“

Danach schwiegen sie wieder, bis sie zuhause waren. Dort ging Verena sofort in die Wohnung, während Marco noch schnell hoch zu seinen Eltern lief, um Chilli abzuholen. Der Rottweiler war inzwischen groß geworden. Als Welpen konnte man den einjährigen Hund nicht mehr bezeichnen.

„Sind Jakob und Sofia noch in der Uni?“ Fragend sah Verena zu Marco, als dieser schließlich die Wohnung betrat, während sie gleichzeitig Chilli begrüßte.

„Keine Ahnung, wo die zwei sich versteckt haben.“ Kurz suchte Marco die Wohnung nach ihren Bewusstsein ab, aber sie war leer. „Aber wir können von mir aus Essen kochen. Ich habe einen Bärenhunger und die zwei bestimmt auch, wenn sie nach hause kommen.“

Verena nickte zustimmend. „Hast du was bestimmtes im Sinn?“ Marco verneinte und Verena dachte kurz nach. „Okay, wie wäre es dann mit Chili con Carne?“ Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht, als der Hund den Kopf hob und sie aufmerksam ansah. Auch Marco musste grinsen.

„Hund mit Fleisch? Du willst Chinesisch essen?“

„Was?“ Verena lachte. „Nein, ich wollte Chili con Carne essen. Das ganz normale. Ohne Hund.“

„Na gut, dann lass uns mal anfangen.“

Mit einem Grinsen im Gesicht betraten die beiden die Küche und fingen an, das Essen vorzubereiten. Wie immer stolperten sie dabei über Chilli, der es einfach nicht lassen konnte, mitten in der Küche im Weg herumzustehen.

 

Jakob und Sofia kündigten sich etwa eine halbe Stunde später erst in den Köpfen der anderen beiden im Treppenhaus an, dann mit lautem Lachen auch in den Ohren an der Wohnungstür. Die Tür wurde aufgeschlossen und Chilli riss sich für einen Moment von der Faszination der beiden Köche ab, um die Faszination zweier überdrehter Studenten zu entdecken.

Er folgte ihnen mit großen Augen in die Küche – Verena hatte es grade geschafft, ihn aus der Küche zu verbannen – wo sein Blick zwischen Jakob und Sofia und Verena und Marco hin und her flog.

„Das riecht super hier“, erklärte Jakob. „Was wird das?“

„Chili con Carne“, erwiderte Verena und zog eine Augenbraue hoch, als sie zu Jakob hoch sah, der immer noch grinste. „Was genau habt ihr gemacht?“, fragte sie schließlich vorsichtig.

„Wir“, fing Jakob gewichtig an, „waren auf einer Geburtstagsfeier. Marco, du hast echt was verpasst.“

„Ja, ich werde es mir das nächste ma zwei mal überlegen, ob ich einen Tag mit zwei Nervensägen weniger einem Tag mit zwanzig Nervensägen mehr wirklich vorziehen will.“ Verena warf ihm einen fragenden Blick zu, aber Marco schüttelte bloß den Kopf und gab ihr zu verstehen, dass er ihr später erklären würde, was es damit auf sich hatte.

„Das Essen ist übrigens gleich fertig“, fügte er stattdessen hinzu. „Ich hoffe ihr habt Hunger.“

 

Und wieder war da dieses Gefühl. Es hatte schon vor geraumer Zeit angefangen. Immer wenn Verena die Wohnung betrat, breitete sich ein warmes Gefühl in Marcos Bauch aus. Er freute sich jedes Mal sie zu sehen. Oder auch nur ihr Bewusstsein zu spüren. Es war einfach schön, sie in der Nähe zu wissen.

Aber heute hielt das Gefühl nicht lange an. Denn mit Verena hatte auch jemand anders die Wohnung betreten. Marco kannte die Person nicht.

Chilli hatte sich aus dem Zimmer gestohlen und winselte im Flur. Vermutlich vor Freude. Fremde machten ihm nämlich schon lange keine Angst mehr.

Marco erhob sich, um nach dem Hund zu sehen. Es konnte ja schließlich sein, dass der Besuch keine Hunde mochte oder so. In der Zimmertür blieb er wieder stehen. Neben Verena stand ein Junge. Er war in etwa so groß wie Marco, hatte braune Haare und braune Augen. Sein Aussehen bezeichnete man wohl als Durchschnittlich. Durchschnittlich, aber trotzdem Aufmerksamkeit erregend. Er hatte bestimmt viele Verehrerinnen.

„Ach, hey Marco.“ Verena lächelte und kam zu ihm herüber, um ihn zur Begrüßung zu umarmen. „Das ist David, erinnerst du dich?“ Marco nickte leicht und lächelte David schwach zu. Das war also David. Der, von dem Verena immer so viel erzählte.

„Hi, nett Sie kennen zu lernen.“ David lächelte ebenfalls freundlich und kam herüber, um Marco die Hand zu geben. „Verena hat schon viel von Ihnen erzählt.“

Marco zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Hatte sie das?

„Also erstens“, begann er, „darfst du mich ruhig duzen. So alt bin ich dann doch wieder nicht. Und außerdem, was soll Verena denn bitte groß erzählt haben? Ich bin doch nur ihr Mitbewohner.“

David lächelte erneut. „Och na ja, zum Beispiel, dass du ein super Koch sein sollst.“

Das brachte ein echtes Lächeln auf Marcos Gesicht. „So so, bin ich das?“

„Marco, bitte.“ Verena sah ihn streng an und wandte sich dann an David. „Wollen wir in mein Zimmer gehen? Je eher wir anfangen, desto eher sind wir fertig.“ David nickte und folgte ihr dann ins Zimmer. Seufzend drehte auch Marco sich um und schloss die Tür. Chilli war ausnahmsweise bei ihm geblieben, obwohl Verena da war.

 

Während der nächsten Stunde versuchte Marco verzweifelt seine Aufgaben für die Uni zu erledigen, aber Verenas und Davids Bewusstsein im Zimmer neben an lenkten ihn ab. Irgendwann gab er es dann auf, weiter zu arbeiten. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab und hingen seltsamen Dingen nach.

Ein Blick auf die Uhr verriet dem Studenten, dass es inzwischen fast Zeit zum Abendessen war. Also ließ er die Aufgaben Aufgaben sein und überlegte stattdessen, was er zum Essen machen konnte.

Auf dem Weg zur Küche schlug er einen kleinen Umweg zu Verenas Zimmer ein und klopfte. Normalerweise gab sie ihm über die Gedanken zu verstehen, dass er rein kommen konnte, aber da David heute da war, klopfte Marco lieber an.

Als er dann kurz darauf den Kopf durch den Türspalt streckte, sah er Verena und David vor ihrem Laptop sitzen und an einer Präsentation arbeiten.

„Hey, ich wollte nur kurz fragen, ob du zum Abendessen bleibst, David“, erklärte Marco und lächelte entschuldigend. Er wusste, dass Verena nicht gerne gestört wurde, wenn sie grade Hausaufgaben machte.

David warf Verena einen kurzen Blick zu und nickte dann. „Ja, warum nicht?“, stimmte er zu. „Was gibt’s denn?“

Marco lächelte. „Lass dich überraschen. Aber keine Angst, bisher hat es jeder gegessen. Und die meisten haben es geliebt.“ Er zwinkerte Verena zu. Sie wusste, was er vor hatte. „Ach, macht es euch was aus, Chilli zu nehmen? Er nervt in der Küche nur und ich will ihn nicht in mein Zimmer sperren.“

Verena nickte und erleichtert schob Marco den Rottweiler ins Zimmer. Der Hund hasste es, alleine in einem Zimmer eingesperrt zu sein und fing dann immer an, faxen zu machen. Und so lange Verena und David da waren, würde Chilli vermutlich sowieso nur auf dem Bett liegen und schlafen.

 

Marco machte Lasagne. Die hatte bisher wirklich jedem geschmeckt. Schon kurz nach dem er angefangen hatte, das Essen zu machen, kam Jakob in die Küche und warf einen neugierigen Blick über Marcos Schulter.

„Hmm, das riecht super gut.“ Er grinste. „Wir das wieder eine deiner berühmt, berüchtigten Lasagnen?“ Marco nickte nur und scheuchte seinen besten Freund dann wieder aus der Küche. Da er genau wusste, dass Jakob nicht helfen würde, sollte er gefälligst auch nicht im Weg rumstehen.

Jakob murrte zwar kurz, aber er kannte die Regeln, also wieder sprach er nicht, als Marco ihn aus der Küche schob.

Verena und David erschienen in genau dem Moment, als die Lasagne fertig war. Marco zog eine Augenbraue hoch, doch sie grinste nur. Sie wusste inzwischen fast auswendig, wie lange welches Gericht brauchte, um fertig zu werden.

Kurz nach den beiden Schülern tauchten auch Sofia und Jakob auf. Letzterer darauf bedacht, die Küche nicht zu betreten, wenn es noch etwas zu tun gab.

„Und wieder hat der große Meisterkoch Marco Hoffmann zu geschlagen“, erklärte Sofia grinsend, nach dem sie einen Blick auf das Essen geworfen hatte. „Wie kommen wir zu der Ehre, heute Lasagne essen zu dürfen?“

„Na ja, wenn Verena schon einen Freund mit bringt, soll er sich auch wohl fühlen“, meinte Marco schulterzuckend, aber innerlich wand er sich bei dem Wort Freund. Auch wenn er wusste, dass die zwei wirklich nur Freunde waren und da nicht mehr war, spürte er doch einen Stich in der Brust. Es war einfach die Art, wie sie David ansah. Mit diesem Leuchten in ihren wundervollen bernsteinfarbenen Augen. Wieder einmal stellte Marco fest, dass Verena wunderschön war.

Eigentlich sollte er froh sein, dass sie nach dem Tod ihres Vaters wieder so lachen konnte. Er sollte sich für sie freuen, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihre Augen zum Leuchten bringen konnte. Marco wusste das. Er sollte sich freuen und nicht hoffen, dass David endlich verschwand.

Während Marco sich in Gedanken selbst eine Standpauke hielt, verteilte er das Essen auf die Teller und unterhielt sich fröhlich mit den anderen vier über belanglose Dinge. Was war bloß los mit ihm? Normalerweise freute er sich doch wirklich, wenn Verena Freunde mit nach hause brachte. Das war doch nicht mehr normal, oder?

„Uff, ich bin satt“, erklärte Verena schließlich irgendwann zufrieden. „Das Essen war wie immer super lecker, Marco.“ Sie grinste zu ihm herüber und erhob sich dann, als sie sah, dass David ebenfalls fertig war.

„Wir gehen dann mal wieder. Das Referat ist noch nicht ganz fertig und ich würde gerne noch ein bisschen was davon schaffen, bevor David los muss.“ Ihr Schulkamerad nickte zustimmend und erhob sich ebenfalls.

„Ja, ich kann Verena nur zustimmen. Das Essen war wirklich hervorragend. Vielen Dank, dass ich mit essen durfte.“

„Ach was, das ist doch selbstverständlich. Wir wollen doch nicht, dass ihr da in eurem Zimmer verhungert und deswegen ein schlechtes Referat produziert“, widersprach Marco und grinste David freundlich an. „Worum geht es in eurem Referat überhaupt?“

Verena grinste ebenfalls. „Physik. Wellen und sowas.“

Marco nickte wissen. „Ein anstrengendes Thema. Kommt ihr gut voran?“

„Ja, alles super. Und keine Angst, wenn wir Probleme haben, wärst du die erste Person, zu der wir kommen würden.“

Marco nickte lächelnd und Verena und David verließen die Küche. Marco erhob sich. „Na gut, ich wasche dann mal ab und räume die Küche zu Ende auf. Habt ihr Lust zu helfen?“

Jakob und Sofia verschwanden sofort mit einer gemurmelten Entschuldigung auf der Küche und Marco schüttelte grinsend den Kopf. Die beiden waren eingefleischte Faulpelze. Aber warum sollte man sie denn davon abhalten „Arbeit“ für die Uni zu machen?

Gespräche unter Freunden

Marie war verzweifelt. Marco behandelte sie wie eine kleine Schwester. Aber ein großer Bruder reichte ihr eigentlich voll und ganz. Sie wollte nicht einfach nur mit ihrem befreundet sein. Für sie war er so viel mehr als bloß ein Kumpel oder großer Bruder.

Sie waren, wenn man es so sehen wollte, von der gleichen Rasse. Sie waren beide Gestaltwandler. Und sie mocht ihr wirklich gerne. Vielleicht so gar mehr als nur das.

Aber hatte sie wirklich geglaubt, dass die Tatsache, dass sie ebenfalls ein Adler war, etwas ändern würde? Wieso sollte es denn auch?, erklärte sie sich selbst. Sie war doch grade mal siebzehn, fast achtzehn. Marco war schon einundzwanzig. Als ob er sich da für sie interessieren würde.

Sie seufzte schwer. Sie sollte sich lieber auf das Referat konzentrieren. Dass David jetzt auch noch anfing zu fragen, konnte sie nicht gebrauchen. Und außerdem waren sie ja schon fast fertig. Es fehlte im Prinzip nur noch der letzte Schliff.

„Wollen wir den Rest wann anders machen?“ David warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Wir sind doch praktisch schon fertig. Ich kann zuhause noch ein bisschen dran arbeiten und beim nächsten Treffen können wir das Ganze dann überarbeiten.“

Marie nickte langsam. „Ja, hört sich gut an.“ Schnell speicherte sie das Dokument, bevor wie es sich noch mal anders überlegte. Sie wollte es lieber an zwei Tagen machen, als jetzt nur noch Mist zu produzieren. „Willst du noch ein bisschen bleiben, oder musst du los?“, fragte sie dann, als sie ihre Physik-Sachen zusammen gesucht hatten.

„Von mir aus kann ich noch ein bisschen bleiben.“ David lächelte. „Wenn das für dich in Ordnung ist.“

„Klar, kein Problem. Sonst hätte ich es doch nicht vorgeschlagen.“ Marie erwiderte das Lächeln. Davids braune Augen leuchteten warm. Braun. Nicht grün, wie Marcos. Sie hatten keine tanzenden goldenen Pünktchen.

Innerlich seufzte sie und versuchte ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Warum verglich sie die zwei überhaupt? David war schließlich nur ein Freund. Sie wollte nichts von ihm und er wollte nichts von ihr. Eigentlich.

„Was ist?“ Ohne es zu bemerkten, hatte Marie angefangen zu grinsen. David sah sie forschend an. „Warum grinst du so?“

„Ach nichts.“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich hab nur grade über die Absurdität meiner Gedanken nach gedacht.“

Langsam nickte David. „Macht Sinn. Was waren das denn für absurde Gedanken, dass du über sie grinsen musstest?“

„Nichts wichtiges.“ Sie winkte ab. „Ist egal.“

Die nächste Stunde unterhielten sich die beiden über alles mögliche. Die Schule, die Lehrer, die Mitschüler, welcher Junge süß war und welches Mädchen hübsch aussah. Die Vielfalt der Themen war unglaublich. Bis jetzt hatte Marie es nur mit ihrer besten Freundin in Hannover geschafft, so oft das Thema zu wechseln. Und vor allem so zusammenhangslos. Sie hatte gar nicht gewusst, dass so was auch mit einem Jungen klappen konnte.

Irgendwann musste David dann los, um den Bus zu bekommen. Es war schon halb neun. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen war.

Marie brachte David an die Tür, wo sie noch kurz stehen blieben.

„Wollen wir morgen gleich weiter arbeiten? Wäre doch gut, wenn wir das Referat noch dieses Wochenende fertig bekommen würden. Und ein Samstag ist dafür doch perfekt, oder?“ Fragend sah Marie zu David hoch. Der schüttelte bedauernd den Kopf.

„Sorry, morgen geht gar nicht. Ich habe meiner kleinen Schwester versprochen, mit ihr ins Kino zu gehen.“

„Was guckt ihr denn?“ Neugier stahl sich bei Marie ein. „Vielleicht interessiert mich der Film ja und ich komme mit.“

Epic – Verbotenes Königreich oder so heißt der.“ David zuckte mit den Achseln. „Irgendwas mit einer Miniaturwelt im Garten oder so. Keine Ahnung, ich hatte noch nicht wirklich Zeit, mir den Trailer anzugucken.“

Marie grinste. „Oh, ihr wollt Epic gucken? Ich glaube, da komme ich mit. Hast du was dagegen, wenn ich Sofia mitbringe? Wir wollten den Film nämlich sowieso noch gucken. Und je mehr Leute dabei sind, desto besser. Dann macht das viel mehr Spaß.“

Nun musste auch David lächeln. „Von mir aus. Wir gehen in die vierzehn Uhr Vorstellung vom Cinestar im Einkaufzentrum. Ich glaube, Kathie wird begeistert sein. Sie findest sowieso, dass sie viel zu wenige meiner Freunde kennt. Ich hoffe, ihr könnt den Film dann trotz der kleinen Nervensäge genießen.“

„Bestimmt.“ Marie grinste und zufällig fiel ihr Blick auf die Uhr. „Du solltes los, sonst verpasst du den Bus.“ Sie um armte David zum Abschied noch und schloss dann die Tür hinter ihm. Dann wandte sie sich leise summend Sofias Zimmer zu. Ohne anzuklopfen riss sie die Tür auf.

„Rate mal, wer morgen zu Epic ins Kino geht.“ Sofia sah sie einen Moment geschockt an, dann begriff sie, was Marie grade gesagt hatte und die Schülerin konnte den Neid in den Augen ihrer Mitbewohnerin aufblitzen sehen.

„Er hat dich ins Kino eingeladen?“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Ich wusste gar nicht, dass da was zwischen euch läuft.“

Kopfschüttelnd schloss Marie die Tür hinter sich und ließ sich auf Sofias Bett fallen. „Nein, hat er nicht. Er geht morgen mit seiner kleinen Schwester ins Kino und ich habe spontan beschlossen, dass wir zwei die zwei begleiten werden.“

Wieder zog Sofia die Augenbrauen hoch, dann fing sie an zu grinsen. „Okay, das hört sich sogar nich besser an. Sei mir nicht böse“, fuhr sie schnell fort, „ich würde es dir gönnen, wenn ihr zwei zusammen wärt, aber ich würde es dir nie verzeihen, dass du mit ihm und nicht mit mir in Epic gegangen wärst.“

„Na vielen Dank auch.“ Empört sah Marie Sofia an, aber ihr Grinsen und das belustigte Funkeln in ihren Augen ließen auch Marie lachen. Trotzdem fuhr sie fort: „Du stellst also unsere Kinogänge über mein Liebesleben?“

„So ist es“, bestätigte Sofia und grinste nur noch mehr. „Es ist nun mal wichtig, wer mit mir in welchen Film geht. Das verstehst du doch, oder?“ Sie legte den Kopf schief und sah Marie nun aus großen Augen an. Diese konnte nur grinsend den Kopf schütteln.

„Sofia, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du unglaublich bist?“

„Unglaublich hübsch? Wolltest du das sagen?“ Der Schalk war in ihre Augen zurück gekehrt, nach dem er für den Hundeblick daraus verschwunden war. „Ja, das haben mir schon viele Männer gesagt. Allerdings war noch keiner dabei, der es wirklich ernst mit mir meinen könnte. Sie waren einfach alle von meinem guten Aussehen und meinem Charme verwirrt. Hätten sie meine anderen Seiten kennen gelernt …“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das hätte kein gutes Ende genommen. Bei keinem.“

„Ach, du willst also sagen, du hattest noch nie einen Freund?“ Erstaunt und belustigt zu gleich sah Marie die Studentin an. Diese lächelte.

„Doch, in der achten Klasse. Er war sitzen geblieben und neu in der Klasse. Er war süß. Selbstbewusst, aber nicht selbstverliebt. Er hat niemanden herumkommandiert, sondern alle respektiert.“ Ihr Lächeln wurde etwas breiter, als sie sich an die Zeit erinnerte. „Der perfekte Gentleman. Ich weiß gar nicht mehr, warum er überhaupt sitzen geblieben ist. Seine Noten waren super und er hat immer versucht den anderen zu helfen. Den Mädchen hat er die Tür aufgehalten.“ Neugierig sah Marie ihre Freundin an. „Und irgendwann hat er ausgerechnet mich gefragt, ob ich mit ihm ins Kino gehen möchte. Er hat Fahrkarte, Eintritt und Popcorn bezahlt. Danach haben wir uns öfter getroffen. Und irgendwann waren wir ein Paar. Die Mädchen haben mich darum beneidet, aber sie haben es auch respektiert.“

„Warum habt ihr euch dann getrennt? Weil du weggezogen bist?“ Marie konnte ihre Neugierde nicht unterdrücken. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt und wusste nicht, wie das war.

„Nein, er ist im Sommer vor der zehnten Klasse weggezogen. Wir schreiben uns immer noch manchmal, aber wir waren uns einig, dass eine Fernbeziehung nichts werden würde. Und ich bin auch nicht unbedingt traurig, dass wir nicht mehr zusammen sind. Es hätte vermutlich nicht für immer gereicht.“

Nachdenklich nickte Marie. „Ja, ist das nicht meistens so mit den Schullieben?“

Eine Weile schwiegen beide und hingen ihren Gedanken nach. Plötzlich musste Sofia wieder grinsen. „Okay, raus mit der Sprache: Was läuft da zwischen dir und David?“

Verdutzt sah Marie sie an. „Gar nichts. Wieso fragst du? Sollte da was laufen?“

„Ich weiß nicht.“ Sofia zuckte mit den Schultern. „Aber ich dachte nur, weil du immer erzählst, wie viel ihr zusammen unternehmt und wie toll er doch ist …“

Marie hob eine Augenbraue. „Also das letzte habe ich nie gesagt. Und zu dem anderen … soll ich etwa aufhören zu erzählen, was ich mit meinen Freunden unternehme?“

„Nein, natürlich nicht.“ Die Studentin schüttelte den Kopf. „Aber na ja, ich hab immer das Gefühl, dass du mit David besonders viel zusammen unternimmst.“

Marie lächelte. „Das liegt vielleicht daran, dass er mein bester Freund ist. Es ist doch nicht verboten, einen besten Freund zu haben, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste“, verneinte Sofia. „Und was ist mit Marco?“

Nun war Marie vollkommen verwirrt. „Wie kommst du jetzt auf Marco? Und warum überhaupt Marco?“

„Ihr habt doch auch so viel zusammen unternommen und so. Und bevor du jetzt wieder mit dem beste Freunde und so anfängst“, fuhr sie schnell fort, „möchte ich noch anmerken, dass er immer total seltsam guckt, wenn du am Tisch davon erzählst, was David und du wieder unternommen habt.“

Erstaunt hob Marie eine Augenbraue. „Tut er das?“ Sofia nickte bestimmt und ein Kribbeln breitete sich in Maries Bauch aus. „Und du meinst nicht, dass könnte von irgendwas anderem kommen? Der Uni zum Beispiel?“

„Ja, ganz sicher.“ Sofia sah ihre junge Freundin forschend an und diese versuchte ihre Freude über Maros scheinbares Interesse zu unterdrücken. Aber ein kleines Lächeln stahl sich trotz ihrer Bemühungen auf ihr Gesicht.

„Aha, da ist also doch was.“, stellte Sofia sofort fest und ließ Marie damit rot anlaufen. Sie grinste fröhlich. „Ich wusste doch, da gibt es jemanden.“ Sie nickte bestimmt. „War klar, dass es etweder David oder Marco ist.“

„Und wenn es so wäre? Meinst du, es könnte was werden?“ Unsicher sah Marie zu Sofia hinüber.

„Du meinst, weil es keine Schulliebe ist?“ Marie nickte. „Also, ich denke …“

Plötzlich spürte Marie Marcos Bewusstsein vor der Tür und brachte Sofia mit einer Handbewegung zum Schweigen. Diese sah ihre Freundin verwundert an und als Marco kurz darauf klopfte, wurden Sofias Augen nur noch verwirrter. Aber Marie wollte nicht, dass Marco etwas von dem Gespräch mitbekam.

Die Tür öffnete sich langsam und Marco steckte den Kopf durch den Spalt. Als er Marie ansah, lächelte er leicht.

„David ist schon weg?“, fragte er uns sah Marie weiter an. Diese nickte.

„Schon vor mindesten einer viertel Stunde losgegangen, wieso?“

„Hatte mich nur interessiert. Hast du morgen schon was vor?“ In Gedanken fügte er noch ein Bild der Steilküste hinzu. Marie lächelte traurig.

„Sorry, ich hab mich schon mit Sofia und David fürs Kino verabredet. Wir werden wohl in die vierzehn Uhr Vorstellung gehen. Ich danke, dass die Vorstellung bis siebzehn Uhr geht, dann ist es auch schon zu spät.“

Aus dem Augenwinkel sah Marie Sofias hochgezogene Augenbrauen, aber sie vermied es, ihre Freundin direkt anzusehen.

„Okay, schade.“ Marco nickte langsam und verließ dann wieder das Zimmer. Stur starrte Marie auf die Tür, um Sofias Blick nicht begegnen zu müssen. Sie spürte, dass Sofia sie immer noch an sa. Schließlich räusperte die Studentin sich.

„Du ziehst einen Kinobesuch mit David einem netten Tag mit Marco vor?“ Sie klang zu Recht vollkommen ungläubig.“

„Nein, ich ziehe einen Kinobesuch mit meiner besten Freundin Marco vor“, sagte Marie leise. Das klang auch nicht viel besser, was ihr auch Sofias ungläubiges Schnauben sagte. Sie seufzte leise. „Jetzt ist es zu spät, oder?“

Sofia zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht kannst du ihn noch davon überzeugen, dass du doch mit ihm gehst. Er ist da immer etwas seltsam und will nicht, dass Menschen ihre Pläne irgendwie nach ihm richten und für ihn eine andere Verabredung absagen.“

Marie nickte. „Ja, das kenne ich.“

Plötzlich fing Sofia an zu grinsen. „Also ich für meinen Teil hätte ja auch nichts dagegen, morgen was für die Uni zu machen. Und ich denke, David wird es auch überleben, wenn er mit seiner Schwester, wie ursprünglich geplant, alleine ins Kino geht.“ Sie zwinkerte Marie zu. „Du siehst also, es steht einem Tag mit Marco nichts mehr im Weg.“

Erleichterung durchströmte Marie. „Sofia, du bist ein Engel, weißt du das?“

„Also, so konkret hat mir das noch nie jemand gesagt, aber ich bedanke mich natürlich für das Kompliment und fühle mich vollkommen geschmeichelt. Und jetzt los, rette dir deinen Tag mit meinem idiotischen Cousin.“

Grinsend erhob marie sich vom Bett und umarmte Sofia dankbar. Dann atmete sie noch einmal tief durch. Auf in die Schlacht, erklärte sie sich und verließ das Zimmer. Marco war in seinem Zimmer, das spürte sie. Hoffentlich ging das gut …

Gedankengänge

Fliegen.

Der Traum eines jeden Kindes. Und Marco durfte ihn sogar mit Verena teilen. Die Fahrt zur Küste verlief in einträchtigem Schweigen mit leiser Hintergrundmusik aus dem Radio. Vom Parkplatz aus folgten sie dem gewohnten Weg zu der Kuhle. Dort lächelte Verena Marco noch kurz zu, bevor sie sich schnell verwandelte und in die Luft erhob. Marco folgte ihrem Beispiel und gemeinsam eroberten sie die Lüfte.

Wie letzte Woche waren auch jetzt wieder Fußgänger unterwegs, aber diesmal ließ Verena sich nicht von ihnen beunruhigen. Marco hatte ihr das letzte Mal, als sie wieder Menschen gewesen waren, erklärt, dass die Fußgänger es gewohnt waren, wenn am Himmel Adler auftauchten.

Entspannt ließen die beiden sich von den Winden tragen und genossen die warme Junisonne auf den Federn. Vergnügt und mit einem warmen Gefühl in der Bauchgegend beobachtete Marco Marie, wie sie sich von dem Meerwind hoch hinauf tragen und dann fallen ließ. Ein Freundenschrei entschlüpfte ihrer Kehle und wäre Marco ein Mensch, hätte er gelächelt.

Es war schön, dass Verena doch noch Zeit gefunden hatte, fliegen zu gehen. Auch wenn Marco ihr nicht so ganz glaubte, dass David plötzlich abgesagt hatte. Er vermutete eher, dass sie es sich aus irgendeinem Grund anders überlegt und David dann angesagt hatte. Sofia war daran vermutlich nicht ganz unschuldig.

Aber Marco war nicht böse darum. Eigentlich war es ihm sogar ganz recht, denn das bewies doch, dass sie ihn David vorzog. Oder lag es nur am fliegen?

Ach, das war doch zum Mäusemelken, stellte Marco fest. Woher sollte er denn nun wissen, ob sie ihn mochte oder nicht, wenn er doch ihre einzige Verbindung zur Küste war? Da war ja Mäusemelken fast schon einfacher.

Vielleicht sollte er einfach mal mit Sofia reden. Die wusste garantiert, was Verena für ihn empfand. So oft, wie die beiden zusammen in ihren Zimmern saßen und redeten, hatten sie garantiert auch schon über ihn geredet.

Plötzlich spürte Marco eine leichte Berührung in seinem Bewusstsein. Sofort schreckte er aus den Gedanken hoch und sah sich wachsam um. Belustigung. Freude. Ein winziger Hauch von Liebe, der aber plötzlich abbrach, als Verena merkte, dass Marco ihn ebenfalls gespürt hatte.

Erleichterung durchströmte ihn. Es gab also noch Hoffnung.

Und wieder spürte er ein warmes Gefühl in der Magengegend. Diesmal begleitet von einem leichten Kribbeln. Himmel, das war ja fast so schlimm, wie in einem dieser Liebesfilme, stellte Marco fest und verdrehte die Augen. Fehlte nur noch, dass er in ihrer Gegenwart rot wurde und keinen vernünftigen Satz mehr zustande brachte.

Als Verena ihn mit einer leichten Berührung des Bewusstseins erneut aus den Gedanken riss, sah Marco sich nach ihr um. Ihr Bewusstsein war schräg über ihm und dort entdeckte er sie auch, als er den Himmel über sich nach ihr absuchte.

Marco ließ sich von den Winden zu ihr hoch tragen und dann ließen sie sich gemeinsam fallen. Es war ein berauschendes Gefühl im freien Fall auf das Meer zu zu rasen. Marco spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern rauschte und seine menschliche Seite war hellwach und vollkommen überdreht. Der Vogel in ihm war ähnlich berauscht, aber seine Natur war an solche Sturzflüge gewöhnt. Vogel halt.

Wieder stieß Verena einen Freudenschrei aus und diesmal schloss Marco sich an. Ja, er liebte diese Tage am Meer wirklich. Die Sonne wärmte die Flügel, der Wind trug einen hoch über die Erde, …

Energisch stieß Verena Marcos Bewusstsein an und erschrocken sah Marco sich um. Das Wasser war plötzlich erschreckend nah und als Vogel war das nicht unbedingt die Art von Nähe, die man gerne pflegte. Und wenn der Flug im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fiel, war das auch nicht mehr so berauschend.

Sofort breitete Marco seine Flügel aus und spürte wie auf Bestellung den Ruck, der mit einer solchen Vollbremsung einher ging. Knapp über der Wasseroberfläche glitt Marco dahin. Die Federn an seinem Bauch machten Bekanntschaft mit einer Welle, aber näher wurde Marco Treffen mit dem Wasser glücklicher Weise nicht.

Mit ein paar Flügelschlägen erhob der Adler sich aus der Gefahrenzone, um nicht doch noch nähere Bekanntschaft mit einer Welle zu schließen und ließ sich vom Wind wieder über die Küste tragen.

Von Verena, die wieder über ihm schwebte, empfing Marco einen Schwall Erleichterung, der sie beide irgendwie überraschte. Sie hatte sich doch nicht etwa ernsthaft Sorgen um ihn gemacht? Der Gedanke ließ Marco innerlich wie einen kleinen Jungen grinsen. Es bestand eindeutig noch Hoffnun, dass Verena sich doch vielleicht für ihn interessierte.

Aber das Gespräch mit Sofia würde er trotzdem führen. Nur so zur Sicherheit. Man wollte sich ja schließlich nicht blamieren. Vor allem, wenn man mit besagter Person auch noch zusammen lebte und auch in absehbarer Zeit nicht ausziehen würde.

Da sprach er lieber mit Sofia und ließ einen ihrer endlosenVorträge über sich ergehen. Er wollte keine Kluft zwischen sich und Verena schaffen und ihre Freundschaft mit so etwas ruinieren. Dafür mochte er sie zu sehr.

Er wollte lieber zu sehen, wie sie mit einem anderen glücklich wurde, aber wenigstens noch mit ihm befreundet war, als dass sie sich nicht mehr richtig mit Marco unterhalten konnte, weil sie von seinen Gefühlen für sie wusste und sie nicht erwiderte.

Marco verdrehte die Augen. Das hier hatte eingentlich ein entspannter Nachmittag am Meer werden sollen. Ohne irgendwelche tiefsinnigen Gedanken über ihn, seine Freunde und sein Liebesleben. Innerlich schüttelte er den Kopf und hoffte, dass er damit die Gedanken vertreiben konnte. Er wollte doch einfach nur fliegen und mit Verena zusammen sein. Konnten diese nervigen Gehirnzellen das nicht einfach akzeptieren und wenigstens für ein paar Stunden Ruhe geben? Marco gönnte ihnen doch schließlich nicht jeden Tag ein paar freie Stunden.

 

Sie verbrachten fast den ganzen Tag am Meer. Als sie Hunger bekamen, hielten sie nach ein paar hübschen Fischen Ausschau und erst, als die Dämmerung schon einsetzte, kehrten sie zu ihrer menschlichen Gestalt und nach Hamburg zurück.

Sofia empfing die beiden mit besorgtem Blick, als sie mit Chilli, den sie bei Marcos Eltern gelassen hatte, wieder die Wohnung betraten. Sofort übertrug sich das Gefühl auch auf Marco.

„Ist irgendwas passiert?“ Schon fast ängstlich sah er seine Cousine an.

„Nein, es ist alles in bester Ordnung. Sofias Stimme klang kalt und Marco war erleichtert und verwirrt zu gleich. Es war alles in Ordnung, aber aus irgendeinem Grund hatte Sofia schlechte Laune.

„Und mit Jakob ist auch alles in Ordnung?“, schloss sich Verena Marcos besorgter Fragerei an.

„Was ist mit mir?“ Jakobs Stimme erklang leicht abwesend aus seinem Zimmer.

„Himmel, Herr Gott nochmal, darf man hier vielleicht auch noch mal zu Wort kommen?“, regte sich plötzlich Sofia auf und Verena und Marco sahen sie geschockt an. „Danke.“ Ihre Stimme war mehr als leicht gereizt. Marco und Verena wechselten einen besorgten Blick, ohne aber etwas zu sagen.

„Auf die Idee, Bescheid zu sagen, dass ihr so lange weg bleibt, seid ihr auch nicht gekommen, oder?“, wetterte die junge Frau weiter. „Ist euch eigentlich klar, dass ich mir Sorgen um euch gemacht habe?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und fixierte die Opfer ihrer Schimpftriade mit bohrendem Blick.

„Wo wart ihr überhaupt so lange? Ihr hattet ja nicht mal heute morgen die Güte, einen Zettel hin zu legen und zu erklären, wo ihr seid.“

Marco öffnete den Mund, um zu erklären, wo sie den Tag verbracht hatten, doch Sofia ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich hoffe, euch ist bewusst, dass ich fast die Polizei gerufen hätte, weil ich nicht wusste wo ihr wart und ihr nicht an eure Handys gegangen seid. Ich kann nur für euch hoffen, dass ihr eine vernünftige Erklärung habt.“

Ihr Blick wanderte zwischen Marco und Marie hin und her. Unsicher, ob er reden durfte, öffnete Marco erneut den Mund und holte tief Luft.

„Wir waren am Meer.“ Zu seinem Erstaunen gab Sofia sch mit dieser Erklärung zufrieden. Unheimlich. Erst motzte sie die beiden an, weil sie den ganzen Tag weg gewesen waren und dann nahm sie die Erklärung einfach so hon und wollte nicht wissen, warum sie sie nicht mitgenommen hatten.

Wirklich unheimlich. Solche extremen Stimmungsschwankungen hatte Marco bei ihr noch nie erlebt und er wollte sie auch nie wieder erleben. Ein Gefühl sagte ihm allerdings, dass da noch etwas war, aber er ließ die Sache erstmal auf sich beruhen. Er war müde und erschöpft und hatte keine Lust, jetzt noch irgendwelche tiefgründigen Gespräche oder Diskussionen mit seiner Cousine zu führen.

Dafür reichte seine Energie einfach nicht mehr aus.

 

Am Sonntag schlief Marco lange. Der lange Flug gestern und die letzte Woche hatten ihn verausgabt. Erst gegen elf Uhr waren schließlich die ersten Lebenszeichen von ihm zu sehen. Zu seinem Glück hatte Chilli klugerweise am Morgen entschieden ihn nicht zu wecken, sondern anderswo nach etwas zu fressen zu suchen. Andernfalls wäre Marco jetzt wohl recht ungenießbar.

In der Küche traf Marco auf Sofia, die dort grade eine Tasse frischen Tees genoss. Ein Glückstreffer, wie Marco fand. Und wenn sich ihre Laune wieder beruhigt hatte, konnte er vielleicht mit ihr über Verena reden. Denn dass Verena und Jakob nicht da waren, hatte Marco schon herausgefunden.

Er holte tief Luft und überlegte, wie er das Gespräch beginnen sollte, als er die Kaffeekanne auf dem Küchentisch entdeckte. Spontan änderte er seinen Plan für die nächsten Minuten und goss sich erstmal etwas von dem heißen Getränk ein. Nach dem ersten Schluck fühlte er sich schon viel gestärkter für das folgende Gespräch.

Langsam ließ er sich auf einen der Stühle gleiten und hielt Chilli davon ab, ihn über und über mit seinem Sabber zu bedecken. Der Hund hatte eindeutig zu viel Energie für einen Sonntagmorgen, stellte Marco stirnrunzelnd fest. War etwa noch niemand mit ihm raus gegangen? Egal, das musste noch zwei Minuten warten.

„Okay, was war da gestern Abend mit dir los?“, fragte er schließlich seine Cousine. Diese sah ihn fragend an. „Na ja, erst meckerst du uns an, weil wir so lange weg waren, ohne ein Lebenszeichen von uns zu geben und dann akzeptierst du den einfachen Satz, dass wir am Meer waren, ohne irgendwie an zu merken, dass wir dich ja hätten mitnehmen können, weil das Meer dein Lieblingsort ist und du solche Gelegenheiten eigentlich nie verstreichen lässt?“ Marco schüttelte den Kopf. „Das glaube ich dir nicht.“

Sofia seufzte und starrte für einen Moment in die Teetasse. „Ich hatte mir einfach Sorgen gemacht, weil ihr so lange weg wart und niemand wusste, wo ihr seid. Un weil es halt auch nicht so viele Orte gibt, wo ihr zwei zusammen hin könntet und so“, erklärte sie leise. „Und dass ich mich so einfach mit der Erklärung zufrieden gegeben hab, lag vielleicht daran, dass ich gehofft habe, dass der Tag euch irgendwas gebracht haben könnte.“ Nun sah sie ihren Cousin wieder an. Marco zog fragend eine Augenbraue hoch und sie seufzte erneut.

„Euch zwei muss man aber auch echt auf alles mit der Nase stoßen.“ Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Tee und sah Marco dann fest an. „Du bist an Marie interessiert. Versuch gar nicht erst es zu leugnen, ich weiß es.“ Also nickte Marco nur brav. Schon wieder diese Stimmungsschwankungen, da wollte er sie lieber nicht noch weiter reizen. Außerdem verlief das Gespräch genau in der Richtung, in der er es haben wollte.

„Gut.“ Auch Sofia nickte. Sie sah zufrieden aus. „Damit hätten wir schon mal den ersten Aspekt geklärt. Nummer zwei: Marie hat auch mehr oder weniger Interesse an dir geäußert.“

„Und was ist mit David?“, konnte Marco sich nicht verkneifen zu fragen. Das brachte ihm allerdings bloß einen wütenden Blick von Sofia ein. Wenn Blicke töten könnten, müsste Marco jetzt mindestens in die Notaufnahme. Wenn der Rettungswagen noch rechtzeitig kam.

„Glaubst du wirklich, sie würde einen Tag mit dir, einem Tag mit David vorziehen, wäre sie an ihm und nicht an dir interessiert?“ Sofia schüttelte den Kopf. „Du bist wirklich dümmer als ich dachte. Und dabei sind wir auch noch verwandt.“ Sie nahm einen neuen Schluck Tee. Marco folgte ihrem Beispiel mit seinem Kaffee.

„Okay, also. Du bsit an Marie interessiert und Marie an dir. Klar soweit?“ Marco nickte. Sie hörte sich an, als würde sie einem kleinen Kind etwas in Mathe oder so erklären. Und das musste sich Marco als Student anhören … Wie gut, dass die zwei alleine waren.

„Sehr gut. Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum ich ausnahmsweise einem Tag am Meer widerstehen konnte.“ Sie seufzte, bevor sie ihren Cousin neugierig und forschend ansah. „Und? Hat es was gebracht?“

Marco seufzte ebenfalls. „Nein. Hat es nicht.“ Sofia warf ihm einen zweiten bösen Blick zu, der in dieses Mal ganz sicher getötet hätte. Fast fühlte Marco sich wie ein kleines Kind, das seiner Mutter gestehen musste, ihre Lieblingsvase zerstört zu haben. Und Marco hatte Erfahrung mit solchen Situationen.

„Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie wirklich an mir interessiert ist. Und ich wollte nicht riskieren unsere Freundschaft damit zu ruinieren“, fügte Marco schnell hinzu, als sich ein dritter böser Blick ankündigte. Stattdessen nahm Sofia aber bloß ihre Teetasse in beide Hände und sah Marco über den Rand hinweg an. Nicht viel besser als der böse Blick, so viel stand fest.

„Hmm“, war ihr einziger Kommentar. Unsicher, was damit gemeint war, schwieg Marco und nutzte die Gelegenheit, um seinen Kaffee auszutrinken, bevor er kalt werden konnte. Ein paar Minuten saßen sie einfach nur schweigend da, dann ergriff Sofia wieder das Wort.

„Wenn du wirklich an ihr interessiert bist, geh mit ihr ins Kino. Oder essen. Oder beides. Macht irgendwas zusammen. Was Päärchen halt so machen. Aber wehe, ihr knutscht irgendwann nur noch miteinander rum. Wir anderen Mitbewohner wollen auch noch ein vernünftiges Leben führen können. Und außerdem ist sie noch unter achtzehn.“ Sie warf ihrem Cousin einen scharfen Blick zu. „Im Übrigen bezweifle ich, dass Jakob von so einem Ergebnis begeistert wäre.“

„Ja, Mama“, sagte Marco brav und grinste. „Sonst noch was? Sperrstunde vielleicht?“

„Och, wo du es grade ansprichst …“

„Sofia, bitte. Ich bin erwachsen. Ich werde sie schon nicht zu unmöglichek Zeiten wieder zurück bringen. Außerdem weiß ich doch gar nicht, ob sie meine Einladung überhaupt annimmt.“ Sofia hob zu einem Protest an, aber Marco flüchtete aus der Wohnung, Chilli im Schlepptau.

So leicht und doch so schwer. Wer hätte dasd gedacht.

Dem Himmel so nahe

Müde schloss Marie am Sonntagabend die Wohnung auf. Hinter ihr stand Jakob, der auch nicht viel wacher war als sie. Die Geschwister waren am Morgen früh aufgestanden und nach Hannover gefahren, um die Gräber ihrer Eltern zu besuchen. Die Fahrt war lang und anstrengend gewesen und Friedhöfe waren einfach kein Ort, an dem man gute Laune haben oder Kraft auftanken konnte.

Vor alle, wenn die verstorbene Person noch kein Jahr tot war.

Sofia und Marco waren in ihren Zimmern. In der Wohnung hing noch ein leichter Duft von Essen. Sie hatten Spagetti Bolognese gegessen. Ob Marco wohl daran gedacht hatte, für die anderen zwei mitzukochen?

Marie hörte ihren Magen leise knurren. Ja, das letzte Essen war schon eine Weile her. Irgendwann mittags in Hannover hatten sie sich etwas geholt.

Aber sie hatten Glück. In der Küche standen zwei Teller mit Essen. Schnell schnappte Marie sich einen Teller und stellte ihn in die Mikrowelle, um das Essen aufzuwärmen. Jakob ließ sich währenddessen erschöpft auf einen der Stühle fallen und starrte mit leerem Blick auf den Küchentisch.

Als der erste Teller fertig war, gab Marie ihrem Bruder die Protion, da es die größere war. Während sie auf ihr Essen wartete, goss sie sich ein Glas wasser ein und trank es sofort aus.

Von den Geräuschen angelockt, betrat Sofia die Küche. Kurz darauf kam auch Marco und mit ihm Chilli. Die zwei lächelten ihre Freunde aufmunternd an, sagten aber nichts. Die Stille, die schließlich herrschte, konnte wohl als gefräßiges Schweigen bezeichnet werden.

Jakob verschwand nach dem Essen sofort auf sein Zimmer und auch Sofia blieb nicht lange. Sie erzählte Marie von einem jungen Mann, den sie kennen gelernt hatte und schaffte es mit der Geschichte sogar, den Hauch eines Lächelns auf Maries Gesicht zu bringen. Zu mehr war die Schülerin allerdings nicht mehr im Stande.

Als Sofia weg war, schwiegen Marco und Marie lange. Sie war zu geschafft, um irgendetwas zu sagen und er schien auch nichts gegen das Schweigen zu haben. Irgendwann räusperte er sich leise.

„Du … Ich wollte morgen noch mal ans Meer. Das Wetter soll perfekt sein. Sonne und ein etwas kräftigerer Wind. Hast du Lust mit zu kommen?“

Marie seufzte. „Ich würde liebend gerne. Ich glaube, ein Nachmittag am Meer ist genau das, was ich morgen brauchen könnte. Wann kommst du aus der Uni?“

„So gegen drei. Dann hast du auch Schluss, oder?“ Marie nickte müde. „Okay, dann würde ich sagen, fahren wir gleich danach los.“

„Was ist mit Chilli?“

„Der ist vormittags sowieso bei meinen Eltern. Ich sag ihnen einfach Bescheid, dass wir noch mal weg müssen.“

 

Der Wetterbericht hatte nicht gelogen. Die Sonne schien warm vom Himmel und es wehte ein recht kräftiger Wind. Kaum war Marie aus dem Auto gestiegen, breitete sie die Arme aus, drehte sich mit dem Gesicht zur Sonne und schloss die Augen.

Perfekt.

„Ich hab Kochen dabei. Wollen wir davon erstmal was essen?“ Marco hielt eine Dose mit etwas Erdbeer-Ananas-Kuchen hoch. Marie grinste. Sie hatte inzwischen die ein oder andere Kostprobe des Kuchens gehabt und ihn lieben gelernt.

„Klar, warum nicht?“

In „ihrer“ Kuhle setzten sie sich ins Gras und Marie genoss für einen Moment die Sonne auf ihrem Gesicht, bevor sie den Kuchen von Marco entgegen nahm und genüsslich hineinbiss. Das war genau das, was sie nach einem anstrengenden Schultag brauchte.

Sie seufzte. Ja, der Tag hatte gute Chancen noch perfekt zu werden. Sie hatte in der Schule zwei Noten bekommen. Mathe und Deutsch. Beides eins.

Das einzige, was diesen Tag wirklich perfekt machen würde, wäre, wenn das mit Marco und ihr doch noch was werden würde. Vielleicht war er ja grade deswegen heute hierher gekommen? Sonst ging er doch schließlich auch nicht unter der Woche Fliegen.

Als der Kuchen schließlich fast alle war, räusperte Marco sich. Er sah ein bisschen nervös aus, wie Marie fand. Sie zog eine Augenbraue hoch und versuchte, dabei nicht skeptisch zu gucken.

„Du, ähm“, begann Marco vorsichtig. „Du hast nicht zufällig Lust, am Wochenende ins Kino zu gehen? Wir könnten danach noch was Essen gehen oder so.“

Maries Herz schlug ihr plötzlich fast bis zum Hals. Konnte das wahr sein? Würde dieser Tag wirklich perfekt werden, nachdem der gestrige so traurig gewesen war?

„Meinst du das als Verabredung unter Freunden, oder als Date?“, fragte sie vorsichtig. Ihr Bauch kribbelte. Vor Aufregung, vor Freude, vor Glück. Tausend Schmetterlinge. Mindestens.

„Als Date“, erklärte Marco schließlich. Er sah sie unsicher an, ja fast schon schüchtern. Aber seine Sorge war vollkommen unnötig, denn diese zwei Worte zauberten ein Lächeln auf Maries Gesicht.

„Ja, ich würde gerne mit dir ins Kino gehen.“ Innerlich holte sie tief Luft und versuchte sich für den nächsten Satz Mut zu zu reden. „Unter einer Bedingung“, erklärte sie schließlich. Marco sah sie erstaunt, erschrocken und erleichtert zu gleich an. „Du nennst mich Marie und nicht Verena.“ Sie lächelte noch breiter. „Das ist sowieso schon längst überfällig.“

„Okay, Marie.“ Marco lächelte jetzt auch. Und in dieses Lächeln hatte alle Erleichterung, die er besaß, gelegt. Zumindest sah es so aus. „Dann also nächsten Samstag. Ich hole dich dann so gegen halb fünf ab.“

Marie schüttelte grinsend den Kopf. „Idiot“, murmelte sie liebevoll. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber und gab ihm einen leichten Kuss auf den Mund. „Und jetzt fliegen? Du musst nämlich noch an deinen Sturzflügen arbeiten. Die am Freitag waren ja wohl nicht ernst zu nehmen.“

 

Die ganze Woche über war Marie überdreht und unausstehlich. Sie konnte nicht still sitzen und erzählte allen ihren Freunden immer wieder, dass sie ein Date mit Marco hatte. Auch wenn die meisten es schon am Montagabend erfahren hatten.

Allen voran natürlich David und Sofia. Bei Jakob hatte sie erst gezögert und Sofia gefragt, wie er wohl reagieren würde, aber schließlich hatte sie ihren Mut zusammen genommen und war zu ihm gegangen.

Er hatte es erstaunlich cool hingenommen. Irgendwie glaubte Marie, dass er schon etwas geahnt und sich deshalb schon darauf eingestellt hatte. Auf jeden Fall schien er eher weniger Probleme damit zu haben, dass seine kleine Schwester mit seinem besten Freund zusammen war. Oder dass sie ein Date mit ihm hatte.

Vielleicht war er aber auch einfach froh, dass sie sich mit jemandem traf, den er kannte und von dem er wusste, dass er sie gut behandeln würde. Marie wusste es nicht.

 

Und dann war es Samstag. Marie war am Donnerstagabend mit Sofia ihren Kleiderschrank durch gegangen. Sie hatten entschieden, dass sie einen leichten Sommerrock und eine Bluse anziehen würde. Der Sommerrock war bunt geblümt und die Bluse war in einem zarten orange gehalten. Darutner zog sie ein weißes Top an, da die Bluse fast durchsichtig war.

Die vordersten Haare steckten sie hoch, während sie hinten in leichten Locken über ihre Schultern fielen. Hellgraue Sandalen mit einem leichten Absatz vervollständigten das Outfit.

Sofia half ihrer Freundin am Samstagnachmmittag die Haare zu machen. Dann trug sie ihr noch dezentes Make Up auf. Als sie mit allem fertig war, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk kritisch. Schließlich lächelte die Studentin und nickte zufrieden.

„Perfekt“, erklärte sie. „Ich denke, so kann ich dich gehen lassen.“ Gemeinsam verließen die jungen Frauen das Bad. Es war inzwischen viertel nach vier. Sofia sah Marie mit leuchtenden Augen an. „Du bist wunderschön, Marie. Vergiss das nicht. Und wenn Marco das nicht auch denkt, werde ich bis an mein Lebensende bestreiten mit ihm verwandt zu sein.“

Marie lächelte nervös und strich den Rock glatt. „Wo ist er eigentlich?“

„Er ist hoch zu seinen Eltern gegangen. Damit du dir im Bad alle Zeit der Welt lassen kannst, wie er es ausgedrückt hat.“ Hinter ihrer besten Freundin trat Jakob aus seinem Zimmer und musterte nun seinerseits seine Schwester kritisch. Schließlich nickte auch erh.

„Du siehst super aus, Marie.“ Er lächelte ihr zu. „Genieß den Tag. Und bring Marco nicht zu spät nach Hause.“ Er zwinkerte ihr zu und sie lächelte erneut nervös. Sie war aufgeregter, als vor ihrem ersten Schultag.

Und dann kam endlich die Erlösung. Marco schloss die Tür auf. Seine Haare waren an den Spitzen noch ein bisschen feucht vom Duschen. Er hatte ein T-Shirt und Shorts an. Sein Blick glitt lächelnd über Maries Gestalt und sie biss sich aufgeregt auf die Unterlippe.

„Wunderschön“, erklärte er schließlich. Er kam auf sie zu und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Können wir?“ Aufgeregt nickte Marie.

Marco nahm ihre Hand, lächelte Sofia und Jakob noch mal zu und dann verließen die beiden Gestaltwandler die Wohnung. Wie ein formvollendeter Gentleman hielt er Marie die Türen auf.

 

Der Film war super. Sie waren in Fast and Furious 6 gegangen. Marie liebte diese Reihe und der sechste Teil stand den anderen in nichts nach.

Nach dem Kino gingen sie noch in einem Restaurant essen. Während sie auf ihre Bestellungen warteten, unterhielten sie sich über den Film. Nicht zum ersten Mal stellte Marie dabei fest, dass Marco und sie einen ganz ähnlichen Geschmack hatten, was Filme und Schauspieler anging.

„Und zum Nachtisch noch ein Eis?“ Marco sah fragend zu Marie hinüber.

„Wenn du darauf noch eine halbe Stunde warten kannst. Im Moment bin ich so satt, dass nicht mal mehr Eis rein passt.“

„Okay.“ Er lächelte. „Dann warten wir noch ein bisschen. Hast du Lust, aufs Hochhaus zu gehen?“

 

„Ich liebe die Aussicht, die man von hier hat“, erklärte Marie, als sie das Dach erreicht hatten. Lächelnd drehte sie sich zu Marco um. „Erinnerst du dich noch an unser Gespräch, als wir das letzte Mal hier oben waren?“

„Ja, ich erinnere mich.“ Er lächelte ebenfalls. In seinem Blick lag ein Hauch von Traurigkeit. Dann trat er einen Schritt auf sie zu und als er kurz blinzelte, verschwand das Traurige aus seinem Gesicht. „Aber das ist vorbei. Es alles geklärt, oder?“ Noch ein Schritt.

„Es ist alles geklärt“, bestätigte Marie und kam ebenfalls einen Schritt auf ihn zu. Als sie direkt vor einander standen, legte sie ihm eine Hand um den Nacken, stellte sich auf die Zehnspitzen und küsste ihn. Er legte die Hände um ihre Hüften und erwiderte den Kuss. Die Schmetterlinge waren sofort wieder zur Stelle und spielten in Maries Bauch verrückt. Wie von selbst wanderte während dem Kuss auch Maries zweiten Hand zu seinem Nacken hinauf.

Irgendwann unterbrachen sie den Kuss. Sie umarmte Marco richtig und legte den Kopf an seine Schulter. Der Moment war einfach nur perfekt und sie wünschte, er würde sie enden.

„Ich glaube, ich liebe dich, Marie“, flüsterte Marco ihr ins Ohr und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

„Ich glaube, ich liebe dich auch, Marco“, antwortete Marie ebenfalls leise. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Sie wusste nicht, wie lange sie so da standen, aber die Sonne war schon kurz vor dem untergehen, als sie sich schließlich von einander lösten und sich an den Abstieg machten. Die Uhr im Auto sagte ihnen, dass es neun Uhr war. Die hatten sich die ganze Zeit leise unterhalten, aber jetzt im Auto herrschte ein wunderbares Schweigen.

 

Sofia hatte ihrer Freundin geschworen, sie würde nicht ins Bett gehen, bevor die beiden wieder da waren, aber als sie schließlich um kurz nach Mitternacht die Wohnung betraten, rührte sich nichts. Selbst Chilli machte sich nicht bemerktbar, sondern schlief in seinem Korb in Marcos Zimmer.

Die Zwei waren spontan noch ans Meer gefahren und hatten sich vom Wind in den Sonnenuntergang tragen lassen. Sie waren bestimmt zwei Stunden dort oben geblieben und hatten sich danach noch direkt an die Klippen gesetzt und den Geschäuschen der Nacht gelauscht. Die Wellen, die gegen die Felsen schlugen, der Wind, der durchs Gras rauschte und einmal hörten sie sogar eine Eule rufen.

Marie war vollends mit dem Leben zufrieden.

Natürlich hätte sie es besser gefunden, wenn ihre Eltern noch am Leben wären. Und natürlich würde sie es begrüßen, wenn ihre Erzeuger, denn mehr waren sie für sie nicht, sie nicht einfach zurück gelassen hätten.

Andererseits stellte sich ihr die Frage, ob sie jetzt auch mit Marco zusammen wäre, wenn sie nicht mit drei Jahren zur Waise geworden wäre und ihre Eltern nicht gestorben wöre. Klar, sie hätte Marco auf dem ein oder anderen Weg trotzdem kennen gelernt, aber hätte sie sich auch in ihn verliebt? Und hätte er sich in sie verliebt?

Wie man es auch drehte und wendete, momentan wollte Marie nichts an ihrem Leben ändern. Es hatte gute Chancen, perfekt zu werden.

Es wurde halb ein, bis Marie schließlich im Bett lag und selbst dann konnte sie nicht sofort einschlafen. In Gedanken ließ sie den Abend noch mal in Revue passieren. Der Film, das Essen, das Hochhaus, das Fliegen, das Meer.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief sie schließlich ein. Der Tag war wundervoll gewesen und ab jetzt würde es viele solcher Tage geben. Denn sagte man nicht immer, dass Adler sich nur einen Partner suchten und dem bis an ihr Lebensende treu blieben?

Sie war ein Adler.

Und sie hatte ihren Partner gefunden.

Marco.

Impressum

Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die beste Freundin, die es gibt Mit ihr kam die „Uridee“, aus der dann dieses Buch wurde

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