„Hey, mein Name ist Samuel Menke und ich bin meinen Eltern in den Osterferien aus Wolfsburg hier her gezogen. Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt, werde kurz vor den Sommerferien aber noch siebzehn.“ Groß, schlank, sportlich. Von der Optik her war Samuel auf jeden Fall nicht von schlechten Eltern.
„Und warum bist du dann erst in der zehnten Klasse?“ Frau Müller, die Mathe- und gleichzeitig Klassenlehrerin der 9C hatte diese Frage gestellt.
Der Neue fuhr sich durch seine kurzen, kastanienbraunen Haare. Mit einem Lächeln, das man sowohl als verlegen, als auch als überheblich deuten konnte, antwortete der Junge: „Ich wurde erst so spät eingeschult. Allerdings haben alle Lehrer an meiner alten Schule gesagt, dass ich locker eine Klasse überspringen könnte.“
Jana, die der Vorstellung bis jetzt eher gelangweilt verfolgt hatte, verdrehte nun die Augen.
Angeber, dachte sie sich. Sie sagte es aber nicht. Sie verzog nur den Mund. Neben sich hörte sie leises Kichern. Die anderen Mädchen schien Samuel schon mit seinem Lächeln um den Finger gewickelt zu haben.
„Schön, dann setzt dich doch bitte dort hinten zu Jana. Da ist noch ein Platz frei.“ Frau Müller deutete auf den genannten Platz und Jana schreckte hoch. Was? Der Neue sollte neben ihr sitzen? Hoffentlich war das nur für heute. Wenn Jenny wieder da war, bekam Samuel bestimmt einen neuen Platz zugeteilt und Jana konnte wieder neben Jenny, ihrer besten Freundin sitzen.
„Hey, ich bin Sam.“ Mit einem freundlichen Lächeln ließ der Junge sich auf den freien Stuhl sinken.
„Sag bloß. Da wäre ich ja nie drauf gekommen.“ Obwohl Jana sich vorgenommen hatte, Samuel nicht nach dem ersten Eindruck zu beurteilen, konnte sie es doch nicht lassen, etwas Sarkasmus in ihre Antwort zu legen. Als sie seinen erstaunten Gesichtsausdruck sah, ringt sie sich noch ein Lächeln ab, aber so richtig gelingen wollte es nicht.
Während Samuel sich auf seinem Platz einrichtete, nahm Frau Müller wieder das Thema des Unterrichts auf. Da Sam erst mitten in der Stunde erschienen war, dauerte es nicht mehr lange, bis es zur Pause klingelte.
Wie von der Tarantel gestochen sprang Jana auf. Ihre Sachen hatte sie schon zusammen gepackt, also musste sie nur noch ihren Rucksack schultern, sich ihre Krücken schnappen und aus dem Raum flüchten.
Samuel sah ihr verwundert hinterher. Die ganze Zeit, in der er neben dem Mädchen gesessen hatte, hatte sie ihn nicht eines Blickes gewürdigt. Nicht einen Ton hatte sie zu ihm gesagt. Und jetzt verließ sie fluchtartig den Raum, als habe er irgendeine hochansteckende Krankheit. Und angeguckt hatte sie ihn wie sein Husky, wenn dieser mal wieder schlechte Laune hatte.
„Nimm es dir nicht zu herzen“, ertönte da eine Stimme hinter Samuel. „Mit Jana ist heute allgemein nicht so gut Kirschen essen.“ Neugierig drehte der Angesprochene sich um. Vor ihm stand ein Junge und lächelte ihn freundlich an.
„Hi, ich bin Leon. Komm mit, ich stell dir die anderen vor.“
Samuel erwiderte das freundliche Lächeln und folgte Leon aus dem Raum. Er war froh, dass Leon ihn angesprochen hatte, so musste er sich nicht ganz alleine zum nächsten Raum durchschlagen, von dem er nicht mal wusste, wo er lag.
„So, das sind Jonas und Alex. Letzterer seines Zeichens Janas Zwillingsbruder, aber deutlich umgänglicher als unsere Prinzessin.“ Alex sah man die Verwandtschaft zu Jana sofort an. Beide hatten sie glatte schwarze Haare und eisblaue Augen. Allerdings hatten Alex' Augen einen deutlich freundlicheren Ausdruck als Janas, die schon recht kalt gewirkt hatten.
Jonas war im Verhältnis zu seinen Freunden klein. Während Samuel Leon und Alex nur um ein paar Zentimeter überragte, war es bei Jonas schon fast ein ganzer Kopf. Seine blonden Haare standen ihm in allen Richtungen vom Kopf und mit der etwas schief sitzenden Brille machte er den Eindruck eines verrückten Wissenschaftlers.
Während die drei Freunde Samuel zu ihrem nächsten Raum lotsten erklärten sie ihm, dass er sich wegen Jana keine Gedanken machen sollte. Ihre beste Freundin war heute nicht in der Schule und sie konnte nach der Schule nicht in den Stall, weil eine Familienfeier anstand.
Erst in der nächsten Stunde fiel Samuel ein, dass er doch noch hatte fragen wollen, warum Jana mit Krücken durch die Schule lief. Nach der Stunde sprach er Alex dann darauf an.
„Ein Unfall vor vier Jahren“, lautete die Antwort. „Seitdem kann sie das Bein nicht mehr belasten.“
Der restliche Tag zog sich scheinbar unendlich lang hin. Obwohl die Freunde schon nach der sechsten Stunde Schluss hatten, kam es ihnen vor wie eine halbe Ewigkeit, bis der erlösende Gong ertönte.
Jana und Alex verabschiedeten sich schweren Herzens von ihren Freunden, die sich bald auf den Weg zu ihren vierbeinigen Freunden machen wollten und auch Samuel musstw das Angebot ausschlagen, mit ihnen in den Stall zu fahren. Auf ihn warteten zuhause noch einige Kartons, die ausgeräumt werden wollten. Allerdings hatten Alex und er sich für den nächsten Tag verabredet, um dann zusammen in den Stall zu fahren.
Darum war Jana auch nicht wirklich überrascht, als am nächsten Nachmittag die Türklingel zu hören war und Samuel vor der Tür stand. Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, ließ sie die Tür offen und bedeutete Samuel so, dass er herein kommen sollte, während sie ihrem Bruder Bescheid gab.
Eine halbe Stunde später hielt dann Leons Vater vor ihrem Haus, um die drei mit in den Stall zu nehmen. Im ersten Moment war Jana versucht, doch nicht mit zu fahren, einfach um nicht mit Samuel in einem Auto sitzen zu müssen, doch schließlich siegte ihre Sehnsucht nach Lady, der Stute, auf der sie im Stall immer reitet.
Also zog sie sich schnell ihre Reitsachen an und verließ dann noch vor den Jungs das Haus.
„Hey Leon. Hallo Herr Müller.“
„Hallo Jana. Wie geht es dir?“
„Gut, danke.“
„Wie kommt es, dass du freiwillig mit Samuel in einem Auto fährst?“, fragte Leon halb erstant, halb scherzhaft. Jana blieb ihm allerdings eine Antwort schuldig, da in diesem Moment Samuel und Alex einstiegen. Aber Jana war sich ziemlich sicher, dass Leon ihre Beweggründe genau kannte.
„Und ihr seid euch sicher, dass ich da auch reiten kann?“
„Wenn du so gut reiten kannst, wie du sagst, dann wüsste ich nicht, was Anja dagegen haben sollte“, beruhigte Alex Samuel.
„Und solange du nicht Damensattel reitest, wird wohl noch ein Pferd für dich übrig sein.“
Samuel sah Leon erstaunt an. „Nein, Damensattel reite ich nicht. Noch reite ich richtig.“ Den letzten Satz hätte er wohl lieber nicht sagen sollen, denn nun funkelte Jana ihn wütend an. Aber bevor sie etwas sagen konnte, ließ Herr Müller den Wagen auf den Hof rollen. Die Jugendlichen stiegen aus und Samuel sah sich neugierig um.
Der Parkplatz bildete mit dem Stall rechts und dem Reiterstübchen links die untere Begrenzung des Hofes. Rechts ging es dann mit einem Reitplatz weiter. Dem Platz gegenüber lag die Reithalle. Vor der Halle waren zwei kleinere Gebäude – Futter- und Sattelkammer. Nach Reithalle und -platz kam zwei weitere Gebäude, denen jeweils eine Weide folgte. Die Weiden wiederum begrenzten den Hof gegenüber dem Parkplatz. In der Mitte des Hofes stand eine Eiche, die aussah, als habe sie schon ein paar Jahre auf dem Buckel.
Am Reitplatz waren einige Pferde angebunden, die von Kindern geputzt wurden. Als die kleine Gruppe Jugendlicher an die Putzstelle heran trat, kam eine junge Frau auf sie zu.
„Schön, dass ihr da seid. Und wen Neues habt ihr auch gleich mitgebracht. Jana, kannst du hier bitte aufpassen, dann kann ich schon mal die Pferde für die nächsten Stunden einteilen. Oh, entschuldige bitte. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Anja Schmidt. Du darfst ruhig Anja zu mir sagen.“ Mit einem leisen Lächeln registrierte Samuel, dass Anja die Sätze nur so hinunter rasselte, ohne einmal Luft zu holen. „Leon, Alex, könnt ihr bitte schon mal das Sattelzeug für die Pferde holen?“ Und weg war sie, davon gerauscht in Richtung Reiterstübchen.
„Komm, Sam. Du kannst du uns tragen helfen.“ Der Angesprochene folgte seinen neugewonnenen Freunden in das vordere Gebäude von den Beiden vor der Halle. Die Sattelkammer.
„Also wenn du weiter so schlecht über Damensättel redest, wirst du dich nie mit Jana anfreunden“, meinte Alex, als sie außer Hörweite von Jana waren.
„Wieso? Was soll daran so schlimm sein? Damensättel sind nun mal nicht soo toll.“
Sam fing sich für diesen Kommentar einen wütenden Blick von Alex ein.
„Das würdest du nicht sagen, wenn das die einzige Möglichkeit wäre, um zu reiten.“
Erstaunt sah Sam Alex an. Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht, dass jetzt sogar Alex wütend auf ihn war? Lag das vielleicht in der Familie?
Sie betraten die Sattelkammer und Sam sah sich neugierig um. Für einen kurzen Moment hatte er das Problem mit Alex und Jana vergessen. Die Sättel hingen alle in einer Reihe an der Wand. Darunter waren jeweils eine Trense und ein Putzkasten zu finden. Über jedem Sattel hing ein Schild mit dem Namen des Pferdes, zu dem das Zaumzeug gehörte.
„Also, wir brauchen Sabrina, King, Vulkan und Oskar“, erklärte Leon und versuchte damit, die angespannte Stimmung ein bisschen zu lockern. Jeder schnappte sich einen Sattel und die zugehörige Trense, dann brachten sie die Sachen nach draußen. In der Tür stießen sie mit Jonas zusammen.
„Ossies Zeug wird nocht gebraucht. Holst du das bitte?“, erklärte Leon schnell, bevor Jonas einen Kommentar zu Alex angespanntem Gesicht machen konnte. Der Angesprochene nickte nur stumm und verschwand in der Sattelkammer.
Die letzte Stunde hatte grade angefangen und Jana wollte Lady holen, damit sie nach der Stunde noch reiten konnte. Mit Halfter und Strick ausgestattet machte sie sich auf den Weg zur Weide, als ein großer Transporter auf den Parkplatz einfuhr.
„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“ Der Fahrer war ausgestiegen und musterte Jana misstrauisch.
„Ja, du kannst mir sagen, wo ich Frau Schmidt finde.“
„Die ist dort drüben auf dem Platz und gibt grade Unterricht.“ Jana zeigte in die entsprechende Richtung und ohne ein weiteres Wort stiefelte der Mann in diese Richtung davon.
Was der Mann wohl wollte? Der Futterlieferant war letzte Woche erst da gewesen, das wusste Jana. Der konnte es also nicht sein. Neugierig beobachtete Jana, wie der Mann ein paar Worte mit Anja wechselte und dann zurück kam. Er öffnete den Transporter und ging hinein.
Jana wollte schon gucken, was in dem Transporter war, als ein lautes Wiehern zu hören war. Die Pferde auf dem Platz und auf der Weide antworteten fast sofort und Jana registrierte aus dem Augenwinkel, dass sich auf der Weide kurze Zeit später fast die ganze Herde am Tor versammelt hatte.
Kurz darauf kam ein Pferd aus dem Transporter heraus. Kaum stand es auf dem Hof, warf es den Kopf hoch, bläste die Nüstern auf und wieherte erneut. Nun sah Jana, dass es ein Hengst war. Der Kopf war stolz erhoben und die Augen waren weit aufgerissen, während er sich auf dem Hof umsah.
Die lange Mähne wehte im Wind und der Fuchs fing unruhig an zu tänzeln. Bei den kleinen Bewegungen konnte man die Muskeln deutlich hervortreten sehen. Der bodenlange Schweif wurde hoch getragen. Alles in allem war es ein wundervolles Tier, stellte Jana bewundernd fest.
Der Mann zog kräftig und nicht grade sanft am Strick und kam dann mit dem Hengst herüber.
„Zeigst du mir bitte den Stall?“, fragte er in nicht grade freundlichem Ton und ruckte dabei am Strick, weil der Hengst nicht still stehen blieb. Jana nickte und führte den Mann mit eher gemischten Gefühlen in den Stall. Der Hengst sollte sich auf der Weide die Beine vertreten. Er sah aus, als hätte er eine lange Fahrt hinter sich. Da sollte man ihn nicht sofort wieder in eine Box sperren.
Im Stall war die erste Box eingestreut und Jana öffnete dem Mann die Tür. Der Hengst tänzelte in die Box und der Mann schloss die Tür schnell wieder.
„Halt dich bloß fern von dem. Der ist wild und könnte dich leicht noch mehr verletzen.“ Mit diesen Worten verließ er den Stall. Kaum hatte sich die große Tür geschlossen, entspannte sich der Hengst in seiner Box sichtlich.
„Na du?“ Der Hengst sah Jana misstrauisch an, als sie an die Box trat und machte schnell einen Schritt zurück. Nun hatte sie etwas Zeit, ihn sich genauer anzusehen. Er hatte eine wirklich außergewöhnliche Farbe. Vermutlich eine Unterart des Fuchses. Sein Fell war braun, wobei es in der Sonne einen leichten Rotstich gehabt hatte, und Mähne und Schweif waren rotblond.
Nach ein paar Minuten verließ Jana den Stall schließlich wieder. Auf dem Platz lief noch immer die Reitstunde und der Transporter war schon wieder verschwunden. Von der Weide ertönte ein Wiehern, was Jana wieder an ihren ursprünglichen Plan erinnerte. Sie wollte Lady fertig machen.
Auf einen kurzen Pfiff hin hob die Herde auf der Wiese die Köpfe, doch keines bequemte sich, zu Jana ans Tor zu kommen. Erst einen Augenblick später löste sich ein einzelnes Pferd aus der Herde und kam aufs Tor zu getrabt.
Wenige Schritte vor dem Tor blieb die Stute stehen und schnaubte einmal zur Begrüßung. Schnell öffnete Jana das Tor und legte Lady das Halfter an, bevor sie die Stute von der Weide führte. Lady wartete geduldig, bis Jana das Tor geschlossen hatte, bevor sie der jungen Frau mit durchhängendem Strick zum Putzplatz folgte. Dabei blieb sie mit dem Kopf immer auf der Höhe von Janas Schulter.
Sam hatte vollkommen vergessen, wie anstrengend es war, drei Reitstunden am Stück Pferde zu führen. Er war richtiggehend erleichtert, als die letzte Stunde endlich zu Ende war. Er half dabei, das Pferd abzusatteln, das er geführt hatte und folgte dann den anderen zur Weide. Dort ließen sie die Pferde laufen, während die Reitschüler die Trensen auswuschen und sie dann zur Sattelkammer brachten.
„Wie sieht es aus? Reiten wir jetzt noch, oder lassen wir es für heute?“, fragte Leon, während sie noch eine Weile am Zaun stehen blieben und die Pferde beobachteten.
„Also wenn ein Pferd für mich da ist, würde ich schon gerne noch reiten“, erklärte nun Sam.
„Die Stunde der Wahrheit ist gekommen.“ Jonas grinste. „Kann Sam wirklich reiten, oder hat er uns nur einen vom Pferd erzählt?“
„Also ich reite auf jeden Fall noch. Ich will doch Sams ersten Ritt auf Lord nicht verpassen“, schloss sich Alex an.
„Er bekommt Lord? Das ist aber ganz schön gewagt von Anja. Das beste Pferd lässt sie unter einem Neuen gehen?“ Jana. „Ich würde ihm ja lieber Luke geben. Da kann wenigstens nichts passieren.“
„Ja, so lange keine Katze vorbei kommt, kann da wohl nichts passieren.“ Aus der kurzen Unterhaltung schloss Sam, dass Luke wohl ein sehr gemütliches Pferd war, das aber Angst vor Katze hatte.
„Na ja, soll mir ja egal sein. Leon, kannst du mir bitte Lady satteln?“ Jana hatte sich schon wieder abgewandt und Leon folgte ihr. Vorher warf er allerdings Sam noch einen entschuldigenden Blick wegen dem Kommentar zu.
Nur mit halbem Ohr hörte Sam der Diskussion zu, wer welches Pferd nehmen würde. Stattdessen beobachtete er, wie Leon mit einem Damensattel aus der Sattelkammer kam und damit die Stute sattelte, die am Anbinder stand. Das erklärte dann auch, warum Alex und Jana so empfindlich auf das Thema Damensättel reagierten.
Leon und Jana betraten mit Lady den Reitplatz. Jana ließ die Krücken am Platzrand zurück und stütze sich stattdessen bei Lady auf. Als Leon ihr aufs Pferd half sah man, dass es nicht das erste mal war. Selbst aus dieser Entfernung konnte man die routinierten Bewegungen erkennen.
„So, das ist Lords Halfter“, riss da Jonas Sam aus seinen Gedanken. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob du auch Pferde fangen kannst. Lord ist der Rappe mit dem Stern dort.“
Sam nahm das Halfter entgegen und zusammen mit Jonas und Alex betrat er die Weide. Leon schloss sich ihnen wenige Augenblicke später an.
Es dauerte nicht lange, da hatten sich alle vier wieder am Tor eingefunden. Jeder von ihnen hatte ein Pferd am Strick hinter sich.
„Wow, wie hast du es denn geschafft, ihn so schnell einzufangen?“, fragte Leon erstaunt. „Das ist definitiv ein neuer Rekord. Sonst brauchen wir immer mindestens fünf Minuten um den Jungen einzufangen.“
Sam zuckte mit den Schultern. „Na ja, sonderlich schwer war es nicht. Er schien regelrecht darauf gewartet zu haben, die Weide verlassen zu dürfen.“
„Genauer erklären musst du das aber trotzdem. Das hat noch nie jemand so schnell geschafft“, warf nun Alex ein.
„Viel zu erklären gibt es da nicht, aber ich kann es beim Putzen ja mal versuchen.“
Eine halbe Stunde später betraten die vier Jungen dann mit ihren Pferden den Platz. Jana hatte ihre Stute unterdessen schon aufgewärmt und wartete nun darauf, dass alle auf ihren Pferden saßen, damit sie noch ein bisschen Trab- und Galopparbeit machen konnte.
Während die Vier ihre Pferde aufwärmten, behielt sie Sam genau im Auge. Er wurmte sie, dass er gleich beim ersten Mal Lord bekommen hatte. Nicht nur, weil der Wallach eines der besten Pferde im Stall war, sondern auch, weil Lord und Lady unzertrennlich waren. Wenn Sam wirklich so gut reiten konnte, wie er behauptet hatte, wäre das kein Problem. Andernfalls würde Lord versuchen, sich an Lady zu hängen.
Doch so, wie es momentan aussah, würde Lord innerhalb der nächsten fünf Minuten an Lady Hintern kleben und dort nicht so bald wieder verschwinden. Sam hielt Lord definitiv zu kurz am Zügel. Da konnte der Wallach sich doch gar nicht richtig versammeln.
„Lass dem armen Kerl doch mal etwas mehr Zügel!“, rief da auch schon Anja. „Wenn du so weiter machst, liegst du in spätestens fünf Minuten im Sand.“
Oder darfst hinter mir herdackeln, dachte Jana bei sich.
Sam ließ nun auch tatsächlich die Zügel etwas länger und sofort entspannt Lord sich sichtlich. Dafür verspannte sich jetzt aber Samuel, was sich wiederum auf Lord übertrug und schon war es wieder vorbei mit der Entspannung.
Lord, dem das ganze nicht mehr so ganz geheuer war, versuchte nun, in Ladys Nähe zu gelangen. Sofort hielt ihn sein Reiter wieder davon ab, in dem er ihn mit Gewicht, Schenkeln und deutlich zu viel Zügel auf dem Hufschlag hielt. Jana konnte sehen, dass Lord kurz davor war, zu bocken.
Auch Lady schien sich diesen Umstand bewusst zu sein und verlängerte von selbst ihre Schritte, um zu ihrem Freund zu gelangen. Jana ließ sie gewähren.
Kaum hatte Lady den Rappen erreicht, beruhigte der sich etwas und nahm auch die kurzen Zügel etwas gelassener hin. Bloß Sam war nicht sonderlich begeistert über diesen Umstand.
Nicht nur, dass die anderen jetzt sicher dachten, dass er gar nicht wirklich reiten konnte, nein, es war auch noch Jana, die ihn aus dieser misslichen Lage befreit hatte. Kaum war sie in seiner Nähe aufgetaucht, hatte sein Pferd sich deutlich entspannt und angefangen, besser auf die Hilfen zu reagieren.
Nun gab Jana ihm hin und wieder mehr oder weniger freundliche Tipps zum Umgang mit Lord. Durch ihren Tonfall und die Blicke, die sie ihm hin und wieder zu warf, kam Sam sich vor, wie ein blutiger Anfänger.
Alles in allem also ein Schlamassel erster Güte.
Sam schaffte es an diesem Tag nicht mehr, Lord von Jana weg zu bringen, ohne dass sie entweder das Pferd oder der Reiter verspannten, weshalb er sich für den Moment damit zufrieden geben musste, in Janas Nähe zu reiten.
„Wir haben noch genau zehn Minuten, bis Mum kommt, also lasst uns aufhören“, erklärte Jonas schließlich eine dreiviertel Stunde später. Zustimmendes Gemurmel war zu hören und alle lenkten ihre Pferde in die Mitte, um abzusitzen.
Sam wollte grade Lord zum Tor führen, als Jana von Ladys Rücken rutschte und nur Sekunden später im Sand zu Hufen der Stute lag.
„Jana!“ Vier Stimmen, ein Ruf. Lady stupste ihre Reiterin vorsichtig an und sie streichelte beruhigend den Hals der Stute. Sie hatte sie auf die Ellenbogen aufgestützt und sah die kleine Gruppe mit einem leichten Lächeln an, die sich um sie herum versammelt hatte.
„Alles in Ordnung?“ Alex war sichtlich besorgt. Es war lange her, dass sie das letzte Mal gestürzt war.
„Ja, alles klar. Ich bin nur mit dem falschen Bein aufgekommen.“
„Kannst du aufstehen?“ Auch Samuel sah man die Sorge deutlich an.Für einen Moment war Jana verwirrt, doch sie fing sich schnell wieder und richtete sich weiter auf, um sie an Ladys Mähe hochzuziehen.
„Wenn du mir etwas mehr Platz lassen würdest, bestimmt.“ Eigentlich hatte es eher scherzhaft klingen sollen. Stattdessen lag in Janas Stimme ein schneidender Unterton, der sie selbst fast hätte zusammen zucken lassen.
„Gut, da ich ja sowieso nur im Weg bin, kann ich ja auch gehen.“
Jana ignorierte den braunhaarigen Jungen und versuchte auch die Schuldgefühle zu verdrängen, die in ihr aufstiegen. Schweigend brachte sie Lady zum Platzrand und ließ sich von Alex die Krücken geben. Seine ganze Haltung sagte ihr, dass sie zuhause nochmal darüber reden würden.
„Was ist bloß los mit dir? Du bist doch sonst immer zu allen Leuten nett. Warum behandelst du Sam dann, als wäre er der letzte Dreck?“ Alex sah seine Schwester anklagend an. Wenn er so wütend war, konnte er schon fast beängstigend sein. Die eisblauen Augen, die sie wütend anstarrten und kurz davor waren, Eiskristalle zu versprühen.
„Muss ich etwa jeden dahergelaufenen Typen sofort mögen?“ Jana weigerte sich, an die Schuldgefühle zu denken, die noch immer irgendwo in ihr herum spuckten. Alex' Wut hatte sich fast sofort auf sie übertragen und jetzt stellte sie sich stur.
„Nein, aber ich verstehe nicht, warum du es grade auf Sam abgesehen hast.“
„Er nervt.“ Jana war müde und hatte es nicht grade auf einen Streit angelegt, aber sie wollte ihren Standpunkt in diesem Moment auch nicht verlassen.
„Wann hat er dich denn bitte genervt? In der Schule habt ihr kaum ein Wort mit einander gewechselt und im Stall hast du ihn nicht mal mit dem Arsch angesehen.“
„Er ist ein Angeber.“
„Angeber? Sam? Ich bitte dich, das ist doch an der Nase herbei gezogen.“ Alex verschränkte die Arme vor der Brust und sah seine Schwester herausfordernd an.
„In der Schule hat er es an die große Glocke gehängt, dass er locker eine Klasse überspringen könnte und im Stall hat er behauptet, reiten zu können – das haben wir ja gesehen. Er ist wirklich super mit Lord zurecht gekommen.“
„Sein altes Pferd brauchte nun mal eine starke Hand. Er ist das Pferd so lange geritten, dass es nun mal eine Weile braucht, um sich auf ein anderes Pferd einzustellen.“
„Wie schön, jetzt nimmst du ihn auch noch in Schutz.“
„Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum ich es nicht tun sollte!“ Alex warf resigniert die Hände in die Luft. Manchmal wünschte er sich, seine Schwester hätte nicht immer so einen Dickschädel, mit dem sie jede Wand einrennen wollte.
„Er hat gesagt, reiten im Damensattel sei kein richtiges Reiten.“
Einen Moment sah es so aus, als würde Alex sich geschlagen geben, dann schüttelte er den Kopf. „Er hat sich entschuldigt. Er hat noch nie jemanden wirklich im Damensattel gesehen und musste bei der Erwähnung selbiger bloß an die Wiener Hofreitschule und ähnliche denken.“
„Na, solange er nicht erwartet, dass ich ihm jetzt um den Hals falle, weiß ich nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll.“
Alex seufzte. „Ist dir eigentlich klar, dass du ihn da vorhin auf dem Platz wirklich getroffen hast? Er hat sich doch nur Sorgen gemacht. Wie wir anderen auch.“
„Und ist ihm klar, wie sehr er mich verletzt hat, als er so schlecht über Damensättel geredet hat?“
„Ich hab doch gesagt: Er hat sich entschuldigt!“
„So? Wann denn? Das habe ich gar nicht mitbekommen.“
„Ja, weil du dir ja auch solche Mühe gegeben hast, ihm mal für zwei Sekunden zuzuhören.“
„Wisst ihr eigentlich, wem der neue Hengst im Stall gehört?“ Es war eine Woche her, dass Sam nach Springe gezogen war und inzwischen hatte er auch Jenny, die fünfte im Bunde und ihres Zeichens Janas beste Freundin, kennengelernt. Aber im Gegensatz zu ihrer besten Freundin hatte Jenny keine Vorbehalte gegen Sam und behandelte ihn wie einen alten Freund.
„Also Anja meinte, er gehört einem gewissen Herrn Presly“, beantwortete Jana die Frage ihres Bruders. Die sechs saßen im Schatten der alten Eiche auf dem Hof und warteten auf die ersten Reitschüler.
„Presly?“ Sam horchte auf. In seinem alten Stall hatte es auch einen Herrn Presly gegeben. „Wie sieht er denn aus?“
Jana ignorierte die Frage geflissentlich. „Ich mag ihn nicht. So, wie der sein Pferd behandelt, gehört der eingesperrt.“
„Hat ihn schon mal wer reiten sehen?“, fragte nun Leon.
„Er reitet doch nicht. Dafür ist er sich zu fein.“ Jana schnaubte abfällig. „Nein, das darf alles seine Tochter machen. Besser behandeln tut sie das Pferd aber nicht. Es ist schon fast ein Wunder, dass der immer noch so gut aussieht, so wie die ihn immer schlagen und herumzerren.“
„Ich glaube, ich kenne die“, startete Sam den nächsten Versuch, in die Unterhaltung einzusteigen. „Waren zu ihrem letzten Hengst auch nicht grade freundlich.“ Jonas sah Sam interessiert an und bedeutete ihm, weiter zu reden. „In meinem alten Stall gab es auch einen Herrn Presly. Hatte auch einen Hengst, ein wunderschönes Tier. Aber wegen dem schlechten Umgang war er total misstrauisch und Menschenscheu. Wurde auch immer von der Tochter geritten.“
„Und was ist mit dem Hengst passiert?“, schaltete sich nun auch Jenny ein. Sie lag zwischen ihrem Zwillingsbruder Jonas und Alex auf dem Rücken im Gras und schielte neugierig zu Sam hinüber.
„Keine Ahnung. Als ich ihn das letzte mal gesehen habe, hat der Stallbesitzer grade versucht, Herrn Presly davon zu überzeugen, den Hengst zu verkaufen. Kurz darauf sind wir weggezogen. Aber ich weiß, dass er als Fohlen total zutraulich war. Er ist im Stall geboren und wir haben ihn mit der Flasche aufgezogen, weil seine Mutter ihn verstoßen hat. Bis Herr Presly ihn gekauft hat, war er der beste Hengst, den ich je kennengelernt habe. Zutraulich, menschenbezogen und so verschmust, wie man es sich kaum vorstellen kann.“
„Und wie sah er aus? Vielleicht wurde Herr Presly ja aus seinem Stall rausgeschmissen und ist jetzt hierher gekommen, um es hier nochmal zu versuchen.“
„Er war ein Fuchs.“ Mit abwesendem Blick beobachtete Sam die Herde auf der Weide. „Dunkles Deckhaar und fast rote Mähne. In der Sonne wirkte alles immer noch ein bisschen roter, als es tatsächlich war.“
„Das hört sich ganz schön nach dem Neuen an, finde ich.“ Jenny grinste. „Meint ihr, das ist der gleiche? Ich fänd es ja irgendwie witzig, wenn es zwei Leute aus dem gleichen Stall in die gleiche Gegend verschlägt, ohne dass sie das irgendwie miteinander angesprochen hätten oder so. Wie hieß der Hengst denn?“, wandte sie sich wieder Sam zu.
„Fireball.“
„Und der Gewinner ist … Fireball!“ Jenny hatte sich angesetzt und grinste verschmitzt in die Runde. „Und? Wer hilft mir, die Verschwörungstheorie weiter auszuarbeiten?“
„Ach du spinnst doch, Jenny. Was soll denn daran eine Verschwörung sein? Ich glaube nicht, dass das Sams Fireball ist. Das wäre doch ein zu großer Zufall. Im übrigen müssten sie dann – wie lange? – drei Stunden fahren, um ihr Pferd reiten zu können.“
„Also erstens mal, ist das nicht mein Fireball und zweitens … Ach vergiss es.“ Sam sprang auf und entfernte sich in Richtung Stall. Vor der ersten Box blieb er stehen. Ein ihm nur zu vertrautes, leises Wiehern ertönte von dort. Kurz darauf hörte er das Stroh rascheln, als das Pferd sich in der Box bewegte.
Kurz darauf erschien Fireballs Kopf an der Tür. Der Hengst schnaubte und sog dann fast schon begierig die Luft ein, als er den vertrauten Geruch wahr nahm.
Sanft streichelte Sam die weichen Nüstern des Fuchses und seufzte leise. Als er die Boxentür einen Spalt weit öffnete, um hinein zu schlüpfen, versuchte der Hengst, sich an ihm vorbei zu drängen.
„Ich weiß, du willst raus. Aber das darfst du nicht. Es tut mir so leid, Süßer. Ich wollte dich nicht im Stich lassen.“ Fireball schnaubte, wie zur Antwort und Sam lächelte. „Was soll ich bloß machen, Junge? Ich habe doch schon alles versucht.“ Er vergrub sein Gesicht in der langen Mähne des Pferdes und genoss es für einen Moment, wieder bei dem Hengst sein zu können. „Warum ist Jana so fies zu mir? Hast du vielleicht eine Idee?“
Fireball schüttelte die Mähne, um eine Fliege zu verscheuchen und Sam lächelte. „Nein, ich auch nicht.“
„Samuel?“ Der Angesprochene seufzte und fragte sich, wie Jana es schaffte, immer dann aufzutauchen,wenn er es am wenigstens gebrauchen konnte.
„Was ist?“ Er verließ schnell die Box und sah sie fragend an.
„Es tut mir Leid, was ich da eben gesagt habe. Ich weiß auch nicht, was da mit mir los war.“
„Weißt du, vielleicht solltest du mich einfach in Ruhe lassen. Dann hätte sich das ganze Problem erledigt.“
Einen Moment starrte Jana ihn durchdringend an, dann wandte sie sich ab und verschwand wieder aus dem Stall. Draußen blieb sie kurz stehen und atmete einmal tief durch. Das hatte ja wirklich super geklappt.
„Und?“ Leon sah sie erwartungsvoll an.
„Wie ich gesagt habe. Er hat die Entschuldigung nicht angenommen.“
„Soll ich mal mit ihm reden?“ Leon sah wirklich besorgt um Sam aus, doch Jana schüttelte resigniert den Kopf.
„Nein, lass ihn erstmal in Ruhe. Ich glaube, er muss sich erstmal beruhigen, bevor er wieder wirklich ansprechbar ist.“
Langsam gingen die beiden zurück zur Eiche, wo die anderen auf sie warteten.
„Aber immerhin, eines haben wir durch mein loses Mundwerk heraus gefunden: Es ist tatsächlich Sams Fireball“, versuchte Jana, die Situation wieder etwas aufzulockern. Leons Blick ließ sie jedoch schnell wieder verstummen.
„Jana? Kannst du bitte die Gleichung hier an der Tafel lösen?“ Sam beobachtete besorgt, wie Jana hochschreckte, als die Lehrerin sie ansprach.
„Natürlich, Frau Groß.“ Sie stand auf und ging mit einer Krücke zur Tafel. Schnell schrieb sie die Lösung der Gleichung an und verzog sich dann wieder auf ihren Platz. Bisher waren alle an dem Versuch gescheitert und grade Jana, die die ganze Stunde kaum aufgepasst hatte, löste sie gleich beim ersten Versuch?
Langsam begann sich das Bild, das Sam sich von Jana gemacht hatte, zu verändern. Sein erster Eindruck schien vollkommen falsch gewesen zu sein.
„Danke, Jana. Schreibt die Lösung bitte ab und formuliert bis zur nächsten Stunde eine schriftliche Begründung, wie Jana auf diese Lösung gekommen sein könnte.“
Schnell schrieb die Klasse die Lösung ab und packte dann ihre Hefte ein. Es klingelte grade zur Pause. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für April und alle waren froh, dass sie jetzt Schluss hatten und der Hitze so entkommen konnte.
„Hey, hast du heute Abend Lust auf einen Ausritt?“ Leon holte Sam kurz hinter der Klassentür ein und legte ihm lässig einen Arm um die Schulter.
„Klar. Habt ihr denn schon einen Erwachsenen gefunden, der mitkommt?“
„Mein Vater höchstpersönlich.“ Leon grinste. „Du solltest dich also geehrt fühlen.“
„Keine Angst, das tue ich.“ Sam lachte. „Wer kommt denn bis jetzt alles mit?“
„Jonas, Jenny, Alex, mein Vater, du und ich“, zählte Leon die kleine Gruppe auf. „Jana kann nicht.“
„So? Was hält sie denn davon ab, ihre geliebte Lady zureiten?“
„Lady ist nicht da.“ Alex war zu den beiden getreten und sein Blick verdüsterte sich, als er von der kleinen Stute sprach. „Es gab wohl gestern auf der Weide eine kleine Prügelei. Eines der Pferde hat Lady böse erwischt und Anja hat es erst abends bei ihrem Rundgang bemerkt. Jana konnte auch nichts merken, weil sie gestern nicht da war. Die Wunde hat sich entzündet und sie musste eingeschläfert werden.“
„oh, scheiße.“ Das erklärte zumindest, warum Jana schon den ganzen Tag so abwesend war. „Kommt sie denn trotzdem in den Stall?“
„Ja, sie hofft, dadurch etwas Ablenkung zu bekommen.“ Alex sah traurig zu Boden.
„Also Leute, wenn ihr hier noch länger Wurzeln schlagen, verpasst ihr noch den Bus.“ Jana rauschte an der kleinen Gruppe vorbei, ohne einen von ihnen eines Blickes zu würdigen.
Traurig sah Jana der Reitstunde zu. Bis Anja ein neues Pferd mit Damensattel-Ausbildung gefunden hatte, hieß es für sie erstmal Pause machen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als Lord und Lady auf den Hof gekommen waren. Es war etwa ein halbes Jahr nach ihrem Unfall gewesen. Jana hatte so viel Zeit, wie möglich auf dem Hof verbracht und ihren Freunden beim Reiten zu gesehen.
Eines Tages, als sie grade auf dem Hof angekommen waren, hatte Anja sie in den Stall geschickt und gesagt, sie hätte eine Überraschung für sie.
Und dort im Stall, in der ersten Box hatte Lady auf sie gewartet und erfreut gebrummelt, weil sie endlich Gesellschaft bekam. Seit diesem Tag waren die zwei unzertrennlich gewesen.
„Nun komm schon, du Mistvieh!“
Jana warf einen Blick zum Stall. Gerade trat ein verärgerter Herr Presly, der Frieball am Zügel hinter sich her zerrte. Die Tochter folgte in gebührendem Abstand, um nicht in Gefahr zu laufen, vielleicht von Fireballs Hufen getroffen werden zu können.
Jana mochte Herrn Presly nicht. Und seine Tochter ebenso wenig. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass der Hengst Angst vor seinem Besitzer hatte. Was hatte er bloß getan, dass ein stolzes Tier gebrochen wurde?
Ohne zu wissen, warum genau, folgte Jana Herrn Presly und seiner Tochter in die Halle. Leise setzte sie sich auf die Tribüne und beobachtete das Treiben in der Halle. Presly half seiner Tochter in den Sattel und gab Fireball einen verärgerten Schlag auf die Nase, als dieser nicht still stehen blieb.
Während des ganzen Rittes blieb der Hengst angespannt und erwartete jeden Moment den nächsten Schlag. Erst nach einer ganzen Weile registrierte Jana, dass Fireball einen Damensattel trug. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen?
Aber eigentlich änderte es sowieso nichts. Fireball gehörte Herrn Presly. Er würde sie nicht auf ihm reiten lassen. Trotzdem erlaubte Jana es sich, sich für einen Moment vorzustellen, wie es wohl wäre, den Hengst zu reiten.
Eine Stunde später verließen die Presly samt Pferd wieder die Halle. Reiterin und Hengst waren vollkommen verschwitzt, was kein Wunder war, so wie die zwei gekämpft hatten. Vom Hof drang das Lachen ihrer Freunde in die Halle. Sie machten ihre Pferde für den Ausritt fertig. Eigentlich sollte sie jetzt dort bei ihnen sein und mit ihnen scherzen. Aber Lady war tot und sie hatte kein anderes Pferd, das sie reiten konnte.
Jana verließ die Halle und machte es sich unter der alten Eiche gemütlich. Von dort aus beobachtete sie die letzte Reitstunde auf dem Platz und ihre Freunde am Anbinder.
Eine halbe Stunde später verließ die kleine Gruppe den Hof und winkte Jana zum Abschied noch fröhlich zu. Kurze Zeit später war auch die letzte Reitstunde zu Ende und Stille kehrte auf dem Hof ein, als die Pferde auf der Weide waren und die Reitschüler den Hof verlassen hatten.
Jana erhob sich und schlenderte zur Weide hinüber. Die Herde hatte sich in den Schatten unter den Bäumen zurück gezogen und döste dort. Einige Pferde grasten und hin und wieder hob eines den Kopf, um zu Jana hinüber zu sehen.
Das Klingeln ihres Handy riss Jana aus ihren Gedanken, die sich vor allem um Lady gedreht hatten.
„Hey, was gibt’s?“, begrüßte Jana ihre Mutter.
„Jana …“ Weiter kam sie nicht. Jana hörte sie weinen.
„Was ist denn los, Mama? Ist was mit Papa?“
„Nein, deinem Vater geht es gut. Es ist wegen Dominic.“ Wieder brach ihrer Mutter die Stimme weg. Sofort war die Trauer um Lady vergessen. Dominic war ihr großer Bruder. Er hatte letztes Jahr sein Abitur geschrieben und war dann im Sommer für ein Jahr nach Schweden gegangen, um dort ein FSJ zu absolvieren.
„Was ist mit ihm?“
„Er hatte einen Unfall. Jetzt liegt er im Koma.“ Jana fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen. Mit Dominic hatte sie sich immer so gut verstanden. Immer, wenn sie sich mit Alex gestritten hatte, oder nicht weiter wusste, war sie zu ihm gekommen.
„Wird er wieder gesund?“
„Ich weiß es nicht. Wir haben grade einen Anruf von dem Krankenhaus bekommen. Ich werde den nächsten Flug nach Schweden nehmen.“
„Kann ich mit?“ Wie aus der Pistole geschossen, kam diese Frage aus Janas Mund.
„Nein, du musst doch zur Schule. Ich rufe an, sobald ich genaueres weiß.“ Jana wollte protestieren, doch ihre Mutter redete einfach weiter. „Dein Vater bringt mich zum Flughafen und wird dort bleiben, bis ich mein Flieger geht. Wir wissen noch nicht, wie lange das dauert. Können du und Alex heute bei Leon übernachten?“
„Ich werde sie fragen, sobald sie von dem Ausritt zurück sind.“ Inzwischen liefen Jana die Tränen übers Gesicht. „Ruf an, wenn du da bist, ja?“
„Mache ich, versprochen. Ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch.“ Wie betäubt steckte Jana ihr Handy in die Tasche und wandte sich von der Weide ab. Sie bekam kaum mit, wohin sie ging, aber plötzlich stand sie im Stall.
„Hat einer von euch Jana gesehen?“ Alex sah seine Freunde besorgt an. Sie waren vom Ausritt zurück und hatten grade ihre Pferde auf die Weide gebracht.
„Nein. Ist sie vielleicht im Reiterstübchen?“
„Da hab ich schon nachgesehen. Sie ist weder im Reiterstübchen, noch in der Sattelkammer oder der Reithalle – was auch immer sie da sollte.“
„Okay, wir suchen noch mal den ganzen Hof ab“, schlug Sam vor und versuchte, Alex davon abzuhalten, in Panik auszubrechen. „Sie kann ja nicht einfach verschwunden sein. Ich gucke im Stall nach.“
Entschlossen machte er sich auf den Weg. Hinter sich hörte er, wie die anderen sich ebenfalls aufteilten.
Im Stall sah Sam in jede Box hinein, aber von Jana fehlte jede Spur. Er wollte den Stall grade wieder verlassen, als er aus der ersten Box ein leises Schluchzen hörte. Es war Fireballs Box.
Leise trat er an die Box heran und registrierte nun, dass die Tür offen stand. In der hinteren ecke saß Jana, mit angezogenen Knien und wischte sich grade ihre Tränen ab. Fireball stand vor ihr und stupste sie sanft an. Die Krücken lehnten neben ihr an der Wand. Es sah fast aus, als würde Fireball versuchen, sie zu trösten.
„Jana?“ Erschrocken sah sie ihn an. Ihr Gesicht war Tränen überströmt. Ohne nachzudenken betrat er die Box und ging zu ihr. „Was ist denn los?“
Schweigen. Dann, plötzlich: „Dominic hatte einen Unfall.“
Sam hatte keine Ahnung, wer Dominic war, aber er musste ihr sehr nahe stehen. Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. Sofort vergrub sie ihr Gesicht in seiner Schulter und hielt sich an seinem T-Shirt fest.
„Hey, du kannst du uns doch nicht so einen Schrecken einjagen und dich einfach so verstecken. Dein Bruder ist kurz davor, in Panik auszubrechen.“
Jana schüttelte den Kopf. „Mein Bruder liegt in Schweden in einem Krankenhaus im Koma und ich hab keine Ahnung, ob er wieder aufwacht, geschweige denn, ob ich ihn noch mal wieder sehe.“
Sam holte tief Luft und warf Fireball einen kurzen Blick zu. Was soll ich tun, Herr?, betete er stumm, während er Jana beruhigend über den Rücken strich. Sie ist mit den Nerven völlig am Ende und hat hier wer weiß wie lange alleine gesessen. Sie braucht Kraft und Trost. Und ihren Bruder …
„Wir sollten nach draußen gehen. Sonst dreht Alex vor Verzweiflung noch durch.“
Im ersten Moment schüttelte Jana vehement den Kopf, doch nach einem kurzen Augenblick des Zögerns sah sie schließlich ein, dass es das Beste war, den Stall zu verlassen.
Draußen wurde sie von Alex stürmisch umarmt. Ihr Zwilling hatte nur einen Blick auf ihr Gesicht geworfen und sie sofort in seine Arme gezogen. Gleichzeitig sah er Sam fragend an. Dieser seufzte leise.
„Euer Bruder hatte einen Unfall. Jetzt liegt er im Koma im Krankenhaus.“ Bei diesen Worten wurde Alex blass und verstärkte die Umarmung noch etwas. Leise entfernte Sam sich und gesellte sich zu Leon und dem anderen Zwillingspaar.
„Die Arme. Erst verliert sie Lady und dann hat Dominic einen Unfall.“ Jenny schüttelt traurig den Kopf. „Ich möchte jetzt nicht an ihrer Stelle sein. Ihr entschuldigt mich, Jungs?“ Mit diesen Worten tritt sie zu den Zwillingen und quetscht sich noch in die Umarmung hinein.
Einige Minuten später trat Alex zu den anderen drei Jungs. Sie hatten inzwischen das Sattelzeug vom Ausritt weggeräumt und warteten nun beim Parkplatz auf den Rest der Gruppe.
„Jonas, können wir heute vielleicht bei euch übernachten? Papa bringt Mama zum Flughafen, damit sie den nächsten Flieger nach Schweden nehmen kann.“
„Sorry, Alex. Mutter ist nicht da und Vater geht es momentan auch nicht so gut.“ Entschuldigend sah Jonas den Freund an. Alex nickte nur.
„Leon? Herr Müller?“
„Tut mir leid, Alex, aber bei uns herrscht das totale Chaos, weil wir grade renovieren. Wir brauchen selber jeden Raum.“
„Ich könntet bei mir schlafen“, bot Sam da an. „Ich muss kurz zuhause anrufen und fragen, aber eigentlich sollte das kein Problem sein.“
„Das wäre super. Danke, Sam.“ Alex ging zurück zu seiner Schwester und Jenny und erklärte ihnen, was Sache war. Währenddessen rief Sam zuhause an und unterrichtete seine Mutter von der Situation. Sie war sofort bereit, die Zwillinge aufzunehmen.
Herr Müller brachte erst Jonas nachhause, dann fuhren sie bei Alex und Jana vorbei, um deren Schlafsachen zu holen. Anschließend brachte er die drei Jugendlichen zu Sam nachhause.
Sams Mutter empfing die beiden mit offenen Armen und bot sofort an, beim Tragen der Sachen zu helfen. Viel war es zwar nicht, aber gerade Jana mit ihren Krücken wollte sie immer wieder ihre Hilfe anbieten. Alex würde bei Sam im Zimmer schlafen, Jana bekam das Gästezimmer.
Als Jana ihre Sachen in dem Zimmer abgestellt hatte, sah sie sich neugierig um. Es war klein, aber gemütlich und wirkte trotz Schrank, Bett und Schreibtisch nicht vollgestopft.
Erschöpft ließ sie sich aufs Bett fallen und räkelte sich zufrieden. Das Bett war weich und man hatte schon fast das Gefühl, darin zu versinken. Nachdem sie fast eingeschlafen wäre, kletterte sie aus dem Bett wieder heraus, schnappte sich ihre Waschsachen und machte sich schnell zum Schlafen fertig.
Am nächsten Morgen wurde sie von Frau Menke geweckt, da sie vergessen hatte, sich einen Wecker zu stellen. Nur langsam öffnete sie die Augen, als die sanfte Stimme sie aus dem Schlaf holte. Sie fühlte sich wie erschlagen und wollte nicht aufstehen.
Als sie die Augen schließlich geöffnet hatte, sah sie sich verwirrt um und fragte sich, wo sie gelandet war. Und dann fiel ihr auf einen Schlag wieder ein, wo sie sich befand und warum sie dort war.
Sofort schloss sie die Augen wieder und ließ den Kopf zurück aufs Kissen fallen.
„In zehn Minuten gibt es Frühstück. Schaffst du das?“ Jana meinte, ein leises Lächeln aus Frau Menkes Stimme heraus zu hören und brachte ein halbherziges Nicken zu stande. Als sie hörte, wie die Zimmertür ins Schloss fiel, rappelte sie sich langsam auf und suchte ihre Sachen zusammen.
Zehn Minuten später betrat sie frisch gewaschen aber keineswegs frisch und munter die Küche. Samuels Blick ausweichend setzte sie sich auf den letzten freien Platz.
„Danke Vater für das Essen. Danke, dass wir Jana und Alex aufnehmen konnten. Ich bitte dich, pass auf sie und ihren Bruder auf. Lass seine Verletzungen heilen, damit sie ihn bald wieder sehen können. Amen.“
Jana hatte mit vielen gerechnet, nur nicht damit. Samuel war Christ. Ohne irgendeine Vorwarnung, musste sie plötzlich weinen. Schnell verließ sie die Küche und flüchtete sich in ihr vorübergehendes Zimmer. Dort warf sie sich aufs Bett und versuche, die Erinnerungen zu verdrängen.
Es war lange her, dass jemand in ihrer Gegenwart gebetet hatte. Um genau zu sein, war es im Sommer des letzten Jahres gewesen. Dominic. Er war auch Christ und hatte vor seiner Abfahrt mit ihr und für sie gebetet. Aber er war der einzige in der Familie, der an Gott glaubte.
Doch so sehr sie auch versuchte, die Erinnerungen an Dominis zu verdrängen, drängte sich auch gleichzeitig immer wieder eine andere Frage in ihre Gedanken: Warum beteten die Menkes für Dominic? Sie kannten ihn doch gar nicht. Oder?
Jana wurde plötzlich aus ihren Gedanken gerissen, als etwas kalt-feuchtes sich in ihre Hand schob. Verwirrt blickte sie auf und sah direkt in die treuen, eisblauen Augen eines Huskies. Kurz überlegte sie, ob Samuel irgendwann mal erwähnt hatte, dass er einen Husky besaß, doch sie konnte sich nicht erinnern. Andererseits hatte sie ihm ja nie sonderlich aufmerksam zugehört.
Doch in diesem Moment war es ihr eigentlich auch egal, ob Samuel schon mal von dem Hund erzählt hatte, oder nicht. Sie war einfach nur froh, dass er da war. Denn wie er da so halb auf dem Bett liegend versuchte, sie aufzumuntern und ihr Gesicht abzuschlecken, brachte er sie einfach nur zum Lachen.
„Jana? Alles in Ordnung mit dir?“ Alex. Als sie ihm nicht antwortete, kam er ins Zimmer hinein und setzte sich zu ihr an die Bettkante.
Sie seufzte. „Das eben hat mich einfach an Dominic erinnert. Es kam so unerwartet.“
Alex nickte. „Ja. Hätte ich nicht gewusst, dass Sam Christ ist, hätte ich wohl ähnlich reagiert, wie du.“ Nachdenklich fuhren Alex' Finger durch das Fell des Huskies. „Geht es denn wieder? Willst du noch was essen?“
Jana versuchte sich zaghaft an einem Lächeln. „Ja, ich denke, es geht wieder. Der kleine Kerl hier hat mir dabei geholfen, nicht vollkommen zu verzweifeln.“
Auch Alex lächelte. „Wenn ich Sam richtig verstanden habe, heißt er Chester und ist schon fast ein vollwertiges Familienmitglied. Das einzige Problem ist, dass er nicht sprechen kann.“
Nun musste Jana wirklich lachen. Ein letztes Mal knuddelte sie mit Chester, dann folgte sie Alex aus dem Zimmer.
Besorgt sah Sam zu Jana hinüber. Seit dem Frühstück war sie irgendwie komisch drauf und Sam versuchte nun heraus zu finden, was los war. Es schien fast, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ihn wirklich nicht mochte, oder ob sie nicht vielleicht doch eine gewisse Sympathie für ihn entwickelt könnte.
Vor zwei Tagen noch war sie fast schon kalt und abweisend gewesen. Jetzt nahm sie nichts mehr um sich herum wahr und antwortete nur in kurzen Sätzen, an denen man erkennen konnte, dass sie mit den Gedanken an einem anderen Ort war. Aber immerhin ignorierte sie ihn nicht mehr. Sie redete mit ihm.
Angefangen hatte es gestern morgen. Lady war am Abend zuvor eingeschläfert werden müssen und Jana war untröstlich gewesen. Seit nun mehr fünf Jahren ritt sie diese Stute und die zwei waren zu einem unzertrennlichen Duo geworden.
Dann hatte sie von Dominics Unfall erfahren und hatte sich in Fireballs Box geflüchtet. Der Hengst hatte sie an sich heran gelassen und …
Verwirrt hielt Sam in seinen Überlegungen inne. Fireball, der außer Sam eigentlich keinem Menschen mehr vertraute, hatte Jana einfach an sich heran gelassen und hatte nicht mal versucht, aus der Box zu fliehen, als die Tür einfach offen blieb.
Der Hengst hatte einen guten Menschenverstand, aber Sam verstand nicht, warum er Jana so einfach vertraut hatte. Was hatte sie getan, dass er sie so nah an sich heran ließ? Die Person musst etwas ganz besonderes sein, wenn Fireball das alles zu ließ. Hatte Sam sich mit seiner Einschätzung Jana gegenüber etwa getäuscht? War das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, etwa falsch?
Sam seufzte. Warum dachte er überhaupt darüber nach? Eigentlich war Jana ihm doch vollkommen egal, oder? Er mochte sie nicht und Punkt. Da gab es nichts zu diskutieren. Aber was, wenn sie wirklich anders war, als er sie bis jetzt erlebt hatte? Wenn sie einfach nur einen schlechten Start gehabt hatten?
Sams Blick fiel auf die Uhr. 12:45. Noch fünfzehn Minuten, dann war die Stunde zu Ende. Sein Blick wanderte weiter und blieb an der Datumsanzeige hängen. 16.0.'10.
Mit einem Schlag realisierte Sam, was die grüne Markierung im Kalender heute morgen bedeutete: Heute kam seine große Schwester nachhause. Beinahe hätte Sam seinen Kopf auf den Tisch fallen lassen. Na das konnte ja lustig werden.
Maya war schon mit der Schule fertig und hatte Freunde in Kanada besucht. Sam verstand sich gut mit ihr, aber wie würde es mit Alex und Jana laufen? Angestrengt überlegte Sam, ob es irgendetwas gab, wo Reibereien oder mehr entstehen konnten.
Und dann fiel es ihm ein. Maya war eine der hilfsbereitesten Personen, die Sam kannte. Und wenn sie Jana mit ihren Krücken sah, würde sie sofort anbieten, ihr zu helfen und die ganze Zeit um Jana herumschwirren.
Dass Sams Mutter das gestern Abend gemacht hatte, war schon schlimm genug, aber da hatte Jana so wenig von der Welt um sich herum, dass sie es nicht wirklich bemerkt hatte. Aber Jana konnte es normaler Weise auf den Tod nicht ausstehen, wenn andere Leute ihr anboten, ihr zu helfen, obwohl sie nur eine Tasche um die Schultern geschlungen hatte und wunderbar allein zurecht kam.
Außerdem neigte Maya dazu, sich mit allem und jedem anzulegen, der ihr in irgendeiner Weise nicht sympathisch war oder anderer Meinung war als sie. Und Sam hatte am eigenen Leib erlebt, dass Jana nicht grade freundlich war, wenn sie sich bedrängt fühlte oder ähnliches.
Das Klingeln der Schulglocke riss Sam aus seinen Gedanken. Mit gemischten Gefühlen packte er seine Sachen zusammen und folgte seinen Freunden aus dem Klassenzimmer. Da sein Bus einer der ersten war, machten sie sich sofort auf dem Weg zur Bushaltestelle.
„Okay Leute, jetzt lernt ihr den Rest meiner Familie kennen“, erklärte Sam schließlich, als sie fast bei ihm zuhause angekommen waren.
„Du hast Geschwister?“ Die Frage kam von Jana und einen Moment war er überrascht, dass sie ihm zugehört hatte.
„Ja, eine große Schwester“, beantwortete er schließlich ihre Frage. „Sie ist schon mit der Schule fertig und hat Freunde in Kanada besucht.“
„Okay.“ Und da war er wieder. Der teilnahmslose Blick.
Sam brauchte gar nicht erst seinen Schlüssel aus der Tasche zu holen. Kaum hatten sie das Haus erreicht, wurde die Haustür aufgerissen und Maya grinste den Dreien entgegen. „Hat unsere Familie Zuwachs erhalten, oder hat mein kleiner Bruder etwa wirklich schon Freunde gefunden?“ Die junge Frau musterte die Zwillinge neugierig. Erst Alex, dann Jana. Ihr Blick blieb an den Krücken hängen, dann meinte sie plötzlich: „Kommt doch rein. Essen ist schon fertig und ich gehe davon aus, dass ihr ganz viel Hunger mitgebracht habt.“
Sam atmete erleichtert aus. Sie hatten den ersten Test bestanden.
„Jana, euer Vater hat vorhin angerufen und gefragt, ob ihr noch ein paar Tage bleiben könnt. Er würde übers Wochenende auch gerne nach Schweden fliegen. Macht es dir was aus, wenn Chester in der Zeit bei dir im Zimmer schläft?“ Sams Mutter hatte den Kopf in den Flur gesteckt und sah die Angesprochene nun fragend an.
„Ist in Ordnung.“ Jana zuckte mit den Schultern. Noch immer nahm sie die Welt um sich herum kaum wahr.
Auf dem Weg in die Küche versuchte Sam heraus zu finden, ob mit seiner Schwester auch wirklich alles in Ordnung war. Sie hatte noch nicht einen Versuch unternommen, Jana in irgendeiner Weise ihre Hilfe anzubieten. Auch Frau Menke schien das nicht so ganz zu verstehen und schließlich sprach sie ihre Tochter beim Essen darauf an.
„Sag mal, Maya, wie kommt es, dass du Jana nicht deine Hilfe angeboten hast? Sonst kannst du es doch kaum ertragen, wenn jemand auf Krücken durch die Welt laufen muss.“
Maya lachte. „Oh, ich werde mich hüten, Jana zu helfen. Nach dem, was ich über sie weiß, wäre ich dann wohl für immer unten durch bei ihr.“
Damit hatte sie Janas Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Woher weißt du das denn?“ Sam konnte das Misstrauen in Janas Stimme hören.
„Von deinem Bruder.“
„Von Alex?“ Janas Kopf fuhr zu ihrem Zwilling herum. Der hob verteidigend die Hände und schüttelte den Kopf.
„Nein, von Dominic.“
„Du kennst Nic?“ Janas Kopf wirbelte wieder zurück zu Maya.
„Ja“, die junge Frau lächelte. „Wir haben uns von zweieinhalb Jahren auf einem Sommercamp kennengelernt und schreiben uns seitdem regelmäßig.
Jana schluckte. „Er hatte gestern einen Unfall. Jetzt liegt er im Koma.“
Maya streckte die Hand aus und drückte Janas tröstend. „Ich weiß. Und ich hoffe wirklich, dass er wieder aufwacht.“
Der Unfall war fünf Tage her. Jana hatte seitdem viel Zeit mit Maya verbracht und sich mit ihr über alles mögliche unterhalten. Meistens ging es jedoch um Dominic und seinen Unfall. Immer wieder brachte Maya dabei das Thema Gott und Glauben ins Gespräch mit ein. Und je mehr Zeit Jana mit der jungen Frau verbrachte, desto mehr merkte sie, wie ähnlich Dominic und Maya sich waren.
Beide waren gute Zuhören. Man konnte sich gut mit ihnen unterhalten und kam sich nie dumm vor, nur weil man etwas nicht wusste. Und wenn sie über Gott, Jesus oder den Glauben sprachen, lohnte es sich immer, zuzuhören.
Jana wusste trotz ihrer vielen Gespräche mit Maya noch immer nicht, was sie von Gott halten sollte. Wenn es einen Gott gab, warum hatte er dann zu gelasssen, dass Dominic den Unfall hatte? Und warum half er ihm nicht wenigstens jetzt und ließ ihn aus dem Koma erwachen? Maya hatte ihr erklärt, dass Gott in der Bibel gesagt hatte, er würde auf die Menschen aufpasse und immer nur das Beste fpr sie wollen.
Dieser Unfall sah für Jana aber weder danach aus, als würde Gott auf ihn aufpassen, noch als würde er nur das Beste für Dominic wollen.
Jana war enttäuscht. Zerrissen. Der einzige Mensch, bei dem sie immer das Gefühl gehabt hatte, dass er sie wirklich verstand, lag im Koma und es bestand nur eine geringe Chance, dass er jemals wieder aufwachen würde.
Innerlich schrie Jana jeden Tag ihren Schmerz heraus, doch sie brachte dabei keinen Ton über die Lippen. Ihre Stimme blieb stumm. Stumm wegen einem übermächtigen Ohnmachtsgefühl. Sie wollte zu ihrem Bruder, aber sie durfte nicht. Sie musste zur Schule gehen.
Verzweifelt fragte sie sich, warum das ganze gerade ihr passieren musste. Es gab doch genug Menschen auf dieser Welt. Konnte es nicht einen anderen treffen? Immer und immer wieder stellte sie diese Fragen, auch wenn sie nicht wusste, an wen sie diese Fragen stellte. Sie fragte einfach immer wieder nach und wartete auf eine Antwort.
„Jana?“ Sie schreckte hoch. Verdammt, Jana, jetzt konzentrier dich auf den Unterricht! Von Tagträumen wird Nic auch nicht wieder gesund.
„Ja, Frau Brandtner?“
„Kannst du mir bitte sagen, was mit diesem Vers gemeint ist?“
Jana betrachtete das Gedicht an der Tafel und den Vers, auf den die Lehrerin wies. Sie kannte es nicht. Aber was interessierte sie ein blödes Gedicht, wenn ihr Bruder im Koma lag?
„Nein, tut mir leid. Ich weiß es nicht.“
„Pass jetzt bitte auf. Das hier ist wichtig für die Arbeit. Das gilt für euch alle. Samuel, was gibt es denn da jetzt so dringendes zu schreiben?“
„Nichts, Frau Brandt.“
„So? Dann erklär du mir doch bitte, was der Autor mit diesem Vers ausdrücken wollte.“
erstaunt sah Jana zu Sam hinüber. Frau Brandtner hatte ihn noch nie getadelt. Er war schließlich ihr Liebling.
Samuel ließ den Zettel, auf dem er gerade etwas geschrieben hatte schnell in seinem Block verschwinden und wandte sich der Tafel zu. Doch sobald Frau Brandtner sich wieder einem anderen Schüler zugewandt hatte, holte Sam den Zettel wieder hervor. Kurz darauf lag ein zusamen gefalteter Zettel vor Jana auf dem Tisch.
Bitte nach dem Unterricht lesen.
Wichtig !!!
Sam
Jana steckte den Zettel ein und versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Zu Maya. Zu Dominic. Zu Sam.
Nach dem Unterricht versuchte sie die Klasse so schnell wie möglich zu verlassen, doch ihre Deutschlehrerin rief sie und Alex zu sich.
„Ich warte draußen auf dich. Viel Glück“, raunte ihre beste Freundin. Als Jana auf sah, merkte sie, dass es nicht an sie, sondern an ihren Bruder gerichtet gewesen war. Ein leises Lächeln schlich sich auf Janas Lippen. Die ganze Klasse wusste, dass die beiden in einander verliebt waren.
„Was gibt’s denn?“, fragte Jana schließlich, als alle Schüler den Raum verlassen hatten. Sie stützte sich auf ihre Krücken und sah ihre Lehrerin fragend an.
„Nun, euer Vater war vorhin kurz in der Schule. Er hat mich von dem Unfall eures Bruders erzählt. Das tut mir wirklich leid.“ Jana wandte den Blick ab und starrte auf den Boden. Hatte sie sie nur dafür länger da behalten?
„Außerdem war euer Vater beim Direktor. Er hat eine Beurlaubung von der Schule zwischen Himmelfahrt und Pfingsten beantragt. Dem Antrag wurde statt gegeben.“
„Danke Frau Brandtner.“ Alex lächelte die Lehrerin dankbar an und gemeinsam verließen die Zwillinge die Klasse. Alex verabschiedete sich an der Tür von seiner Schwester und lief zu Jenny hinüber, um ihr die Neugikeiten zu erzählen. Jana machte sich auf den Weg zu ihrem nächsten Unterricht, ohne darauf zu achten, wo sie hinlief.
Und prompt stieß sie mit Samuel zusammen.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, es geht schon.“ Jana sah zu Boden.
„Kommst du heute Nachmittag in den Stall? Frieball würde sich freuen.“ Jana meinte ein Lächeln zu hören, war aber gleichzeitig irritiert. Was hatte Fireball damit zu tun?
„Mal gucken. Ich hab noch einiges zu tun, aber ich werde versuchen, zumindest vorbei zu schauen. Ist Maya heute da?“
„Nein, sie ist auf einem Mitarbeitertreffen für eine Pfingstfreizeit.“
„Schade. Ich hätte noch ein paar Fragen an sie gehabt …“
„Vielleicht kann ich dir ja helfen.“ Jana spürte Sams Blick auf sich, doch sie wagte es nicht, aufzublicken. Obwohl sie es eigentlich wollte, konnte sie es irgendwie nicht.
„Vielleicht.“ Jana überlegte einen Moment. „Also gut, ich komme heute Nachmittag in den Stall. Dann werden wir ja sehen, ob du mir helfen kannst.“
„Okay, dann bis nachher.“ Sam lächelte. Sie konnte es genau hören. Sie hob den Kopf, doch er war schon in der Schülermenge verschwunden. Sein Zettel fiel ihr wieder ein. Schnell ging sie zur nächsten Treppe und setzte sich.
Fireball ist ein Morgen Horse. Er ist jetzt sechs Jahre alt und als Barockpferd ausgebildet worden. Er kann sowohl unter einem „normalen“ Sattel, als auch unter dem Damensattel einige beeindruckende Kunststücke.
Mit viel Lob, einer weichen Hand und einem auf Gegenseitigkeit beruhendes Vertrauen, ist er wunderbar zu reiten. Ich weiß, dass das nätige Feingefühl hast. Und Fireball weiß es auch.
Hilf ihm. Rette ihn vor den Preslys. Lange hat er nicht mehr, bevor er endgültig zerbricht.
Du bist vielleicht seine letzte Hoffnung.
Unter dem kurzen Text war eine sehr detailreiche Zeichnung von dem Hengst zu sehen: Fireball in einem gelösten, freien Gallop. Er sah wunderschön aus.
„Ich werde dir helfen, Fire. Ich werde dir helfen“, flüsterte Jana der Zeichnung zu.
„Hey.“ Sam lächelte. Jana war also wirklich gekommen.
„Hi Jana.“ Sie trat an Fireball Box und sofort wandte der Hengst sich von Sam ab, um zu ihr hinüber zu gehen. Er stupste sie an und sie streichelte seine Nüstern.
„Warum?“ Die Frage kam plötzlich aus dem Nichts und traf Sam völlig unvorbereitet.
„Warum was?“
„Warum musste Dominic diesen Unfall haben? Wenn es Gott wirklich gibt, warum hat er dann nicht auf Dominic aufgepasst?“
Sam war sich ziemlich sicher, dass sie diese Frage mit Maya schon mal auseinander genommen hatte, doch er freute sich, dass sie sie ihm noch mal stellte.
„Ich glaube schon, dass er auf ihn aufgepasst hat. Dominic könnte tot sein, aber er lebt noch. Das ist doch schon ein kleines Wunder, oder nicht?“
„Aber hätte Gott den Unfall nicht verhindern können?“
„Einige Sachen, die geschehen, verstehen wir nicht. Gott lässt nichts ohne Grund geschehen. Er hat einen Plan. Mit Dominic, mit dir und mit euer Familie.“
„Und was für einen Plan? Kann er das nicht einfach sagen oder hätte er sich nicht wenigstens einen anderen Weg suchen können?“ Sam konnte die Verzweiflung in Janas Stimme hören. Es tat weh, sie so erschlagen zu sehen. Er wollte sie so gerne trösten, doch er wusste nicht wie.
Vorsichtig umarmte er sie, immer darauf gefasst, dass sie sich ihm entziehen würde. Doch zu seiner Überraschung erwiderte sie die Umarmung und legte ihren Kopf an seine Schulter.
„Wir verstehen nicht immer, was Gott vor hat. Aber du kannst mir glauben: Er liebt dich. Und er möchte dich in seiner Familie haben. Es schmerzt ihn, wenn du ihn abweist.“ Sam hielt einen Moment inne. „Kennst du eigentlich die Geschichte vom verlorenen Sohn?“
„Nein. Was ist das für eine Geschichte?“ Jana sah ihn fragend und neugierig an.
„Das ist eine Geschichte, die Jesus seinen Jüngern erzählt hat. Es geht um einen jungen Mann, der sein ganzes Leben auf dem Hof seines Vaters gelebt und gearbeitet hat. Aber er will dort nicht für immer festhängen. Er möchte frei sein und die Welt entdecken. Also geht er zu seinem Vater und bittet ihn um seinen Anteil an der Erbschaft.
Der Vater ist traurig über die Entscheidung seines Sohnes, doch er respektiert sie und so zahlt er seinen Söhnen ihren Anteil aus. Der ältere Sohn bewahrt das Erbe gut auf und bleibt bei seinem Vater. Doch der Jüngere, der, der frei sein möchte, nimmt seine Sachen und zieht in die Welt hinaus. Er lebt im Luxus und nimmt sich alles, was er haben möchte.
Doch irgendwann hat er kein Geld mehr. Er hat alles ausgegeben. Er macht sich auf die Suche nach Arbeit, aber wegen einer Hungersnot will ihn niemand einstellen.
Schließlich darf er bei einem Schweinebauern die Schweine hüten. Er hat so großen Hunger, dass er selbst das Fressen der Schweine genommen hätte, denn der Lohn des Bauern reicht nicht zum Leben.
Da muss er an seinen Vater denken. Er weiß: Bei seinem Vater werden sogar die Tagelöhner besser behandelt, als er an diesem Ort. Er beschließt, zu seinem Vater zurück zu kehren. Doch er will nicht als Sohn zurückkommen, sondern als Arbeiter. Denn er weiß: Er verdient es nicht mehr, der Sohn seines Vaters zu sein.
Doch als er schließlich das Gut seines Vaters erreicht, kommt dieser ihm entgegen gelaufen. Der Sohn will ihm sagen, dass er als Arbeiter, als Tagelöhner gekommen ist, doch davon will der Vater nichts hören. Er lässt die besten Kleider herauslegen und das Mastkalb schlachten.
Der Vater will die Rückkehr seines Sohnes groß feiern. Denn er hatte gedacht, sein Sohn sei tot, doch jetzt war er wieder am Leben.
Als der ältere Sohn an diesem Abend vom Feld heimkehrt, sieht er das große Fest. Er schickt nach seinem Vater und weigert sich, das Haus zu betreten, bevor er nicht weiß, was dort vor sich geht. Der Vater kommt und berichtet voller Freude von der Rückkehr des jüngeren Sohnes.
Da wurde der Ältere zornig. Er konnte es nicht verstehen. Er, der all die Jahre bei seinem Vater geblieben war und das Geld nicht verspielt hatte, hatte nie ein Fest bekommen. Doch der Sohn, der den Namen der Familie in den Schmutz gezogen hatte, bekam das größte Fest, das je auf dem Gut gefeiert worden war. Der ältere Sohn konnte sich einfach nicht über die Rückkehr seines Bruders freuen.“
Jana schwieg lange. „Der Vater soll Gott sein, nicht wahr? Der jüngere Sohn seht für die, die sich von Gott abgewandt haben oder ihn nie gekannt haben und die nun zu ihm zurückkehren. Der große Bruder soll dann wohl die Christen symbolisieren, die Gott treu geblieben sind, aber nicht verstehen wollen, warum Gott solche Verräter wieder aufnimmt. „Warum macht er das?“
„Weil er uns so sehr liebt. Er möchte nicht, dass einer von uns verloren geht. Und darum hat er auch seinen Sohn Jesus gesandt. Er hat ihn zu uns auf die Welt geschickt, um die Menschen zu retten. In Römer 3, 23-24 heißt es: Denn es ist hier kein Unterschied: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hat. Doch sie werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“
„Du glaubst, dass das alles wahr ist, oder?“
„Ja. Ich bin im Glauben aufgewachsen, aber ich war auch so ein verlorener Sohn. Denn ich wollte es trotzdem nicht glauben. Schon als kleines Kind habe ich Geschichten aus der Bibel gehört, doch ich wollte es nicht glauben. Dann hatte ich eine Unfall. Ich habe mir die Hand gebrochen und die Ärzte meinten, der Bruch würde schnell heilen. Aber nichts passierte.
Wir versuchten es bei verschiedenen Ärzten, doch alle sagten das gleiche: Eigentlich müsste der Heilungsprozess schon viel fortgeschrittener sein. Niemand konnte uns helfen.
Eines Nachts, als ich schon fast eingeschlafen war, spürte ich, wie jemand meine Hand berührte. Ich dachte, es wären meine Eltern, die noch mal nach mir sehen wollten, aber als ich sie am nächsten Morgen fragte, verneinten sie es. Wir hatten an dem Tag einen Arzttermin und als wir da waren, wurde mein Hand geröngt. Sie war verheilt. Der Bruch war vollkommen verschwunden.
Das war Gott, Jana. An dem Abend in meinem Zimmer, das war Gott. Er hat die Gebete meiner Eltern und meiner Schwester erhört und mich geheilt. Ich glaube, er hat die Heilung hinausgezögert, damit ich wieder zu ihm zurück finde.“
Jana sah Sam hoffnungsvoll an. „Glaubst du, dass er Dominic heilen kann?“
„Ja, das glaube ich.“
„Hey! Was macht ihr da bei meinem Pferd?“ Erschrocken drehten die beiden sich um. Dort stand Herr Presly und sah sie wütend an. Zu Sams Bedauern erkannte er ihn. „Bist du nicht Samuel Menke? Der Bengel, der mein Pferd vollkommen verzogen hat? Und das ist wohl deine neue Freundin, oder wie?“
„Hallo Herr Presly. Ich freue mich auch, Sie zu sehen.“ In seiner Stimme schwang ein deutlich sarkastischer Unterton mit. Bei ihm konnte er einfach nie wirklich höflich sein.
„Halt gefälligst dein Maul!“
„Sagen Sie, hat sich in letzter Zeit jemand um die Verletzungen ihres Hengstes gekümmert?“
„Wie?“ Die Frage von Jana hatte den Mann vollkommen aus dem Konzept gebracht. „Wer bist du denn?“
„Jana van der Vahn. Und ich werde mich nicht scheuen meinen Vater zu rufen, wenn die Mundwinkel ihres Pferdes nicht noch heute versorgt werden.“
Herr Presly starrte Jana durchdringend an, doch Jana hielt seinem Blick mit eiskalten Augen stand. „Ich denke gar nicht daran, noch irgendetwas für dieses Vieh zu tun. Der kommt zum Schlachter, dieser Nichtsnutz. Da sind die Wunden dann sein geringstes Problem.“
„Entschuldigen Sie bitte, mir ist zu Ohren gekommen, dass hier ein Pferd versorgt werden muss.“ Auf Janas Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus und Herr Presly drehte sich irritiert um.
„Und Sie sind?“
„Mark van der Vahn. Der örtliche Tierarzt. Kann ich wohl unter vier Augen mit Ihnen sprechen?“ Der Tierarzt war ein Mann Mitte vierzig mit wettergegerbtem Gesicht. Man sah ihm an, dass er oft Patientenbesuche im Freien machte. Die Ähnlichkeit zu Jana war in Ansätzen sichbar. Das bestimmte Auftreten, der unnachgiebige Blick.
„Mit mir?“ Herr Presly war sichtlich überrascht.
„Ja, mit Ihnen. Ich habe eben mit anhören müssen, wie sie mit meiner Tochter geredet ahben und mir gefällt Ihr Ton nicht sonderlich.
„Ihre Tochter?“
„Meine Tochter.“ Dr. van der Vahn deutete auf Jana. „Und ganz neben bei, warum wollen Sie den Hengst zum Schlachter bringen? Er ist doch noch in den besten Jahren.“
„Weil er wild und für die Kinder eine Gefahr ist.“
„Wild?“
„Ja, das sagte ich doch gerade. Er hätte mich fast gebissen. Und treten tut er auch! Meine Tochter hat er sogar erwischt. Sie musste ins Krankenhaus.“
„Ich bezweifle, dass der Hengst die Schuld daran trägt.“ Der Blick des Arztes war hart. „Ich glaube eher, das liegt an ihrem Umgangston. Wäre ich ein Pferd, hätte ich Sie schon längst getreten, schätze ich.“
Bei diesen Worten mussten Jana und Sam grinsen, doch ein strenger Blick von Janas Vater ließ das Grinsen schnell wieder verschwinden.
„Das glauben aber auch nur Sie!“
„Und so ungefähr jeder auf diesem Hof, der ein bisschen was von Pferden versteht. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie bringen den Hengst nicht zum Schlachter, sondern lassen meine Tochter und ihren Freund sich um das Pferd kümmern. Wenn etwas passiert, werden Sie nicht für den Schaden aufkommen müssen. In einem Monat gucken wir dann, wie Ihr Hengst sich entwickelt hat. Wenn er immer noch tritt und beißt, können Sie ihn von mir aus zum Schlachter bringen. Andernfalls darf meine Tochter ihn behalten.“
„Sie sind doch verrückt. Glauben Sie wirklich, ich würde den Hengst einfach so weggeben? Nein, da müssen Sie mir schon ein richtiges Angebot machen.“
„Gut, dann kaufe ich Ihnen den Hengst zum Schlachtpreis ab. Dann sind Sie ihn los und brauchen sich nicht mehr um ihn zu kümmern.“
„Was liegt Ihnen so an dem Hengst, dass Sie ihn unbedingt vor dem Schlachter retten wollen?“
„Oh, ich kenne den Hengst ja kaum. Aber meiner Tochter liegt offensichtlich etwas an dem Hengst und sie hat ein sehr gutes Gespür, was Pferde angeht. Und ich denke, er ist eigentlich ein sehr friedlicher Hengst.“
„Und wovon träumen Sie nachts?“ Herr Presly schnaubte verächtlich. „Aber gut. Mir soll's recht sein. Wenn Sie bis morgen zahlen, haben Sie ihn. Aber beschweren Sie sich nicht, wenn Ihre Tochter im Krankenhaus landet. Ich habe Sie gewarnt.“
Herr Presly verließ den Stall mit großen Schritten. Jana eilte auf ihren Vater zu und fiel ihm in die Arme. „Danke, Papa!“
Nach einer Weile löste sie sich wieder von ihm und sah ihr neugierig an. „Warum hast du das gemacht?“
„Ich kann doch nicht zu lassen, dass sie ein schönes Tier einfach geschlachtet wird.“ Ihr Vater erwidert ihren Blick entrüstet und sie muss lachen.
„Und woher wusstest du, dass er ihn heute abholen wollte?“
„Alex hat mich eben angerufen und es mir erzählt.“
Jana grinste und kam zu Fireballs Box zurück. Ihr Vater folgte ihr.
„Hallo, ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mark van der Vahn.“
Samuel ergriff die ihm dargebotene Hand. „Samuel Menke. Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Dr. van der Vahn. Und danke, dass Sie Fireball gerettet haben.“
„Oh, bitte. Ich bin Mark. Der Doktor hört sich immer so alt an.“ Er lachte. „Und den Hübschen hier habe ich gerne gerettet. Alex meinte, du hättest ihn mit aufgezogen?“
„Ja, er stand in meinem alten Stall. Ich verspreche dir, er wird euch noch stolz machen.“
„Und wenn wir ihn erstmal alleine auf die kleine Weide stellen? Wenn er sich dann an die Weide und die Herde nebenan gewöhnt hat, können wir ein paar Wallache dazu stellen.“ Es war der Mittag des nächsten Tages und Jana hatte sich mit Sam, ihrem Vater und Anja im Reiterstübchen getroffen, um zu überlegen, wie es mit Fireball jetzt weiter gehen sollte.
„Das könnte klappen“, stimmte Anja nachdenklich zu. „Aber was ist, wenn er den Zaun kaputt macht und zu der Herde rüber kommt? Und dann eine Stute deckt?“
„Also vor Stromzäunen hat er mächtig Respekt. Er ist als Fohlen mal in einen rein gelaufen und hat sich darin verheddert. Seitdem bleibt er da immer auf Abstand.“
„Und du bist dir sicher, dass er das immer noch macht? Auch, wenn auf der Weide nebenan eine rossige Stute steht?“
„Also als ich ihn das letzte mal auf der Weide gesehen habe, ist er nicht näher als zwei Meter an den Zaun ran gegangen. Und auf der anderen Weide stand eine fast reine Stutenherde.“
Anja seufzte. „Also gut, versuchen wir es. Momentan ist keine der Stuten rossig. Lasst ihn erstmal nur für zwei Stunden raus. Zu viel des Guten ist am Anfang nicht gut für ihn.“
„Danke, Anja. Das ist wirklich lieb von dir.“ Jana sprang auf und machte sich zusammen mit Sam auf den Weg zum Stall. Sie wollten erstmal ein bisschen mit Fireball auf den Platz, Bodenarbeit machen, bevor sie ihn dann auf die Weide entließen.
„Was genau hast du denn mit ihm vor? Du meintest doch, dass du eine Idee hättest“, fragte Sam neugierig, als er den Hengst zum Platz führte, doch Jana lächelte nur geheimnisvoll.
„Das wirst du gleich sehen. Lass ihn bitte einfach laufen, wenn ihr auf dem Platz seid.“
„Und was soll das bringen? Ich dachte, wir wollten arbeiten.“
„Tun wir ja auch. Hab ein wenig Geduld.“ Sam seufzte, tat aber, worum Jana ihn gebeten hatte. Sofort machte der Hengst einen Satz nach vorne. Sam versuchte noch, ihn aufzuhalten, aber der Fuchs war schneller.
„Lass ihn. Ich will ihn laufen sehen. Er hat jetzt fast zwei Tage gestanden.“ Sam gesellte sich zu Jana an den Zaun und gemeinsam beobachteten sie, wie der Hengst über den Platz galoppierte und immer wieder Bocksprünge einbaute, um der aufgestaute Energie ein wenig Freiraum zu geben.
Zufrieden beobachtete Jana die raumgreifenden Bewegungen des Morgan Horses. Irgendwann würde er hoffentlich auch unter seinem Reiter wieder so losgelöst laufen.
Wie sie erwartet hatte, kam Fireball zu ihnen an den Zaun, als er sich wieder beruhigt hatte. Sam sah erst den Hengst, dann ihr zufriedenes Gesicht erstaunt an. „Warum kommt er zu uns zurück? Wir könnten ihn doch wieder einsperren.“
Jana lächelte. „Er vertraut uns. Und ihm ist langweilig. Er will arbeiten. Und alleine kann er das nicht wirklich. Also kommt er zu uns zurück.“
„Woher weißt du das alles?“
„Ich habe die richtige Verwandtschaft.“
„Muss ich das jetzt verstehen?“
Sie lachte über seinen ratlosen Blick. „Nein. Aber du wirst es bald.“
Wie auf Kommando fuhr nun ein Auto auf den Parkplatz. Eine junge Frau stieg aus, sah sich kurz um und kam dann zum Reitplatz hinüber. Jana sah ihr mit einem Lächeln entgegen.
„Du bist zehn Minuten zu spät. Er ist grade fertig geworden mit toben.“
Die Frau lachte. „Das ist okay. Wird ja vermutlich nicht das letzte mal sein, dass ich ihn sehe, nicht wahr?“ Sie war bei Jana und Sam angekommen und umarmte Jana nun. „Hey du, wie geht’s die?“
Jana lächelte traurig. „Es ging mir schon mal besser. Aber die Arbeit mit Fireball hilft mir hoffentlich, mich abzulenken.“
Die Frau nickte. „Bestimmt.“ Dann wandte sie sich Sam zu. „Hi, ich bin Laura, Janas Cousine. Sie hat mich angerufen und gefragt, ob ich mir Fireball mal ansehen möchte.“ Als sie Sams fragenden Blick sah, lächelte sie. „Ich habe selber einige Pferde mit Damensattel-Ausbildung und habe auch schon das ein oder andere ausgebrannte Pferd wieder aufgepäppelt. Ich würde euch gerne helfen, wenn das okay ist.“
„Klar.“ Nun lächelte Sam auch. „Hilfe können wir immer gebrauchen. Also willkommen im Team.“
„Musterung bestanden. Herzlichen Glückwunsch, Laura. Ich habe länger dafür gebraucht.“ Jana lachte.
„Ich nehme an, daran bist du nicht ganz unschuldig, was?“ Jana grinste nur vielsagend und Laura lachte ebenfalls. „Nun denn, darf ich ihn mir mal ansehen?“
„Wenn er dich lässt. Bitte.“
Laura sah Sam kurz an, dann betrat sie den Platz und ging langsam auf Fireball zu. Jana sah dem Hengst sofort an, dass er sich nicht sicher war, was er von Laura halten sollte. Als sie ihm jedoch zu früh zu nah kam, trat er einen Schritt zurück und hielt diesen Sicherheitsabstand akribisch genau ein. Wenn Laura einen Schritt tat, tat er ihn auch. Wenn sie stehen blieb, blieb er ebenfalls stehen.“
Sam musste lachen, als er dieses Schauspiel beobachtete und Jana stimmte sofort mit ein. Laura drehte sich um und sah die beiden vorwurfsvoll an.
„Was ist denn daran jetzt bitte wieder lustig, hm?“
Jana zuckte bloß mit den Achseln und Laura wandte sich mit einem Grinsen wieder dem Hengst zu. Er versuchte inzwischen, in einem Bogen an Laura vorbei zu Jana und Sam zu kommen, doch Laura machte einen Schritt auf ihn zu und schnitt ihm so den Weg ab.
„Was versuchst du zu erreichen?“, fragte Sam neugierig, als sich dieses Spiel ein paar mal wiederholte.
„Ich will, dass er diesen Sicherheitsabstand verkleinert. Und dann darf er als Belohnung zu euch.“
Jana beobachtete Fireball genauer. Er war sich noch immer nicht sicher, was Laura anging. Noch nie war ein fremder Mensch so bestimmt auf ihn zu gegangen. Dass Laura so energisch auftrat, ließ ihn misstrauisch werden. Aber gleichzeitig schien er Laura auch irgendwie zu mögen. Dieser Widerspruch veranlasste ihn dazu, auf Abstand zu bleiben.
„Also die Weide mag er schon mal.“
„Ja, das war schon immer sein Lieblingsplatz. Am besten fand er immer eine Weide mit Bach.“
Laura wandte ihren Blick von Fireball ab und sah Sam erstaunt an. „Ein Bach? Ich dachte, er mag kein Wasser?“
„Ja, wenn es aus einem Schlauch kommt. Ein Bach, um die Hufe zu kühlen, ist ein Traum für ihn.“ Sam lächelte. „Meint ihr, wir können ihm irgendwie einen Bach besorgen?“
„Schon geschehen. Weiter hinten fließt ein kleiner Bach durch die Wiese. Er kommt von der anderen Weide und verschwindet dann da hinten im Wald.“ Jana lächelte, als Fireball laut wieherte und auf den Zaun zu galoppierte. Einen Meter davor blieb er abrupt stehen. Die Herde auf der anderen Seite antwortete auf seinen Ruf und kam ebenfalls an den Zaun. Fireball betrachtete nun den Zaun misstrauisch und die Herde dahinter neugierig.
„Na gut, ich muss so langsam wieder los. Meine Pferde wollen auch versorgt werden. Und ein Hof macht sich leider nicht von selbst. Wann soll ich wieder kommen?“
„Wann du willst. Wir sind eigentlich jeden Tag hier.“
„Dann schaue ich mal, ob es morgen passt.“
Laura umarmte ihre Cousine zum Abschied, hob dann nochmal kurz die Hand und machte sich dann auf den Weg um Parkplatz.
„Wie findest du Laura?“ Jana stütze sich auf ihre Krücken und sah Sam neugierig an.
„Wen? Deine Cousine? Sie ist nett und kann gut mit Pferden umgehen. Ich bin froh, dass du sie gebeten hast, uns zu helfen.“
Jana nickte langsam. „Ich auch. Von ihr Anja damals Lady gekauft. Das war das erste Pferd, das Laura im Damensattel ausgebildet hat und ich bin wirklich froh, dass sie sie verkauft hat. Ich hätte mir kein besseres Pferd vorstellen können, um neu reiten zu lernen. Sie hat immer darauf geachtet, dass ich sicher sitze. Und wenn ich sie geritten bin, war sie immer die Ruhe in Person. Um sie herum konnte die Welt untergehen und sie stand gelassen da und hat alles beobachtet.“
Sam lächelte. „Das hört sich ja nahezu perfekt an.“
„Ja, so ist sie mir immer vorgekommen. Perfekt.“
Ein Wunder ist geschehen!“ Alex. Wer sonst.
„Was willst du, Alex?“ Jana klang genervt, was ihren Bruder nur dazu brachte, breit zu grinsen und eine Arm um ihre Schulter zu legen.
„Nichts. Ich wollte mich nur versichern, dass ich hier keine Fata Morgana sehe, sondern ihn wirklich vernünftig miteinander redet.“
Nun war es an Jana, ungläubig zu gucken. „Echt? Wir haben vernünftig miteinander geredet? Ist mir nicht aufgefallen.“
Sam konnte hören, wie ihre Stimme vor Sarkasmus nur so triefte und musste grinsen.
„Tut ihr etwa nicht?“ Alex musste taub sein, wenn er den Sarkasmus nicht gehört hatte.
„Nein, nicht wirklich. Deine Schwester kann einfach nicht lange genug ernst bleiben, um ein vernünftiges Gespräch zu führen.“ Nun grinste auch Jana und Sam war erleichtert. Er hatte ihren Blick also richtig gedeutet.
„Stimmt, ich erinnere mich.“ Alex nickte wissend. „Wie lange habe ich denn noch auf das erste vernünftige Gespräch zu warten?“
„Ungefähr minus ein Tag und zwei Stunden.“
„Habt ihr Zeugen?“
„Vermutlich die Schüler, die in unserer Nähe standen.“ Nun klang Jana genervt. „War sonst noch was?“
„Nein, ich denke, das war's. Papa kommt in einer halben Stunde und wir wollten vorher noch ein paar Sättel putzen. Hast du Lust uns zu helfen, Sam?“
„Lust ganz bestimmt nicht, aber wenn ihr ganz lieb fragt, helfe ich euch vielleicht.“
„Ach nee, lass mal. Dann lasse ich euch hier lieber noch ein bisschen blöd rumstehen.“ Alex machte sich auf den Weg zur Sattelkammer und Sam sah ihm nach.
„Sollten wir nicht vielleicht doch helfen?“
Jana schnaubte. „Ja, wenn du Lust hast, eine halbe Stunde mit zwei Turteltauben in einem Raum zu hocken, tu dir keinen Zwang an. Ich genieße lieber die frische Luft und gute Gesellschaft, in der ich mich grade befinde.“
„Wenn die beiden es nicht gebacken kriegen, warum helfen wir dann nicht ein bisschen nach?“
Unter steh dich! Alex reißt mir den Kopf ab, wenn ich mich einmische. Von Jenny ganz zu schweigen.“
Sam lachte leise. „Okay, dann nicht.“ Einen Moment schwiegen beiden, dann ergriff Sam wieder das Wort: „Gute Gesellschaft also, ja?“
„Fireball. Ich habe von Fireball gesprochen. Bild dir bloß nichts drauf ein, dass du auch grade hier stehst.“
„Sehr gut!“
„Willst du das jetzt jeden Tag machen?“ Jana konnte die Zweifel in Sams Stimme hören, während sie Laura und Fireball auf dem Platz beobachtete. Der Hengst ließ sie noch immer nicht wirklich näher an sich heran.
„Nur solange, bis er mich an sich ran lässt. Ich hoffe, dass das demnächst sein wird.“
„Ich hätte da eine Idee“, mischte sich Jana in das Gespräch mit ein. „Was wäre, wenn sich Sam oder ich zu dir auf den Platz stellen? Wenn Fire sieht, dass wir dir vertrauen, kommt er vielleicht eher zu dir hin.“
Laura nickte langsam. „Ja, das könnte klappen. Wer macht es?“
„Geh du, du kennst ihn schon länger“, meinte Jana sofort.
„Aber es war deine Idee. Außerdem mag er dich lieber.“
„Okay, dann muss ich wohl gehen.“ Jana seufzte leise. Sie ging nicht gerne mit den Krücken auf den Platz. Aber Sam hatte recht. Fireball vertraute ihr mir als ihm.
Kaum stand Jana neben ihrer Cousine, kam Fireball auf sie zu. Laura schenkte er keine Beachtung.
Doch der Schein trog. Kaum versuchte Laura, ihn ebenfalls zu streicheln, machte er einen Schritt zur Seite. Das Spiel ging wieder von vorne los. Aber dieses Mal ging es immer im Kreis um Jana herum.
„Na gut, dann versuch mal, ihm ein Halfter anzulegen“, schlug Sam vor.
„Er wird es nicht zu lassen! Ich kann ihn ja nicht mal halten, wie soll ich ihm dann ein Halfter anlegen?“, fragte Laura verzweifelt. Jana betrachtete die Szene nachdenklich. Samuel stand mit einem Halfter in der Hand auf dem Reitplatz. Rechts von ihm stand Fireball, links Laura. Es sah fast aus, als wäre Sam als Vermittler zweier Parteien.
Fireball betrachtete das Halfter in Sams Hand neugierig und schien sich zu fragen, warum er das Halfter die ganze Zeit auf- und abgezogen bekam. Es schien ihm fast Spaß zu machen.
Laura fand das Ganze allerdings überhaupt nicht lustig. Seit einer Woche versuchte sie nun, sich mit Fireball anzufreunden, aber er ließ sie nicht wirklich an sich heran. Den Sicherheitsabstand hatte er inzwischen fast vollkommen aufgelöst, aber berühren durfte sie ihn immer noch nicht.
Laura wollte das Thempo jetzt etwas anziehen, weil sie hoffte, ihn damit rum zu bekommen. Bis jetzt hatte diese Idee allerdings noch keine Früchte getragen.
Jana beobachtete, wie Laura das Halfter entgegen nahm und einen Schritt auf Fireball zu trat. Er sah ihr mit gespitzten Ohren entgegen, machte aber einen winzigen Schritt zurück, als sie ihm das Halfter anlegen wollte. Beim nächsten Versuch machte er einen kleinen Satz zur Seite.
Plötzlich ging Jana ein Licht auf. Sie ließ sich vorsichtig vom Zaun runter gleiten, schnappte sich ihre Krücken und ging zu den anderen in die Mitte das Platzes. Fireball brummelte leise, als er mich sah und kam zu mir herüber. Laura seufzte.
„Laura, er spielt mit dir“, erklärte sie ihrer Cousine mit einem Lächeln in der Stimme.
„Sag bloß, da wäre ich ja nie drauf gekommen.“ Laura atmete tief durch und sah Jana entschuldigend an. „Sorry, ich wollte dich nicht so anfahren. Aber es frustriert mich, dass ich es nicht schaffe, mich mit Fireball anzufreunden.“
Jana nickte. „Ich weiß. Aber wo ist deine Entschlossenheit? Sonst hast du doch immer eine Engelsgeduld, um ein Pferd für dich zu gewinnen. Denk doch nur an Traumtänzer. Du musst daran glauben, dass du es schaffst. Fire spürt, dass du aufgegeben hast, also veräppelt er dich, wo es nur geht.“
Jana trat einen Schritt auf ihre Cousine zu und Fireball folgte ihr. „Na los, streichel ihn. Er wird nichts tun.“ Jana sah Laura herausfordernd an und diese atmete noch einmal tief durch. Dann kam sie die letzten Schritte auf Jana und Fireball zu und streckte zögerlich die Hand aus, um den Hengst zu streicheln. Dieser machte den Hals lang, um an ihrer Hand zu schnuppern, riss ihn aber dann plötzlich hoch. Ein amüsiertes Funkeln lag in seinen Augen. Nun hatte Laura, da sie darauf geachtet hatte, es auch gesehen und trat entschlossen noch einen Schritt auf Fireball zu. Nun ließ er den Kopf sinken und schnaubte zufrieden in Lauras Hand.
„Na siehst du, ist doch gar nicht so schwer.“ Jana lächelte und Laura strahlte vor Glück.
„Danke Jana, ohne dich hätte ich wohl aufgegeben.“
Jetzt, da Fireball sich von ihr anfassen ließ, untersuchte sie den Hengst genau auf eventuelle Verletzungen, die man auf den ersten Blick nicht sehen konnte. Zufrieden wandte sie sich schließlich an Jana und Samuel.
„Er ist einer guten Verfassung. Keine Risse in den Hufen, keine geschwollenen Gelenke, klare Augen und glänzendes Fell. Ihr habt da echt einen super Fang gemacht.“ Sie nickte anerkennend. „Meint ihr, ich kann ihn noch kurz longieren?“
Jana wiegte zweifelnd den Kopf. „Ich würde es lieber nicht machen. Ihr seid heute einen riesen Schritt vorangekommen. Überreiz es nicht, sonst machst du sofort alles wieder kaputt. Ich würde sagen, Samuel scheucht ihn noch fünf Minuten über den Platz, damit er nicht vergisst, dass er sich auch zu bewegen hat und dann bringen wir ihn auf die Weide.
Fireball schlug mit dem Kopf, um eine Fliege zu vertreiben und schnaubte dann zufrieden. Jana lachte.
„Siehst du, sogar Fireball ist dafür.“
„Ja, aber auch nur, weil er auf die Weide darf“, stimmte Sam grinsend zu. Laura und Jana verließen den Platz und Sam ließ Fireball um den Platz traben und galoppieren. Laura verabschiedete sich kurze Zeit später, da sie sich noch etwas auf ihrem Hof zu erledigen hatte.
Die nächsten Tage würde sie immer für eine halbe Stunde intensive Boden- und Longenarbeit vorbeikommen. Auch Sam und Jana wollten mit ihm arbeiteten. Sie würden ihn meistens durch einen Geschicklichkeitsparcours lotsen. Erst mit Strick, dann mit durchhängendem Strick und schließlich ohne Strick. Laura konzentrierte sich mit ihrer Arbeit mehr darauf, dass er in Form blieb und auch mal ein bisschen ins Schwitzen geriet, während Jana und Sam seine Sinne schulten und sein Vertrauen wieder aufbauten.
„Weißt du eigentlich, dass du etwas ganz besonderes bist?“
Jana sah Sam erstaunt und verwirrt an. „Bin ich das?“
„Ja, Fireball hat das von Anfang an erkannt. Er lässt nur ganz besondere Menschen sofort an sich heran.“
„So wie du?“
Samuel lächelte. „Nein. Mich hat er nicht sofort gelassen. Und dann ich nur zehn Minuten gebraucht habe, um ihn zu überzeugen, lag zum einen daran, dass er noch ein Fohlen war und ich zum anderen eine Flasche Milch in der Hand hatte.“
„Und in wie fern bin ich etwas ganz besonderes? Liegt es daran, dass ich gut in der Schule bin, obwohl ich nicht so spät eingeschult wurde?“, spielt Jana mit einem Lächeln auf Sams Aussage von seinem ersten Tag an. Sie grinste ihn frech an und er schüttelte lachend den Kopf.
„Glaub mir, Tieren ist es vollkommen egal, wie gut du in der Schule bist oder wann du eingeschult wurdest. Es geht eher darum, wie du mit Tieren umgehst. Sie merken, dass du es gut mit ihnen meinst. Fireball guckt sich die Menschen an und entscheidet dann, ob sie gut oder böse sind. Und dir hat er ein sehr gut gegeben.“
Jana grinste noch immer. „So, wie er Herrn Presly ein sehr böse gegeben hat?“
„Machst du dich grade über mich lustig?“ Entrüstet sah Sam sie an. „Ich versuche hier grade ein ernsthaftes Gespräch zu führen und du lachst mich einfach aus.“
„Okay, okay. Ich bin jetzt ernst.“ Jana atmete tief durch und sah Samuel dann ernst an. Doch gleich darauf wieder grinsen. „Sorry, es geht nicht anders. Aber wenn ich ein sehr gut bekommen habe und Herr Presly ein sehr böse hat, wo stehst du dann?“
„Na ja, du bist etwas ganz besonderes und ich stehe vermutlich irgendwo kurz vor etwas besonderes.“
Jana sah ihn nachdenklich an. „Nein, das passt nicht. Besser wäre ein eingebildeter Streber?“
„Hey, ich hab doch gesagt, es bezieht sich nicht auf die Schule!“ Sam lachte.
„Na gut, dann bist du etwas ganz besonders eingebildetes.“
„Du machst dich schon wieder über mich lustig.“
Jana grinste. „Schuldig im Sinne der Anklage.“ Plötzlich erlosch ihr Grinsen und sie sah Sam traurig an. „Dominic hat auch immer gesagt, dass ich etwas ganz besonderes bin. Und dass ich das nie vergessen soll.
„Und damit hat er vollkommen recht.“ Sam sah sie sanft an. „Du bist ein ganz wundervolles Mädchen, das eigentlich schon eine ganz wundervolle junge Frau ist.“
„Wenn du noch einen Schritt zur Seite machst, stehst du in der Pfütze.“ Sam sah Jana erstaunt an.
„Welche Pfütze?“; fragte er und trat gleichzeitig noch einen Schritt zur Seite, um besser an Fireballs Schweif heran zu kommen. Und prompt stand er in besagter Pfütze.
„Ach die Pfütze.“ Sam lächelte schief und Jana versuchte vergeblich, sich ihr Lächeln zu verkneifen. „Ja, lach nur.“ Sam sah sie anklagend an. „Du stehst ja auch nicht in der Pfütze.“
„Tut mir leid, aber ich habe dich gewarnt“, entschuldigte sie sich. „Mehr konnte ich nun wirklich nicht tun.“
Sam trat aus der Pfütze heraus und besah sich seine Schuhe.
„Na ja, wenigstens ist kein Wasser in die Schuhe gelaufen. Auch wenn sie ganz schön mitgenommen aussehen.“ Sam richtete sich auf. „Sag mal, wo ist denn Laura? Sie ist doch sonst immer so pünktlich.“
„Sie kann heute nicht. In ihrem Stall ist bald eine Aufführung und dafür muss sie noch einiges machen. Wir haben heute also freie Bahn mit Fire. Und wenn nicht irgendwelche Zaungäste auftauchen, sind wir ganz alleine mit ihm.“
„Heißt also, die anderen werden irgendwann dazu kommen, um uns zu zu gucken.“
„Leon zumindest. Der Rest ist nicht da. Alex und Jenny sind im Kino und Jonas ist mit seinem Vater unterwegs. Deswegen ist Leon heute alleine und weil die Halle besetzt ist, kann es gut sein, dass er sich zu uns gesellen wird.“
Jana schnappte sich eine neue Bürste und putzte Fireballs Kopf. Sam war inzwischen auf die andere Seite des Hengstes gegangen und hatte den Schweif des Hengstes gebürstet. Während er dann die Beine machte, polierte Jana Fires Fell noch ein bisschen auf.
Eine Viertelstunde später standen die beiden mit Fireball auf dem Platz. Er hatte Damensattel und Trense auf. Laura war zwar eigentlich dafür, dass sie ihn als erstes reiten sollte, aber Jana wusste, dass es Fireball helfen würde, wenn sie selbst oder Sam als erstes auf ihm reiten würden, da der Hengst ihnen inzwischen blind vertraute.
„Sam, kannst du mir hoch helfen?“
„Ähm … klar. Wenn du mir sagst, was ich machen muss?“ Jana erklärte es ihm schnell und dann half er ihr hoch. Kaum saß sie im Sattel, verspannte sich Fireball. Sie sortierte ihre Beine, nahm vorsichtig die Zügel auf und klopfte ihm dann beruhigend den Hals. Er schnaubte und entspannte sich ein wenig.
„Okay, Junge. Dann wollen wir mal sehen, was bei dir noch zu retten ist.“ Beim Klang von Janas Stimme drehte Fireball seine Ohren nach hinten, um nach ihr zu lauschen. Sie nahm die Zügel noch etwas auf und trieb ihn dann vorsichtig an.
Fireball machte einen Satz nach vorne und lief dann in einem holprigen Trab los. Sofort gab Jana eine halbe Parade, woraufhin der Hengst in den Schritt fiel.
Jana seufzte. Da hatten sie noch einiges vor sich. Sie ließ Fireball weiter Schritt gehen und versuchte, mit den Zügeln eine Verbindung aufzubauen, ohne dass der Hengst völlig steif und verspannt durch die Gegend lief.
Es klappte nicht.
Also hielt Jana den Hengst an und ließ den Zügel ganz lang. Wie sie gehofft hatte, senkte Fireball den Kopf und schnaubte leise. Nun trieb sie ihn mit durchhängendem Zügel an, doch das Resultat war das gleiche wie beim ersten Versuch: Ein Satz nach vorne und ein holpriger Trab. Jana versuchte, den Trab über Gewichtshilfen ruhiger werden zu lassen und tatsächlich entspannte sich Fireball nach einigen Runden und senkte den Kopf.
Schließlich parierte sie ihn in den Schritt durch und blieb bei Sam stehen.
„Da haben wir noch einiges vor uns. Sam, tu mir einen Gefallen: Laura darf Fireball nicht reiten, während ich in Schweden bin. Er ist noch nicht soweit, dass ihn ein Reiter mit Lauras Retistil reitet.“
„Okay, ich werde sehen, was ich tun kann. Aber was ist an Lauras Stil so anders?“
Jana seufzte. „Sie reitet mehr wie du. Zwar mit weicher Hand, aber starken Zügelhilfen. Fireballs Maul ist noch immer besonders empfindlich, weil die Preslys immer am Zügel gerissen haben. Wenn Laura ihn jetzt reitet, können wir noch mal ganz von vorne anfangen. Deshalb wollte ich ihn auch als erstes reiten.“
Sie warf einen Blick zum Zaun und seufzte. „Ich wünschte, Leon könnte ihn reiten. Aber Leon ist noch nie im Damensattel geritten und Fireball ist kein Anfängerpferd. Das war Lady.“
Samuel folgte ihrem Blick. Leon lehnte an der Umzäunung und beobachtete das Trio auf dem Platz. Plötzlich kam ihm eine Idee. „Hättest du was dagegen, wenn Leon in den nächsten zwei Wochen mit Fireball durch den Geschicklichkeitsparcours geht?“
Jana sah Samuel verwirrt an. „Nein, von mir aus kann er das gerne machen. Er hat ein gutes Händchen für Pferde. Seine ruhige Art würde Fireball auf jeden Fall gut tun.“
Von dem Flug nach Schweden bekam Jana nur sehr wenig mit, da sie die meiste Zeit schlief. Die Fahrt zum Hotel selber war auch nicht sehr ereignisreich. Sie fuhren durch halb Stockholm und auf den ersten Blick unterschied die Stadt sich kaum von anderen Städten. Das Hotel war nicht sehr groß, aber das lag daran, dass sie so spontan gebucht hatten und es außerdem in der Nähe des Krankenhauses lag.
Mark van der Vahn war nicht mitgekommen, da er auf die schnelle keine Vertretung gefunden hatte. Er würde Dominic später besuchen kommen. Silke van der Vahn war eine Woche nach Dominics Unfall wieder nach Deutschland gekommen, aber jetzt wieder mit ihren Kindern nach Schweden zurück geflogen.
Ein Freund von Dominic holte die drei vom Flughafen ab und brachte sie zum Hotel.
„Wann soll ich euch wieder abholen?“, fragte der junge Mann, als sie das Hotel erreicht hatten.
„Wie viel Uhr ist es denn jetzt?“
„Fünzehn Uhr.“ Lars gehörte zu einem der vielen Schweden, die fast fließend Deutsch sprachen.
Jana warf ihrer Mutter und ihrem Bruder einen Blick zu. „Können wir vielleicht unsere Sachen wegbringen und dann gleich ins Krankenhaus? Ich würde gerne zu Nic.“
„Klar. Ich helfe euch beim Tragen.“ Sie stiegen aus und brachten das Gepäck ins Hotel. Keine Viertelstunde später saßen sie wieder im Auto und fuhren Richtung Krankenhaus.
„Wie geht es ihm denn?“
„Nicht sehr gut“, beantwortete Lars Alex' Frage. „Sein Zustand ist stabil, aber es ist nicht sicher, ob er wieder aus dem Koma aufwacht. Seine Wert sind seit Wochen unverändert.“
Jana erkannte Dominic fast nicht wieder. Er war blass, sein Gesicht eingefallen und sein rechter Arm war durch Schläuche mit einer Vielzahl von Geräten verbunden. Schnell trat sie an Dominics Bett und streichelte vorsichtig seine Hand. Seine Augenlider flatterten und ihre Hand zuckte zurück.
„Komm zurück, Dominic. Ich brauche dich!“, flüsterte sie. Alex trat neben sie und sie schluckte weitere Worte hinunter. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht immer stark sein. Ich kann nicht immer trösten. Wo soll ich denn die Kraft herbekommen?!
Trägst du mich Herr, wenn ich müde werde? Wenn ich in Not meine Kraft aufzehre? Führe mich , Herr, führ mich ans Ziel. Mach mich bei dir ruhig und Still. Schenk mir Flügel, die mich tragen, schenk mir Flügel heim zu dir. Ganz ganz nahe möcht ich bleiben; ganz ganz nahe bist du mir.
Jana sah sich um. Woher kam diese Musik?
Sie saß in der Cafeteria des Krankenhauses und wollte grade an einem Referat für die Schule weiterarbeiten. Ihr Blick glitt über die Tische. Es waren alle möglichen anderen Leute in der Cafeteria. Manche unterhielten sich leise, andere saßen einfach nur schweigend da. Niemand schien die Musik bemerkt zu haben. Aus den Lautsprechern drang zwar leise Musik, doch das war irgendein Klavierstück.
Komm, jetzt ist die Zeit, wir beten an. Komm, jetzt ist die Zeit, gib ihm dein Herz. Komm, so wie du bist und bete an. Komm, so wie du bist vor deinen Gott. Komm. Jede Zunge wird dich bekennen als Gott. Jeder wird sich beugen vor dir. Doch der größte Schatz bleibt für die bestehen, die jetzt schon mit dir gehen. Komm, jetzt ist die Zeit, wir beten an. Komm, jetzt die Zeit, gib ihm dein Herz. Komm, so wie du bist und bete an. Komm, so wie du bist vor deinen Gott. Komm …
Wieder kam die Musik nicht aus den Lautsprechern. Und wieder schien niemand das Lied bemerkt zu haben.
Seufzend packte Jana ihre Sachen zusammen. Sie konnte sie im Moment sowieso nicht konzentrieren. Am Ausgang der Cafeteria traf sie auf Lars und eine junge Frau, die er als Melanie vorstellte. Sie war eine von Dominics Kollegen gewesen.
„Hallo Jana, schön dich kennen zu lernen. Auch wenn du Umstände nicht grade die besten sind.“ Sie umarmte Jana zur Begrüßung sofort. „Dominic hat schon so viel von der erzählt. Wir wollten grade etwas essen. Willst du dich zu uns gesellen?“
Auch Melanie sprach fließend Deutsch und überrumpelt stimmte Jana zu. Sie wollte nicht schon wieder zu Dominic und ihn dabei beobachten, wie er reglos in dem Bett lag, und etwas anderes hatte sie nicht zu tun.
Beim Essen fing Melanie sofort wieder an zu reden. „Glaubst du an Gott?“
Jana zögerte. Was sollte sie dazu sagen? „Das versuche ich auch grade heraus zu finden.“
Das brachte Melanie erstmal zum Verstummen. Sie schien zu überlegen, was sie von der Antwort halten sollte.
„Wie meinst du das?“, fragte schließlich Lars in die Stille hinein.
„Na ja … in den letzten Wochen hat mir ein Freund einiges über Gott und den Glauben erzählt. Aber dadurch, dass Dominic diesen Unfall hatte und … ich weiß einfach nicht, was ich von Gott halten soll.“ Jana senkte den Kopf.
„Du meinst, du verstehst nicht, warum er diesen Unfall zu gelassen hat, wo doch alle immer sagen, dass er allmächtig ist?“, fragte Melanie sanft. Zögernd nickte Jana. „Weißt du, ich kann dir das auch nicht beantworten. Aber … wenn Gott alles kann, dann kann er Dominic auch wieder gesund machen.“
Jana hob den Kopf und sah Melanie an.
„Und ich weiß, dass das jetzt vermutlich komisch und unglaubwürdig klingt, aber in der Bibel steht, dass Gott alle Menschen liebt und er nur das beste für sie will. Aber er hat ihnen auch den freien Willen gegeben. Wir können selbst entscheiden, ob wir seine Liebe annehmen und erwidern, um mit ihm zusammen zu leben, oder ob wir unsere eigenen Wege gehen.“
„Und was hat dieser Unfall damit zu tun? Dominic glaubt doch an Gott. Er hat sich doch für ein Leben mit Gott entschieden, oder nicht? Warum musste dann dieser Unfall passieren? Gott liebt ihn doch.“
„Das tut er auch. Vielleicht hat er Dominic oder dem anderen Autofahrer ja auch Zeichen gegeben, dass sie anhalten oder gar nicht erst losfahren sollen, aber sie haben diese Zeichen einfach nicht gesehen oder haben sie ignoriert. Jeder kann frei entscheiden, ob er auf Gott hören möchte, oder nicht. Das kann niemand anders für einen selbst entscheiden.“ Melanie lächelte Jana aufmunternd zu.
„Möchtest du vielleicht morgen mit in unseren Gottesdienst kommen?“, fragte Lars. „Vielleicht hilft es ja, das ganze etwas besser zu verstehen.“
„Vielleicht.“ Jana zögerte. „Würde ich denn da überhaupt etwas verstehen? Ich kann doch gar kein Schwedisch.“
„Keine Angst, der Gottesdienst ist auf Deutsch. Du würdest also eine ganze Menge verstehen.“ Melanie lächelte. „Zumindest akustisch. Und wenn du Fragen hast, kannst du gerne Lars oder mich oder irgendjemanden aus der Gemeinde fragen. Die Leute sind sehr freundlich und aufgeschlossen.“
„Na gut, dann komme ich mit.“ Jana lächelte unsicher. „Ist es okay, wenn ich wieder gehe? Ich glaube, Mama wollte bald zurück ins Hotel und ich würde gerne vorher nochmal zu Nic.“
„Geh nur.“ Melanie lächelte Jana zu und diese brachte ihr Tablett weg. Dann verließ sie die Cafeteria und machte sich auf den Weg zu Dominics Zimmer. Mit etwas Glück waren ihre Mutter und Alex grade nicht da und sie konnte einen Moment mit ihrem großen Bruder allein sein.
Sie hatte Glück. Weder ihre Mutter, noch Alex waren grade bei Dominic.
„Hey großer Bruder. Erinnerst du dich noch, als du im Sommer weggefahren bist? Du hast damals gesagt, dass das Jahr ganz schnell vorbei sein würde und ich nicht mal merken würde, dass du nicht da bist. Da hattest du mal wieder recht. Aber nur teilweise. Die Zeit ist schnell vergangen, ja. Aber ich habe dich trotzdem vermisst.“ Jana stockte.
„Du meintest auch, dass ich immer stark sein soll, was auch passiert. Ich war stark, aber das geht nicht mehr. Alle denken, dass ich den Unfall gut verarbeitet habe, aber das stimmt nicht. Ich brauche dich. Du hast es immer geschafft, mich wieder aufzubauen, wenn es mit schlecht ging. Selbst in diesem dreiviertel Jahr, das du in Schweden warst, hast du das noch geschafft. Jetzt bist du nicht da. Aber ich brauche jemanden. Ich schaffe das nicht alleine.“
Jana konnte nicht mehr weiter reden. Tränen flossen ihr die Wangen herunter. Sie versuchte gar nicht erst, sie aufzuhalten.
Sam war am verlängerten Himmelfahrtswochenende fast nur im Stall anzutreffen. Wenn er nicht grade mit Fireball und Laura auf dem Platz arbeitete, oder neben dem Hengst auf der Wiese lag, half er Anja im Stall oder bei den Reitstunden. Als Dank durfte er abends noch reiten. Seine anfänglichen Schwierigkeiten mit Lord hatten sich inzwischen auf verflüchtigt. Die beiden hatten sich zusammen gerauft.
Sonntag Abend ritten Leon, Jenny, Jonas und Sam zusammen mit Leons Vater aus. Am Abend wollte Sam mit Jana skypen. Sie war direkt am Donnerstag nach Schweden geflogen und man merkte Fireball an, dass er seine Freundin vermisste. Zwar hatte Leon inzwischen angefangen, ebenfalls mit dem Hengst zu arbeiten und dieser hatte fast sofort mit großer Begeisterung mitgemacht, doch er war nie vollkommen bei der Sache. Immer wieder lauschte er, ob er das Geräusch von Janas Krücken auf dem Hof hörte.
Als Jana dann am Abend anrief, wollte Sam ihr eigentlich davon erzählen, doch er kam gar nicht zu Wort.
„Sam, die Ärzte meinten, dass Dominic endlich besser geht!“ Er konnte die Begeisterung in Janas Stimme deutlich hören und freute sich mit ihr. „Sie sagen, es sei ein Wunder, dass das jetzt noch passiert ist. Es ist zwar nicht sicher, wann er letztendlich aus dem Koma aufwacht, aber seine Weite haben sich in den letzten Tagen kaum merklich gebessert.“ Jana legte eine kurze Pause ein. „Ich denke, das ist dann wohl Gottes Art zu zeigen, dass er doch helfen kann. Ich war heute morgen in einem deutschen Gottesdienst und danach habe ich mich noch lange mit einem aus der Gemeinde unterhalten. Bevor ich dann wieder ins Krankenhaus gefahren bin, hat er zusammen mit mir für Dominic gebetet und mich gesegnet.“
Sam lächelte. Es war schön zu hören, dass es Jana so gut ging.
„Und als wir dann im Krankenhaus waren, hat der Arzt uns das mit den Werten erzählt.“
„Danke Gott“, fing Sam spontan an, laut zu beten, „danke, dass du Dominic zurück ins Leben führen willst. Danke, dass du dich Jana gezeigt hast und sie in deine Familie aufgenommen hast.“ Am anderen Ende der Leitung lachte Jana leise. „Danke, dass sie dich kennenlernen durfte. Danke, dass sie so ein tolles Mädchen ist. Sei bitte bei ihr. Gib ihr Kraft, die Zeit des Wartens zu überstehen, bis Dominic wieder aufwacht. Stell ihr auch in Schweden Leute an die Seite, die ihr im Glauben weiterhelfen können.“
„Danke, dass du mir Sam geschickt hast, damit er mich auf dich zu schubsen kann. Ohne ihn wäre ich heute vermutlich nie in den Gottesdienst gegangen“, führte Jana das Gebet weiter. „Danke, dass er und seine Schwester bis jetzt so viele meiner Fragen beantwortet haben und mir hoffentlich auch in Zukunft noch helfen werden. Danke, dass es dich gibt und du jeden menschen liebst und nur das Beste für ihn willst.“
Sam lächelte.
Das Telefonat mit Sam war wunderbar gewesen. Dass jemand so einfach zwischen Gespräch und Gebet ganz spontan wechselte, hatte Jana noch nie erlebt. Aber Sam schien genau gewusst zu haben, was er beten musste. Er hatte praktisch genau das angesprochen, was ihr Sorgen machte.
Nach dem Gebet hatten sie sich noch lange über Fireball unterhalten. Sam erzählte ihr von Leons Fortschritten bei dem Hengst und sie war begeistert, dass er so schnell mit Leon zusammenarbeitete, ohne die ganze Zeit aufzumucken und sich gegen Leon zu wehren, wie er es von Zeit zu Zeit gerne bei Laura machte.
Irgendwann kam das Gespräch dann auf Gott. Erst als Sams Mutter ihn daran erinnerte, dass er morgen in die Schule musste, legten sie auf.
Am Montag konnte Jana wieder ein paar ungestörte Stunden allein bei Dominic verbringen, da ihre Mutter ausschlafen und Alex an seinem Referat für die Schule arbeiten wollte. Jana nutzte die Zeit, um Dominic von zuhause zu erzählen. Sie erzählte von Fireballs ausgreifenden Gängen auf der Weide und ihrem Traum, dass er so auch irgendwann unter dem Sattel gehen würde. Sie erzählte ihm von Samuel und Maya und wie die beiden sie zum Glauben hingeführt hatten, auch wenn Dominic schon lange vorher das Fundament gelegt hatte.
Und zum Schluss erzählte sie ihm von dem Gottesdienst, den sie am Vortag besucht hatte. In der Predigt hatte der Pastor über Gottes weg für die Menschen geredet. Sie hatte ihm aufmerksam zu gehört und die Worte in sich aufgesogen. Bei seiner Einladung an die Gemeinde, nach dem Gottesdienst noch länger zu bleiben, wenn Fragen aufgekommen waren, wäre sie beinahe vor Freude aufgesprungen.
Sie hatte den Pastor selber angesprochen und mit Fragen nur so gelöchert. Er hatte sie ihr gerne beantwortet und irgendwann, mitten im Gespräch und völlig aus dem Zusammenhang gerissen, hatte er sie schließlich gefragt, ob sie Dominics Schwester sei.
Am Nachmittag arbeitete Jana weiter an dem Referat für die Schule. Nebenbei hörte sie Musik. Lars hatte ihr ein paar CDs aus der Wohnung ihres Bruders mitgebracht, die sie sich nun anhörte. Er hatte gesagt, dass sie ihr bestimmt gefallen würden, und er hatte Recht behalten.
Wie schon am Sonntag Abend, telefonierten Sam und Jana auch Montag und Dienstag miteinander. Sie hatte von Lars einen Kalender zum Bibellesen bekommen und sich alle Fragen notiert, die aufgekommen waren. Sam versuchte sie dann abends, so gut es ging, zu beantworten und wenn er mal nicht weiter wusste, fragte er seine Schwester.
Mittwochabend fiel das Telefonat nur sehr kurz aus, da Sam noch zu dem Jugendkreis wollte, den er in der Stadt gefunden hatte. Jana erklärte, sie wollte auch gerne mitkommen, wenn sie wieder in Deutschland war.
Das Thema des Abends war Gebet und Gebetserhörung. Sam erzählte nach kurzem Zögern, was er damals mit seiner Hand erlebt hatte und auch zwei andere erzählten von ihren Erfahrungen mit Gebet.
Der Vater des einen Mädchens war von der Leiter gestürzt und die Ärzte waren sich lange Zeit einig gewesen, dass er Querschnittsgelähmt sein würde. Doch im letzten Monat hatte die Prognose sich geändert. Er würde wieder laufen können.
Das zweite Zeugnis kam von einem Jungen. Seine Eltern waren beide lange arbeitslos gewesen und hatten es schwer gehabt, einen neuen Job zu finden. Eines Tages hatte dann ein alter Freund der Mutter angerufen und gesagt, er habe einen Job für sie, wenn sie interessiert war.
Als Jana und Alex nach Pfingsten wieder in die Schule kamen, wollten sofort alle wissen, wo sie gewesen waren. Immer und immer wieder erklärten sie, es sei eine Familienangelegenheit und sie wollen nicht darüber reden. Erst in der dritten Pause brach der Strom der neugierigen Schüler ab.
„Wie sieht es aus, kommt ihr heute Nachmittag in den Stall, oder müssen Leon und ich Fire noch einen Tag länger hinhalten?“, fragte Sam, als sie vor dem Klassenraum auch ihre Deutschlehrerin warteten.
„Also ich werde da sein, ob ich nun darf oder nicht.“ Jana sah Sam schon fast empört an. „Aber das kann Paps mir ja eigentlich nicht verbieten, nachdem ich Fire jetzt zwei Wochen lang nicht gesehen habe.“
„Sei dir da mal nicht zu sicher, Jana“, mischte sich nun Alex ein. „Ich traue ihm zu, dass er sagt, wir sollen uns erstmal von der anstrengenden Zeit in Schweden erholen.“ Er verzog das Gesicht. „Aber ich würde auch gerne kommen. Langsam treten die ersten Entzugserscheinungen bei mir auf, weil ich Prince so lange nicht mehr gesehen habe.“ Er hob die Hand und ließ sie leicht zittern, während er seine Freunde fröhlich angrinste.
„Dann hoffen wir mal, dass diese Entzugserscheinungen dich nicht daran hindern, am Unterricht teilzunehmen“, unterbrach da Frau Brandtner das Lachen der Freunde. „Wenn ich mich richtig entsinne, hören wir heute ein Referat von dir, nicht wahr?“
Alex seufzte. Beide Zwillinge hatten ein Referat vorbereiten müssen, während sie in Schweden waren. Jana in Bio, Alex in Deutsch und in diesem Moment war Jana unglaublich erleichtert, dass sie Bio erst wieder am Dienstag haben würden. Im Gegensatz zu Alex, hatte sie also eine Woche mehr Zeit, ihrem Referat den letzten Schliff zu verleihen.
Die Klasse folgte ihrer Lehrerin in den Raum und Alex blieb vorne stehen, um etwas mit ihr zu besprechen. Dann stellte er seine Tasche ab und fuhr Beamer und Laptop hoch. Währenddessen begrüßte Frau Brandtner die Klasse und erklärte, dass sie mit Alex' Referat in das neue Thema einsteigen würden – Dramen.
Jana beobachtete ihren Bruder, wie er die Präsentation öffnete. Seine Hände zitterten ein wenig, aber das war das einzige Anzeichen dafür, dass er Aufgeregt war. Als er sich schließlich zur Klasse umdrehte, um mit dem Vortrag zu beginnen, wirkte er ruhig und souverän – also im Prinzip wie immer.
„Okay Alex, die Stunde der Wahrheit ist gekommen.“ Jenny stand mit in die Hüften gestemmten Armen direkt vor ihrem Freund und sah ihn ernst an. „Wie schaffst du es, so ruhig und gelassen auszusehen, wenn du doch offensichtlich extrem nervös bist? Ich würde ausflippen und kein Wort über die Lippen bekommen. Vor allem, wenn ich alleine eine halbe Stunde vor der Klasse reden müsste.“
„Und das, obwohl du doch sonst immer redest, wie ein Wasserfall.“ Alex grinste. „Das Geheimnis ist, dir vorzustellen, du würdest mit deinen Freunden über diese Sache reden. Aber hauptsächlich ist es Übung. Mit einem guten Willen kannst du alles erreichen. Sie dir Fireball an.“ Alex schnappte sich Princes Halfter und verließ die Sattelkammer, um das Pferd von der Weide zu holen.
Sam schloss sich dem Freund schnell an und kurze Zeit später tauchten auch Jenny, Jonas und Leon auf der Weide auf. Lord war schnell eingefangen, weshalb Sam als erstes wieder am Gatter war. Dort wartete Jana auf ihn und hielt den Wallach fest, während Sam das Tor hinter sich wieder verschloss.
„Sag mal, weißt du eigentlich, wie gut sich Lord und Fire vertragen?“, fragte sie, während Sam Lord zum Anbinder führte.
„Keine Ahnung. Das müsstest du Anja fragen. Wieso denn?“
Jana seufzte. „Na ja, ich würde heute gerne nochmal auf Fireball reiten, um wieder an das Gefühl eines Reiters zu gewöhnen, aber ich will nicht alleine auf den Platz und Alex und so wollten ausreiten. Aber Anja hat keine Zeit, um dabei zu sein, und da dachte ich halt, ich frage mal dich. Du kennst Fire schließlich am besten von uns allen.“
Sam dachte kurz nach. „Wenn du schon mal anfängst Lord zu putzen, gehe ich schnell Anja suchen und frage sie.“
Aufmerksam beobachtete Sam, wie Fireball Runde um Runde auf dem Zirkel um ihn herum lief. Jana, die es sich auf dem Zaun gemütlich gemacht hatte, ließ den Hengst ebenfalls nicht aus den Augen. Am Anfang hatte er ein paar Bocksprünge eingelegt, doch nun entspannte er sich mit jeder Runde mehr. Nun lief er ruhig und gleichmäßig seine Runden und lauschte dabei immer aufmerksam auf Sam und was als nächsten von ihm gefordert werden würde.
Zehn Minuten später ließ Sam den Hengst anhalten und zu sich in die Mitte kommen. Jana kam zu den beiden auf den Platz. Fireball brummelte leise, als sie ihn erreichte. Sofort suchte er sie nach Leckerlis oder anderen Köstlichkeiten ab, was sie bloß mit einem Lachen kommentierte und seinen Kopf wegschob.
„Kannst du mir hoch helfen und ihn dann noch mal fünf Minuten an die Longe nehmen? Ich will, dass er weiß, dass alles in Ordnung ist. Und an der Longe hat er ja bis jetzt nichts am Damensattel auszusetzen“, schlug Jana vor, als Sam die Longe grade aus Fireballs Trense aushaken wollte.
Sam nickte zustimmend. „Gute Idee. Versuchen wir es.“ Er half ihr in den Sattel und redete Fireball dabei die ganze Zeit beruhigend zu. Als Jana oben war, sortierte sie ihre Beine, nahm die Zügel jedoch noch nicht auf. Als sie richtig saß, nickte sie Sam zu und dieser ließ Fireball wieder antreten.
Jana saß während der nächsten fünf Minuten einfach nur auf dem Rücken des Hengstes, ohne ihm irgendwelche Hilfen zu geben. Irgendwann entspannte Fireball sich wieder und fing an, auf dem Gebiss zu kauen.
Als Sam den Hengst schließlich wieder durch parierte, strahle Jana glücklich. „Wenn er so geht, während ich ihn wirklich reite und nicht nur drauf sitze, sind wir einen riesigen Schritt voran gekommen.“
Sam nickte zustimmend. „Ja, wenn wir die Hürde erstmal genommen haben, wird der Rest ein Kinderspiel.“
„Und? Wie läuft es mit eurem Wildfang?“ Anja stand am Zaun und sah das Trio auf dem Platz neugierig an.
„Realtiv.“ Jana seufzte. „Ich denke, dafür, dass er vor zwei Wochen einmal kurz geritten wurden und davor nochmal zwei Wochen nicht geritten wurde, läuft er ganz gut. Sobald der Reiter das Sagen hat, verspannt er sich und sperrt sich gegen die Hilfen. Da ist es auch egal, dass ich es bin, die auf ihm sitzt. Aber an der Longe geht er selbst mit Reiter inzwischen einigermaßen entspannt. Eben hat er sogar kurz angefangen auf dem Gebiss zu kauen.“
Anja nickte beifällig. „Das ist doch super. Und beim Reiten hatte ich nichts anderes erwartet. Bei seiner Vorgeschichte, kann man nicht erwarten, dass er von heute auf morgen wieder super geht. Dafür haben ihn die Preslys zu lange zu schlecht behandelt.“
Sam hakte die Longe aus Fireballs Trense. „Anja, hast du kurz ein Auge auf zwei? Dann bringe ich schnell die Sachen weg und holen Lord.“
Anja nickte und Sam verließ mit Krücken, Longe und Peitsche bewaffnet den Platz. Kurzdarauf betrat kam er mit Lord zurück. Fireball spitzte die Ohren, als er seinen Artgenossen entdeckte und schnaute aufgeregt. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er mit einem anderen Pferd zusammen auf dem Platz war.
Jana hatte sich noch keinen Meter von dem Fleck wegbewegt, an dem Sam sie und den Hengst verlassen hatte, aber Fireball sah verhältnismäßig entspannt und zufrieden aus. Sie hatte die Zügel ein kleines Stück aufgenommen und spielte nun mit ihnen.
Während Sam dann Lord aufwärmte, beobachtete er Jana und Fireball aus dem Augenwinkel. Die beiden standen inzwischen seit fast zehn Minuten dort in der Mitte des Platzes, ohne dass sie sich irgendwie vom Fleck bewegt hatten.
„Sag mal, wolltest du heute noch irgendwas mit ihm machen, oder seid ihr da inzwischen festgewachsen?“, fragte er schließlich belustigt, als er zum Nachgurten kurz anhielt.
Jana zuckte lächelnd mit den Achseln. „Wenn es sein muss, bleiben wir hier auch noch zehn Stunden stehen. Aber Fireball hat sich inzwischen schon fast daran gewöhnt, dass ich über die Zügel eine Verbindung zu ihm aufbaue. Aber in zehn Minuten oder so, gehen wir vielleicht noch ein paar Schritte, bevor ich dann absteige.“
Als Sam eine halbe Stunde später den Platz verließ, hatte Jana Fireball schon zum Anbinder gebracht, den Sattelgurt gelockert und dem Hengst die Trense abgenommen. Nun stand der Hengst dort im Schatten und döste mit eingeknicktem Bein, während er darauf wartete, auf die Weide zu kommen.
Sam sattelte schnell Lord ab und nahm dann auch Fireball den Sattel ab. Er brachte die Sachen in die Sattelkammer und kam dann zurück, Lord auf die Weide zu bringen. Jana hatte Fireball schon losgebunden, wartete jedoch auf Sam.
„Hey ihr zwei, gut dass ich euch noch erwische.“ Anja kam mit schnellen Schritten auf sie zu und lächelte. „Könnt ihr Lord vielleicht mal mit zu Fireball auf die Weide stellen? Unseren Neuling wird alleine langsam langweilig und eben auf dem Platz haben die zwei sich doch echt gut verstanden.“
Sam nickte. „Klar, machen wir.“
Auf der Weide ließen sie die beiden Pferde laufen und blieben am Zaun stehen, um zu sehen, wie sie sich vertrugen.
„Sieht fast so aus, als würde Fireball die Gesellschaft von Lord genießen“, stellte Anja schließlich zufrieden fest, als die Pferde kurz die Rangordnung geklärt hatten und Lord sich sofort unterordnete.
„Ja, Fireball ist noch nie ein Einzelgänger gewesen“, stimmte Sam zu. „Und es scheint mir fast, als hätte Lord eine Vorliebe für Pferde mit Damensattel-Ausbildung.“
„Also entspannter ist Fireball auf jeden Fall. Aber vielleicht hat Lord auch einfach irgendwas an sich, was ihn für meine Pferde attraktiv gemacht hat.“ Jana lachte. „Aber ist ja auch egal, was es ist, solange sie sich gut verstehen. Aber sag mal, ist Fireball eigentlich nur für den Damensattel ausgebildet?“
Sam schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben ihn damals auch englisch ausgebildet. Wieso? Was überlegst du jetzt schon wieder?“
„Ach, nur wieder so eine Spinnerei.“ Jana winkte ab, setzte aber sofort wieder an. „Ich hab nur gedacht, Fireball hat doch die ganzen schlechten Erfahrungen mit dem Damensattel gemacht. Warum reiten wir ihn dann nicht erstmal englisch, bis er sich von dem Schock vollkommen erholt hat. Und wenn er dann wieder mit seinem Reiter zurecht kommt, kann man es nochmal mit dem Damensattel versuchen.“
„Wir können auf jeden Fall morgen mal Anja und deinen Vater fragen, was sie von der Idee halten. Und ob sie einen passenden Sattel für uns haben. An wen hattest du denn als Reiter gedacht?“
„Leon oder du“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen und Sam nickte nachdenklich.
„Dann nimm Leon. Er hat sich schon mit Fireball vertraut gemacht und hat den definitiv eine weichere Hand als ich.“ Es versetzte Sam einen kleinen Stich der Eifersucht, dass Leon auf Fireball reiten würde und nicht er selbst, aber es war das beste für Fireball.
„Ihr wollt also noch mehr Leute mit eure Wildfang gefährden?“ Jana und Sam zuckten gleichsam zusammen, als Mark sich plötzlich zu Wort meldete. Keiner von beiden hatte gemerkt, dass Janas Vater angekommen war.
„Na ja …“ Jana zögerte. „Fire hat doch vor allem mit dem Damensattel schlechte Erfahrungen gemacht. Und wenn man ihn erstmal im englischen Stil reiten würde, würde er vielleicht seine Vorbehalte Reitern gegenüber schneller überwinden“, erklärte sie dann hastig.
„Tja, dann ist das wohl geklärt. Leon sagtest du, Sam?“ Dieser nickte. Er war genauso überrumpelt wie Jana. „Gut, dann mache ich mich mal auf die Suche nach Anja. Ich muss sowieso noch was mit ihr besprechen. Und du, junge Dame“ – Mark sah seine Tochter streng an – „redest mit Leon und fragst ihn, ob das für ihn auch in Ordnung ist.“
„Also dann, ab nächster Woche beginnt offiziell Fireballs Kur“, erklärte Jana, als sie das Handy wieder in die Tasche steckte. „Die SMS war von Anja. Sie haben einen passenden Sattel gefunden, aber wir sollen nachher nochmal kommen und gucken, ob er ihm wirklich passt.“ Es war der Dienstag nach Pfingsten und seit der letzten Woche hatte Jana keinen Versuch mehr unternommen, Fireball zu reiten.
„Also dann um vier im Stall?“, fragte Leon und Jana nickte sofort. „Kommst du auch, Sam?“
Sam überlegte kurz. „Klar“, stimmte er schließich zu. Leon machte sich daraufhin auf den Weg zum nächsten Unterricht und Jana wollte ihm schon folgen, aber Sam hielt sie zurück.
„Hey Jana …“ Sie zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn fragend, als er zögerte. „Morgen ist wieder Jugendkreis und du meintest doch, dass du mal mitkommen wolltest. Und vielleicht kann ja auch der ein oder andere da dir bei den Fragen weiterhelfen, auf die Maya und ich keine Antwort wussten.“
„Ja klar, warum nicht“, antwortete Jana mit einem Lächeln, aber ihr Blick war nicht auf Sam gerichtet. Ihre Gedanken waren abgedriftet, als Sam den Jugendkreis erwähnt hatte. Sie hatte an Dominic denken müssen. Kurz vor seiner Abfahrt hatte er sie einmal mit zu seinem Jugendkreis genommen.
„Hey Kleine, was machst du denn noch hier? Ich dachte, du wolltest heute zu deinen vierbeinigen Lieblingen?“, begrüßt Nic seine Schwester, als er am Nachmittag nach hause kommt. Die schüttelt nur missmutig den Kopf.
„Ich muss Vokabeln lernen“, erklärt sie ihrem großen Bruder und verzieht dabei das Gesicht. „Französisch“, fügt sie noch mit düsterem Blick hinzu.
Daraufhin fängt Dominic schallend an zu lachen und zerstrubbelt ihr die Haare. „Tja, kleine Schwester, ich habe die gewarnt, dass deine Arbeitsverweigerung irgendwann zum Reitverbot führen würden“, erklärt er ihr, was ihre Laune aber nicht wirklich hebt, da sie genau weiß, dass er damit Recht hat.
„Aber wenn du willst, helfe ich dir beim Lernen.“ Sofort hob sie hoffnungsvoll den Blick von ihrem Buch. „Allerdings nur unter einer Bedingung“, fügt er sofort hinzu und seine braunen Augen funkeln belustigt, als er das Misstrauen in den ihren sieht. „Du kommst heute Abend mit zum Jugendkreis. Das versprichst du mir schon seit Monaten.“
Jana zögert. Ihre Erfahrungen, was neue Leute angeht, sind nicht sehr berauschend. Sie weiß, dass es an den Krücken liegt, dass alle ihr immer sofort helfen wollen, aber das macht es nicht besser. Andererseits sind die Freunde, die sie von Nic bis jetzt kennengelernt hatte, wirklich nett. Und die kennen sie schließlich und würden ihr nicht ihre Hilfe anbieten oder sie mitleidig ansehen.
Und ein sehr ausschlaggebendes Argument war außerdem, dass Dominic ihr bei den Hausaufgaben helfen würde. Vielleicht würde der Abend ja gar nicht so schlimm werden?
Seufzend nickt sie schließlich und gibt sich so geschlagen. Dominic grinst fröhlich und lässt sich neben ihr auf einem Stuhl nieder, um sich mit ihr die Vokabeln anzusehen.
„Danke, Schwesterherz. Du wirst es nicht bereuen“, erklärt er im Brustton der Überzeugung. Dann sieht er sie streng an. „Und wie viel müssen wir für Französisch machen?“
„Eineinhalb Lektionen Vokabeln und ein oder zwei Zeiten“, murmelt sie und weicht Nics vorwurfsvollem Blick aus.
Aber Nic reibt sich nur die Hände und sieht sie mit fröhlich funkelnden Augen an. „Na dann lass uns lieber gleich anfangen. Ich schlage vor …“
„Jana?“, riss Sams Stimme sie aus ihrer Erinnerung. Verwirrt sah sie ihn an, bis sie sich daran erinnerte, wo sie sich befand. „Komm, wir müssen zum Unterricht. Es hat grade geklingelt.“ Er lächelte sie an und ging los. Sie folgte ihm langsam durch die Schule. Sie hatten jetzt Französisch – was für eine Ironie.
Besorgt beobachtete Sam Jana. Sie war heute direkt nach der Schule mit zu ihm gekommen und nach dem Jugendkreis würde Maya sie nachhause bringen.
„Alles okay?“, fragte er schließlich, als sie geschlagene fünf Minuten Chester gestreichelt und nichts gesagt hatte. Sie sah angespannt und nervös aus.
„Ja klar“, erklärte Jana und nickte abwesend. „Alles in Ordnung.“ Sam war nicht wirklich überzeugt von ihrer Antwort, sagte aber nichts dazu, da sie offensichtlich nachdenken wollte.
„Wo ist der Jugendkreis?“, fragte sie plötzlich in die entstandene Stille hinein.
„Bei einem der Mitglieder zuhause, weil der eigentliche Raum grade renoviert wird. Eigentlich sind wir immer im Gemeinschaftshaus der LKG, also der Landeskirchlichen Gemeinschaft“, erklärte Sam ihr. „Das liegt …“
„Ich weiß, wo das ist“, unterbrach Jana ihn abrupt, aber so leise, dass er sie fast nicht gehört hätte.
„Warst du schon mal da?“, fragte er vorsichtig, da in ihren Augen ein trauriger Schimmer lag.
Sie nickte. „Vor etwa einem Jahr. Dominic hat mich einmal mitgenommen. Er meinte, ich sollte mitkommen, damit ich mal andere Leute als meine Reiterclique, wie er uns immer nannte, treffe. Es war das letzte Mal vor Schweden, weil danach die Vorbereitungsseminare angefangen haben. Und alleine habe ich mich da nicht hin getraut, weil ich die Leute ja eigentlich gar nicht kannte und so“, erzählte sie traurig. „Meinst du, sie erinnern sich noch an mich?“
Sam zögerte. Sie hatten ein paar mal von einem Dominic gesprochen, aber Jana war nie erwähnt worden. Das musste natürlich nichts heißen. Wer wusste schon, wie viele Leute Dominic versucht hatte, in den Jugendkreis einzuführen?
„Ich habe keine Ahnung“, gab Sam schließlich zu. „Erinnerst du dich denn noch an jemanden?“
Sie nickte leicht. „Vermutlich kennen sie mich auch noch. Freunde von Dominic, die öfter mal bei uns zuhause gewesen sein. Marc und Felix.“ Sie dachte kurz nach. „Und Lena. Das sind die drei, an die ich mich noch erinnere.“ Ein leises Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Marc hat damals darauf bestanden, dass ich Gitarre spiele. Dabei hatten sie doch jemanden.“
Sam lächelte. „Ja, das hört sich ganz nach Mark an. Immer darauf bedacht, dass alle mit einbezogen werden. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat es besonders auf die Neuen abgesehen. Als ich damals neu war, wurde ich von ihm sofort gefragt, ob ich Lust hätte in der Jungschar zu helfen, als ich erwähnt habe, dass ich das in Wolfsburg auch gemacht habe.“
Jana lachte und Chester sah vertrauensvoll zu ihr auf und stupste sie an, als sie ihn nicht mehr weiter streichelte. Sofort setzten ihre Finger sich wieder in Bewegung und der Hund seufzte zufrieden. Sam lächelte, als Chester seinen Kopf auf Janas Shoß legte und die Augen schloss, um die gute Behandlung besser genießen zu können. Auch Jana lächelte.
„Ach hier seid ihr zwei“, durchbrach plötzlich Maya die Stille. „Ich wollte jetzt schon los, weil ich noch was mit Luca besprechen wollte. Kommt ihr mit, oder wollt ihr laufen?“
Jana sah erst Maya und dann die Krücken mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Sehe ich so aus, als wollte ich laufen?“
Maya lachte. „Okay, du hast mich überzeugt. Ich gebe euch fünf Minuten, dann will ich euch am Auto sehen.“ Sam verdrehte die Augen und stand auf. Maya verließ das Zimmer wieder und Sam nahm Janas Tasche. Sie hob zum Protest an, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Lass dir doch helfen, Jana. Es denkt niemand, dass du schwach bist oder so, aber weißt du, es gibt einfach Leute, die wollen mal nett sein.“ Er sah sie freundlich an und sie lächelte leicht.
„Danke“, sagte sie schließlich leise und Sam nickte.
„Immer wieder gerne.“ Zusammen verließen sie das Zimmer und gingen zur Haustür. Dort zogen sie sich ihre Schuhe an und verließen das Haus. Kurz nach ihnen kam auch Maya heraus und sie fuhren los. Weit war es nicht bis zu Luca. Keine fünf Minuten später hielten sie vor seinem Haus.
Schnell warf Sam einen Blick auf die Uhr. Der Jugendkreis startete offiziell erst in einer Dreiviertelstunde.
Natürlich wurde Jana von einigen Leuten erkannt. Ein Mädchen mit Krücken vergaß man nicht so schnell. Vor allem, wenn sie dann auch noch die kleine Schwester des Jugendkreisleiters war. Wie hatte sie bloß etwas anderes annehmen können?
Aber anders, als sie erwartet hatte, wurde sie freundlich begrüßt. Keiner machte ihr Vorwürfe, weil sie erst jetzt wieder hier auftauchte. Marc, Felix und Lena freuten sich sogar richtig, dass sie wieder gekommen war. Felix drückte ihr wieder die Gitarre aufs Auge und Jana nahm sie dankbar an. So hatte sie wenigstens etwas zu tun.
Der Abend verlief ruhig und entspannt. Als alle eingetroffen waren, wurden ein paar Lieder gesungen, die Jana auf der Gitarre begleitete, danach gab es etwas zu essen. Im Anschluss daran hielt Marc eine kleine Andacht über Hiob, ein Buch in der Bibel.
Es ging um einen Mann, der fest an Gott glaubte. Am Anfang des Buches schlossen Gott und der Teufel eine Art Wette. Denn der Teufel behauptete, dass Hiob nicht mehr an Gott glauben würde, wenn er all seinen Besitz verlieren würde. Gott hingegen war der Überzeugung, dass Hiob auch weiterhin zu ihm stehen würde.
Aber Teufel wollte es Gott nicht glauben und so erlaubte Gott ihm, Hiob alles zu nehmen, so lange er ihm sein Leben ließ. Im Verlauf des Buches verliert Hiob tatsächlich seinen gesamten Besitz, seine Familie und auch seine Freunde. Aber er bleibt Gott treu, selbst als er tot krank wird.
Und weil Hiob zu Gott gehalten hat, obwohl alles so aussichtslos schien, hat Gott ihm alles was er hatte und noch viel mehr zurück gegeben.
Nach der Andacht redeten die anderen noch ein bisschen über die Geschichte, aber Jana war still Zu sehr erinnerte die Geschichte an ihre eigene Situation. Klar, Hiob hatte alles verloren und Jana nur den großen Bruder, der ihr immer Halt gegeben hatte, aber trotzdem. Irgendwie fühlte sie sich doch ihr eigenes Leben erinnert.
Sie konnte nicht richtig laufen, ihr Bruder lag im Koma und ihr Pferd war gestorben. Denn auch wenn sie jetzt Fireball hatte, vermisste sie Lady doch. Sie hatte sie seit fünf Jahren gekannt. Seit sie damals in den Stall gekommen war.
„Jana?“ Sie zuckte zusammen, als Sam neben ihr auftauchte. „Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, klar. Alles bestens.“ Sie brachte ein halbherziges Lächeln zustande, doch in Gedanken war sie noch immer nicht wieder ganz in diesem Raum angekommen. „Ich hab bloß grade nachgedacht.“
„Wir wollten noch ein paar Lieder siegen“, erklärte jetzt Felix. „Soll ich spielen?“
„Nein, ich spiele gerne.“ Sie ließ sich die Gitarre reichen und nahm das Liederbuch zur Hand. „Welches Lied wollt ihr singen?“ Felix nannte ihr eine Nummer und sie schlug das Buch auf.
Das Lied hieß Trägst du mich, Herr und sie sah sich schnell Text und Melodie an – und stutzte. Das war das Lied, was sie damals im Krankenhaus gehört hatte.
„Sicher, dass ich nicht doch lieber spielen soll?“, fragte Felix vorsichtig, als Jana das Buch nur anstarrte, ohne sich zu rühren.
Jana atmete tief durch und schüttelte dann den Kopf. „Nein, es geht schon.“ Sie schlug die ersten Akkorde an und als die Gruppe dann anfing zu singen, war sie sich absolut sicher, dass es das Lied aus dem Krankenhaus war. Eine stille Träne lief ihr die Wange hinunter, doch sie ignorierte sie und sang stattdessen aus vollen Herzen mit.
Der Abend klang langsam aus und als sich die ersten auf den Heimweg machten, bot Lena an, Jana mitzunehmen, da sie sowieso in die Richtung musste. Nach kurzem Zögern stimmte Jana schließlich zu, da Maya noch etwas bleiben wollte, aber Jana erschöpft war. Es war ein anstrengender Tag gewesen und sie wollte einfach nur noch ins Bett und schlafen.
Marc und Felix umarmten sie zum Abschied und luden sie ein, in der nächsten Woche wieder zu kommen. Jana erklärte, sie würde es sich überlegen. Die beiden jungen Männer akzeptierten die Antwort und meinten, sie würden sich freuen, sie wieder zu sehen.
„Sehen wir uns morgen?“ Jana war mit ihrer Verabschiedungsrunde bei Sam angekommen und sah ihn nun abwartend an. „Ich wollte Leon und Fire bei ihren ersten Sattel-Annäherungsversuchen gerne unterstützen und würde mich über deine Unterstützung freuen.“
Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht und Sam vermutete, dass sie an ihre Unterhaltung von vor dem Jugendkreis denken musste. Dass sie auch mal Hilfe annehmen sollte, wenn sie ihr angeboten wurde.
„Klar.“ Sam lächelte ebenfalls. „Wir müssen ihn immerhin davon überzeugen, dass ein englischer Sattel nicht so böse ist, wie ein Damensattel.“ Nun lachte sie. Sie umarmten sich zum Abschied und Jana und Lena verließen die Wohnung.
„Soso, Jana und du also?“ Marc legte Sam kumpelhaft einen Arm um die Schulter und grinste.
„Vielleicht.“ Sam zuckte mit den Schultern. Momentan waren sie nicht mehr als gute Freunde, auch wenn er nichts dagegen hätte, wenn daraus mehr werden würde. Er mochte Jana und genoss es, sich mit ihr zu unterhalten.
„Hey, das ist nichts, wofür du dich schämen musst oder so.“ Marc lachte. „Jana ist ein cooles Mädchen. Ich finde es gut, dass du sie her gebracht hast. Sie hat es eigentlich gar nicht verdient, so unter Dominics Unfall zu leiden.“
„Stimmt. Aber mit dir an der Seite ist sie ja auf dem besten Weg der Besserung“, klingte sich Felix in die Unterhaltung mit ein und grinste frech. „Und ihr beiden würdet ein echt süßes Paar abgeben.“
„Hey Kleine.“ Ein kleiner Schauer lief über Janas Rücken, als Sam hinter sie trat und sie umarmte. „Wo sind denn unsere beiden Problemkinder?“
„Keine Ahnung. Leon ist nicht nicht da und Fireball schmollt in der hintersten Ecke, weil wir ihn gestern mit Leon alleine gelassen haben.“ Jana drehte sich in der Umarmung um und grinste Sam an. „Aber ich bin mir sicher, willst los gehen und ihn holen.“
Sam seufzte. „Wie schlimm ist es denn?“
„Es geht. Aber auf meinen Pfiff hat er nicht reagiert. Drei mal.“
Sam brummte etwas unverständliches und ging dann los, um das Morgan Horse einzufangen. Jana schloss das Tor hinter ihm und beobachtete belustigt, wie Sam versuchte, den Hengst einzufangen. Nur dass der heute keine Lust auf Arbeit zu haben schien und ihm immer wieder auswich. Lord hingegen war sofort zu Sam gekommen und folgte seinem Freund nun kreuz und quer über die ganze Weide.
„Na, wie geht es unserem Wildfang heute?“ Jana zuckte zusammen, als sie Leons Stimme plötzlich hinter sich hörte. Schnell drehte sie sich um und verlor dabei fast das Gleichgewicht, nur um dann in Leons belustigt funkelnde Augen zu sehen. „Alles klar?“
„Ja, klar.“ Sie nickte lächelnd und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass Leon sie so sehr erschreckt hatte. Das hatte noch niemand geschafft. „Und dem Wildfang geht es heute ausgezeichnet. Er hat bloß keine Lust auf Arbeit.“
Leon lachte und sah an Jana vorbei auf die Weide. „Bist du dir sicher? Das sieht eher so aus, als wäre er heute hochmotiviert und hat sich nur schon mal warm gemacht.“
Schnell drehte Jana sich um und beobachtete, wie Fireball mit ein paar Bocksprüngen auf Sam zu galoppiert kam und schließlich in einem formvollendeten Slinding-Stop vor dem Jugendlichen stehen blieb.
„Hey, ich wusste ja gar nicht, dass er auch eine Ausbildung im Western reiten hat“, lachte Leon.
Jana schüttelte fassungslos den Kopf. „Hat er auch nicht. Das hat er sich selber bei gebracht.“ Sie seufzte. „Und den soll jemand verstehen.“
Janas Vermutung bezüglich Fireballs Einstellung den Sätteln gegenüber stellte sich als wahr heraus. Der Hengst ließ sich problemlos satteln und trensen und nach fünf Minuten an der Longe hatte er sich fast vollkommen entspannt. Weitere fünf Minuten an der Longe mit Leon auf seinem Rücken überzeugten ihn davon, dass reiten gar nicht so schlimm war, wie er immer gedacht hatte.
Die nächsten Wochen verbrachten die drei fast jeden Tag im Stall. Leon ritt Fireball, Sam saß auf Lord und Jana beobachtete die beiden vom Zaun oder der Tribüne aus und gab ihnen Tipps, was sie noch verbessern konnten.
Leon und Fireball verstanden sich fast blind und Jana war fast ein bisschen eifersüchtig auf Leon, weil dieser auf Fireball reiten konnte und sie nicht. Aber sie schob diesen Gedanken immer wieder bei Seite, denn sie wusste, dass sie eines Tages auch auf Fireball würde reiten können.
Wenn Jana nicht grade im Stall war, traf sie sich mit Sam und hin und wieder auch Alex oder Leon, um ins Kino zu gehen, ein Eis zu essen oder einfach nur zu reden. Meistens drehten sich ihre Gespräche um Gott oder Fireball und Jana begann, sich immer mehr auf ihre Unterhaltungen mit Sam zu freuen.
Sie ging inzwischen regelmäßig zum Jugendkreis und auch Alex war eines Tages mitgekommen und irgendwie hängen geblieben. Wie sie in der Woche nach ihrem ersten Besuch dort heraus gestellt hatte, war Leon auch ein mehr oder weniger regelmäßiger Besucher des Jugendkreises und Jana hatte es sich zu ihrer heimlichen Aufgabe gemacht, die ganze Reiterclique in den Jugendkreis einzuführen.
Vorerst gab sie sich aber damit zufrieden, mit ihrem Bruder und Sam dort hinzugehen und die Gesellschaft der anderen Jugendlichen zu genießen. Mit einigen von ihnen hatte sie sich bis zu den Ferien auch schon außerhalb des Jugendkreises getroffen und sie hoffte, dass daraus bleibende Freundschaften entstehen würden.
Als die Ferien kurz vor der Tür standen, hatte Jana das Gefühl, von Aufgaben nur so erdrückt zu werden. Es mussten Vorbereitungen für das Sportfest in der Schule getroffen werden und da sie nicht teilnehmen konnte, wurde sie als Schiedsrichter abkommandiert. Im Stall lief alles auf Hochbetrieb, da noch nicht alles für das Sommerprogramm fertig war und irgendwo mitten in diesem Stress wollte Jana eigentlich auch noch ein Geburtstagsgeschenk für Sam besorgen. Sie wollte, dass es etwas besonderes war und nicht einfach nur ein Umschlag mit Geld oder ähnliches.
Letztendlich ging sein Geburtstag in all dem Trubel doch mehr oder weniger unter. An dem Montag vor den Ferien gab es kaum eine ruhige Minute, in der Jana ihm das Geschenk hätte überreichen können und so dauerte es bis zum Abend, bis er es endlich erhielt.
Jana hatte sich von Maya Hilfe geholt und ein Fotoalbum von Fireball erstellt. Es waren Fotos von Fireball als Fohlen, als Jährling, beim Einreiten und als fertig ausgebildetes Pferd dabei. Auf vielen war Sam ebenfalls zu sehen und man konnte sehen, wie viel Spaß er mit dem Hengst bis jetzt gehabt hatte.
Das neuste Foto war erst eine Woche alt. Fireball und Lord standen auf der Weide, Sam zwischen sich und suchten ihn beiden nach Leckerbissen ab, während er lachend versuchte, ihre Köpfe wegzuschieben.
„Es ist perfekt. Danke, Jana.“ Sam klappte das Fotoalbum mit einem Lächeln zu, nachdem er es sich angesehen hatte und umarmte dann Jana. „Es ist schön, die Erinnerungen so festgehalten zu sehen. Und ich bin mir sicher, dass wir dem Buch noch viele Fotos hinzufügen können. Dein erster richtiger Ritt auf Fireball zum Beispiel.“
Jana lächelte ebenfalls. „Und dein erster Ritt auf ihm.“
Der Flug nach Schweden ging noch an dem Mittwoch, an dem Die Schüler ihre Zeugnisse bekamen. Jana und Alex fuhren an dem Tag nicht mehr in den Stall, da der Flieger am Nachmittag gehen würde und sie früh am Flughafen sein mussten.
An dem Tag konnten sie nicht mehr zu Dominic, da es schon spät und die Besuchszeit schon zu Ende war.
Als Jana dann am nächsten Abend mit Sam skypte, ließ sie ihn gar nicht richtig zu Wort kommen. Kaum hatte er sie begrüßt, fing sie an, wie ein Wasserfall zu reden. Sie ließ Sam nicht mal die Zeit, ihr zum Geburtstag zu gratulieren.
„Sam, Dominic ist aufgewacht.“ Er konnte hören, dass sie vor Glück geweint hatte. „Wir haben lange geschlafen, weil wir ja erst relativ spät abends in Schweden angekommen sind, und als wir dann ins Krankenhaus kamen, waren einige Ärzte und Krankenschwestern bei ihm. Einer der Ärzte hat uns dann erklärt, was los war. Danach durften wir auch fast sofort zu ihm, weil sie mit den Untersuchungen schon so gut wie durch waren.
Er war immer noch total erschöpft und schwach und so, aber er hat uns zugelächelt. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich sein Lächeln vermisst habe. Es ist immer noch das gleiche, schiefe Lächeln, wie vor einem Jahr.“
Sam hörte einfach nur zu, wie Jana erzählte, und lächelte, weil er sich mit ihr freute. Er hatte Dominic vor dem Unfall nicht kennengelernt, aber was er von Maya, Alex und Jana gehört hatte, musste Dominic ein wunderbarer Mensch sein.
„Hey, warum denn so fröhlich?“ Maya stand in seiner offenen Zimmertür und sah ihn neugierig an. Sam sagte nichts, sondern schaltete Jana einfach vom Headset auf die Boxen um.
„… dann gelächelt. Lange konnte wir natürlich nicht bei ihm bleiben, weil er ja grade erst aufgewacht ist und so, aber Sam, es ist einfach wundervoll, ihm wieder in die Augen sehen zu können. Und zu beobachten, wie er lächelt und einfach, dass er überhaupt wach ist. Es kommt mir vor, wie ein Wunder.“
Nun lächelte auch Maya. Sie kam ins Zimmer und setzte sich auf den zweiten Stuhl neben ihren Bruder. Gemeinsam hörten sie zu, wie Jana erzählte. „Es wird natürlich noch eine Weile dauern, bis er aus dem Krankenhaus entlassen wird und so, aber er kann endlich wieder nach Deutschland kommen. Als er noch im Koma lag, wollten die Ärzte es nicht riskieren, weil zu starke Erschütterungen ihn hätten töten können.“
„Jana, das ist ja wundervoll“, erklärte Maya, als Jana grade eine kleine Pause einlegte, um Luft zu holen. „Umarmst du ihn bitte von mir?“
„Maya, wie lange bist du denn schon da?“
„Nicht lange. Vier Sätze oder so. Aber es war lange genug, um zu hören, dass Gott mal wieder das perfekte Geburtstagsgeschenk gefunden hat. Ich wünsche dir alles Gute und Gottes Segen für dein neues Lebensjahr.“
„Danke.“ Jana lachte glücklich und Maya verabschiedete sich, da sie sich noch mit ein paar Freunden treffen wollte.
„Von mir auch alles Gute und Gottes Segen“, gratulierte ihr nun auch Sam. „Hast du vor, deinen Geburtstag noch in irgendeiner Weise zu feiern, wenn du aus Schweden zurück kommst?“
„Vielleicht. Ich überlege noch.“ Jana unterbrach sich und hörte jemandem zu, der etwas zu ihr sagte, aber Sam konnte nicht verstehen, worum es ging.
Schließlich war Jana wieder da und seufzte. „Ich muss auflegen. Wir wollen zur Feier des Tages Essen gehen und Mama meint, ich kann nicht so gehen, wie ich momentan aussehe. Also muss ich mich noch umziehen und wir wollen in einer halben Stunde im Restaurant sein.“
„Okay, dann wünsche ich euch noch ganz viel Spaß. Und sag Alex, dass ich ihm auch zum Geburtstag gratuliere.“
„Mache ich.“ Sam konnte ihr Lächeln hören. „Und Sam?“
„Hm?“
„Danke.“ Sie musste nicht mehr sagen. Sie wussten beide, dass sie seine Unterstützung in den letzten Monaten meinte.
„Immer wieder gerne.“
„Hey Kleine.“ Samuel umarmte Jana und sah sie prüfend an. „Wie war es in Schweden?“ Sie hatten während ihrer Zeit in Schweden nicht viel telefonieren können, da Sam auch eine Woche im Urlaub gewesen war und dort kein Internet gehabt hatte.
„Wundervoll.“ Sie lächelte glücklich, als sie an die letzten zwei Wochen dachte. „Dominic geht es schon viel besser und vielleicht kommt er schon Ende diesen Monats nach Deutschland.“
Sam lächelte ebenfalls. „Das hört sich in der Tat wundervoll an.“ Er umarmte sie erneut. „Und weißt du was? Ich habe noch ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für dich.“ Er grinste sie verschwörerisch an. „Komm mit.“
Verwundert, aber auch neugierig, folgte Jana Sam über den Hof. Vor der Reithalle blieb er stehen.
„Ab hier muss ich dich tragen, weil du die Augen zu machen musst und sonst nicht laufen kannst.“
Ein bisschen verunsichert von dieser Ankündigung lehnte Jana ihre Krücken an die Hallenwand und sah Sam dabei unverwandt an. Er hob sie hoch, als wäre sie federleicht.
„Augen zu.“ Gehorsam schloss sie die Augen und legte die Arme um seinen Hals, um sich fest zu halten. Sam setzte sich in Bewegung und daran, dass das Licht sich veränderte, merkte Jana, dass se die Halle betreten hatten.
Sam ging noch etwa zehn Schritte, dann hob er sie hoch und setzte sie auf etwas, das sie wie ein Sattel anfühlte.
„Augen auf.“
Sofort flogen Janas Augenlider auf und mit großen Augen starrte sie auf Fireballs rotblonde Mähne. Verwirrt sah sie sich in der Halle um. Dort standen alle ihre Freunde und stimmten nun einen schiefen Chor von Geburtstagssängern an.
Als das Lied verklungen war, sortierte Jana ihre Beine und setzte sich richtig in den Damensattel. Dann nahm sie vorsichtig die Zügel auf und rechnete jeden Moment damit, dass Fireball sich wieder verspannen würde.
Doch nichts geschah.
Der Hengst stand ruhig da, hatte ein Bein entspannt entlastet und kaute genüsslich auf dem Gebiss.
„Aber wie …?“ Irritiert sah sie von Sam, zu Leon, zu Laura und wieder zu Sam.
„Wir hatten zwei Wochen, drei Leute mit eisernem Willen und ein hochmotiviertes Pferd. Wenn man will, kann man alles schaffen. Und ich hatte immer wieder das Gefühl, dass Fireball sich wirklich angestrengt hat, das ganze so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Es wirkte fast, als wolle er, dass du möglichst bald auch auf ihm reiten kannst“, erklärte Sam lächelnd.
„Er hat dich vermisst“, fügte Leon hinzu. „Und er hat es sich zum Ziel gemacht, dich so schnell wie möglich wieder zu bekommen. Er dachte, du wärst weg, weil du ihn nicht reiten kannst. Also hat er sich mächtig ins Zeug gelegt, um diesen Umstand zu ändern.“
„Oh Fire.“ Tränen liefen Jana über die Wangen, aber sie ignorierte sie. „Ich würde dich doch niemas verlassen. Dazu bist zu viel zu perfekt. Mit all deinen Ecken und Kanten.“
„Und? Hast du Lust, ihn eine Runde zu reiten? Der Platz ist grade frei.“
Jana grinste. „Da fragst du noch?“
Und so geleiteten ihre Freunde sie zum Platz, wo sie bei ihrer ersten Runde mächtig bejubelt wurde. Fireball stellte dabei die Ohren auf, lauschte auf den Applaus und warf sie dann in Pose, um die Zuschauer zu beeindrucken.
Als Jana an Sam vorbei kam, grinste er. „Ich hab dir doch gesagt, er kann einige Kunststücke.“ Und genau in dem Moment entschied der Hengst sich dafür, eine perfekte Piaffe zu zeigen.
Jana lachte. „Du bist ein kleiner Angeber, weißt du das eigentlich?“
Nach kurzer Zeit gesellte sich der Rest der Reiterclique mit ihren Pferden auf den Platz und die Zuschauermenge löste sich nach und nach immer mehr auf.
Den restlichen Nachmittag verbrachten sie mit der Clique. Sie verwöhnten ihre Pferde nach dem Reiten noch ein bisschen und saßen danach einfach unter der alten Eiche, um die Zeit miteinander zu genießen.
Irgendwann waren nur noch Jana und Sam übrig, da Alex noch mit zu Jenny gefahren war und Jana bei Sam mitfahren würde.
„Lass uns nochmal nach Fire, Lord und Mallow sehen“, schlug Jana schließlich vor, als das Auto von Jennys und Jonas' Eltern den Hof verließ. Leon war schon kurz vor ihnen gefahren. „Ich finde es immer noch erstaunlich, dass er sich so schnell gebessert hat. Er lief heute so entspannt, wie ich ihn noch nie mit dem Damensattel gesehen habe. Wie habt ihr das geschafft?“
„Mit viel Zeit, viel Schweiß und einer Menge Geduld“, erklärte Sam und grinste schief. „Und zwei Wochen hartes Training machen sich eben doch bezhalt.“
„Danke noch mal.“ Sie drehte sich um und gab ihm spontan einen Kuss auf die Wange. Sam spürte, wie ein warmer Schauer seinen Rücken hinunter lief.
„Du bist aber nicht ganz unschuldig, dass er das so schnell gelernt hat. Die Sehnsucht nach dir, hat ihn voran getrieben.“
Eine Autohupe unterbrach das Gespräch und Jana warf noch einen letzten Blick zu ihrem Liebling, der sich mit seinen beiden neuen Freunden auf der Weide tummelte. Irgendwann in den letzten zwei Wochen hatten Sam und Leon nämlich festgestellt, dass Fireball und Lord noch einen dritten Kameraden vertragen konnten und die Wahl war auf Leons Pflegepferd Mallow gefallen.
„Sehen wir uns morgen?“ Fragend sah Sam Jana an. Sie waren bei Jana zuhause angekommen und er brachte sie noch zur Tür.
„Also ich weiß ja nicht, was du morgen so vor hast, aber ich werde bei Fire im Stall sein.“
Sam lächelte. „Okay, dann sehen wir uns morgen.“ Sie wollte sich umdrehen und die Haustür aufschließen, aber er hielt sie zurück. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er noch einen Schritt vor und beugte sich ein Stück nach unten.
Und dann küsste er Jana zum Abschied sanft auf die Lippen.
Die Idee zu diesem Buch hatte ich, glaube ich, im Sommerurlaub. Da habe ich dann auch angefangen das Buch zu schreiben. Die letzten paar Kapitel habe ich Anfang 2014 geschrieben. Und jetzt habe ich das Ganze noch mal überarbeitet und - hoffentlich - alle Ungereimtheiten beseitigt.
Ich muss zu geben, zwischen durch haben mir Jana und Fire echt Kopfzerbrechen bereitet. Da ich mich ja eigentlich kaum mit Damensätteln und dieser Reitart auskenne, habe ich das ganze nicht weiter erläutert. Aber wer weiß, vielleicht finde ich ja irgendwann mal jemanden, der mir da weiter helfen kann und führe die Reit-Szenen noch etwas aus.
Alle Bekenntnisse – die Heilung der Hand und der Querschnittslähmung, die Jobsuche und auch Dominics „Rettung“ – sind alle so ähnlich passiert. Gott kann so viele Wunder geschehen lassen.
Eigentlich ist unsere ganze Welt für sich schon ein Wunder.
Die Geschichte über den verlorenen Sohn steht so in der Bibel. Das ist eines von den Gleichnissen Jesu.
Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die nervigste große Schwester der Welt.
Ohne dich wäre das Buch nie fertig geworden