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New in Town

Jace

 

Mit einem erleichterten Seufzen schloss ich die Haustür hinter mir und sog die frische, salzige Morgenluft tief ein. Es war ein perfekter Spätsommermorgen, um joggen zu gehen. Die Sonne war grade erst aufgegangen. Dementsprechend war die Luft noch recht kühl und die Natur war grade erst am Aufwachen.

Ich wärmte mich ein bisschen auf und folgte dann der Straße in Richtung Stadtrand. Sehr weit war es nicht. Nur etwa fünfhundert Meter, dann hörten die Häuserreihen auf und die Straße wurde zu einem Feldweg. Links von mir erstreckten sich Felder, so weit das Auge sehen konnte. Rechts war ein Feld, dann fingen die Dünen an. Ja, ich wohnte am Meer. Und diesen Luxus nutzte ich auch, um jeden Morgen joggen zu gehen. In der Woche, die ich jetzt schon hier wohnte, war ich noch nie jemandem morgens am Strand begegnet.

Fünf Minuten später verlor sich der Feldweg in den Dünen und ich betrat den Strand. Dort wandte ich mich nach links, weg von der Stadt und lief los. Eine halbe Stunde lief ich den Strand entlang, dann wendete ich und lief den gleichen Weg zurück. Unterwegs begegnete ich – wie die Tage zuvor auch – nur einigen Möwen und anderen Seevögeln.

An der Stelle, wo ich sonst für gewöhnlich den Strand wieder verließ, lagen ein paar Taschen und Schuhe. Neugierig blieb ich stehen und blickte aufs Meer hinaus. Tatsächlich entdeckte ich einige Gestalten, die auf dem Wasser zu schweben schienen. Surfer.

„Ist faszinierend, sie zu beobachten, was?“ Erschrocken fuhr ich herum und starrte den Jungen an, der auf der anderen Seite des Taschenhaufens stand. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er lächelte mich freundlich an. „Ich bin Phillip.“ Ganz kurz ließ ich meinen Blick über ihn huschen, bevor ich ihm wieder in die Augen sah. Shorts, oben ohne – braungebrannt –, schwarze Haare und strahlend blaue Augen.

„Du bist nicht von hier, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Tja, dann willkommen in diesem Kaff von Kreisstadt.“ Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. Scheinbar war ich nicht die einzige, die diesen Ort als Kaff empfand.

„Sag mal, kannst du eigentlich auch sprechen?“ Phillip sah mich neugierig an. „Oder bist du stumm?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Denn Deutsch verstehst du ja offensichtlich.“ Er zögerte. „Oder etwa nicht?“

„Also Phil, würdest du mal eine Pause in deinem Redefluss machen, könnte er bestimmt sprechen.“ Ich unterdrückte das Lachen, das mir in der Kehle saß und sah mich nach dem neuen Gesprächspartner um. Es war einer der Surfer. Die anderen beiden waren noch im bzw. auf dem Wasser.

„Ich bin übrigens Alexander.“ Ich nickte, zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Sollten sie ruhig noch eine Weile denken, ich könnte nicht sprechen. Im übrigen konnte ich es grade wirklich nicht, weil ich sonst nur gelacht hätte. „Du kannst doch sprechen, oder?“, fragte Alexander schließlich, nachdem eine Minute lang oder so niemand etwas gesagt hatte.

„Vielleicht versteht er ja gar kein Deutsch“, mutmaßte nun Phillip. „Allerdings hat er genickt, als ich ihn gefragt hab, ob er neu hier ist.“

„Wobei das irgendwie logisch ist. Hier kennt doch im Prinzip jeder jeden“, meinte Alexander trocken, was mir erneut ein leichtes Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Aber als ich ihn in diesem Kaff von Kreisstadt – das war übrigens genau mein Wortlaut – willkommen geheißen habe, hat er gelächelt. Und jetzt tut er es schon wieder“, verteidigte sich Phillip. Vielleicht sollte ich sie mal von ihrer Ungewissheit erlösen. Schließlich hatte ich heute auch noch was anderes vor, als am Strand zu stehen, so zu tun, als wäre ich stumm und der Diskussion von zwei Jungs zu zuhören.

Wobei ich ja sagen muss, dass sie gar nicht so schlecht aussehen. Beide braungebrannt und nicht grade unsportlich. Einer von den beiden surfte sogar. Phillip hab ich ja schon beschrieben. Alexander hatte braune Haare mit blonden Strähnen – gefärbt? –, die ihm nass in die Stirn fielen und grünbraune Augen. Und die beiden waren groß. Alexander war etwa einen Kopf größer als ich, Phillip nur einen halben Kopf.

Schienen beide ganz süß zu sein. Und wenn ich Glück hatte, waren auch beide nett und gingen vielleicht sogar in meinen Jahrgang und wir hatten einige Kurse zusammen...?

Okay, dann würde ich mich mal über die zwei erbarmen. Zumindest teilweise. „Also ich unterbreche eure Überlegungen ja nur ungern, aber ich muss leider weiter“, erklärte ich also, was mir extrem überraschte Blicke von den beiden Jungs einbrachte.

„Sieh an, der Kleine kann also sprechen“, stellte Alexander schließlich fest. „Wie alt bist du eigentlich?“

„Rate doch.“ Ich sah ihn mit Pokerface an. Außer, dass sich meine eine Augenbraue hob, bewegte sich nichts in meinem Gesicht. Unbewegt sah ich ihn an, während er mich musterte.

„Keine Ahnung. Dreizehn, vierzehn?“

„Netter Versuch, Phil. Ging nur leider voll daneben“, meinte ich. Noch immer zeigte ich keine Regung. „So um etwa zwei Jahre.“

„Du bist erst zwölf?“, fragte Phillip belustigt.

„Wer weiß.“ Unschuldig sah ich die zwei an. „Wenn ihr mich entschuldigt, ich hab noch einiges vor heute.“ Ich setzte mich wieder in Bewegung. „Euch noch einen schönen Tag.“

Die beiden wünschten mir ebenfalls einen schönen Tag. Ich konnte ihre Blicke in meinem Rücken förmlich spüren, ignorierte sie aber. Sollten sie mir doch nach starren.

Zehn Minuten später betrat ich die Wohnung im dritten Stock des Hochhauses, in der ich das nächste Jahr verbringen sollte. Da es für die Ferien noch recht früh war, versuchte ich leise zu sein, aber spätestens, als ich duschen ging, waren mein Vater und meine Stiefmutter wach. Die Wohnung war nun mal recht hellhörig und wenn das Badezimmer direkt neben dem Schlafzimmer liegt, tut das sein übriges.

„Guten morgen ihr Schlafmützen“, begrüßte ich meine Eltern fröhlich, als sie sich eine dreiviertel Stunde später zu mir in die Küche gesellten. Mein Vater brummte nur etwas unverständliches und meine Stiefmutter warf mir einen versuchsweise vernichtenden Blick zu. Der Versuch ging nur etwas in die Hose, da sie genau in dem Moment gähnen musste. „Papa, ich geh gleich noch mal raus. Ich will mir die Stadt noch mal richtig angucken, bevor ich morgen wieder zur Schule muss.“ Ich stand auf und räumte mein Brett weg. Noch mit dem letzten Bissen im Mund fuhr ich fort: „Haben wir eigentlich in zwischen Internet? Ich brauche noch meinen Stundenplan und so.“

„Hey!“, protestierte mein Vater, als ich ihm den Schoko vor der Nase wegschnappte. „Ja, wir haben Internet. Bekomme ich jetzt bitte die Schokocreme wieder?“

Ich erbarmte mich über meinen Vater – schon das zweite mal heute, dass ich mich über jemanden erbarmte, irgendwas lief da schief – und verließ die Küche. „Wir sehen uns dann nachher irgendwann.“ Ich schlüpfte in meine Sneakers und öffnete die Wohnungstür. „Keine Ahnung wann ich wieder komme. Wartet mit dem Essen nicht auf mich.“ Und schon war ich weg. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es fast halb elf war. Mir stand also noch der ganze restliche Vormittag und der komplette Nachmittag des letzten Ferientages zur Verfügung, um diesen Ort zu erkunden. Na ja, wirklich viel gab es nicht. Wenn man unserer Straße in Richtung Zentrum folgte, traf man nach ein paar Häusern auf eine Querstraße, die wohl die Hauptstraße des Ortes sein sollte. Zumindest führte sie einen durch das gesamte Kaff und war von allen Straßen noch am meisten befahren. Von dieser „Hauptstraße“ – ich traue mich gar nicht, sie so zu nennen – zweigte unter anderen eine Fußgängerzone ab. Für mich momentan der interessanteste Ort in dieser „Kreisstadt“. Immerhin, hier gab es zwei Eisdielen, einige kleine Bekleidungsgeschäfte und – das beste überhaupt bis jetzt – einen Buchladen. Kaum hatte ich den entdeckt, steuerte ich auch schon darauf zu. Vielleicht fand ich ja irgendeinen guten neuen Fantasy-Roman.

Als ich das nächste mal auf die Uhr sah, war es zwei Uhr. Wow, ich hatte zwei Stunden in dem Laden verbracht und kein Buch gefunden, das so gut schien, dass es einen Platz in meinem Regal verdient hätte. Da sich mein Magen langsam wieder zu Wort meldete, verließ ich den Laden und machte mich auf die Suche nach etwas essbarem, das kein Eis war. Ich verließ also die Fußgängerzone wieder und durchforstete die angrenzenden Nebenstraßen. Kein Erfolg. Pucha, das hier war doch eine Kreisstadt. Die mussten doch so etwas wie einen Pizza oder Döner Laden haben! Als ich eine halbe Stunde später immer noch nichts gefunden hatte, gab ich es auf und schlug den Weg nach Hause ein. Unterwegs überlegte ich mir, womit ich begründen könnte, dass ich noch mal raus musste. Joggen war ich heute schon und wirklich mehr zu sehen gab es in dieser Stadt ja nicht.

Träumer

Jace

 

Me cago en dios“, schimpfte ich leise. Dann würde ich wohl meinen Eltern helfen müssen die restlichen Kartons vom Umzug wegzuräumen. Missmutig starrte ich vor mich auf den Boden und so bemerkte ich die Person, die sich mir von der Seite näherte erst, als es schon zu spät war.

Perdona“, entschuldigte ich mich sofort und blinzelte in die Sonne, um zu sehen, mit wem ich denn da überhaupt zusammen gestoßen war.

„Wie bitte?“ Die Stimme klang eindeutig männlich, was sich auch mit dem restlichen Erscheinungsbild der Person in Einklang bringen ließ.

„Sorry, ich wollte dich nicht umrennen“, meinte ich nun.

„Schon gut“, beruhigte mich mein Gegenüber. „Ich habe genauso Schuld daran, dass wir zusammen gestoßen sind. Ich war grade gedanklich nicht so ganz anwesend.“ Er lächelte schief. „Ich bin übrigens Jonas.“

„Hi.“ Ich ergriff die mir dargebotene Hand und musterte den Jungen vor mir, so gut das mit der Sonne hinter ihm ging. Sein T-Shirt hatte schon deutlich bessere Tage erlebt. Seine jetzige Farbe war ein blasses orangegelb. Auch seine Shorts sahen aus, als würde er sie schon etwas länger tragen. Und sie ausgelatschten Sneakers sprachen für sich. Kurz: Er schien nett zu sein.

„Jace“, stellte ich mich schließlich ebenfalls vor. Da ich meinen Lieblingspulli – auch nicht mehr der neuste –, eine Jogginghose und meine Sneakers trug, war die Chance relativ gering, dass Jonas mich als Mädchen erkannt hatte. Diesen Gag musste ich mir einfach noch erlauben. „Du kennst nicht zufällig den versteckten Pizza-Laden in diesem Kaff?“

Soweit ich das gegen die Sonne sehen konnte, lächelte mein Gegenüber. „Zufällig doch. Ich war grade auf dem Weg dorthin.“

Ich seufzte glücklich. „Jonas, du bist meine Rettung!“ Adios, ihr Kartons.

„Komm, ich habe nicht viel Zeit und großen Hunger.“ Und schon lief er los. Ich musste regelrecht rennen, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Aber zum Glück war es nicht weit. Schon hinter der nächsten Straßenecke versteckte sich der mysteriöse Laden. Ein Blick auf das Straßenschild machte mich stutzig. Ich war mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass ich in dieser Straße schon gesucht hatte.

„Sag mal Jonas, kannst du zaubern oder so?“ Nachdenklich sah ich den schlaksigen Jungen neben mir an.

„Das kommt darauf an, welche Art von Zauber du meinst. Wieso?“

„Na ja, ich bin eine halbe Stunde durch dieses Kaff gelaufen und habe nach Läden wie diesem hier gesucht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch in dieser Straße war.“

„Warst du bestimmt.“ Jonas nickte. „Aber nicht in diesem Teil. Der zweigt nämlich ganz seltsam von Rest der Straße ab und die meisten denken, dass das nur irgendeine Gasse oder so ist. Und wenn sie das Schild dann an der Hauptstraße sehen, denken sie im ersten Moment, dass sie da ja schon drin waren und die Straße kennen.“ Wir setzten uns an einen Tisch und ich inspizierte die Speisekarte. Als der Kellner dann kam, bestellte ich eine Pizza Magerita. Jonas nahm Hawaii und ich verzog das Gesicht, als der Kellner weg war.

„Hawaii?“ Jonas zuckte mit den Schultern. Er kritzelte irgendwas auf ein Stück Papier. „Also ich meine, ich liebe Pizza. Und Ananas sowieso. Aber beides in Kombination? Und dann auch noch mit Schinken? Ich weiß ja nicht“, schloss ich skeptisch meinen Vortrag.

„Mhm“, war der einzige Kommentar von Jonas. Er blickte auf das Blatt vor ihm und schien mir nicht wirklich zu gehört zu haben. Schließlich blickte er auf. „Was hast du grade gesagt?“ Ich verdrehte die Augen und wiederholte das eben Gesagte. „Also ich finde es lecker.“ Er runzelte die Stirn. „Du, wirkt es unwirklich, wenn man in einem Bild einen kleinen Drachen in einen Schwarm Vögel über eine verwüstete Landschaft setzt?“

Ich lehnte mich neugierig über den Tisch und betrachtete das Gekritzel auf dem Blatt genauer. Mit etwas Fantasie konnte man dort eine zertrümmerte Stadt erkennen. Und darüber waren schon die Andeutungen des Vogelschwarms zu sehen. „Nöö, mach ruhig. Aber bitte. Mach ihn nicht klischeehaft grün“, meinte ich schließlich.

Jonas starrte eine Weile auf die Zeichnung, dann lächelte er. „Sehr gut.“ Er grinste mich an und sah dann an mir vorbei. Verwundert drehte ich mich um und erblickte eine junge Frau. Sie stellte die Pizzen vor uns auf den Tisch.

„Guten Appetit ihr zwei“, wünschte sie uns noch, verschwand dann aber sofort wieder in der Küche. Jonas sah mich grinsend an, dann stürzten wir uns auf unser Essen.

„Das“, erklärte ich schließlich, „ist die beste Pizza, die ich je gegessen habe.“ Ich lehnte mich zurück und seufzte zufrieden.

„Schön, dass es dir geschmeckt hat.“ Die junge Frau war wieder da und lächelte mich an. „Wir freuen uns immer, wenn wir unsere Gäste glücklich machen können.“ Sie drehte sich zu Jonas. „Schatz, sehen wir uns heute Abend noch?“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern.

„Mal sehen. Ich wollte Jace noch was zeigen.“ Jonas erhob sich und sah mich abwartend an. „Können wir?“ Ich nickte und stand ebenfalls auf. Dann kramte ich in meiner Tasche nach dem Geld.

Die junge Frau winkte ab. „Lass nur. Das geht aufs Haus.“ Draußen ging ich eine Weile schweigend neben Jonas her, dann blieb ich stehen und sah ihn ernst an.

„Okay Jonas, raus mit der Sprache. Was läuft da zwischen euch?“ Ganz kurz war es still und Jonas starrte mich einfach nur an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Als er sich nach ein paar Minuten noch immer nicht beruhigt hatte, fing ich langsam an mir Sorgen zu machen. „Alles klar?“, fragte ich vorsichtig. „Habe ich irgendwas falsches gesagt?“

Jonas schüttelte den Kopf. „Das war meine Schwester“, erklärte er schließlich, wobei er immer noch leicht lachte.

„Oh, perdona“, sagte ich sofort und spürte, wie ich leicht rot wurde.

Nun war es an Jonas, mich verwundert an zu sehen. „Was?“

„Ich wusste nicht, dass ihr Geschwister seid und weil sie dich Schatz genannt hat und so...“ Ich sah ihn entschuldigend an.

„Ist doch nicht schlimm“, beruhigte er mich. „Ich hätte dich vorwarnen sollen, dass der Laden meinen Eltern gehört. Aber jetzt sag mal, kommst du eigentlich aus Spanien oder so? Das eben war doch Spanisch, oder?“ Ich nickte. „Und ganz akzentfrei sprichst du ja auch nicht Deutsch. Also das ist jetzt nicht irgendwie böse gemeint oder so. Es interessierte mich nur...“ Er brach ab und lächelte mich unsicher an.

Ich lächelte ebenfalls und ging wieder los. „Ich komme aus Chile. Bzw. eigentlich sogar aus Virginia. Also da habe ich mit meinen Eltern gelebt, bis ich elf war. Dann haben sie sich scheiden lassen und ich bin mit meiner Mutter nach Chile gezogen. Vor einem Monat habe ich dann zu meinem Vater nach Deutschland gewechselt, weil meine Mutter irgendein Arschloch geheiratet hat“, erklärte ich, als ich seinen erstaunten Gesichtsausdruck sah.

„Und wie alt bist du jetzt?“

Ich grinste. „Rate.“

Jonas starrte mich eine Weile an und blieb wieder stehen. „In Anbetracht der Tatsache, dass du Spanisch schon so selbstverständlich benutzt, würde ich auf mindestens fünfzehn tippen. Auch wenn du aussiehst wie vierzehn oder so.“

Ich grinste erneut. „Also Spanisch spreche ich schon fast seit meiner Geburt, da meine Mutter der Meinung war, dass ich, wenn ich schon zur Hälfte Lateinamerikanerin bin, auch Spanisch sprechen sollte. Aber trotzdem, gut geschätzt. Fehlt nur noch ein Jahr. Ich bin sechzehn.“ Dann musterte ich Jonas von der Seite. Er hatte braune Haare, die ihm wirr vom Kopf abstanden und braune Augen, die immer ein wenig verträumt wirkten. „Wie alt bist du denn?“

Er grinste ebenfalls. „Rate mal.“ Ich betrachtete ihn erneut, diesmal genauer. Wie alle Junge war er größer als ich – okay, das war nicht schwer, ich war grade mal 1,60m groß – und überragte mich um etwas mehr als einen Kopf. Sei Kleidungsstil ließ darauf schließen, dass er sich entweder keinen neuen Klamotten leisten konnte oder er die Sachen so gerne mochte, dass er sie nicht wegschmeißen wollte. Sein Gesicht ergänzte den Ausdruck in den Augen noch. Er schien immer ein klitzekleines bisschen abwesend zu sein. Als gäbe es einen Ort, an den nur er kommen konnte. Aber es lag auch ein kleines Funkeln in den Augen, was mich darauf schließen ließ, dass er Humor hatte. „Siebzehn?“, schlug ich schließlich vor.

Jonas lächelte. „Richtig. Aber ich werde bald achtzehn. Nur noch zweieinhalb Monate.“

Ich grinste. „Dios mío, dann bist du ja schon ein richtig alter Knacker.“

„Danke für die Erinnerung.“ Jonas verzog das Gesicht. Schlimm genug, dass Maike mich damit aufzieht.“

„Maike...?“ Ich sah ihn fragend an. Inzwischen waren wir wieder los gegangen.

„Meine Schwester.“ Er lächelte und ich musste ebenfalls grinsen, als ich an meine erste Idee bezüglich Maike dachte.

„Wo wollen wir eigentlich hin?“

„Hier.“ Jonas blieb erneut stehen und deutete auf ein kleines Häuschen, das sich unter einigen Bäumen versteckte. Ich weiß nicht, aber irgendwie passte das Haus zu Jonas. Zwischen den ganzen drei- oder vierstöckigen Häusern und den Bäumen wirkte es richtig verträumt. Unter dem roten Ziegeldach duckten sich blass gelbe Wände mit hübschen blauen Fensterrahmen. Ich war ja für gewöhnlich nicht so der romantische Typ, aber dieses Haus war einfach nur knuffig.

Jonas schloss die Haustür auf und gemeinsam betraten wir das süße, kleine Häuschen. Unsere Schuhe stellten wir zu dem restlichen Chaos an Schuhen, dann führte er mich eine enge, steile Treppe hoch. Ich musste richtig aufpassen, nicht zu stolpern. Am Ende der Treppe öffnete Jonas eine Tür und ließ mich ins Zimmer. „Willkommen in meinem Reich.“

Nicht schon wieder

Alex

 

Wenn es etwas gab, dass ich wirklich hasste, dann war es der erste Schultag nach den Sommerferien. Jeder wollte wissen, wie meine Ferien gewesen waren und mir außerdem von den eigenen erzählen. Ich meine, ich finde es ja echt nett, dass mich alle so sehr mögen und so, aber müssen die mich gleich alle voll quatschen? Auf jeden Fall hatte ich mir deswegen angewöhnt, in der ersten Woche immer erst mit dem Gong die Schule zu betreten. So auch heute. Die Flure leerten sich langsam und nur ein paar Leute begrüßten mich. Schnell hatte ich meinen Raum gefunden und klopfte an.

„Ah, Alexander“, begrüßte Herr Bremer mich. „Du kommst genau richtig, um unsere neue Schülerin kennen zu lernen.“ Er deutete auf die Person, die neben der Tafel an der Wand lehnte und sich gelangweilt in der Klasse um sah. Der Junge hatte rote Haare und war etwa einen Kopf kleiner als ich.

Moment, war das etwa der Junge, den ich gestern Morgen am Strand getroffen hatte? Zumindest sah er diesem ziemlich ähnlich. Aber hatte Herr Bremer nicht grade gesagt, wir hätten die neue Person wäre eine Schülerin? Verwirrt setzte ich mich auf einen freien Platz und ignorierte die Blicke der anderen.

„Okay, dann stell dich doch bitte einmal kurz vor“, meinte Herr Bremer nun zu dem Mädchen. Unglaublich, dass sie uns an der Nase herum geführt hatte. Diese machte sich nicht die Mühe, sich in irgendeiner Weise zu bewegen, sondern ließ ihren Blick weiter über die Klasse gleiten, bis sie bei mir angekommen war. Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Demnach hatte sie mich wohl wieder erkannt.

„Hey, I'm Jacinta Frank, I'm sixteen years old. I lived in Chile and I'm gonna live with my father. Any questions, guys?“ Ich verzog das Gesicht, als sie sich mit einem starken amerikanischen Akzent vorstellte. „Alexander, you okay?“

„Yes, I'm fine. Thanks for asking“, erklärte ich ihr und legte all meine englische Abstammung, die ich besaß in diese paar Worte. Ich sah, wie Herr Bremer anerkennend nickte, als ich dem Mädchen in bestem Oxford-Englisch antwortete.

Als niemand sonst etwas sagte, erbarmte sich Herr Bremer über das Mädchen und wies ihr einen Platz zu. Als Jacinta sich schließlich gesetzt hatte – nur zwei Plätze vor mir entfernt – und Herr Bremer mit dem Unterricht beginnen wollte, klopfte es erneut an der Tür.

„Sorry, Mr. Bremer. The bus was late“, entschuldigte sich Phillip und suchte mit den Augen den Raum ab. Sein Gesicht hellte sich etwas auf, als er mich entdeckte. Schnell ging er zu dem Platz zwischen der Neuen und mir. Na immerhin ein kleiner Trost, dass Phillip weiterhin in meinem Kurs war. „Hey, irgendwas wichtiges passiert, als ich noch nicht da war?“, flüsterte er mir zu, während er seine Sachen auspackte.

Ich nickte. „Der Kleine von gestern ist ein Mädchen und in diesem Kurs.“ Ich deutete auf seine andere Seite und er warf einen kurzen Blick nach links.

„Und wie heißt die Schönheit?“

„Jacinta Frank. Sechzehn Jahre alt, kommt aus Chile“, gab ich das wichtigste wieder. Phillip nickte langsam und konzentrierte sich dann auf das, was Herr Bremer redete. Es ging um irgendwelche Texte, die wir lesen und interpretieren wollten. Der Lehrer betonte extra nochmal, wie wichtig es war, dass wir uns dieses Jahr alle besonders anstrengen und lernen sollten, da wir ja in einem dreiviertel Jahr Abi schreiben würden.

 

„Hey Alex!“ Schon fast genervt von dieser erneuten Unterbrechung drehte ich mich um. Hinter mir kam Jonas auf ich zu und grinste. Ich begrüßte ihn und ging dann weiter. „Ich habe gehört, wir haben einen neuen Schüler“, fuhr er fort. Ich zog eine Augenbraue hoch. Einen neuen Schüler auch noch? Was war denn hier los? Sonst kam es doch einmal im Jahrhundert vor, dass jemand auf unsere Schule wechselte. Und dieses Jahr sollten es gleich zwei sein? „Ich habe ihn gestern kennen gelernt. Ist echt ein cooler Typ. Du wirst ihn mögen.“ Ich sah Jonas zweifelnd an. Er wusste genau, dass ich wählerisch war, was meine Freunde anging. „Er ist aus Chile hier her gezogen.“ Mich beschlich eine leise Vorahnung. Phillip schien das gleiche zu denken, wie ich, denn er sah mich mit zuckenden Mundwinkeln an.

„Dieser Neue ist nicht zufällig klein und hat kurze rote Haare?“, verschaffte ich mir Gewissheit.

„Doch, wieso?“ Jonas sah mich verwirrt an, aber dann hellte sich sein Gesicht wieder auf, als er weiter vorne die neue Schülerin entdeckte. „Da vorne ist er.“ Er nickte in ihre Richtung. Dann wurde sein Gesichtsausdruck verwirrt. „Was macht er denn bei den ganzen Mädchen?“

„Tja, Jonas“, fing Phillip vorsichtig an. „Ich befürchte, du bist der gleichen Täuschung wie auch Alex und ich schon zum Opfer gefallen.“ Noch verwirrter als vorher sah mein bester Freund mich an. „Der Kleine ist kein Junge, sondern ein Mädchen. Sie heißt Jacinta Frank.“

„Okay...“ Jonas blieb stehen und sah uns konsterniert an. „Und du bist dir sicher, dass sie keinen Zwillingsbruder hat?“

„Jap. Sie hat mich nämlich definitiv wieder erkannt.“ Ich nickte und Jonas starrte nachdenklich vor sich hin.

„Hi, ihr zwei. Wie geht es?“ Vergnügt sah Jacinta Phillip und Jonas an. Einen Moment war ich zu verblüfft, um zu reagieren. Hatte die Kleine wirklich Phillip und Jonas begrüßt, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen? Mich, Lord Alexander Carrington of Sunderland?

„Ähm, hallo? Ich bin auch noch da?“, machte ich mich schließlich bemerkbar, als Jacinta keine Anstalten machte, mich zu begrüßen. Sie warf mir einen kurzen Blick zu.

„Sorry, aber ich dachte, ich hätte dich vorhin schon mal begrüßt. Und für gewöhnlich halte ich es für überflüssig, Leute zwei mal so kurz hintereinander zu grüßen.“ Ich starrte sie perplex an. „Jonas, kannst du mir vielleicht zeigen, wo das Sekretariat ist? Mir wurde gesagt, ich soll da in der ersten Pause hinkommen.“

„Klar.“ Und schon machten sich die beiden auf die Socken, ohne auch nur daran zu denken zu fragen, ob ich mitkommen wollte. Nicht, dass ich es wollte, aber es ging ums Prinzip. Einen Viscount ließ man nicht einfach so stehen.

 

„Sag mal, Jonas, läuft da eigentlich irgendwas zwischen dir und Jacinta?“, fragte Phillip unseren Freund, während wir uns für Sport umzogen. Der Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Wir sind einfach nur Freunde. Tut mir übrigens leid, dass wir eben so plötzlich abgehauen sind, aber Jace musste noch zum Sekretariat und das wollte sie schnell erledigt haben“, entschuldigte er sich. Jace? Netter Spitzname. Das erklärte dann wohl auch, warum Jonas gestern nicht bemerkt hatte, dass sie ein Mädchen war.

Ich lächelte. „Schon gut. Ist ja nicht schlimm. Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?“

„Das ist wohl mir zu verdanken.“ Jonas zuckte mit den Schultern. „Ich hatte grade eine Idee für ein Bild im Kopf und wollte was Essen. Und dabei habe ich nicht so sehr auf den Weg geachtet, wie ich es hätte tun sollen. Und na ja, dann sind wir halt zusammen gestoßen.“ Ich grinste. Ja, das hörte sich ganz nach Jonas an. „Wir haben uns dann ein bisschen unterhalten und ich habe ihr ein paar meiner Zeichnungen gezeigt. Sie ist echt cool drauf.“

Wir verließen den Umkleideraum und betraten die Sporthalle. Der Sportkurs hatte den Schwerpunkt Volleyball und die, die schon in der Halle waren, wärmten sich schon auf. Neugierig musterte ich die anderen Anwesenden. Der Kurs bestand ungefähr zu gleichen Teilen aus Jungen und Mädchen. Die Jungs hatte ich ja schon in der Umkleide gesehen. Die paar Mädchen, die schon in der Halle waren, wärmten sich schon auf. Ich kannte sie alle. Eine war in meinem Erdkunde-Kurs, eine war in meinem Mathe-Kurs, eine war in meinem Deutsch-Kurs und die letzte ... Ich stöhnte auf. „Hätte mich nicht jemand vorwarnen können, dass Loreen auch in unserem Kurs ist?“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, das wusstest du.“ Ich verdrehte die Augen. „Außerdem weiß ich gar nicht, was du gegen sie hast. Sie ist doch nett.“ Ich schüttelte nur den Kopf und gemeinsam fingen wir an, uns aufzuwärmen. Erst ein paar Dehnübungen, dann mit den Bällen Pritschen und Baggern.

„Okay, dann kommt mal alle zusammen“, rief da auch schon der Lehrer. Wir versammelten uns um ihn und er erklärte uns, wie wir in den nächsten Wochen vorgehen würden. Heute würden wir erst mal mit den Grundlagen des Volleyballs anfangen: Pritschen. Die meisten Jungen stöhnten auf. Ich ebenfalls. Wir konnten doch eigentlich alle Volleyball spielen. „Keine Widerrede. Wenn jemand ein Problem hat, muss er den Kurs wechseln. Der Rest passt jetzt bitte gut auf. Ich habe euch beim Aufwärmen beobachtet. Viele von euch pritschen nicht ganz richtig.“ Dann erklärte er uns, wie man richtig pritschte und machte es auch selber gleich vor.

Erinnerungen

Jace

 

Völlig erschöpft verließ ich die Sporthalle. Ich hatte ganz vergessen, wie anstrengend Bodenturnen sein konnte. Ich hatte es als Kind mal gemacht, war dann aber irgendwann zu Parcours laufen übergegangen. Und das hatte ich jetzt auch seit fast zwei Monaten nicht mehr gemacht.

In der Umkleide zog ich mir meine verschwitzen Sachen aus und sprang kurz unter die Dusche. Irgendwie musste ich es ja ausnutzen, dass ich kurze Haare hatte. Als ich fünf Minuten später wieder in die Umkleide kam, war niemand mehr hier.

Ich zuckte mit den Schultern. Umso besser. Dann hatte ich meine Ruhe und wurde nicht mit nervigen Fragen über mich und meine Familie ausgequetscht. Kurz darauf verließ ich die Sporthalle und steuerte auf das Hauptgebäude der Schule zu.

„Hey, Jace!“ Verwundert drehte ich mich um und lächelte, als ich Jonas entdeckte. Neben ihm tauchten Alexander und Phillip auf. Bei den beiden war ich mir immer noch nicht sicher, was ich von ihnen halten sollte. Dass sie mit Jonas befreundet waren, zeigte doch eigentlich, dass sie nett waren, oder?

Aber vor allem Alexander konnte ich einfach nicht mögen. Er war ganz offensichtlich der Liebling der Lehrer und auch unter den Schülern nicht grade unbeliebt. Zumindest der Reaktion der Mädchen, als er den Raum betreten hatte, nach zu urteilen. Ich seufzte. Ich hatte echt ein Talent dafür, die Arschlöcher als erstes kennen zu lernen.

„Na, wie war euer Sportkurs?“ Ich grinste in Jonas' Richtung. „Ich habe von den Mädels gehört, er soll recht beliebt sein?“ Unschuldig sah ich zu Alexander auf. „Oder wurde ich da falsch informiert, Xander?“

Der Angesprochene sah mich kurz abschätzend an. „Nein, er ist recht gut besucht“, gab er dann Auskunft, wobei man ihm an sah, dass es ihm widerstrebte, mir recht zu geben. Ich wusste, dass ich grade nicht wirklich dazu beitrug, dass Alexander mich lieber mochte, aber ich hatte vorhin vor dem Sportkurs aufgeschnappt, dass er den Spitznamen 'Xander' hasste. Und ich ließ mir nur selten solche Chancen entgehen.

„Macht es denn wenigstens Spaß?“, bohrte ich weiter. „Ihr macht Volleyball, oder?“ Alexander nickte nur. So so, der Herr war heute also nicht gesprächig. Auch gut, dann unterhielt ich mich halt mit Jonas. „Hey Jonas, wie geht es deinem Bild?“

Der Angesprochene warf mir einen Blick zu, den ich nicht richtig deuten konnte.

„Gut soweit. Allerdings hatte ich noch keine Zeit genauer ins Detail zu gehen. Das hatte ich dann in den nächsten Tagen vor.“ Ich lächelte.

Jonas hatte mit seiner Aussage gestern recht gehabt. Er konnte auf eine gewisse Weise zaubern. Den ganzen Nachmittag über hatten wir uns über seine Bilder und allgemein die Kunst unterhalten. Nebenbei hatte er seine grobe Idee des neusten Bildes auf ein größeres Blatt gebracht. So ganz neben bei, wie meine Mutter immer strickt, wenn sie sich mit Leuten unterhält.

„Phil, Jonas, habt ihr heute Nachmittag Zeit? Ich hab sturmfrei.“ Alexander grinste und sah die zwei abwartend an. Er dachte gar nicht daran, mich einzuladen und ich erwartete es auch nicht wirklich. Ich meine, er hatte irgendwas gegen mich – okay, da war ich mit meiner Art vielleicht nicht ganz unschuldig dran – und ich mochte ihn auch nicht.

Ich hatte in Virginia und Chile die Erfahrung, dass den Menschen Beliebtheit früher oder später zu Kopfe stieg. Und Alexander sah aus, als wäre er schon etwas länger beliebt und auch dementsprechend eingebildet.

„Sorry, ich kann nicht“, meinte Phillip und sah Alexander entschuldigend an. „Unser Trainer wollte heute mit uns am Salto arbeiten. Da kann ich nicht einfach fehlen.“ Ohne mir etwas anmerkten zu lassen, hörte ich nun wirklich interessiert zu. Was für einen Sport machte Phillip? Wo im Sport wurden überhaupt Salti benötigt? Vor meinem inneren Auge spielte sich eine Szene ab, die ich erst vor gut zwei Monaten erlebt hatte.

 

„Jacinta, du musst dich mehr zusammen rollen“, schimpft Ignacio und sieht mich streng an. „Wenn du zu den besten gehören willst, musst du endlich lernen, dass ein Salto nur funktionieren kann, wenn man sich so klein wie möglich zusammen rollt.“

Ich verdrehe innerlich die Augen, nicke aber brav. Ignacio sollte ich nicht zu sehr reizen. Nicht heute.

„Also noch mal.“ Mein Trainer seufzt. „Und diesmal will ich einen perfekten doppelten Salto mit anschließender Rolle sehen.“

Ich seufze ebenfalls. Ignacio weiß genau, wie weit er bei mir gehen darf. Und ich gehöre leider zu den Besten aus unserem Team, weshalb er mich auch dementsprechend hart ran nimmt.

Ich schließe kurz die Augen und sammele mich. Den doppelten Salto habe ich erst zwei mal versucht. Und beide male sind darauf hinausgelaufen, dass ich auf dem Arsch landete. Ich atme noch einmal tief durch und öffne die Augen.

Sie fixieren sofort das Minitrampolin vor mir und die Laufbahn dorthin. Wie in Zeitlupe setzen sich meine Beine in Bewegung und ich renne auf das Trampolin zu. Ignacios bohrenden Blick blende ich aus. Ebenso die neugierigen Blicke der anderen. Das hier ist der Moment allen zu zeigen, dass ich tatsächlich die Beste bin.

Und plötzlich ist das Trampolin direkt vor mir. Ich stoße mich vom Boden ab, lande mit beiden Füßen im Netz und werde hoch in die Luft katapultiert. Dort rolle ich mich zu einer kleinen Kugel zusammen und drehe mich zweimal in der Luft.

Von ganz alleine streckt sich mein Körper wieder, ich spüre die Matte unter meinen Füßen und lasse mich für die Rolle nach vorne fallen. Meine Hände berühren die Matte und ich rolle über sie. In einer flüssigen Bewegung stehe ich mit dem Schwung aus der Rolle auf und bleibe genau dort stehen, wo ich bin.

„Schon besser.“ Ignacio nickt. „Allerdings hätte der Übergang von Salto zu Rolle noch etwas flüssiger kommen können.“ Innerlich verdrehe ich erneut die Augen. Es ist nicht leicht, in Ignasios Team die Beste zu sein.

Er findet immer irgendwas an einem zu meckern. Langsam drehe ich mich zu meinem Trainer um und versuche, meine Wut nicht zu zeigen. Wenn ich Ignacio jetzt an meckere, bin ich draußen. Und das will ich nicht riskieren. Ich will noch so lange wie möglich mit machen.

 

„...bis nachher.“ Verwirrt sah ich auf. Wir hatten inzwischen das Schulgebäude erreicht und Alexander verschwand grade in einem Nebeneingang. Phillip und Jonas hoben zum Abschied noch einmal die Hand, aber ich ging einfach weiter.

„Hey, sie ist wieder unter den Lebenden.“ Phillip warf Jonas über meinen Kopf hinweg einen vergnügten Blick zu und ich verdrehte die Augen. Ich wusste, dass ich immer etwas … nun ja, verträumt wirkte, wenn sich irgendetwas vor meinem inneren Auge abspielte – wie diese Szene eben –, aber dass musste man mir ja nicht auch noch unter die Nase reiben.

„Sag mal, Phillip, machst du eigentlich Parcours laufen oder so?“ Ich sah ihn neugierig an und sah gnädiger Weise darüber hinweg, dass er grade einen Witz über mich gemacht hatte.

„Ja, wieso?“ Er erwiderte meinen neugierigen Blick. Ich zuckte mit den Schultern.

„Hatte mich nur mal interessiert. Meinst du, ich kann da auch mal vorbei gucken?“

„Ich weiß nicht...“ Der Junge zögerte und sah mich unsicher an. „Also, du könntest mal bei den Juniors vorbei schauen. Die machen noch nicht ganz so schwere Sachen, wie wir...Aber du kannst heute Nachmittag ja mal mitkommen und es dir angucken.“

Ich lächelte. Wenn er wüsste...

„Sehr gerne.“ Ich nickte begeistert. „Und dann kann ich ja auch mal deinen Trainer fragen, wegen einsteigen und so.“ Phillip nickte. Er schien erleichtert, dass ich es ihm nicht übel nahm, dass ich im Prinzip grade zu gen Kindern abgeschoben worden war.

„Wann soll ich wo auftauchen?“ Phillip nannte mir Ort und Zeit und ich verabschiedete mich, da ich meinen nächsten Raum suchen musste.

Das Training war am späten Nachmittag in der Sporthalle. Ich hatte also noch genug Zeit, mir das ganze noch mal in Erinnerung zu rufen. War nur die Frage, was mein Vater davon halten würde. Ich seufzte. Das würde ein sehr interessantes Gespräch werden.

Überraschung

Alex

 

Ich seufzte entnervt, als ich nach der Schule nach Hause kam. Der Nachmittag würde sterbenslangweilig werden. Phillip hatte Training und Jonas war mal wieder in einer kreativen Phase. Mit ihm war also auch nichts anzufangen.

Ich machte mir nicht die Mühe, mich irgendwie bemerkbar zu machen, als ich das Haus betrat, da sowieso niemand zuhause war, den das interessieren könnte. Meine Eltern arbeiteten beide – wie immer – bis abends. Es kam sehr selten vor, dass man einen der beiden vor achtzehn Uhr hier antreffen konnte.

Meine erste Aktion nach Betreten des Hauses war, in die Küche zu gehen und mir einen Apfel aus der Obstschale zu nehmen. Ein Blick in den Kühlschrank sagte mir, dass unser Hausmädchen schon einkaufen gewesen war und dass für heute Abend ein kleines, schlichtes Essen geplant war. Demnach kamen mein Vater wohl heute nicht zum Essen nach Hause. Ich tippte auf eine Geschäftsreise, aber das konnte mir ja egal sein.

Mit dem Apfel und einer Flasche Wasser bewaffnet, betrat ich dann mein Zimmer und pfefferte meine Schultasche unter meinen Schreibtisch. Hausaufgaben gab es am ersten Schultag nicht, da die Lehrer immer noch so halb in den Ferien drin waren. Ich ließ mich auf mein Sofa fallen und dachte nach, was ich mit diesem Nachmittag anfangen konnte. Jonas konnte ich wirklich komplett vergessen. Aber was war mit Phillip? Das Training bei denen war immer recht interessant zu beobachten. Aber was machte ich die Stunde bis fünf noch?

Ich seufzte. Vielleicht konnte man ja doch etwas mit Jonas anfangen. Wobei, ich könnte auch einfach zur Schule laufen, dann hätte ich auch schon mindestens eine halbe Stunde gefüllt. Blieb also nur noch eine halbe Stunde tot zu schlagen.

Ein erneuter Seufzer entwich meinen Lippen, als ich resigniert feststellte, dass ich rein gar nichts zu tun hatte. Ich wollte mich grade dem Gedanken hingeben, dass ich wohl vor Langeweile eingehen würde, als mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Tasche und warf einen Blick auf den Display. Verwirrt nahm ich den Anruf an.

„Hey Dad, was gibt’s?“ Es kam extrem selten vor, dass mein Vater mich anrief. Noch seltener versuchte er mich auf dem Handy zu erreichen.

„Randolf, könntest du vielleicht kurz in der Firma vorbei kommen? Ich habe hier ein Problem und brauche deine Hilfe.“ Ich verdrehte die Augen. Nur mein Vater benutzte meinen Zweitnamen. Und die Tatsache, dass er mich um Hilfe bat, zeigte, dass es um ein großes Problem gehen musste. Denn sonst würde er mich niemals fragen.

„Ja, ich bin in zehn Minuten da.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, legte ich wieder auf und erhob mich von meinem Sofa. Mein Handy verschwand wieder in meiner Hosentasche. Im Flur schnappte ich mir meine Schlüssel und startete kurz darauf meinen Wagen. Ich hatte ihn von meinen Eltern zum achtzehnten bekommen.

 

Verdammt, warum mussten Eltern eigentlich immer so anstrengend sein? Da soll man ihnen einmal helfen und dann hören sie nicht auf einen. Völlig genervt ließ ich mich eine Stunde später auf den Fahrersitz meines Autos fallen. Das ach so schreckliche Problem meines Vaters hatte sich als ganz simple Frage entpuppt: Ob sich seine Rede gut anhörte. Blöd nur, dass diese Rede etwa zehn Minuten lang war und mein Vater während dem Sprechen immer wieder verbesserungswürdige Stellen fand und nach der Verbesserung wieder von vorne anfing.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass das Training von Phillip vor etwa zehn Minuten angefangen hatte. Und in etwa zehn Minuten würde ich da sein. Also würde ich zwanzig Minuten verpassen. Heißt so viel wie aufwärmen und einige einfache Übungen zum Anfang. Die Salto-Übungen würde ich auf jeden Fall noch mitbekommen. Mit einem sanften Brummen erwachte mein Auto zum Leben. Immerhin etwas, das heute funktionierte. Englisch – eigentlich mein absolutes Lieblingsfach – hatte Mira mir mit ihrer Anwesenheit verdorben, Sport war mit den ganzen nervigen Mädchen auch nicht so ganz das wahre und Chemie und Religion waren sowieso nicht grade meine Stärke.

Das Training war tatsächlich schon in vollem Gange, als ich an kam. In der Halle war ein einfacher Parcours aufgebaut, über den grade zwei Gestalten hetzten. In der einen Person erkannte ich Phillip, aber bei der zweiten Person konnte ich nicht erkennen, wer es war, da sie eine Kapuze auf hatte. Aber es war ein Mädchen, das konnte ich erkennen.

Ich setzte mich auf die Tribüne und beobachtete die zwei interessiert. Phillip schien das Mädchen zu verfolgen. Auf jeden Fall drehte diese immer wieder den Kopf und sah nach Phillip.

Geschickt erklomm die Unbekannte eine dicke Matte, die auf zwei Stufenbarren lag und überquerte diese. Am anderen Ende angekommen drehte sie sich noch mal kurz um und beobachtete Phillip, wie er ebenfalls die Matte erklomm. Dann stieß sie sich ab und vollführte einen gekonnten Salto. Phillip blieb erstaunt stehen, aber das Mädchen vor ihm rollte sich auf dem Boden noch einmal ab und lief weiter.

Allerdings blieb sie fünf Meter weiter stehen. vermutlich weil sie bemerkt hatte, dass Phillip sie nicht mehr verfolgte. Jetzt erst kam Phillip ebenfalls von der Matte runter, allerdings mit einem einfachen Sprung und abrollen.

„Warum hast du nicht gesagt, dass du so gut bist?“ Phillip war vor dem Mädchen stehen geblieben und sah sie fragend an.

„Du hast nicht gefragt“, kam die einfache Antwort. Ich überlegte. Kannte ich die Stimme? Alexander, you okay?, erklang plötzlich Jacintas Stimme in meinem Kopf. Dieses unbekannte Mädchen dort unten in der Halle hatte genau die gleiche Stimme. Nun nahm sie die Kapuze ab und zeigte somit ihre roten Haare. Phillip grinste und gemeinsam liefen die zwei zum Rest der Mannschaft zurück. Sofort wurde Jacinta von allen umringt und mit Fragen gelöchert. Ich nahm an, sie beschäftigte sich vor allem damit, wo Jacinta das ganze gelernt hatte.

„Okay, Leute“, versuchte der Trainer Ruhe zu schaffen. „Jacinta kann uns später noch erzählen, wo sie das gelernt hat. Wir widmen uns erst mal dem Salto.“ Sofort war es still. „Also, der Salto. Jacinta hat uns ja grade einen sehr schönen gezeigt. Jetzt seid ihr dran. Was muss man beim Salto beachten? Was ist wichtig?“

Und so trugen sie die Grundlagen des Saltos zusammen. Danach bauten sie in der Mitte der Halle, wo keine Geräte standen, ein Minitrampolin mit zwei Weichböden dahinter auf. Jacinta wurde gebeten noch einmal einen Salto vorzumachen. Alle versammelten sich um die Weichböden und Jacinta entfernte sich ein paar Meter vom Trampolin. Kurz stand sie bewegungslos da, dann setzte sie sich in Bewegung. Schnell hatte sie das Trampolin erreicht und stieß sich vom Boden ab. Und dann war sie in der Luft, wirbelte einmal herum und landete mit beiden Füßen auf der Matte. Die umstehenden Klatschten spontan und der Trainer nickte anerkennend.

„Das war sehr gut, Jacinta“, lobte er sie. Ich verdrehte nur die Augen. Jetzt schleimte sie sich auch noch beim Trainer ein. „Okay, dann üben wir das jetzt. Ein paar, die den Salto schon ein bisschen können, bauen bitte noch ein zweites Trampolin mit Weichböden auf.“

Schnell war die zweite Station aufgebaut und zwei etwa gleich große Gruppen bildeten sich. Nach einander lief jeder auf ein Trampolin zu und versuchte sich am Salto. Die meisten bekamen es sogar recht gut hin und je öfter sie es versuchten, desto besser wurden sie.

Nach dem Training wartete ich noch auf Phillip. Der ließ sich mit Duschen und so Zeit. Zehn Minuten später kam er dann endlich raus. Ich sah demonstrativ auf mein Handy und ging dann in Richtung Auto. Phillip warf seine Tasche auf den Rücksitz und ließ sich selber neben mich auf den Beifahrersitz fallen.

Musik

Jace

 

Erleichtert, endlich Schulschluss zu haben, ließ ich mich auf einen Sitz im Bus fallen und schloss die Augen. Seit drei Wochen ging ich jetzt hier zur Schule. Ich kam jeden Tag erst um etwa halb vier nach Hause und zwei meiner Nachmittage verbrachte ich dann auch noch mit Training. Mein Künste im Parcours laufen hatten in den zwei Monaten Pause etwas gelitten. Bei jedem kleinen Fehler, der mir auffiel, hörte ich auch sofort Ignacios Kommentar dazu.

Innerlich verfluchte ich meine Mutter, dass sie dieses Arschloch geheiratet hatte. Wäre er nicht gewesen, würde ich jetzt vermutlich grade wieder mal unter Ignacios eiserner Hand stöhnen, aber wenigstens würde ich noch etwas lernen. Versteht mich nicht falsch. Ich mag meinen neuen Trainer. Aber er nimmt mich nicht so hart ran, wie Ignacio, weshalb mir beim Training immer etwas zu fehlen scheint.

„Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich mich wohl dort hin setzten?“ Nur widerstrebend öffnete ich wieder die Augen und sah eine etwas ältere Dame vor mir stehen. Sie deutete auf den freien Platz neben mir und ich rutsche ans Fenster, damit sie sich setzten konnte. Dann holte ich meine Kopfhörer raus und steckte sie bei meinem Handy an.

Sobald die ersten Töne von Mozarts Eine kleine Nachtmusik erklangen, entspannte ich mich. Ich lehnte mich ans Fenster und schloss wieder die Augen. Als ich zehn Minuten später den Bus verließ, summte ich leise die Melodie mit. Kurz sah ich mich um und lief dann in die Richtung, in die auch der Bus im Verkehr verschwunden war.

Fünf Straßen weiter blieb ich vor einer Villa stehen. Ich klingelte am Tor und nachdem ich der Gegensprechanlage erklärt hatte, wer ich war, ging das Tor soweit auf, dass ich hin durch gehen konnte. Ich folgte der breiten Auffahrt zu dem weißen Haus. Dort wurde ich an der Tür schon vom dem Butler erwartet.

Er ließ mich eintreten, nahm mir meine Jacke ab und führte mich dann direkt in ein kleines Zimmer. Also, klein im Verhältnis zum restlichen Haus. Wenn man unsere Zweizimmerwohnung als Vergleich nahm, war es so groß wie Wohnzimmer, Küche und Bad zusammen. Es war hübsch eingerichtet. An der Fensterfront gab es eine kleine Sitzecke – bestehend aus zwei kleinen Sofas und drei Sesseln –, rechts stand ein riesiger, schwarzer Flügel.

„Der Herr kommt sofort“, erklärte mir der Butler und ich nickte. Hinter mir wurde die Tür wieder geschlossen und ich ging langsam an dem Flügel entlang. Mit einer Hand strich ich dabei über die glatte schwarze Oberfläche. Schließlich war ich am Ende des Flügels angekommen und setzte mich langsam auf den Hocker. Vorsichtig ließ ich meine Finger über die Tasten gleiten und tat so, als würde ich spielen.

„Ah, Jacinta. Wie ich sehe, bist du schon wieder fleißig am üben?“ Erschrocken sprang ich auf und sah zu der Tür, durch die ich eben selber herein gekommen war. Dort stand ein großer, schlanker Mann und lächelte zu mir herüber. Er war Ende zwanzig und überragte mich um eineinhalb Köpfe.

„Hallo Herr Hoffmann. Tut mir Leid, dass ich mich schon an den Flügel gesetzt habe, aber ich wollte auch gar nicht spielen.“ Herr Hoffmann war einer der wenigen Leute, die es wirklich schafften, dass ich Respekt vor ihnen hatte. Seine großartigen Klavierkünste waren daran nicht grade unbeteiligt.

„Ach was, das ist doch nicht schlimm.“ Wieder lächelte er und kam dann zu mir herüber. „Was hast du denn da andeutungsweise gespielt?“

„Nur was, was mir so grade in den Sinn gekommen ist“, wich ich aus. „Nichts besonderes.“

„Na gut, dann wollen wir mal anfangen. Spiel doch bitte mal die Klavierbegleitung zu Fluch der Karibik. Die Noten liegen dort drüben.“ Er wies auf den kleinen Beistelltisch neben dem Flügel und ich holte sie. Zwar konnte ich einen Teil von dem Stück auswendig, aber noch lange nicht alles.

 

„Du warst heute mal wieder sehr gut, Jacinta. Wenn du so weiter machst, schaffst du es irgendwann bis zu den ganz großen.“ Herr Hoffmann lächelte, als er mich eineinhalb Stunden später zur Tür brachte. „Ach übrigens, in etwa einem Monat ist im großen Saal ein Benefiz-Konzert. Ich habe dich als eine der Pianistinnen vorgeschlagen. Ist das in Ordnung?“

„Ich weiß nicht“, meinte ich zögernd. Eigentlich war ich nicht so versessen darauf, vor der halben Stadt zu spielen. „Das müsste ich mit meinem Vater besprechen.“

„Mit dem habe ich schon gesprochen. Er meinte, es wäre eine gute Gelegenheit für dich, dein Können mal zu zeigen.“ Tja, damit wäre das wohl beschlossene Sache. Wie schön, dass mein Vater mich auch mal fragte, ob ich überhaupt Lust dazu habe.

„Wenn das so ist, spiele ich natürlich gerne.“ Ich lächelte gezwungen und verließ das Haus. „Bis Freitag dann.“ Herr Hoffmann wünschte mir noch einen schönen Tag und schloss dann die Tür. Vor mir schwang das Tor auf und ich betrat die Straße. Aus meiner Tasche holte ich die Kopfhörer. Kurz darauf erklangen die ersten Takte von AC/DCs Hells Bells. Ich schloss kurz die Augen und ließ die Musik auf mich wirken.

„Jace?“ Erstaunt öffnete ich die Augen.

„Hey Jonas.“ Ich nahm einen der Ohrstöpsel raus und versuchte den verwunderten Blick des Jungen vor mir so gut es ging zu übersehen.

„Bist du grade aus der Villa von Herrn Hoffmann gekommen?“

Verdammt, musste er mich denn gesehen haben? Besser konnte der Tag nun wirklich nicht mehr werden. Schon die eineinhalb Stunden Klavier spielen waren heute der Horror gewesen. Ich hatte gefühlt alle paar Takte irgendeinen blöden Fehler eingebaut und Herr Hoffmann behauptete, ich habe heute so gut wie noch nie gespielt. Als Jonas mich weiterhin fragend an sah, nickte ich schließlich.

„Hast du bei ihm Unterricht?“

„Ja, aber ich bin nicht sonderlich gut. Herr Hoffmann meinte, ich müsste noch viel üben, bis ich wirklich gut sei“, erklärte ich schnell, bevor Jonas etwas sagen konnte. Musste ja schließlich nicht gleich jeder wissen, dass ich von ihm für das Nachwuchstalent schlecht hin gehalten wurde.

„Jace, Herr Hoffmann nimmt nur wirklich gute Schüler an. Man muss schon mindestens sieben Jahre spielen und wirklich Talent haben.“ Jonas sah mich nachdenklich an. „Er ist der beste Klavierlehrer im Umkreis von mindestens fünfzig Kilometern.“ Er schüttelte den Kopf. „Hey, du musst dich nicht dafür schämen oder so, dass du Klavier spielst.“ Wir setzten uns in Bewegung, obwohl ich nicht wusste, wohin Jonas mich grade führte. Die Bushaltestelle lag auf jeden Fall in die andere Richtung.

„Jonas, ich schäme mich nicht dafür“, erklärte ich jetzt, bevor er noch mehr Blödsinn reden konnte. „Aber ich hänge es nun mal nicht an die große Glocke, dass ich spiele. Wo gehen wir eigentlich hin? Der Bus fährt doch dahinten.“ Ich deutete hinter uns.

„Ich wollte noch eine Besorgung machen.“ Er grinste schief. „Ich hoffe du hast nichts dagegen mitzukommen?“

Ich lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich hab es heute nicht eilig, nach Hause zu kommen. Wir also haben im Prinzip alle Zeit der Welt.“

„Sehr gut.“ Auch Jonas lächelte jetzt richtig. „Wie oft in der Woche hast du eigentlich Klavierunterricht?“

„Mein Vater hätte es am liebsten jeden Tag, aber das kommt mit dem Training und so nicht hin. Und außerdem wollte ich auch noch ein wenig Freizeit haben. Also zwei mal die Woche. Dienstags und freitags.“

Jonas grinste. „Das würde dann auch erklären, warum du nur donnerstags und am Wochenende Zeit hast.“ Ich nickte. „Wir sind da.“ Jonas blieb vor einem kleinen Laden stehen, der Fotos und Kameras im Schaufenster stehen hatte.

„Ich wollte was für meine Kamera besorgen“, erklärte er, als er meinen verwunderten Blick sah. Tja, schien so, als müsste ich noch einiges über Jonas lernen. Nicht nur Künstler, sondern auch noch Fotograf. Na da hatte ich mir aber was an gejubelt.

Gemeinsam betraten wir den Laden und Jonas verschwand sofort zwischen den Regalen. Ich blieb orientierungslos am Eingang stehen und betrachtete die Regale mit eher geringem Interesse. Fünf Minuten später erschien dann Jonas mit triumphierendem Lächeln auf dem Gesicht wieder. „Ich wusste doch, dass sie das richtige Stativ hier haben.“

„Wo wollen wir als nächstes hin?“ Fragend sah ich Jonas an, als wir wieder auf der Straße standen.

„Zum Bus.“ Er hakte sich bei mir unter und zog mich mit sich. Ich ließ es einfach gesehen, da ich keine Ahnung hatte, wo die nächste Bushaltestelle war.

„Jonas?“ Ein fragender Blick richtete sich auf mich. „Kannst bitte niemandem erzählen, dass ich Klavier spiele?“

„Okay, mach ich.“ Er lächelte zu mir hinunter.

Nervensägen

Alex

 

Hoffnungsvoll sah ich erneut auf die Uhr. Zwei Minuten vergangen. Innerlich stöhnte ich. Noch zwanzig Minuten, bis zum Ende der Stunde. Warum mussten die Deutschstunden bloß immer so schleppend langsam vergehen? Mein Lehrer stand an der Tafel und erzählte uns irgendwas von einer Interpretation, die wir schreiben sollten, aber ich konnte ihm nicht richtig zu hören. Gedanklich war ich schon bei heute Nachmittag. Meine Eltern wollten mich mal wieder auf einen Tennisplatz schleppen. Es würde vermutlich darauf hinauslaufen, dass ich mit den Söhnen und Töchtern von Dads Arbeitskollegen spielen durfte, während meine Eltern sich im Café amüsierten. Wie ich solche Tage hasste.

„Gut, dann macht diese Interpretation bitte zuhause. Ich erwarte sie dann zur nächsten Stunde“, erlöste mein Lehrer mich schließlich aus meinem Leid. „Ihr wisst ja, bei der Länge des Textes sollte die Interpretation schon so vier Seiten lang sein.“ Ich verdrehte innerlich die Augen. Nur vier Seiten? Der Text gab bestimmt noch mehr her, wenn man nur an der richtigen Stelle suchte.

„Hey Alex, wie sieht es aus, ich habe gehört, die Wellen sollen heute der Hammer sein.“ Phillip folgte mir aus dem Raum und sah mich fragend an.

„Sorry, heute ist schlecht. Meine Eltern wollen mal wieder Tennis spielen gehen.“ Ich verdrehte die Augen. „Das wird mal wieder wundervoll.“

„Sieh mal.“ Phillip deutete nach vorne und grinste. „Ein Wunder ist geschehen. Jonas ist mal ohne weibliche Begleitung.“ Ich nickte. Ziemlich erleichtert, dass die kleine Nervensäge heute mal nicht bei uns stehen würde. Warum hatte sich Jonas bloß mit ihr anfreunden müssen? Sie ist chaotisch – okay, Jonas auch –, sie kann nicht akzeptieren, wenn andere besser sind als sie, sie hat nicht das mindeste Taktgefühl, sie hat einen schrecklichen Kleidungsstil – sie ist ein Mädchen und Trägt mit Vorliebe Jack&Jones Pullis –, sie hat einen seltsamen Musikgeschmack – welcher vernünftige Teenager hört heute noch AC/DC?! – und sie hat die unmöglichste Logik, die es nur geben kann. Kurz: Sie ist unmöglich.

„Hi ihr zwei“, begrüßte uns Jonas, als er uns erreichte. „Wie war Deutsch?“ Ich verzog das Gesicht zu einem Gähnen. „Also langweilig wie immer?“, deutete Jonas die Geste. Ich nickte und Jonas grinste. „Ich verstehe gar nicht, was ihr an Deutsch alle so langweilig findet. Es ist doch viel mehr so, dass es total spannend ist, die verschiedenen Texte zu lesen und sich zu überlegen, was der Autor wohl sagen wollte. So kann man sich in die Lage der Menschen viel besser versetzen und verstehen, warum sie etwas gemacht oder unterlassen haben“, lebte der Junge auf. „Es müsste mehr Menschen geben, die versuchen, aus den Leben der Anderen zu lernen. So könnte die Welt ganz simple Probleme aus dem Weg räumen.“

„Jonas, wenn du doch so gerne Texte analysierst und so, guck dir doch mal unseren Text an und sag mir das Thema“, schlug ich vor, um den Redefluss zu unterbrechen. Es kam nicht häufig vor, dass Jonas so auflebte, aber wenn es um Kunst oder Textanalysen ging, war er voll in seinem Element. Nun verstummte er tatsächlich und sah sich den Text an, den ich ihm reichte.

„Alex, der Text ist so einfach, das Thema bekommst du auch alleine raus. Falls du doch Hilfe brauchst, ruf doch einfach an“, meinte Jonas dann kurze Zeit später. Er gab mir den Zettel zurück und ich verdrehte die Augen. Als ob ich das nicht schon alleine könnte.

„Du solltest echt mal lernen einen Scherz zu erkennen, wenn er direkt vor deiner Nase herumtanzt, Xander.“ Hatte ich wirklich gehofft, heute mal einen Zwerg-freien Tag zu haben? Aber wie war das: Man sollte den Tag niemals vor dem Abend loben. Und mein heutiger Tag ist ja sowieso schon die reinste Hölle. Da war es doch eigentlich klar, dass sie auch noch auftauchen musste.

Langsam drehte ich mich zu dem Zwerg neben mir um. „Und du solltest vielleicht mal lernen, dich nicht in anderer Leute Privatgespräche einzumischen“, erklärte ich ihr und sah sie dabei genervt an.

„Oh perdón, habe ich Eure Majestät etwa bei einer geheimen Besprechung gestört?“ Sie sah mich unschuldig an. Hätte ihr Stimme nicht praktisch in Spott gebadet, hätte man ihr wirklich glauben können, dass es ihr Leid tat.

Lo siento, dann werde ich natürlich sofort wieder gehen. Nicht, dass wegen mir noch Euer gesamtes Regierungssystem zusammen bricht.“ Sie verzog die Lippen ganz kurz zu einem Lächeln und drehte sich um.

Adios amigos.“ Und weg war sie. Immerhin eine Nervensäge weniger heute.

 

Habe ich schon erwähnt, dass dieser Tag die Hölle ist? Erst Deutsch, dann Mira, dann Englisch – wie immer mit Mira, die trotz ihres Amerikanischen Akzents zum Liebling des Lehrers mutierte – dann Musik. Der schlimmst Schultag, den es gibt. Und im Club waren heute – wie konnte es anders sein – nur Mädchen. Sarkasmus, spürst du meine überschäumende Freude? Ha, ha, ha.

Müde und genervt ließ ich meine Tasche nach dem Nachmittag im Club in eine Ecke meines Zimmers und mich auf mein Bett fallen. Ich angelte nach meinem Laptop, schaltete ihn an und wartete halb schlafend darauf, dass er hoch fuhr. Kurz darauf hatte sich auch schon mein Skype geöffnet. Blub! Jonas.

>Hey Alex :D<

>Hi :)<

>Wie war dein Nachmittag?<

>Schrecklich -.-

Es waren nur Mädchen da

Und die Wenigsten von denen konnten wirklich spielen...<

>Hört sich nicht so toll an.

Aber was ich dich eigentlich fragen wollte...<

>Ja?<, fragte ich, als Jonas nicht weiter schrieb.

>Es sind doch bald Herbstferien. Und meine Eltern sind dann nicht da. Und Maike auch nicht.<

>Und?< Eigentlich eine unnötige Frage, da die Antwort schon klar war.

>Hast du Lust in der Zeit zu mir zu kommen? Du kennst doch meine Eltern und ihre Paranoia, wenn es darum geht mich alleine zuhause zu lassen...<

>von mir aus. Wie lange sind sie denn weg?<

>Eine Woche.

Die erste.<

Ich überlegte. Das könnte sogar genau so hinkommen, dass ich meine Eltern die ganzen Ferien nicht sehen würde. Zumindest meine ich mich zu erinnern, dass sie etwas in Richtung Abwesenheit in der zweiten Woche gesagt hatten.

>Also von mir aus kann ich kommen.

Wie sieht es mit Phil aus?<

>der ist irgendwie nicht da.

Hast du eine Idee, wen wir als dritte Person hinzuziehen könnten?<

Jonas Eltern hatten so einen Tick, ihren Sohn in den Ferien – sollten sie mal aus irgendeinem Grund nicht da sein und Maike auch nicht – nur im Haus zu lassen, wenn zwei Freunde bei ihm schliefen. Sonst immer hatten die Rolle Phillip und ich übernommen. Aber wenn Phillip nicht konnte, mussten wir wen anders hinzuziehen. Vielleicht...

>wie wäre es mit deinen Künstlerfreunden? Die sind doch sowieso den ganzen Tag unterwegs. Wo die dann schlafen ist doch im Prinzip egal.<

>gute Idee. Ich guck mal, was sich da machen lässt :)

kann ich ansonsten bei dir schlafen? Ich hab nämlich keinen Bock zu meiner Tante zu gehen -.-<

>klar

meine Eltern dürften in der zeit sogar zuhause sein ;)<

>okay, danke :)<

>bitte, bitte<

Sie haben eine neue Nachricht!

Ich runzelte die Stirn. Eigentlich hatte ich das Benachrichtigungssystem für meine E-Mail doch abgestellt, oder? Seufzend öffnete ich meinen E-Mail-Programm und rief die Mails ab. Die neue Nachricht war von meinem Vater. Ein weiterer Grund, sich zu wundern. Sie war nämlich heute morgen verschickt worden. Aber mein Vater hatte mich doch vorhin gesehen. Warum also sollte er mir heute morgen eine Mail geschrieben haben?

>kleine Planänderung -.-<, schrieb ich schließlich an Jonas, als ich die Mail gelesen hatte.

>meine Eltern wollen mich in den Ferien in England bei meiner Familie wissen. Und zwar die gesamten Ferien...<

...oder auch nicht

Alex

 

Der letzte Schultag hätte perfekt werden können. Nur sechs Stunden Unterricht und das auch nur Fächer, in denen ich entweder gut bin oder sie nur als Abdecker habe. Und dann den Nachmittag und Abend mit Jonas und Phillip chillen. Das war der Originalplan. Bis mir meine Eltern dazwischen gekommen sind. Ich sollte den Nachmittag über noch die letzten Sachen für meinen „Urlaub“ in England packen. Okay, damit hätte ich leben können. Dann hätte ich mich halt nur abends mit den Jungs getroffen.

Aber nein, da musste natürlich ein Benefiz-Konzert sein, zu dem ich hin musste, weil meine Eltern das ganze mit veranstaltet hatten und sie und ihre Familie natürlich nicht fehlen durften.

„Alexander!“ Ich seufzte. Tja, jetzt war es so weit. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Zwei Stunden oder so reine klassische Musik. Juhu, juhu, ich freue mich ja so. Kritisch betrachtete ich mein Spiegelbild. Wenn ich schon auf dieses Konzert musste, wollte ich wenigstens meiner Abstammung entsprechend gut aussehen.

„Alexander Randolf!“ Oh oh, wenn meine Mutter schon meinen zweiten Namen verwendete, wurde es höchste Zeit. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Als Veranstalter mussten meine Eltern eineinhalb Stunden vor beginn da sein. Da wäre dann ungefähr jetzt. Aber meine Mutter ist ja eigentlich selber Schuld. Sie hätte mich ja nicht alle fünf Minuten beim Packen stören müssen. Ich brauche nun mal so meine Zeit, um mich fertig zu machen.

„Alexander Randolf Carrington!“ Oh Scheiße, jetzt wurde es aber wirklich höchste Zeit. Schnell verließ ich mein Bad – nicht ohne einen letzten kritischen Blick in den Spiegel – und trat zu meinen Eltern in die Eingangshalle. Mein Vater verließ ohne ein Wort zu sagen das Haus, meine Mutter folgte ihm eben falls stumm, warf mir aber noch einen wütenden Blick zu.

 

„Alexander, ich möchte dir Herrn Hoffmann vorstellen.“ Mein Vater blieb mit mir bei einem jungen Mann stehen. Ich schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig. „Er ist der Lehrer von einigen Pianisten, die heute auftreten.“ Ich nickte nur desinteressiert. Was sollte ich denn mit dem Lehrer der Pianisten? Ich brauchte schließlich keinen Klavierunterricht.

„Hi Alexander, nett dich kennen zu lernen“, erklärte Herr Hoffmann freundlich. „Spielst du auch Klavier?“

„Nein, das habe ich mir noch nicht angetan.“ Ich lächelte. „Klavier ist nicht so meine Stärke. Und bis jetzt konnte mich auch noch nie jemand dazu bringen, mir so etwas freiwillig anzuhören.“

„Nun, wer weiß. Vielleicht schafft es ja heute Abend jemand von meinen Schützlingen.“ Herr Hoffmann lächelte erneut freundlich. Erstaunlich, in Anbetracht der Tatsache, dass ich grade nicht wirklich gut und freundlich über sein Fachgebiet gesprochen hatte. „Ich bin mir sicher, dass du zumindest eine meiner Schülerinnen mögen wirst.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Wenn er sich da mal nicht zu sicher war.

 

Gelangweilt beobachtete ich, wie langsam die Besucher eintrafen. Es erstaunte mich schon irgendwie, wie viele junge Leute hier waren. Ich meine, es war ein Konzert mit klassischer Musik. Klassisch. Wer mochte das schon? Aber vielleicht wurden sie ja auch von ihren Eltern und Verwandten gezwungen, hier zu sein...? In der Hoffnung, jemanden zu finden, den ich kannte, ließ ich meinen Blick über die Menschen gleiten. Verwundert blieb ich schließlich bei einem großen, schlaksigen Jungen hängen, der in der Begleitung von einer hübschen jungen Frau grade den Saal betrat. Mit schnellen Schritten ging ich schließlich zu meiner Rettung hinüber.

„Hey Jonas, was machst du denn hier?“, begrüßte ich den jungen Mann, der so erstaunt aussah, wie ich mich fühlte.

„Maike war der Meinung, dass ich mal wieder unter Menschen müsste“, grinste mein Kumpel und ich lächelte ebenfalls. „Wenn ich mich schon für die nächsten zwei Wochen bei meiner Tante in meinem Zimmer verkriechen werde.“

„Komm schon, Jonas, ich wollte noch einigermaßen annehmbare Plätze bekommen“, meckerte da seine große Schwester neben ihm und warf mir nur einen kurzen Blick zu. „Hallo Alex, schön dich zu sehen.“

„Ich freue mich auch, Maike“, erklärte ich und verbeugte mich leicht. Maike verdrehte die Augen.

„Sag mir lieber, wo noch gute Plätze frei sind“, erklärte sie, sah mich aber nicht an sondern suchte weiter den Saal ab.

„Aber natürlich. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Madam?“ Galant reichte ich ihr die Hand und führte sie dann in den vorderen Teil des Saals. Jonas folgte uns ebenfalls, und grinste.

„Alex, dir ist aber schon klar, dass das hier alles reserviert ist, oder?“, fragte Maike schließlich, als ich bei der ersten Reihe stehen blieb. „Wir können uns doch nicht einfach hier in setzten.“

„Glaub mir, du darfst. Meine Eltern haben das hier mit organisiert. Und da ich zu ihrer Familie gehöre, habe ich hier auch einen Platz.“

„Aber das ist nur ein Platz. Wir sind aber zu dritt.“

„Jonas und ich setzten uns einfach wo anders hin“, beruhigte ich sie und winkte meine Mutter heran, die grade auf getaucht war. „Mum, das hier ist Maike, Jonas Schwester. Ist es in Ordnung, wenn sie auf meinem Platz sitzt? Ich setzte mich mit Jonas dann weiter nach hinten.“

Meine Mutter seufzte. „Na von mir aus, wenn es dich glücklich macht...Aber denk gar nicht erst daran, das Konzert zu verpassen. Ich glaube, Herr Hoffmann wollte dir nachher noch jemanden vorstellen.“

Ich verdrehte dich Augen. „Keine Angst, ich werde schon nicht verschwinden.“ Dann drehte ich mich um und ging mit Jonas weiter nach hinten, wo noch Plätze frei waren.

„Weißt du, wer heute Abend alles auftritt?“ Fragend sah Jonas mich an, doch ich schüttelte nur den Kopf. Meine Eltern hatten mir nichts erzählt und ein Programmheft hatte ich nicht. Wozu auch, ich würde sowieso die ganze Zeit schlafen. Wir setzten uns auf zwei freie Plätze und ich sah gelangweilt auf die Uhr. Das Konzert würde erst in einer halben Stunde anfangen. Und dann würde es zwei Stunden oder so gehen. Viel zu lang.

 

Ich unterdrückte ein Gähnen. Schon fast eineinhalb Stunden musste ich diese Musik jetzt schon ertragen. Und zu meinem Entsetzen, schien es allen einschließlich Jonas zu gefallen, wie die jungen Leute ein bisschen auf dem Klavier herum klimperten und teilweise noch von einem anderen Instrument begleitet wurden. Erleichtert hörte ich schließlich, wie jemand bekannt gab, dass jetzt eine der letzten Pianistinnen des abends auftrat. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete ich, wie eine blonde Schönheit die Bühne betrat. Ihre Haare waren hochgesteckt, aber einzelne, gelockte Strähnen umrahmten ihr Gesicht. Sie war vielleicht ein Meter siebzig groß, allerdings trug sie auch noch Absätze, weshalb sie in Wirklichkeit eher eins fünfundsechzig war. Ihr rotes Kleid betonte ihr gute Figur und hob die graugrünen Augen hervor.

Sie machte einen leichten Knicks, setzte sich dann auf den Klavierhocker und strich kurz über die Tasten. Ich beobachtete, wie sie die Augen schloss und dann vorsichtig, als hätte sie Angst, etwas kaputt zu machen, schlug sie die Tasten an. Sie schien so viel Gefühl und Leidenschaft in die Töne zu legen, dass selbst ich es interessant fand. Gespannt verfolgten meine Augen ihre Finger, wie sie über die Tasten flogen und die kompliziertesten Läufe aus dem Flügel zauberten. Nicht eine Sekunde schien sie überlegen zu müssen, was sie als nächstes spielen musste. Fast schien es, als sein sie, die Musik und der Flügel eins.

Meiner Meinung nach viel zu schnell war das Stück zu Ende und ich ärgerte mich, dass ich nicht aufgepasst hatte, wie die junge Frau hieß. Aber vielleicht hatte ich ja Glück und sie war diejenige, die Herr Hoffmann mir vorstellen wollte.

Warum?

Jace

 

Meine Herbstferien waren nicht halb so schön, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Zwar war Alexander nicht da, wodurch ich wenigstens für zwei Wochen Ruhe vor ihm gehabt hatte, aber leider waren auch Jonas und Phillip nicht da. Und das Parcours-Training war für die Ferien auch unterbrochen worden. Ich hatte trotzdem regelmäßig geübt. Zumindest, so gut es ging. Aber ich konnte ja nicht jeden Tag die ganze Zeit trainieren, weshalb ich die meiste Zeit der Ferien Langeweile hatte.

Dementsprechend froh war ich auch, als dann endlich die Schule wieder los ging. Durch meine extreme Langeweile hatte ich mich schließlich dazu aufgerafft, schon mal einen Teil des Stoffes des letzten Schuljahres zu wiederholen, damit ich schon mal fürs Vorabi und Abi vorbereitet war. Unglaublich, dass ich wirklich schon in einem halben Jahr Abitur schreiben würde. Und schon in einem Monat würde ich Vorabi schreiben.

Vor meinem Englisch-Raum blieb ich stehen und wartete auf den Lehrer. Ich war spät dran, das erste Mal hatte es schon geklingelt. Um mich herum drängten sich die Schüler auf dem Weg zu ihrem Raum. Vor mir lief ein schlaksiger Junge vorbei und blieb einen Meter weiter stehen. Orientierungslos sah er sich um und ich unterdrückte ein Lachen. Schnell ging ich zu dem jungen Mann hinüber.

„Na, hast du deine Ferien gut überstanden?“, sprach ich ihn an. Verwirrt drehte er sich im Kreis, auf der Suche nach der Quelle der Stimme. „Ähm...Ich bin hier unten“, erklärte ich ihm schließlich und sofort schossen seine Augen zu mir hinunter.

„Hey Jace“, freute er sich und umarmte mich zur Begrüßung kurz. „Sorry, ich bin noch so halb ich den Ferien drin. Du weißt nicht zufällig, wo ich jetzt Unterricht habe?“ Hoffnungsvoll sah er mich an und ich lachte.

„Hast du nicht so etwas wie einen Stundenplan?“

„Doch, aber ich weiß ja nicht mal, welches Fach ich jetzt habe“, gab Jonas zu und sah mich zerknirscht an. Ich zog eine Augenbraue und er reichte mir mit einem hoffnungsvollen Lächeln seinen Plan. Ich studierte ihn kurz und sah dann auf.

„Ich schlage vor, du gehst zum Kunsttrakt. Da fängt jetzt nämlich deine Stunde an.“

„Jace, du bist meine Rettung.“ Jonas umarmte mich erneut, diesmal überschwänglich und lief dann zu den Kunsträumen. Lächelnd sah ich ihm hinterher. Wie hatte er bloß die letzten elf Jahre seines Schullebens überlebt?

„Na, hast du etwa einen neuen Freund?“, fragte mich da plötzlich eine belustigte Stimme von hinten und ich drehte mich schnell um. Vor mir stand Phillip und grinste mich an.

„Wo ist denn Seine Lordschaft?“, fragte ich, ohne auf seine Frage einzugehen.

„Kommt erst zur dritten“, erklärte Phillip. „Er hat gestern seinen Flieger verpasst und war deswegen erst um zwei Uhr heute Nacht zu hause.

Ich verzog das Gesicht. „So, wie er sich bei den ganzen Lehrern ein schleimt, könnte er auch eine Befreiung bekommen, wenn sein Goldfisch gestorben ist. Aber mir soll es recht sein. Dann habe ich wenigstens noch eineinhalb Stunden mehr Ruhe vor ihm und seinem ach so perfekten Englisch.“

„Ach komm, so schlimm ist er doch nun auch wieder nicht“, versuchte Phillip mich zu beruhigen. „Er stammt halt von einer Adelsfamilie ab. Da ist ein bisschen Eitelkeit angeboren.“

„Ein bisschen?! Mit seiner Eitelkeit könnte er das ganze Kaff versorgen“, entrüstete ich mich. Phillip zog belustigt die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts, weil unser Lehrer endlich auftauchte.

 

Nach Englisch verließ ich mit Phillip zusammen den Raum und wir machten uns auf die Suche nach Jonas. Natürlich musste uns unterwegs auch noch Alexander über der Weg laufen. Wie konnte es auch anders sein. Kurz darauf stieß auch Jonas zu uns und begrüßte uns leicht abwesend. Er schien noch halb in seiner Kunstarbeit drin zu sein.

Eine Weile unterhielten wir uns über unsere Ferien – wobei Alexander genau darauf achtete, nie mit mir direkt zu sprechen –, aber plötzlich wechselte der junge Engländer das Thema und fing an von einem Mädchen zu schwärmen. Ich nahm an, dass er sie in England kennen gelernt hatte. Sie tat mir jetzt schon Leid.

„Sie war einfach perfekt. Ihre Haare gingen ihr bis zur Taille oder so, aber sie hatte sie hoch gesteckt, was ihr richtig gut stand.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Das hörte sich so an, als hätte er sie nur einmal gesehen. „Sie hatte ein rotes Cocktailkleid an, wodurch ihre Figur und ihre Augen betont wurden. Und die Augen waren sowieso das unglaublichste an ihr.“ Alexander sah schon fast verträumt in die Luft und ich wurde langsam unruhig. Wenn das bloß mal gut ging.

„Sie waren grau mit einem leichten grün Stich. Einfach perfekt“, seufzte er. Oh kacke, das hörte sich nicht nach England an. „Und wie sie gespielt hat...“ Das hörte sich eher nach... „Sie ist die erste, die mich wirklich von der klassischen Musik überzeugen konnte.“ ...dem Benefiz-Konzert an. Maldita sea!

„Und wie heißt diese Schönheit, die du da die ganze Zeit preist?“, fragte Phillip belustigt nach und ich sah Alexander nun ebenfalls an. Aber eher beunruhigt und nervös als neugierig. Ich wusste nämlich ganz genau, wer diese „Schönheit“ war.

„Keine Ahnung.“ Alexander verzog das Gesicht. „Ich habe nicht zu gehört, als sie angesagt wurde. Da wusste ich ja noch nicht, dass sie so wunderschön ist. Und ein Programmheft hatte ich auch nicht.“ Die Erleichterung durchströmte mich sofort und ich merkte, wie sich die Anspannung wieder löste. „Und Herr Hoffmann habe ich leider nicht mehr getroffen, um ihn fragen zu können.“

Nachdenklich verabschiedete ich mich von den drei Jungs. Es würde gleich Klingeln. Außerdem wollte ich es nicht drauf ankommen lassen, dass Alexander erfuhr, dass ich wusste, wer sie war.

„Hey Jace, alles in Ordnung?“ Besorgt sah Jonas mich an und ging mit mir zusammen zur Sporthalle. „Du siehst irgendwie besorgt aus.“

„Ja...“, murmelte ich. „Ja, mir geht’s wohl gut.“ Ich verzog düster das Gesicht. „Abgesehen davon, dass ich weiß, für wen Alexander da grade so geschwärmt hat...“

„Da bist du nicht alleine.“ Erschrocken sah ich zu Jonas hoch, der mich beruhigend an sah. „Ich war auch da und im Gegensatz zu Alex habe ich aufgepasst, als du angesagt wurdest.“

„Meinst du, er bemerkt irgendwann, dass ich es war? Nur halt mit Perücke?“ Unsicher sah ich Jonas an.

„Also, wenn er nicht zufällig Herrn Hoffmann trifft oder dich mal genauer anguckt und feststellt, dass du die gleichen Augen wie sie hast, nein.“ Jetzt grinste er. „Und letzteres können wir mit ziemlicher Sicherheit ausschließen, da er dich nicht besonders mag und dich deshalb auch nie richtig angucken wird. Für ihn wirst du immer der nervige Zwerg bleiben.“ Er zwinkerte mir zu und ich lächelte erleichtert.

„Tja, ich würde sagen, das beruht auf Gegenseitigkeit. Er ist ein eingebildeter, arroganter, selbstverliebter capullo.“ Wir hatten die Sporthalle erreicht und ich blieb stehen. „Aber wer weiß, vielleicht kann ich ihn ja noch erziehen und er wird ein bisschen netter.“

Jonas grinste. „Bezweifle ich. Das versuchen Phil und ich schon seit Jahren so mehr oder weniger. Und noch haben sich keine Resultate gezeigt. Das wäre also vergebliche Liebesmüh.“

Ich verdrehte die Augen und sah Jonas mit einem belehrenden Blick an. „Ihr habt es einfach nicht richtig versucht. Weil ihr ihn nämlich mögt. Bei euch ist das Verlangen, ihn zu bessern nicht so groß, wie bei mir armen, kleinen, geschundenen Ding.“

„Du bist ein armes, kleines, geschundenes Ding?“ Jonas sah mich ungläubig an. „Dafür kannst du dich aber ganz schön gut wehren und auf den Mund gefallen bist du auch nicht grade.“

„Okay, dann halt nicht geschunden“, lenkte ich ein. „Aber arm und klein bin ich nun mal, das kannst du nicht abstreiten.“ Leise hörte ich die Schulglocke das erste Mal klingeln und seufzte. In zwischen gehörte ich mit zu den besten in meinem Sportkurs und langweilte mich regelmäßig, da ich nichts zu tun hatte, wenn die Lehrerin uns zum Beispiel erklärte, worauf wir beim Handstand achten sollten.

„Tja, ich würde sagen, ich wünsche dir dann mal viel Spaß beim Turnen.“ Ich sah erschrocken auf und bemerkte die zwei Lehrer, die da auf uns zu kamen. Resigniert nickte ich und wünschte Jonas ebenfalls viel Spaß. Dann folgte ich meiner Lehrerin in die Sporthalle. Und mit mir drängelten sich noch fünfzehn andere Mädchen in die Umkleide. Juhu, juhu. Der Spaß konnte beginnen.

Zaubern

Jace

 

Entspannt lehnte ich mich auf dem bequemen Sofa zurück und beobachtete Jonas, wie er an einem Bild arbeitete. Er schien voll in seinem Element und nahm die Welt um sich herum gar nicht richtig wahr. Nach und nach entstand unter seiner Hand ein Mädchen. Sie war hübsch. Klein und schmal gebaut, aber nicht zerbrechlich. Man sah ihr an, dass sie nicht grade unsportlich war und auch regelmäßig trainierte. Man konnte sie wohl als drahtig bezeichnen.

Jonas ließ sie auf dem Papier joggen. Ihre Augen glänzten lebhaft und ihre kurzen Haare wurden durch den Wind leicht nach hinten geweht. Ihr Gesicht hatte Andeutungen von lateinamerikanischen Zügen.

Schließlich trat der junge Mann einen Schritt zurück und sah erst das Bild, dann mich nachdenklich an. „Wie findest du es?“, fragte er schließlich, nachdem er noch ein kleines Detail ergänzt hatte: Das Mädchen trug ein Lederarmband am rechten Arm.

Nachdenklich stand ich auf und ging auf das Bild zu. Die junge Frau hatte ein Top und Hot-Pents an. Sie lief Barfuß am Strand entlang. „Es sieht hübsch aus.“ Langsam glitt mein Blick von dem rechten Handgelenk der jungen Frau zu meinem. Sie hatte genau das gleiche Armband um, wie ich. Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. Hätte ich nicht gesehen,wie Jonas das grade wie aus dem Nichts gezaubert hatte, hätte ich nicht geglaubt, dass er das gezeichnet hatte. „Jonas, du bist unglaublich. Bist du sicher, dass du nicht doch ein Zauberer bist?“

„Ziemlich.“ Er lächelte. „Aber ganz sicher bin ich mir manchmal auch nicht. Es gibt Tage, da bin ich mir selber ein bisschen unheimlich. Stell dich mal bitte neben das Bild.“ Ich tat, worum er mich gebeten hatte und sein Blick huschte zwischen mir und der Bleistiftzeichnung hin und her.

Nachdenklich fuhr er mit den Zeigefinger meine Nase nach und ich hob eine Augenbraue. Ohne mich als Person wirklich wahr zu nehmen, hob er mein Kinn und betrachtete meine Augen. Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken, als ich seinen Blick so intensiv auf mir spürte. Auch wenn ich wusste, dass ich momentan nur ein Modell für ihn war.

Dann ließ er plötzlich von mir ab und verbesserte etwas auf seinem Bild. Als nächstes fuhr er mit dem Zeigefinder meine Kinnlinie nach, kontrollierte etwas auf den Bild und widmete sich dann meinen Wagen. Wieder verbesserte der Junge etwas auf dem Bild. Schließlich warf er noch einen letzten prüfenden Blick auf mich, lächelte und nickte dann zufrieden. „Perfekt.“

Ich zog erneut eine Augenbraue hoch. Als er keine Reaktion zeigte, machte ich einen Schritt nach vorne, drehte mich um und betrachtete ebenfalls das Bild. Die junge Frau auf dem Blatt sah mir nun tatsächlich ähnlich. Auf den ersten Blick hätte es auch meine Mutter sein können. Aber die hatte noch stärker lateinamerikanische Züge. Außerdem hatte sie längere Haare und war größer als ich.

Ich sah zu dem Erschaffer dieses Wunderwerks. Langsam wurden seine Augen wieder klar und er kam wieder in der Gegenwart an. Er lächelte mich an und warf dann einen Blick auf die Uhr. Kurz nach sechs. „Ich hab Hunger. Wie sieht es bei dir aus? Lust auf Pizza?“

Ich grinste. „Gerne. Von euren Pizzen kann man gar nicht genug bekommen.“ Gemeinsam kletterten wir die Treppe in den Flur des kleinen Häuschens runter und zogen uns die Schuhe an. Kurz darauf liefen wir zusammen die Straße runter zu unserem Abendessen.

 

„Du, kannst du mir gleich vielleicht Notenpapier leihen?“ Fragend sah ich Jonas auf dem Rückweg nach dem Essen an. „Ich habe da grade eine Idee, die ich gerne endlich aufschreiben würde, bevor ich sie wieder vergessen.“

„Klar“, stimmte er sofort zu, zögerte dann aber. „Wenn wir was haben...“ Er sah mich mit einem schiefen Lächeln an. „Wenn du willst, kannst du es auch ausprobieren. Wir haben ein Klavier im Wohnzimmer stehen.“

„Das wäre cool.“ Ich lächelte. „Danke.“ Fünf Minuten später betraten wir das Wohnzimmer der Breitenborns. Tatsächlich stand in einer Ecke ein Klavier. Aus dem Stapel an Zetteln auf einem kleinen Beistelltisch daneben, kramte Jonas einige leere Bögen Notenpapier hervor und reichte mir diese zusammen mit einem Stift. Dankend nahm ich die Sachen entgegen, setzte mich auf den Klavierhocker und legte die Blätter auf das Klavier oben drauf.

Probehalber schlug ich ein paar Tasten an, um du gucken, ob das Klavier gestimmt war. Dann schloss ich die Augen und rief mir die Melodie in Erinnerung. Vorsichtig legten sich meine Finger auf die Tasten und wie von selbst erklangen die Töne zum ersten mal wirklich in dieser Welt. Ein Lächeln trat auf mein Gesicht, als die leichten, fröhlichen Töne den Raum erfüllten. Meine Finger huschten über die Tasten und mit etwas Fantasie konnte man aus der Melodie den Vogelgesang erkennen.

Lächelnd ließ ich den letzten Ton verklingen und öffnete langsam die Augen. Ich notierte die paar Takte, die ich schon hatte, auf dem Notenpapier und betrachtete dann nachdenklich mein „Werk“. Es war erst sieben oder acht Takte lang und klang irgendwie unvollständig. Aber was fehlte? Leise summte ich die Melodie, versuchte sie an einigen Stellen zu ändern und fortzuführen, aber es passte einfach nicht.

Pucha!“, schimpfte ich leise vor mich hin. „Vorhin hat es doch noch gepasst.“ Mein Blick glitt von den Noten weg durch das Zimmer. Es war hübsch eingerichtet. Die Farben ergänzten sich gut und erweckten den Eindruck von Geborgenheit. Das kleine Sofa, der Sessel und der Couchtisch zwischen ihnen beherrschten den Raum. An den Wänden standen noch ein paar Bücherregale. Alles in allem war nicht grade viel Platz, um sich zu bewegen, aber man hatte nicht den Eindruck, es wäre vollgestopft. Alles schien perfekt aufeinander abgestimmt zu sein. Inklusive des Katers auf dem Sofa. Und dennoch herrschte ein gewisses Chaos. Auf dem Couchtisch stapelten sich die Zeitschriften, die Regale quollen fast über, auf dem Sofa lagen noch ein Knäuel Decken und Kissen und auch auf dem Klavier und dem kleinen Beistelltisch häuften sich die Zettel.

Und plötzlich passte die Melodie wieder und auch eine Fortsetzung fand langsam den Weg in meinen Kopf. Bevor ich die Idee wieder vergessen konnte, notierte ich sie mir und spielte sie dann zur Probe auf dem Klavier. Es hörte sich wundervoll an. Zu dem Vogelgesang mischte sich jetzt ein leises Blätterrauschen und das Murmeln eines kleinen Bachs. Zufrieden betrachtete ich dann meine Idee und nickte. Dann drehte ich mich zu Jonas um.

„Danke nochmal, für das Notenpapier und dass ich das kurz ausprobieren durfte.“ Ich lächelte ihn dankbar an.

„Kurz?“ Jonas grinste. „Du bist gut. Du saßt da grade eine halbe Stunde oder so und hast das aufgeschrieben und gespielt. Aber wie es aussieht, bin ich nicht der einzige Zauberer hier. Du bist mindestens genauso gut. Wenn nicht sogar noch besser.“

„Ach was. So gut hört sich das nun auch wieder nicht an“, winkte ich ab. „An deine Künste komme ich noch lange nicht heran. Ich stampfe nicht mal eben eine Idee aus dem nichts. Die Idee habe ich schon etwas länger. Ich hatte nur nie Gelegenheit sie aufzuschreiben und zu verfeinern.“

Jonas sah mich zweifelnd an. In der Zeit, die wir uns schon kannten, hatte er gelernt, dass es nichts brachte mit mir zu diskutieren. Ich hatte einen Dickkopf und setzte ihn für gewöhnlich auch durch. Ich lächelte ihn charmant an und stieg dann die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Dort ließ ich mich auf sein riesiges Bett fallen und beobachtete die Tür. Kurz darauf tauchte der Junge tatsächlich auf. Er legte sich neben mich und sah mich eine Weile schweigend an.

„Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht kannst?“, durchbrach der schlaksige Junge neben mir plötzlich die Stille. Langsam drehte ich den Kopf zu ihm und sah ihn durchdringend an.

„Ja“, antwortete ich schließlich. „Eine ganze Menge sogar. Zum Beispiel Französisch und Kunst und Politik.“ Ich dachte kurz nach. „Und mich mit Leuten anfreunden.“

Ein zweifelnder Blick folgte dieser Aufzählung. „Ich weiß ja nicht. Französisch würdest du bestimmt hinbekommen, wenn du ein bisschen lernst. Ist doch bis zu einem gewissen Grad ähnlich wie Englisch und Spanisch. Kunst ... okay, da muss ich dir wohl zu stimmen. Politik könntest du auch, wenn du lernen würdest. Und zu dem letzten. Hier in Deutschland hast du doch auch schon einen kleinen Freundeskreis.“

„Ja. Weil du mich umgerannt hast.“ Wir grinsten. „Und mir dann ein paar Leute vorgestellt hast. Ohne dich würde ich vermutlich immer noch als Einzelgängerin durch die Schule streifen und hoffen, dass das Schuljahr bald zu Ende ist.“

Wir redeten noch eine Weile weiter und ich döste dabei fast ein. Die Ferien waren zwar erst eine Woche her, aber ich konnte schon wieder welche gebrauchen. Aus einem mir unerfindlichen Grund war die letzte Woche extrem Anstrengend gewesen und hatte an meinen Nerven gezerrt. Jetzt würde ich liebend gerne so richtig schön lange schlafen.

„Wann solltest du eigentlich zuhause sein, Jace?“, fragte Jonas plötzlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen und ich zuckte nur müde mit den Schultern.

„Zehn“, murmelte ich. „Glaub ich.“

„Oh, Scheiße.“ Jonas Fluch ließ mich die Augen öffnen. Sofort blieb mein Blick an dem Wecker neben dem Bett hängen. Halb zwölf. Sofort war ich hellwach.

Mierda! Papa bringt mich um!“ Ich kramte mein Handy hervor, warf einen Blick auf den Display und stöhnte. Zehn verpasst Anrufe. Alle von Papa oder meiner Stiefmutter. Der letzte war grade mal eine Minute her. Warum hatte ich die bloß nicht mitbekommen? Mit extrem schlechtem Gewissen entsperrte ich mein Handy und rief meinen Vater zurück.

„Ah, die werte Dame hat sich also doch noch entschieden, mit uns zu kommunizieren“, meinte mein Vater statt einer Begrüßung. Seine Stimme war ruhig. Zu ruhig. Gefährlich ruhig. „Darf man erfahren, wo du steckst und warum du nicht an dein Handy gehst, obwohl Laura und ich seit einer geschlagenen Stunde versuchen dich zu erreichen?“

„Es tut mir Leid, Papa. Ich bin bei Jonas. Und wir haben uns unterhalten und dabei total die Zeit vergessen. Und mein Handy war auf stumm, weshalb ich nicht gemerkt habe, dass ihr angerufen habt“, erklärte ich schnell, um zu verhindern, dass Papa mir dazwischen reden konnte.

Mein Vater seufzte und erklärte dann Laura die ganze Situation. Ich warf Jonas ein schiefes Lächeln zu. „Okay, wir können dich nicht abholen, weil unser Auto in der Werkstatt ist und wir nicht wirklich Lust haben, um diese Zeit noch durch die Stadt zu laufen. Kannst du vielleicht bei Jonas übernachten?“

„Jonas, kann ich hier schlafen? Meine Eltern wollen nicht, dass ich jetzt noch alleine draußen rum laufe und abholen können sie mich auch nicht.“ Ich sah den Jungen neben mir bittend an.

„Klar. Einer kann ja auf der Couch schlafen oder so.“

„Papa, ich kann hier schlafen.“ Ich machte eine kurze Pause, in der ich ihn erleichtert auf seufzen hörte. „Tut mir wirklich Leid. Ich wollte euch keine Sorgen machen“, erklärte ich noch mal. „Ich werde versuchen, es nicht noch mal zu wiederholen.“ Ich verabschiedete mich und legte dann auf. „Muchas Gracias, Jonas. Du bist meine Rettung.“ Dankbar sah ich den Jungen an.

Zukunft

Alex

 

Beeindruckt betrachtete ich die neuen Bilder von Jonas. Insgesamt waren es vier. Eins zeigte Jonas' Kater, wie er mit etwas herumspielte, eins war ein Stillleben eines chaotischen Schreibtischs – so wie der aussah, gehörte er Jonas.

Die anderen beiden zeigten beide eine junge Frau. Auf dem einen Bild joggte sie in Top und Hot-Pants den Strand entlang, auf dem anderen saß sie am Klavier. Alle vier Bilder waren auf ihre Art einzigartig, aber irgendwie hatte es mir das Bild des Mädchens am Klavier angetan. Sie kam mir so bekannt vor...

„Sag mal, Jonas. Kenne ich das Mädchen?“ Neugierig sah ich meinen Kumpel an. Der saß auf seiner Couch, mit einem Block auf den Knien und kritzelte da irgendwas drauf. Er brummte nur irgendwas unverständliches und schien mir nicht wirklich zu gehört zu haben. Ich seufzte. Sie sah der Pianistin von dem Benefiz-Konzert in gewisser Weise ähnlich. Auf ihrem Gesicht lag ein ähnlicher Ausdruck. Und überhaupt ähnelten ihre Gesichtszüge denen, der jungen Frau.

„Hey, hatten wir uns nicht getroffen, um zu lernen?“, fragte da Phillips Stimme von der Tür. Als ich mich umdrehte sah er mich und Jonas belustigt an. „Und stattdessen hockt ihr hier und guckt euch Bilder an bzw. zeichnet.“ Er schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Und ihr wollt in einem halben Jahr Abi schreiben?“

„Von wollen kann keine Rede sein.“ Jonas hatte es tatsächlich geschafft, sich von seinen Kritzeleien loszureißen und sah Phillip mit einem schiefen Grinsen an. „Ich habe ja keine andere Wahl, wenn ich studieren will. Von mir aus könnte ich auch ohne Abi leben.“

Ich grinste. „Und wie willst du das schaffen? Bei deinen Eltern kellnern und nebenbei noch mit den Bildern Geld verdienen oder was?“

„Zum Beispiel. Oder ich mache eine Ausbildung. Zum Erzieher oder so.“

„Du. Ein Erzieher.“ Ich sah Jonas ungläubig an. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst nicht wirklich was ohne Kunst machen.“

„Natürlich nicht“, entrüstete sich Jonas. „Ich studiere Grafikdesign. Das steht doch schon seit Ewigkeiten fest. Und das wird sich auch nicht so schnell ändern. Das ist schließlich mein absoluter Traumberuf.“

„Schon gut, da Vinci, es sagt doch auch keiner was gegen deine Pläne“, lachte Phillip. „Du musst nicht gleich so übertreiben, was deine Leidenschaft bezüglich der Sache angeht.“ Er ließ sich neben mir auf dem Bett nieder. „Aber jetzt lasst und mit dem lernen anfangen. Sonst schaffst du dein Abi nicht und kannst kein Grafikdesign studieren.“

 

„Weißt du eigentlich inzwischen, wo du studieren willst?“ Neugierig sah Phillip Jonas an und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Wir hatten grade zwei Stunden gelernt und machten jetzt eine Pause.

Der angesprochene zuckte mit den Schultern. „Ich habe an ein paar Hochschulen eine Bewerbung geschickt und wurde bei zwei oder drei angenommen. Wo ich letztendlich tatsächlich hingehe, weiß ich aber noch nicht. Und wie sieht es bei euch aus?“

„Also –“ Phillip nahm erneut einen Schluck „– ich wollte vielleicht nach Amerika. Ich will ja Hotel- und Wirtschaftswesen studieren und da habe ich drüben ein paar gute Colleges gefunden. Aber genau weiß ich es auch nicht. Vielleicht bleibe ich auch hier in Deutschland.“

„Tja, mein momentaner Plan ist wohl Oxford. Mein Vater würde mich da gerne sehen, weil unsere Familie da schon seit Generationen hin geht“, erklärte ich nun. „Und ich wüsste auch nicht, was dagegen spricht. Den erforderlichen Numerus Klausus werde ich wohl schaffen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Und ansonsten irgendwo anders in England. Mal gucken.“

„Dann werden wir uns wohl nach dem Abi für eine Weile nicht wiedersehen“, meinte Phillip. „Du gehst nach England, ich vielleicht in die Staaten und Jonas bleibt hier. Damit sind wir mehr oder weniger über die ganze Welt verstreut.“

„Ach was, so extrem ist es nun auch wieder nicht“, dämpfte Jonas die Theatralik unseres Kumpels. „Schließlich kommt ihr doch in den Semesterferien bestimmt zurück. Und außerdem gibt es ja noch so was wie Telefone und Skype und so.“

„Alles Sachen, die bei dir mal Erneuerungsbedarf haben.“ Ich grinste Jonas an. „Ich meine, euer Telefon ist doch aus der Steinzeit. Und euer Computer ist auch nicht mehr der neuste.“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Mir reicht das, was wir haben. Weißt du Alex, man muss nicht immer das neueste haben, um zu überleben. Manchmal geht das auch mit Sachen, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben.“ Er wies auf das Telefon, das auf dem Klavier im Wohnzimmer stand. Es war zwar ein Kabelloses, aber es gab trotzdem deutlich modernere Versionen. „Guck dir Dieter an. Er ist jetzt auch schon fünf Jahre alt und funktioniert noch einwandfrei. So mehr oder weniger.“

„Dieter?“, hakte Phillip nach. „Ihr habt eurer Telefon Dieter genannt?“

„Ja, wieso nicht?“ Jonas sah unschuldig zu Phillip hinüber. „Ist doch ein hübscher Name für ein Telefon.“

Ich zog belustigt die Augenbrauen hoch. „Und wie heißen euer Kühlschrank und der Geschirrspühler?“

„Der Geschirrspühler heißt Emma und bei dem Kühlschrank gibt es Diskussionen, ob wir ihm überhaupt einen Namen gegeben haben. Maike ist der festen Überzeugung, dass er Hanni heißt, aber ich bin mir da nicht so sicher.“ Mein Kumpel zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was nun wahr ist. Ich weiß nur, dass unser neues Telefon Ulli heißen wird.“ Er grinste. „Wir wollen schließlich bei den hübschen Namen bleiben.“

„Oh Mann, und ich dachte, meine Familie wäre verrückt.“ Phillip schüttelte ungläubig den Kopf und grinste. „Aber eigentlich schon verwunderlich, dass wir uns jetzt schon so lange kennen und mir noch nicht aufgefallen ist, wie verrückt ihr eigentlich wirklich seid.“

„Schon fast traurig, dass es dir noch nicht aufgefallen ist“, setzte ich hinzu. „Immerhin ist doch schon Jonas alleine eine Klasse für sich. Und wenn man sich dann dazu eine ganze Familie vorstellt, können die doch eigentlich nur verrückt sein.“

„Wir sollten weiter lernen“, wechselte Jonas nun das Thema. „Immerhin haben wir doch noch einen kleinen Berg Stoff liegen, den wir heute durch bekommen wollten.“

„Was denn, ist es dir etwa peinlich, dass du eine verrückte Familie hast?“, fragte ich gespielt besorgt nach.

„Nein.“ Jonas schüttelte den Kopf. „Aber ich mache mir Sorgen, dass ihr euren Numerus Klausus nicht erreicht, wenn ihr nicht genug lernt. Und ihr wolltet doch nach Amerika bzw. England.“

„Ach du willst uns loswerden?“, fragte nun Phillip und sah Jonas gekränkt an. „Ich dachte wir wären Freunde und bleiben für immer zusammen.“

Jonas schüttelte den Kopf und verließ das Wohnzimmer. Über die Schulter hinweg rief er uns zu: „Ich will euch nicht loswerden, ich will das beste für euch. Und sind nun mal Amerika und England. Da kann ich ja schließlich nichts für.“

Ich seufzte, grinste Phillip kurz schief an und folgte Jonas dann hoch in sein Zimmer. Dort fiel mein Blick zufällig – mehr oder weniger jedenfalls – auf die Bilder, die ich mir vorhin angeguckt hatte. „Jonas?“ Ein undefinierbares Brummeln war die Antwort. „Kenne ich die Person auf den zwei Bildern da eigentlich?“

Der Angesprochene sah hoch und warf einen kurzen Blick auf die Bilder. „Definiere kennen.“

„Habe ich schon mal mit ihr geredet?“

„Nein. Mit dem Mädchen hast du noch nicht gesprochen.“

Sunny Day

Jace

 

Ungnädig und laut wie immer, holte mein Wecker mich aus dem Schlaf. Brummelnd stellte ich ihn aus und versuchte ganz kurz weiter zu schlafen. Bis mir einfiel, was für ein Tag heute war. Sofort war ich hellwach und sprang aus dem Bett. Ich zog mir meine Joggingsachen an, trank in der Küche schnell ein Glas Saft und verließ dann die Wohnung. Vor dem Haus blieb ich kurz stehen und sog sie frische Seeluft ein. Unglaublich, dass ich jetzt schon seit zwei Monaten hier wohnte. Und drei Monate lebte ich jetzt schon insgesamt in Deutschland.

Gut gelaunt schlug ich meine gewohnte Route zum Laufen ein und betrat etwas über eine Stunde später wieder unsere kleine Wohnung. Dort sprang ich kurz unter die Dusche. Eineinhalb Stunden nachdem ich aufgestanden war, saß ich dann am Küchentisch und frühstückte. Meine Stiefmutter war hatte schon vor einer halben Stunde das Haus verlassen und meinen Vater konnte man nicht wirklich vor Mittag erwarten anzutreffen. Er war Barkeeper und kam auch dem entsprechend immer spät nach Hause.

Lise pfiff ich eine Melodie vor mich hin, als ich schließlich um halb acht in Richtung Schule ging. Heute war Dienstag. Einer meiner Lieblingstage. Unter anderem, weil ich nur sechs Stunden Unterricht hatte und zwei davon Musik, zwei Spanisch und die letzten zwei Deutsch waren. Alles Fächer, die ich eigentlich sehr gerne mochte. Und heute war der Tag sogar noch etwas besser. Heute würde einfach nur genial werden.

Schon vor der Schule traf ich auf die erste Person, die Opfer meiner guten Laune wurde. Sie war in meinem Spanischkurs und wir verstanden uns eigentlich ganz gut. Wenn ich nicht grade einen schlechten Tag hatte. Dann konnte fast niemand etwas mit mir anfangen.

„Hey Hannah“, begrüßte ich das Mädchen überschwänglich und umarmte die zur Begrüßung. Verwirrt erwiderte sie die Umarmung und begrüßte mich ebenfalls. „Hach, heute ist so ein schöner Tag, findest du nicht auch?“ Glücklich drehte ich mich einmal im Kreis und grinste dann zu Hannah hoch. Sie war etwa einen halben Kopf größer als ich, trug aber meistens auch noch Absätze, weshalb sie noch mal ein paar Zentimeter größer war.

„Ja, er ist ganz nett. Es ist noch recht warm dafür, dass wir schon Mitte November haben“, stimmte sie mir zögerlich zu. „Aber ich habe gehört, es soll jetzt die Woche über kälter werden und vielleicht auch bald schneien.“ besorgt sah sie mich an, als ich einen kleinen Luftsprung vollführte und leise jubelte. „Alles in Ordnung mit dir, Jacinta? Du bist so...fröhlich...“

„Mir geht es super, Hannah“, erklärte ich ihr breit grinsend. „Mir ging es noch nie besser. Na ja, ich muss dann mal weiter.“ Ich umarmte sie erneut zum Abschied. „Wir sehen uns dann nachher in Spanisch.“ Das Mädchen nickte nur leicht verunsichert, was sie von meiner neuen Seite halten sollte.

Ich grinste sie noch einmal an und betrat dann fröhlich pfeifend das Schulgebäude. So gute Laune hatte ich wirklich schon lange nicht mehr gehabt. Ich weiß gar nicht mehr, wann das letzte mal war. Ich glaube, als wir in Chile mit der Mannschaft in die Nationalmeisterschaft aufgestiegen waren. Da hatte sie allerdings nicht lange gehalten, weil ich kurz darauf erfahren hatte, dass meine Mutter einen Idioten heiraten würde. Ja, ich glaube, das war das letzte mal.

In der Schule sah ich mich nach meinem nächsten „Opfer“ um. Einige, an denen ich vorbei lief, kannte ich zwar vom sehen, aber nicht gut genug, um sie einfach anzusprechen. Ich wollte sie ja auch nicht abschrecken. Und dann entdeckte ich mein nächstes Opfer. An der Ecke vor mir tauchte Alexander auf. Das musste jetzt einfach sein. Heute konnte nicht mal er mir die gute Laune verderben.

„Hey Xander“, flötete ich und umarmte ihn fröhlich. Ohne seine Reaktion weiter abzuwarten, lief ich weiter. Ein paar Meter weiter stand Phillip und sah belustigt an mir vorbei. Spontan umarmte ich auch ihn. „Hey Phil, wie geht’s?“

„Gut gut.“ Der Junge grinste. „Und so wie du aussiehst, geht’s dir auch gut?“ Statt einer Antwort grinste ich erneut und drehte mich nun doch zu Alexander um. Er starrte mich wie vom Donner gerührt an und versuchte scheinbar zu verstehen, was in mich gefahren war, dass ich so gute Laune hatte und ihn sogar wagte zu umarmen. Der Grund? Ah, da kam er ja schon. Ich hüpfte fröhlich den Gang hinunter zu meinem vorerst letzten Opfer. Zumindest für vor dem Unterricht.

„Alles, alles, alles Gute wünsche ich dir.“ Fröhlich stellte ich mich auf die Zehnspitzen und umarmte den schlaksigen Jungen vor mir. Er erwiderte die Umarmung und bedankte sich. „Und? Wie fühlt man sich mit achtzehn?“

„Alt“, lachte Jonas und auch Phillip und Alexander – der sich offensichtlich noch immer nicht ganz von meiner Motivation erholt hatte – gratulierten dem Geburtstagskind. „Hey, meine Eltern sind der Meinung, dass zum Geburtstags-Kaffee-Trinken auch ein paar Freunde anwesend sein sollten. Habt ihr drei Lust zu kommen?“

Dios mío, was für eine Frage!“, erklärte ich entrüstet, als Phillip und Alexander nichts sagten und warf die Arme in die Luft. „Natürlich kommen wir. Es ist schließlich dein Geburtstag und wir sind deine besten Freunde. Wir wären so oder so gekommen. Ob du uns nun eingeladen hättest oder nicht.“

Jonas grinste. „Schön, dann hätte ich mir ja nicht die Mühe machen müssen.“

„Und wann geht’s heute Nachmittag los?“, stellte Phillip die wichtige Frage.

„Um vier. Wenn das für euch geht. Ihr könnt auch später nachkommen, wenn das mit der Schule und so besser passt.“

„Kann ich vielleicht auch früher kommen? Mein Vater ist in letzter Zeit etwas...nun ja, eigen. Und meine Stiefmutter ist in solchen Fällen nicht zu ertragen.“ Hoffnungsvoll sah ich meinen besten Freund an.

Er nickte. „Klar. Wenn du kein Problem damit hast, beim Tisch decken und so zu helfen.“

 

Schlussendlich lief es darauf hinaus, dass ich mit Jonas zusammen in deren Restaurant aß und wir dann zu ihm nach hause gingen, um so langsam den Tisch zu decken und so. Ungefähr um drei gingen wir dann hoch in sein Zimmer. Er wollte mir noch ein paar neue Bilder zeigen und meine Meinung dazu hören. Neugierig sah ich mich in dem Zimmer des angehenden Künstlers um. Auf den ersten Blick schienen keine neuen Bilder dazu gekommen zu sein. Aber als ich genauer hin sah, entdeckte ich auf dem Schreibtisch einen kleinen Stapel Zettel, der da noch nicht lange lag.

Schnell durch querte ich das Zimmer und sah mir das Blatt an, das oben auf lag. Das war das Bild von mir beim Joggen. „Sag mal Jonas, wann hast du mich eigentlich mal joggen sehen? Ich meine...das sieht so...realistisch aus. Wie sie die Arme angewinkelt, wie sie den Kopf hält, wie sie die Füße aufsetzt...das sieht alles so echt aus. Genau, wie ich es immer mache.“

„Keine Ahnung. Ist schon eine Weile her. Aber ein bisschen was, kann man sich auch einfach daraus erschließen, wie du dich sonst bewegst, deine Füße abrollst und so weiter“, erklärte er mir und zuckte mit den Schultern.

Um zu überspielen, wie überrascht ich war, dass Jonas mich offensichtlich beobachtete, zog ich eine Augenbraue hoch, ging aber nicht weiter darauf ein. Ich spürte, wie ich bei dem Gedanken leicht rot wurde. Schnell hob ich das Bild hoch, um mir das nächste anzusehen. Es zeigte Jonas' Kater Mikusch, wie er mit einem Wollknäuel oder so spielte.

Beeindruckt folgte ich mit den Augen den feinen Mustern in Mikuschs Fell. Jede einzelne Farbe war klar und deutlich zu erkennen. Und Mikuschs Falle hatte nicht grade wenig Farben. Der Tigerkater schien schon fast nur so von Farben zu sprühen. Und auch die Wolle war sehr naturgetreu gezeichnet.

„Mal im ernst Jonas, wie machst du das alles? Ich meine, bei dir sieht das immer so leicht und einfach aus.“ Schon fast verzweifelt sah ich meinen Kumpel an. „Und wenn ich es selber versuche, sieht das aus, als hätte ein dreijähriges Kind das gemalt.“

Ich nahm auch das Bild von Mikusch hoch und betrachtete das nächste. Es war das bunte Stillleben eines Schreibtischs. Eines chaotischen Schreibtischs wohl gemerkt. Das Bild schien beinahe aus allen Nähten zu platzen vor Farbenvielfalt. Ich schüttelte den Kopf. Es wirkte schrill, aber doch irgendwie ruhig. Unglaublich dieser Junge. Unglaublich.

Auch dieses Bild nahm ich hoch. Darunter lag eine weitere Bleistiftzeichnung. Wie auch schon das erste Bild zeigte dieses eine Person. Die junge Frau saß am Klavier und spielte grade. Ihre Augen waren geschlossen. Trotzdem war in ihrem Gesicht ein starker Ausdruck von Geborgenheit und Sanftmut zu erkennen.

„Sie ist wunderschön“, flüsterte ich und lächelte. Man konnte richtig spüren, wie sehr sie das Klavier spielen genoss und wie sicher und wohl sie sich dabei fühlte.

„Du weißt, dass du das bist?“ Erstaunt sah ich Jonas an, als er diese Behauptung aufstellte. „Das ist von letzter Woche, als du unten im Wohnzimmer saßt. Du hattest da so eine wundervolle Ausstrahlung. Und das habe ich versucht festzuhalten.“ Ich betrachtete das Bild erneut genauer. Nun erkannte ich tatsächlich meine Gesichtszüge. Aber irgendwas irritierte mich. Ich wusste nur nicht was.

„Warum habe ich eigentlich noch nie ein Foto von dir gesehen?“, fragte ich plötzlich in die Stille hinein. „Ich meine, ich habe bis jetzt immer nur irgendwas selbst gemaltes von dir gesehen, aber noch nie ein Foto, das du gemacht hast.“

„Doch, hast du. Die Fotos, die unten im Flur hängen und auch die bei uns im Restaurant sind von mir“, erklärte Jonas. „Aber wenn du willst, kann ich dir irgendwann noch mal ein paar andere Fotos zeigen.“

Partytime?

Alex

 

Also gut. Angenommen, Jacinta wäre plötzlich ein anderer Mensch. Und angenommen, dieser andere Mensch wäre nett. Und weiter hin angenommen, ich würde mich mit dieser Person unterhalten. Und angenommen, das Gespräch wäre interessant und es würde klappen, dass wir uns nicht streiten. Angenommen, ich könnte mir vorstellen, Jacinta näher kennen zu lernen. Angenommen, Jacinta wäre es wert, zu meinen engeren Freunden zu gehören. Angenommen, …

Ginge das? Könnte Jacinta plötzlich ein netter Mensch sein, der es wirklich würdig wäre zu meinen Freunden zu gehören? Würde das rein theoretisch klappen? Könnte ich mich mit Jacinta unterhalten, ohne dass der eine den anderen in irgendeiner Weise versucht fertig zu machen?

Ich seufzte. Nein. Jacintas Sinneswandel in den letzten Tagen musste einen ganz bestimmten Grund haben. Niemand konnte von einem Tag auf den nächsten eine völlig andere Person sein. Vor allem Jacinta nicht. Bei ihr würde das nie im Leben funktionieren. Schon weil es halt Jacinta war. Manchmal fragte ich mich wirklich, warum Phillip und Jonas sie so nett fanden. Sie war eingebildet, hochnäsig, unvernünftig, hatte ein viel zu großes Ego und war überhaupt unglaublich selbstverliebt.

Ich seufzte erneut. Hier sollte gleich Jonas' Überraschungsparty steigen und ich machte mir Gedanken über Jacinta. Das konnte doch nicht sein! Schnell sah ich mich um, ob es vielleicht noch irgendwo etwas zu tun gab, aber es war alles soweit fertig. Die Gäste würden in fünf Minuten eintreffen und wenn dann alle da waren, würde ich Jonas holen.

Ich kontrollierte noch ein letztes mal, ob alles an seinem Platz war, dann tauchten auch schon die Gäste auf. Die Geschenke landeten auf dem dafür vorgesehenen Tisch und schließlich verließ ich den Raum, den ein Junge aus unserem Jahrgang zur Verfügung gestellt hatte, um Jonas abzuholen. Vielleicht zwei Minuten später hielt ich vor seinem Haus, stieg aus, klingelte und betete, dass er sich für heute auch wirklich nichts vorgenommen hatte. Zu meiner Erleichterung öffnete mein bester Freund mir die Tür und sah mich erstaunt an.

„Hey Alex“, begrüßte er mich verwirrt. „Kann ich dir helfen?“ Ich musterte den Jungen vor mir kurz. Er sah aus, als hätte er grade irgendwas gemalt oder so. „Möchtest du vielleicht kurz reinkommen?“ Er trat einen Schritt zur Seite und ich betrat das Haus.

„Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du Lust hast noch mit zu mir zu kommen. Meine Eltern sind grade nicht da. Wir könnten ein paar Filme gucken oder so.“ Hoffnungsvoll lächelte ich ihn an. Wenn das mal gut ging.

Jonas zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht. Ich hab heute sowieso nichts mehr vor. Ich zieh mir nur kurz was sauberes an, nicht, dass ich noch eure Villa mit meinen Sachen dreckig mache.“ Er verschwand auf der Treppe hoch zu seinem Zimmer. Zwei Minuten später tauchte er wieder auf. Er hatte seinen Lieblingspulli und eine alte Jeans an.

Gemeinsam verließen wir das Haus, stiegen in meinen Wagen und fuhren los. Kurz darauf hielt ich vor dem Haus, in dem die Party steigen sollte. Jonas sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.

„Wollten wir nicht zu dir?“ Langsam stieg er aus. Er sah so aus, als würde er überlegen, was er davon halten sollte.

„Habe ich gesagt, wir wollen zu mir? Ich meinte Jannes. Muss ich mich wohl versprochen haben.“ Jonas nickte, sah aber noch nicht ganz überzeugt aus. „Komm, lass uns rein gehen. Die anderen warten schon.“ Im Haus führte ich ihn die Treppe hoch, die zu dem großen Raum führte. Ich klopfte an die Tür und wartete noch ganz kurz, bevor ich sie schließlich öffnete.

„Alles Gute zum Geburtstag!“, ertönte auch schon aus dem Raum und Jonas blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Ich schon ihn energisch in den Raum und schloss die Tür, um zu verhindern, dass er auf die Idee kam zu fliehen. Grinsend beobachtete ich, wie die Leute ihm noch mal mehr oder weniger persönlich gratulierten und sich dann in kleinen Grüppchen zusammen fanden und redeten. Leicht verloren stand Jonas schließlich da.

„Na, wie fühlt man sich als Achtzehnjähriger?“ Grinsend trat ich neben ihn.

„Beschissen, weil man nichts von der eigenen Geburtstagsfeier weiß.“ Jonas verzog das Gesicht. „Aber ich muss zugeben, die Überraschung ist dir echt gut gelungen. Ich habe echt nicht damit gerechnet, noch eine richtige Party zu bekommen.“ Jetzt lächelte er wieder. „Ehrlich gesagt hatte ich die Hoffnung auf eine große Feier zu meinem achtzehnten schon aufgegeben.“

„Und dabei sagt man doch immer, die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich mich nach der Person um, die sich in unser Gespräch eingemischt hatte. Ein Räuspern erklang.

„Hier unten“, erklärte das Mädchen trocken. Sofort schoss mein Blick etwas tiefer. Und dort stand ... Jacinta. Himmel, Herr Gott noch mal, konnte nicht mal ein Tag vergehen, an dem sie mich nicht nervte oder sonst irgendwie störte? Nicht mal Jonas Überraschungsparty konnte sie auslassen.

„Hey, cool, dass du auch da bist“, freute sich Jonas. „Ich hatte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass Alex dich einlädt. Und eben hab ich dich auch nicht gesehen...“

„Wer sagt denn, dass seine Lordschaft mich eingeladen hat?“ Jacinta grinste hinterhältig. „Ich meine, mein bester Freund bekommt eine Überraschungsparty zum achtzehnten, da kann ich doch nicht fehlen. Ob eingeladen oder nicht.“

„Jonas, möchtest du was trinken?“, versuchte ich von dem Thema und vor allem von Jacinta abzulenken. Aber vermutlich würde sie mehr oder weniger den ganzen Abend an Jonas dran kleben. Wie immer also. Das war es dann wohl mit einem Jacinta-losen Abend. Wundervoll.

„Nein, danke. Ich habe grade keine Durst“, erklärte mir Jonas und wandte sich dann der Person zu, die grade neben uns getreten war. „Hey Phillip, wie geht’s?“

„Gut so weit. Wie findest du es bis jetzt?“ Phillip sah Jonas gespannt an.

„Es ist cool. Etwas unerwartet und einige der Leute kenne ich gar nicht soooo gut, aber es ist cool. Wird bestimmt ein netter Abend.“ Jonas lächelte und ich war erleichtert. Dann war der Aufwand wenigstens nicht umsonst gewesen.

„Na dann, ich werde mal gucken, wen ich hier noch so kenne“, erklärte Jacinta plötzlich zu meiner Überraschung. „Ich kann ja schlecht den ganzen Abend nur hier rum stehen. Das würde auf Dauer sowieso nicht gut gehen. Man sieht sich.“ Und weg war sie. Jacinta war wirklich weg. Jonas war tatsächlich mal ohne Jacinta unterwegs, obwohl sie sich im selben Gebäude, ja sogar im selben Raum aufhielten. Diesen Tag musste ich mir unbedingt rot im Kalender markieren. Das war doch nicht normal.

„Und? Was machen wir jetzt?“, fragte schließlich Phillip und sah uns fragend an. „Ich meine, wir sind hier auf einer Party – Jonas Party, um genau zu sein – und trotzdem stehen wir hier rum, wie bestellt und nicht abgeholt. Irgendwas läuft da falsch.“

Mitleid - was ist das?!

Jace

 

Das Wochenende war nahezu perfekt gewesen. Alexanders Gesicht, als ich auf der Party aufgetaucht war, war einfach nur göttlich gewesen. Und als ich mich dann so vollkommen verständnisvoll zurückgezogen habe, hat es ihm, glaube ich, der Rest gegeben. Aber was kann ich denn dafür, dass ich in der letzten Woche so gute Laune hatte? Ich war schließlich nicht meine beste Freundin aus Chile, die mir mitgeteilt hat, dass sie mich kurz nach dem Abi besuchen kommt.

Aber zurück zum Thema. Wo war ich stehen geblieben? Richtig, Spanisch. Eines der wirklich guten Fächer an dieser Schule. Da waren nämlich Alexander, seine Perfektion und seine Eitelkeit nicht da. Spanisch war für mich Entspannung. Fast wie nach hause kommen. Aber dazu fehlt noch dieses gewisse etwas.

„Jacinta, möchtest du uns das vielleicht erklären?“ Ich schreckte hoch und sah mehr oder weniger panisch an die Tafel. Was passierte grade? Worum ging es noch mal? Ah, richtig. Das Buch. Kurz überflog ich die Stichpunkte an der Tafel. Mhm. Einfach.

„Aber natürlich, Frau Müller“, erklärte ich ihr freundlich. Dann legte ich meine Position zu dem Thema in bestem Spanisch dar. Ein paar Minuten später nickte meine Lehrerin. Kurz verarbeitete sie noch, was ich grade gesagt hatte, dann wandte sie sich an die Klasse.

„Habt ihr das soweit verstanden?“ Verzagtes Nicken kam von einigen, energischeres Kopfschütteln vom Rest. „Okay, Jacinta.“ Frau Müller seufzte. „Dann fass doch mal bitte das, was du eben gesagt hast kurz und vor allem verständlich für die anderen zusammen. Das war nämlich alles soweit richtig, was du gesagt hast.“

Ich nickte und tat, wozu mich die Lehrerin aufgefordert hatte. Aber mal im Ernst: Das hier war ein Leistungskurs. Da sollte man doch schon erwarten, dass die Leute verstehen, was man sagt, oder?! Gut, vielleicht spreche ich manchmal etwas schneller und vielleicht verschlucke ich auch manchmal Silben.

Aber macht das nicht jeder? Ich meine, für mich wurde damals in Chile auch nicht alles noch mal wiederholt, wenn ich was nicht verstanden habe. Da musste ich einfach zu sehen, dass ich das verstehe und mir den Rest zu hause selbst erarbeiten. So einfach ist das. Wie sollen die sich denn sonst später in Spanien oder einem anderen spanischsprachigen Land lernen sich zu verständigen?

 

„...warum ich immer mitarbeite und nie irgendwas vergesse oder so und Annika dann die eins bekommt“, regte sich Hannah grade auf, als ich zu der kleinen Gruppe hinzutrat. „Ich meine, sie vergisst jedes zweite mal ihre Hausaufgaben und plappert nur das nach, was die anderen schon gesagt haben. Und ich, ich bringe immer neue Ideen und treibe den Unterricht so voran. Aber nein, statt mir eine eins zu geben, gibt sie sie Annika.“ Hannah warf die Arme in die Luft. „Was mache ich denn falsch?“

„Erstens: Du redest zu viel“, stellte eine ihrer Freundinnen trocken fest. Ich hatte mir ihren Namen immer noch nicht gemerkt, obwohl ich mich seit einigen Wochen mehr oder weniger regelmäßig mit ihr unterhielt. Zumindest indirekt. „Und zweitens: Du sprichst manchmal zu undeutlich und verschluckst Silben.“

„Ja, mein Gott, soll ich etwa jeden Buchstaben betonen, oder was? Himmel, das ist Französisch, da hört sich das nun mal teilweise seltsam und undeutlich an.“ Hannah sah ihre Freundin entnervt an. „Aber ich weiß wenigstens was ich sage, im Gegensatz zu Annika. Ich bin nicht die, die im Leistungskurs theoretisch auf vier abgerutscht ist.“

„Also Hannah, falls es dich tröstet: Frau Müller meckert mich auch immer an, ich solle doch bitte deutlicher reden“, mischte ich mich in das Gespräch ein. „Und glaub mir, wenn du vier oder fünf Jahre nur mit Leuten geredet hast, deren Muttersprache Spanisch ist und die immer irgendwelche Silben oder Wörter verschlucken, ist das noch schwieriger, als wenn man die Sprache erst in der Schule gelernt hat.“

Hannah verzog das Gesicht, sagte aber nichts mehr. Sie wusste, dass ich Recht hatte und es außerdem nichts brachte, mit mir zu diskutieren. Wozu also unnötig Atem verschwenden? Ich wollte noch etwas hinzufügen, stieß aber stattdessen einen erschrockenen Schrei aus, da ich plötzlich zwei Arme um meine Taille legten.

„Hey Kleine, wie geht’s?“ Meine Nackenhaare stellten sich auf, als sein Atem mich dort streifte. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich mich zu Jonas umdrehte.

„Bis eben ging es mir noch gut“, erklärte ich mehr oder minder verärgert. „Dann hat mich so ein Vollidiot erschreckt und ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.“ Ich sah gekränkt zu ihm hoch. „Das kannst du doch nicht einfach mit mir machen. Vor allem, wenn ich grade Spanisch hatte. Du weißt doch, wie anfällig ich dann immer bin.“ Jonas zog die Augenbrauen hoch. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch. Ich seufzte und drehte mich wieder zu Hannah und den anderen Mädchen um.

„Wo waren wir stehen geblieben?“ Erwartungsvoll blickte in die Runde, bekam aber nur belustigte Blicke zurück. „Was?“, fragte ich irritiert. Als ich bemerkte, dass die Blicke zwischen mir und der Person hinter mir und her wanderten, drehte ich mich entnervt erneut um. „War noch irgendwas?“

„Ja, ich wollte dich eigentlich fragen, ob du jetzt Schluss hast.“ Jonas sah mich unschuldig an. Ich verdrehte die Augen.

„Würde ich, wenn ich jetzt Schluss hätte, noch hier sein?“ Als Jonas mir keine Antwort gab, fuhr ich fort: „Überleg dir genau welcher Tag heute ist und denk dann noch mal über deine Frage nach.“ Ich drehte mich erneut um – eindeutig zu viel Gedrehe heute – und blickte in die weiterhin neugierigen Gesichter meiner so genannten Freundinnen. Wenn möglich, waren sie sogar noch neugieriger geworden. Eine weitere halbe Drehung zeigte mir wieder Jonas grinsendes Gesicht. „Okay, was wolltest du wirklich von mir?“

„Ich brauche noch wen, der mit zur Kunstausstellung in Hamburg kommt. Ich habe Karten und suche noch eine Person, die das auch wirklich interessiert.“ Er lächelte mich hoffnungsvoll an. „Also du musst dich nicht jetzt sofort entscheiden. Und es ist auch nicht schlimm,wenn du nicht willst. Du warst nur eine der ersten, die mir eingefallen ist. Und weil du mir hier so grade über den Weg gelaufen bist, dachte ich mir, ich könnte dich ja auch gleich mal fragen.“

„Okay, immer schön langsam“, bremste ich Jonas' Redefluss. „So. Jetzt noch mal der Reihe nach. Welcher Tag, wann müssten wir los, wo ist das genau, wer kommt alles mit und ...“ Ich überlegte. „Ja, das war es erst mal. Also? Langsam und geordnet?“

Jonas atmete einmal tief durch. „Nächstes Wochenende ist in Hamburg eine Kunstausstellung und ich habe Karten dafür zum Geburtstag bekommen. Und da wollte ich dich fragen, ob...“ Ich räusperte mich und warf einen strengen Blick zu ihm hoch. Er wurde leicht rot und dachte kurz nach. „Es fängt um sieben Uhr abends an und geht bis Mitternacht. Wir müssten hier so gegen halb fünf, fünf los. Ich würde dich dann abends nach hause bringen.“ Der Junge sah mich verunsichert an. Ach verdammt, ich wollte ihn doch gar nicht einschüchtern oder so. Mal davon abgesehen, dass ich gar nicht gewusst hatte, dass ich das bei ihm schaffte.

„Okay. Das hört sich doch schon geordneter an.“ Plötzlich registrierte ich die Blicke, die auf meinen Rücken gerichtet waren. Und so was nannte sich Freundinnen. „Ich werde das mal mit meinen Eltern besprechen und sage dir dann morgen oder so Bescheid. Aber Lust hätte ich schon.“ Ich lächelte aufmunternd und siehe da, Jonas' Unsicherheit verschwand wieder. Immerhin etwas.

„Ich hab jetzt noch Geschichte.“ Jonas verzog das Gesicht. „Und du?“

Ich sah ihn eine Weile stumm an. „Jonas, wir sind jetzt – wie lange? Zwei Monate? Zweieinhalb? – zusammen in einem Geschichtskurs. Da sollte man doch erwarten, dass du es dir langsam merken kannst, oder?“ Ich seufzte. „Ich hab Hunger. Kommst du mit in die Cafeteria?“ Ohne auf ihn oder seine Antwort zu warten, ging ich los. Er würde schon hinterher kommen. Schließlich war er der mit den langen Beinen von uns. Wobei ich ihn über längere Distanz im Laufen bestimmt schlagen könnte...Aber egal.

„Sag mal, Jace“, fing Jonas an, als er mich zwei Meter weiter eingeholt hatte – was hab ich gesagt? –, verstummte aber, als Alexander vor uns auftauchte.

„Hey Alex“, fing der schlaksige Junge einen neuen Satz an. „Wie geht’s?“

„Geht so“, brummelte der Engländer. „Hab schon bessere Tage erlebt.“ Er warf einen finsteren Blick Richtung Lehrerzimmer. „Zum Beispiel Tage, an denen Chemie interessant war und unser Lehrer nicht der Meinung ist, dass wir als Abdecker Stoff des Leitungskurs können sollten. Mal eben von jetzt auf gleich.“

„Oh, ist Seine Lordschaft etwa nicht mehr mitgekommen in Chemie?“ Ich sah den Jungen vor mir minder Mitleidig an. „Worum ging es denn?“

„Ja, keine Ahnung. Er hat uns da so Zettel hingelegt und erwartet, dass wir das sofort verstehen.“ Er warf die Arme in die Luft und seufzte frustriert. Heute war wohl der Tag der schlecht gelaunten Lehrer. „Man könnte fast meinen, er hätte uns mit seinem LK verwechselt.“

„Weißt du, Xander“, ich legte alle gespielte Anteilnahme, die ich aufbringen konnte in meine Worte, „ich würde ja gerne sagen, dass du mein tiefstes Mitleid hast, aber das wäre so ungefähr genau so wahr, wie die Behauptung, dass wir zwei befreundet sind. Und außerdem –“ Mehr oder weniger zu meiner Freude knurrte in diesem Moment mein Magen. „– bin ich grade sowieso nicht so Mitleidsfähig wie sonst, da mein Magen der Meinung ist, es wäre mal wieder an der Zeit das Monster zu füttern.“

„Schon gut“, Alex winkte ab, „ich denke, ich werde es auch ohne dein geheucheltes Mitleid überleben. Und so sehr wird sich das schon nicht auf meine eins auswirken. Das grobe Konzept habe ich ja verstanden.“

Ähm...nein?!

Alex

 

Ich seufzte resigniert. Vor einer Stunde hatte ich eine panische SMS von Jonas bekommen, dass er nicht wusste, was ein anziehen sollte. Jetzt stand ich bei ihm im Zimmer und versuchte ihn zusammen mit Phillip davon zu überzeugen, dass er das, was wir ihm rausgesucht hatten, anziehen konnte. Himmel, der Junge wollte auf eine Kunstausstellung, nicht zur Bundeskanzlerin!

Aber nein, das eine war ihm zu formell, das andere zu locker. Konnte er sich nicht verdammt noch mal endlich entscheiden?! Ich hatte heute eigentlich was besseres zu tun, als stundenlang in Jonas Zimmer stehen und sagen, dass er etwas tragen konnte, nur um dann zu hören, dass es nicht passte. Ich meine, es war Samstag Mittag bzw. Nachmittag. Da hat man doch eigentlich was besseres zu tun, als jemandem dabei zuzuhören, wie er über seine Kleidung meckerte.

„Mann, Jonas, das ist nur eine Kunstausstellung“, erklärte ich meinem Kumpel eine viertel Stunde später, als ich versuchte, ihm von unserem momentanen Favoriten zu überzeugen. „Ob du da nun in Hemd und Krawatte oder T-Shirt erscheinst, wird keinen interessieren.“

„Es ist nicht 'nur eine Kunstausstellung'“, äffte er meinen Tonfall ziemlich treffend nach, was mich beeindruckte. Das hatte bisher noch niemand so gut geschafft. „Diese Ausstellung ist nur alle paar Jahre. Und außerdem –“ Er fuhr sich resigniert durch die Haare. „– gehe ich da mit Jace hin.“

Kurz war ich still. Okay, das war ein Aspekt, den ich nicht gekannt hatte. Das war wohl ein Grund, sich so den Kopf über die richtige Kleidung zu zerbrechen. „Na gut, Jacinta also.“ Ich dachte kurz nach. „Ist es ein Date?“, fragte ich schließlich und ging sofort noch mal die ganzen Möglichkeiten durch.

„Ja...Nein...Keine Ahnung.“ Jonas stand recht hilflos vor uns und ließ traurig die Arme hängen. „Wenn ich das wüsste, wäre es vermutlich einfacher, etwas passendes zu finden.“ Ich verzog das Gesicht. So ganz begeistert war ich nicht davon, dass Jonas mit Jacinta dahin ging. Ich meine, warum sie? Warum Jacinta? Es gab so viele nette Mädchen an unserer Schule. Mit der Betonung auf nett. Und mein bester Freund suchte sich Jacinta aus. Die größte Nervensäge der Welt. Das konnte doch nicht sein Ernst sein, oder?

„Okay.“ Phillip holte tief Luft. „Jace. Was mag Jace? Was ist ihre Lieblingsfarbe? Wie steht sie zu eleganter Kleidung?“ Er sah Jonas fragend an, der eine ganze Weile nachdachte.

„Ich denke...sie hat nichts gegen elegante Kleidung oder Abendgarderoben. Wenn der Anlass stimmt, trägt sie es auch. Eigentlich mag sie es sogar. Aber es darf nicht zu aufgedonnert sein. Dezent, aber nicht zu lässig.“ Er dachte erneut nach. „Und ihre Lieblingsfarbe...grün...so weit ich weiß...glaube ich...“

Ich seufzte. „Dezent, aber nicht zu lässig. Gut. Das ist doch schon mal was. Und grün. Das würde zu ihren Haaren passen. Wie wäre es dann mit...“ Ich überflog kurz unsere engere Auswahl. „Das grüne Hemd hier und dazu eine schwarze Hose?“

Phillip betrachtete kurz meinen Vorschlag und nickte dann langsam. „Ja, das könnte gehen. Dazu dann deine schwarzen Schuhe. Aber keine Krawatte oder Fliege.“

Jonas seufzte und betrachtete ebenfalls unseren Vorschlag. „Dann also das grüne Hemd und die schwarze Hose.“ Er sah uns mit einer Mischung aus Entschuldigung und Dankbarkeit an. „Tut mir Leid, dass ich zu nichts zu überzeugen war. Ich bin einfach extrem Aufgeregt.“ Er lächelte schief. „Und danke, dass ihr mich ausgehalten habt. Ohne euch, wäre ich vermutlich noch lange nicht fertig.“

Phillip lächelte beruhigend. „Schon gut. Dafür sind wir doch da. Und jetzt geh dich um ziehen. Es ist schon kurz nach vier. Zu spät solltest du nicht los und du musst auch noch was mit deinen Haaren machen.“ Jonas nickte und verschwand mit den Sachen im Bad, um sich fertig zu machen.

„Puh, das wäre dann auch geschafft.“ Ich grinste schief. „Ich wusste gar nicht, dass sich Jonas so viele Gedanken um sein Aussehen macht.“

„Tja, es ist halt eine seltene Kunstausstellung und er geht mit Jace dahin. Sie ist ein intelligentes, nettes Mädchen. Und ich glaube, sie könnte richtig hübsch aussehen, wenn sie sich mal chic macht. Ich finde, da lohnt sich dann auch ein wenig Aufwand, um mithalten zu können.“

Ich verdrehte die Augen. „Na, wenn du meinst. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, was ihr an Jacinta so nett findet. Sie ist eine kleine, eingebildete Zicke. Noch dazu hat sie einen verdammten Dickschädel, der irgendwas gegen mich hat.“

„Tja, dann überleg mal, woran das liegt.“ Phil sah mich mit einer seltsamen Mischung aus Strenge und Belustigung an. „Ich habe mir nämlich sagen lassen, dass ihr erster Eindruck von dir damals am Strand war, dass du eigentlich ein netter Kerl bist.“

Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ach echt? Interessant...Das ist wirklich interessant...Damals fand ich sie nämlich auch noch nett. Bevor sie angefangen hat, sie wie eine kleine Zicke zu benehmen, die es gewohnt ist, alles zu bekommen, was sie haben will.“

„Nur, dass sie das nie war, nicht ist und auch nie sein wird“, sagte Jonas leise von der Tür aus. Ich drehte mich erstaunt um. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er schon aus dem Bad gekommen war.

„Hättest du dich auch nur einmal vernünftig mit ihr unterhalten, ohne gleich eingeschnappt zu sein, wenn sie mal einen kleinen Witz auf deine Kosten macht oder so, dann wäre dir nämlich mal aufgefallen, dass sie gar nicht so reich ist. Um genau zu sein, kommt sie aus einem der ärmeren Viertel hier in der Stadt.“ Jonas sah mich traurig an.

„Ihr zwei würdet euch so gut verstehen, wenn ihr beide euren Dickkopf einfach mal beiseite lassen könntet. Sie ist nämlich eigentlich ein wundervolles Mädchen. Vielleicht etwas kompliziert, aber wenn man sie besser kennen lernt, merkt man, dass das zum Teil daran liegt, dass sie sich halt früher durchsetzen musste, um nicht unterzugehen, in der großen Masse an selbstbewussten und egoistischen Schülern.“

Ich schwieg betroffen und nachdenklich. Okay, das hatte ich wirklich nicht gewusst. Vielleicht hätte ich sie doch nicht so einfach abstempeln sollen, als sie sich mit amerikanischem Akzent vorgestellt hatte. Amerikaner zu sein, war doch nicht gleich schlecht. Auch wenn wir Engländer einfach den berühmteren Adel hatte, zu dem ich auch zählte. Da konnte ich ja wohl nichts für. Ich kam nun mal aus besserem Hause als sie.

„Erinnerst du dich noch daran, wie wir zwei uns kennen gelernt haben?“, fragte Jonas und sah mich lange an. Fast hatte ich das Gefühl, er hätte mein Gedanken gelesen. „In der dritten Klasse, als du neu zu uns gekommen bist, weil deine Eltern nach Deutschland gezogen sind? Du konntest fließend Deutsch und warst schon damals verdammt eitel und selbstbewusst und so. Und du hast dich auch stolz als Viscount of Sunderland vorgestellt. Keiner von uns wusste, was das bedeutete, aber wir waren alle total beeindruckt.“ Jetzt lächelte er leicht. „Und in der Pause hast du dich dann sofort mit Phillip angefreundet. Aber als ich dann dazu kam, wolltest du nichts von mir wissen, weil meine Kleidung offensichtlich schon älter war. Mit so jemandem konntest du dich nicht einfach abgeben.“

„Aber irgendwann habe ich eingesehen, dass du eigentlich ein cooler Typ bist und es nicht unbedingt wichtig ist, was man im ersten Moment von einer Person hält“, erzählte ich weiter. „Aber das hat auch fast zwei Jahre gedauert.“ Ein leises Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich mich daran erinnerte. „Ich weiß noch genau, wie wir da auf dem Schulhof standen und Phillip zum ersten mal, seit ich ihn kannte so richtig böse geworden ist. Und das nur, weil ich mich geweigert habe mit den anderen Fußball zu spielen. Das hätte ja meine Kleidung dreckig machen können.“

„Und dann kam Jonas an und hat dir angeboten, was von seinen Sachen anzuziehen, weil er doch noch was mit hätte, das er dir leihen könnte“, beendete Phil die Geschichte. „Ach ja, das waren noch Zeiten, als unsere einzige Sorge war, mit wem wir weshalb befreundet oder nicht befreundet sein wollten.“

„Schrecklich“, stimmte Jonas zu. „Aber weißt du Alex, das ist genau das gleiche wie damals. Du weigerst dich, Mira näher kennen zu lernen, weil sie unter deinem Gesellschaftlichen Stand ist. Aber bin ich das nicht auch? Ich bin nicht von Adel, so wie du. Und ich habe keine Eltern, die durch das Musikgeschäft reich geworden sind, wie Phillip. Meine Eltern haben ein Pizzarestaurant. Und trotzdem sind wir befreundet.“

„Jonas, musst du nicht los?“, wechselte ich schnell das Thema, bevor ich noch weich wurde und zu stimmte, es mal zu versuchen. „Es ist schon kurz vor halb fünf.“

„Oh, scheiße!“ Jonas sah sich panisch um. „Wo sind die Karten? Wo ist der Schlüssel?“ Er wollte sich die Haare raufen, hielt aber mitten in der Bewegung inne und ließ die Hand dann wieder sinken.

„Die Karten liegen hier auf deinem Schreibtisch und die Autoschlüssel liegen für gewöhnlich unten auf eurer Kommode im Flur“, half Phil unserem zerstreuten Freund weiter. „Hast du Handy und Portemonnaie?“ Vorsichtig nickte Jonas, als er sich in die Taschen griff, um es zu überprüfen. „Tja, ich würde sagen, dann hast du alles.“ Zusammen verließen wir Jonas' Zimmer. Im Flur nahm sich Jonas die Autoschlüssen und wir verließen das Haus.

„Dann würde ich sagen, viel Glück und viel Spaß euch Zweien heute Abend.“ Ich klopfte Jonas ermutigend auf die Schulter. Er sah echt aufgeregt aus. Hoffentlich ging das gut und ich musste nicht morgen auch noch Seelsorger spielen. „Auch wenn ich nicht ganz verstehe, was ihr an solchen Ausstellungen interessant findet.“

„Das hilft mir ungemein weiter. Vielen Dank, Alex“, meinte Jonas weniger trocken als aufgeregt.

„Hör nicht auf ihn“, erklärte nun Phillip. „Er ist nur neidisch, dass du heute Abend ein Date hast und er sich mit mir abfinden muss. Ich will übrigens so schnell wie möglich wissen, wie es gelaufen ist. Ich hoffe, das ist dir klar.“ Er warf Jonas einen strengen Blick zu. „Und jetzt fahr endlich. Sonst hat sich Jace schon wer anders weggeschnappt, weil sie da wie bestellt und nicht abgeholt steht.“

Jonas grinste noch mal schief, stieg dann aber endlich in seinen Wagen ein. „Ciao. Bis morgen oder so.“

Just in Time

Jace

 

Nervös starrte ich unsere Haustür an. Es war schon halb fünf und Jonas war noch nicht da. Er meinte doch, er kommt so gegen kurz vor halb. Aber warum verdammt war er dann noch nicht da?! War etwas passiert? War ihm was dazwischen gekommen? Nein, letzteres konnte ich ausschließen. Dann hätte er angerufen.

RIING! RIING!

„Ja?“, meldete ich mich über unsere Gegensprechanlage.

„Hey, ich bin es“, erklang Jonas Stimme. Sofort entspannte ich mich etwas. Es war also nichts passiert. „Tut mir Leid, dass ich er jetzt da bin, ich...“

„Schon gut“, unterbrach ich ihn. „Ich komme sofort runter. Gib mir nur eine Minute.“ Ich legte den Hörer der Anlage auf und ging zu meinem Vater. „Jonas ist da.“ Ich lächelte. „Kann ich auch wirklich so gehen?“ Unsicher sah ich an mir herunter.

„Du bist wunderschön. Das Kleid steht dir ausgezeichnet.“ Er lächelte mich aufmunternd an. Dann stand er auf und half mir in den Mantel. Ende November konnte man nicht mehr ohne Jacke aus dem Haus gehen.

„Ist meine Frisur so okay?“ Mein Blick flog durch die offene Badezimmertür zum Spiegel. Würde schon schief gehen.

„Du siehst aus wie ein Engel“, beruhigte mich mein Vater. „Und jetzt geh und lass Jonas nicht noch länger warten. Denn eine Lady ist immer pünktlich und lässt einen nicht warten.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und begleitete mich dann nach unten. Dort begrüßte er Jonas und sah ihn dann scharf an. „Dass du sie mir ja heile wieder nach hause bringst. Ich wollte meinen Engel noch eine Weile behalten.“

Der Junge lächelte. Es lag ein Hauch von Unsicherheit und Nervosität darin. „Wir werden pünktlich um Mitternacht dort aufbrechen und dann so gegen kurz nach eins wieder hier sein.“

„Wenn du das schaffst, mein Junge, bekommst du einen Orden. Das verspreche ich dir“, lachte mein Vater. „Ich glaube, Jacinta ist noch nie irgendwo pünktlich aufgebrochen. Und ich bezweifle, dass sie grade heute damit anfangen wird.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber jetzt los ihr zwei. Sonst verpasst ihr noch die Ausstellung.“ Er schob mich zum Auto und sah Jonas noch mal kurz streng an, bevor er wieder im Haus verschwand.

 

Langsam schlenderte ich durch den Raum. Die Bilder waren wirklich faszinierend. Einige schienen zu leben. Durch das Spiel ihrer Farben wirkte es teilweise so, als würden sie stetig die Form ändern und den ganzen Raum im Blick behalten. Andere wieder wirkten eher wie passive Beobachter. Sie lebten zwar, waren aber erstarrt und wachten so über die Menschen um sie herum. Die Musik, die leise im Hintergrund lief, passte perfekt zu dieser fast schon magischen Atmosphäre.

Mitten im Raum blieb ich schließlich stehen und drehte mich langsam einmal um mich selbst. Um mich herum bewegten sich die Menschen langsam vorwärts und betrachteten scheinbar ziellos die Bilder. Aber irgendwie folgte doch alles einem Schema.

„Wie findest du es?“ Jonas kam langsam zu mir in die Mitte und sah mich unsicher an.

„Wundervoll“, erklärte ich lächelnd. „Die Bilder haben so viel Ausdruck und Intensität. Fast, als wollten sie einem etwas sagen.“ Ich blinzelte zu Jonas hoch und lächelte noch stärker. „Deine Bilder würden hier gut hin passen. Sie haben eine ähnliche Ausstrahlung.“

Jonas lachte. „Dafür fehlt mir noch ein bisschen was. Unter anderem ein Kunststudium.“ Er sah mich an und in seinem Blick lag ein trauriger Schimmer. „Ich meine, die Künstler dieser Ausstellung haben alle schon mehr oder weniger lange ihr Kunststudium fertig. Und ich habe noch nicht mal damit angefangen.“ Er seufzte. „Bis hier ein Bild von mir hängen könnte, dauert es noch eine Weile.“

„Und trotzdem würde es passen“, blieb ich bei meiner Meinung. „Dass es praktisch nicht geht, beinhaltet doch nicht, dass es auch theoretisch nicht geht. Im übrigen fängst doch doch in nicht mal einem Jahr schon mit deinem Studium an. Es ist also schon in Aussicht, dass hier deine Bilder hängen könnten.“

Ich studierte den Plan. „Komm, lass uns mal zu den Stillleben gehen. Laut dem Programm sollen da einige sehr beeindruckende Zeichnungen bei sein.“ Ich verließ meine Position in der Mitte des Raumes und steuerte eine der Türen an. Im nächsten Raum waren Landschafts- und Tierzeichnungen und -bilder.

Nachdenklich betrachtete ich die Bilder. „Guck mal, das könnte euer Kater sein.“ Ich grinste und deutete auf eine Bleistiftzeichnung, die einen Kater zeigte, der versuchte auf einer Türklinke zu sitzen. Auf dem Bild rutschte er grade langsam runter.

„Ja, könnte es...“, stimmte Jonas mir leise zu. Er ging langsam an mir vorbei und schien schon fast von dem Bild hypnotisiert zu sein. Direkt davor blieb er stehen und studierte die Bildunterschrift. Dann drehte er sich langsam zu mir um. „Er ist es.“ Ungläubig sah er mich an. „Das ist ein Bild von mir...“

Erstaunt hob ich eine Augenbraue und trat neben meinen Freund. Ein Blick auf die Bildunterschrift bestätigte mir, was er mir grade gesagt hatte: Das Bild war aus der Bewerbungsmappe eines angehenden Kunststudenten. Und diese Bewerbungsmappe war von Jonas Breitenborn.

„Und du wurdest nicht gefragt, ob dein Bild hier ausgestellt werden darf?“

Jonas sah mich eine Weile stumm an. Schließlich schüttelte er ganz langsam den Kopf. „Nein. Ich habe kein Brief bekommen, wo sie das fragen. Und auch keine Mail.“ Er starrte wieder das Bild an. „Es sei denn...“ Er verstummte wieder. Plötzlich sah er mich mit einer Überzeugung an, die mich kurz erstaunte. „Meine Eltern haben den Brief gelesen, weil er ja von der Fachhochschule war und das dann für mich bestätigt. Und so sind sie auch an die Karten für die Ausstellung gekommen.“

Ich grinste. „Na das nenne ich mal ein hübsches Geburtstagsgeschenk. Meinst du, sie haben noch andere mit rein genommen?“ Neugierig sah ich mich nach Motiven um, die Jonas oft zeichnete. „Vielleicht bei den Stillleben“, sinnierte ich weiter.

Jonas schüttelte den Kopf. „Bezweifle ich. Soo gut sehen meine Bilder nun auch wieder nicht aus. Mich wundert, dass sie grade das hier mit rein genommen haben. Ich habe doch noch andere meiner Meinung nach bessere Bilder verschickt...“

„Ist doch egal.“ Ich schnappte mir seine Hand und zog ihn dann in den Raum mit den Stillleben. „Im übrigen finde ich das Bild echt gelungen. Ich weiß gar nicht, was du dagegen hast.“ Mein Blick flog durch den Raum und blieb schließlich an dem Bild eines Wohnzimmers hängen.

„Hey, ist das nicht euer Wohnzimmer?“ Ich steuerte darauf zu und betrachtete es genauer. Das Klavier war an seinem Ort, der Couchtisch war chaotisch wie eh und ja, auf dem Sofa stapelten sich in diesem Fall mal ausnahmsweise keine Decken, aber es sah trotzdem irgendwie unordentlich aus, wie die Kissen lagen. „Aus der Bewerbungsmappe von Jonas Breitenborn. Aha. Da haben wir es doch.“ Ich drehte mich triumphierend zu Jonas um. „Wie war das? Deine Bilder werden hier nie hängen?“

Jonas verdrehte die Augen. „Schon gut, schon gut. Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe. Scheint so, als würde sie meine Bilder mögen.“ Als ich mich wieder umdrehte, stellte er sich hinter mich und legte seine Arme um meine Taille. „Ich hätte wirklich nie geglaubt, dass hier mal mein Name stehen würde.

Ich drehte mich in der Umarmung langsam erneut um und erwiderte sie dann. „Du weißt dein Talent einfach nicht richtig zu schätzen und zu würdigen.“ Ich lächelte zu ihm hoch. „Immerhin schaffst du es mich beim Laufen aus dem Kopf zu zeichnen, obwohl du mich erst einmal kurz gesehen hast. Was ist eigentlich aus dem Bild geworden, dessen Skizze zu damals gezeichnet hast, als wir uns kennen gelernt haben?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich glaube, es ist fertig, aber ganz sicher bin ich mir grade nicht. Wieso fragst du?“

„Ich weiß nicht, ist mir grade so in den Sinn gekommen. Ich habe die fertige Version noch nicht gesehen. Deshalb hat es mich interessiert.“

Ich löste mich vorsichtig aus der Umarmung, nahm aber Jonas' Hand. „Lass uns mal die anderen Bilder angucken. Dann siehst du mal, in welcher Liga du offensichtlich schon bist.“

Nein!!

Alex

Biieep. Biieep. Biieep.

Unbarmherzig wie immer holte mich mein Wecker am Montag morgen aus dem Schlaf. Jonas hatte sich am Sonntag nicht gemeldet. Also durfte ich wohl davon ausgehen, dass der Abend gut verlaufen war. In jedem anderen Fall hätte er sich bei mir gemeldet. So viel war klar.

Trotzdem hatte ich den freien Tag nicht genießen können. Die ganze Zeit war mir durch den Kopf gegangen, was Jonas über Jacinta gesagt hatte. Dass sie eigentlich nett sei. Dass sie sich früher hatte durch setzen müssen. Dass sie keine eingebildete Zicke sei.

Ich seufzte. Ich wollte nicht heute schon wieder darüber nachdenken. Damit hatte ich mir schon gestern den Tag ruiniert. Das musste ja wohl heute nicht schon wieder sein.

Energisch schaltete ich den Wecker aus und stand auf. Nein, diesen Tag würde ich mir nicht mit irgendwelchen hirnrissigen Gedanken an Jacinta zerstören. Schnell ging ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche, bevor mich wieder eine dieser... mitfühlenden Regungen bemerkbar machte. Gestern waren sie ständig aufgetreten. Nicht zu fassen. Jacinta tat mir Leid. Sie, der kleine, eingebildete Giftzwerg.

Als ich die Küche betrat, stellte ich erstaunt fest, dass meine Mutter schon dort war. Für gewöhnlich kam sie erst um sieben runter. Also wenn ich grade mit Essen fertig war. Aber mir sollte es egal sein, ob sie schon da war oder nicht. Ich grüßte sie kurz, frühstückte schnell, holte dann meine Sachen und verließ das Haus.

Vor der Schule lief mir ein überglücklicher Jonas entgegen. Und sofort wurde ich mit begeisterten Erzählungen von Samstag überhäuft. Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Mit dem anderen hörte ich Musik.

„Und weißt du, was so ziemlich das beste war?“ Jonas sah mich freudestrahlend an und ich zucke gelangweilt mit den Achseln.

„Sie haben Bilder von mir in die Ausstellung mit rein genommen!“ Jonas machte fast einen Luftsprung. Erstaunt sah ich ihn an.

„Also war die Ausstellung von einer der Hochschulen, wo du dich beworben hattest?“

„Ja! Mama und Papa haben den Brief der Hochschule gesehen, ihn aufgemacht und der Hochschule bestätigt, dass sie Bilder von mir mit in die Ausstellung nehmen dürfen. Ist das nicht unglaublich?!“

„Gratuliere, Jonas.“ Phillip tauchte neben uns auf. „Ich hab es grade von Jace gehört. Wie es aussieht, hast du wohl deinen Studienplatz.“ Er schlug Jonas auf die Schulter und sah ihn beeindruckt an. „Weißt du, ich wusste ja schon immer, dass du gut zeichnen und malen kannst. Aber dass du so gut bist, hatte ich echt nicht gewusst.“

„Da hast du also dein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein in der Sache her.“ Jacinta funkelte mich und Phillip kurz an und umarmte dann meine Freunde zur Begrüßung. „Ich hab dir die ganze Zeit gesagt, dass deine Bilder in die Ausstellung passen würden. Aber auf mich hört ja niemand.“

Ich verdrehte die Augen und setzte zu einer Antwort an, doch Jacinta war schon wieder verschwunden. Kurz sah ich noch ihren roten Haarschopf im Meer aus Schülern aufblitzen, dann wandte ich mich wieder Jonas und Phillip zu. Jonas war wieder in den Schwärmereien über die Ausstellung versunken.

In Englisch empfing uns Herr Bremer mit der Nachricht, dass wir noch mal Referate halten sollten. Innerlich stöhnte ich auf. Wir würden bald Vorabi schreiben und Herr Bremer brummte uns jetzt noch Referate auf? Das konnte nicht sein ernst sein.

Aber leider sah unser Englischlehrer nicht so aus, als würde er Scherze machen. Sein Argument war, dass er mit den Referaten die Themen der letzten Semester noch mal auf arbeiten wollten. Er teilte uns in Gruppen auf und vergab dann die Themen.

Ich durfte mit Jacinta zusammen die Erziehung in Groß Britannien im Vergleich zu den USA machen. Der Grund: Wir konnten eigene Erfahrungen mit ein bringen. Himmel, wen interessierten denn die eigenen Erfahrungen?! Mit Jacinta würde ich doch nie im Leben ein vernünftiges Referat auf die Beine stellen können.

Missmutig saß ich den Rest der Stunde ab und verließ dann schon fast fluchtartig den Raum. Draußen traf ich auf Jonas. Er war noch immer so übertrieben gut gelaunt. Na das konnte ja lustig werden. Hinter mir tauchten Jacinta und Phillip auf.

„Okay, hör zu“, fing Jacinta sofort an, ohne um den heißen Brei herum zu reden. „Ich bin genauso begeistert wie du, dieses Referat zu halten, also lass uns einfach versuchen, das beste daraus zu machen.“

„Keine Angst, ich werde meinen Teil erledigen. Was du mit den USA machst, ist mir egal.“

Jacinta seufzte. „Ich fürchte, so einfach wird das nicht. Wir sollen den Kontrast zwischen Groß Britannien und den USA heraus arbeiten, also werden wir uns wohl oder übel gemeinsam daran setzten müssen.“

„Gut. Wann hast du denn Zeit?“ Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, irgendwie interessiert oder so zu klingen. Jacinta wusste sowieso, dass es nicht erst gemeint gewesen wäre.

„Also Prinzipiell donnerstags und am Wochenende, aber ich könnte auch mal Training ausfallen lassen, dann hätte ich auch Montags und mittwochs Zeit.“

„Schön. Können wir dann heute schon anfangen? Dann haben wir es hinter uns.“ Jacinta nickte zustimmend. „Willst du dann gleich nach der Schule mit kommen? Das wäre das sinnvollste, damit wir genug Zeit haben.“

 

Keine Ahnung, ob ich es gut finden wollte, dass ich heute mit dem Auto da war oder nicht. Zum einen hatten wir da durch heute mehr Zeit und schafften mehr, andererseits hatte ich eigentlich keine Lust den Chauffeur für den Zwerg zu spielen.

Zuhause warf ich wie immer meine Schlüssel in die Schüssel im Flur und betrat dann die Küche.

„Hunger? Ich kann dir Brot oder Cornflakes oder Obst anbieten.“

„Danke, ich hab keinen Hunger. Aber könnte ich vielleicht etwas zu trinken haben, por favor?“

„Natürlich. Wasser, Saft, Cola, Sprite?“

„Cola. Gracias.

„Randolf, wer ist denn diese junge...“ Mein Vater kam in die Küche und stockte kurz, als er Jacinta sah. „...Dame, die du mitgebracht hast?“

„Vater, das ist Jacinta. Wir wollten an einem Referat für Englisch arbeiten.“ Jacinta lächelte freundlich und begrüßte meinen Vater höflich. Ihr Blick, als sie meinen Zweit-Namen hörte, entging mir nicht. Das konnte nur nach hinten los gehen.

Kaum hatte ich mein Zimmertür hinter uns geschlossen, drehte sie sich um und grinste mich an.

„Randolf, ja?“

„Klappe“, knurrte ich nur missmutig und startete meinen Laptop. „Wenn du das irgendwem erzählst, bringe ich dich um, Jacinta.“

„Jace.“

„Wie bitte?“ Verwirrt sah ich sie an.

„Ich werde eigentlich nur von meinen Lehrern oder wenn mein Vater wütend ist Jacinta genannt. Jedes mal wenn du mich so nennst, denke ich entweder du bist einer meiner Lehrer oder ich habe irgendwas angestellt.“ Sie hob abwehrend die Hände. „Ich habe keine Ahnung, was genau ich getan habe, dass du mich plötzlich hasst. Damals am Strand haben wir uns doch gut verstanden.“ Sie zögerte kurz und sah mich prüfend an. „Und jetzt sag bitte nicht, dass es daran liegt, dass ich damals nicht gesagt habe, dass ich ein Mädchen bin.“

„Nein, daran liegt es nicht.“ Verlegen wand ich mich. „Es war bloß ... Zum einen war es wohl mein Stolz, als du mich nach Englisch nicht auch noch mal richtig begrüßt hast. Zum anderen war es dann nach Sport, als du plötzlich mit Xander angefangen hast.“ Ich lächelte schief. „Du musst wissen, ich hasse diesen Namen.“ Dass ihr Akzent nicht ganz unschuldig war, verschwieg ich wohl weißlich.

„Ja, deswegen habe ich damals damit angefangen.“ Jace holte tief Luft. „Du wirst mich jetzt für schrecklich Oberflächlich und sehr Vorurteil bezogen halten, aber ich muss zu geben, dass ich damals im ersten Moment eine leichte Abneigung verspürt habe, da in Englisch, als du in schönstem Oxfordenglisch geantwortet hast. Aber ich habe bis jetzt keine gute Erfahrung mit beliebten Schülern gemacht.“

„Sollte das grade ein Friedensangebot sein?“, fragte ich erstaunt und sah von meinem Laptop auf, wo ich grade angefangen hatte die Präsentation zu erstellen.

„Ja, ich schätze, das sollte es sein.“ Jace grinste wieder schief. „Ich bin nicht so gut in so was, also perdonna, wenn das grade nach hinten losgegangen ist.“

„Nein, das hörte sich ganz gut an.“ Ich lächelte ebenfalls. „Aber wir erzählen es nicht gleich Phil und Jonas, ja?“

Welcome to my Life

Jace

Es war interessant.

Alex als Freund zu haben konnte man einfach nur als interessant beschreiben. Einerseits behandelte er mich jetzt endlich wie einen Menschen und redete auch mit mir, andererseits war da immer noch ein Stückchen Eitelkeit in ihm vorhanden, das sich nie ganz verjagen ließ. Und diese Eitelkeit schien immer ein Stück über mir zu stehen.

Da Alex und ich beide gerne unsere Meinung vertraten und es auch mal auf eine Diskussion an kommen ließen, kam es nicht selten vor, dass wir eben dies taten. Über irgendein Thema diskutieren. Daran hatte sich im Prinzip nichts verändert.

Jonas und Phillip waren wie erwartet vollkommen verwirrt von uns gewesen, da wir uns offensichtlich nicht mehr stritten, aber es schien auch nicht immer so, als würden wir uns so ganz richtig verstehen.

Die Wahrheit: Wir liebten die Diskussionen mit dem anderen und amüsierten uns köstlich über die verwirrten Gesichter von Jonas und Phil. Man konnte also sagen, wir hatten uns zusammengerauft.

 

Der Dezember nahm mich mit Parcours-Training, Klavier-Unterricht und Vorabi voll in Anspruch. Mit großer Verzweiflung sah ich auf den Frühling, wenn ich Abitur schreiben würde. Schon jetzt beim Vorabi war ich vollkommen gestresst und teilweise auch planlos. Wie sollte das denn dann erst nach den Osterferien kommen?

Als die Weihnachtsferien kamen, war ich unglaublich erleichtert. Die zwölfte Klasse war anstrengend, da freute man sich über jeden freien Tag, den man kriegen konnte. Und Weihnachten war sowieso immer toll. Auch wenn es lange her war, dass ich Weihnachten mit meinem Vater gefeiert hatte.

Das Fest wurde schön. Heilig Abend verbrachte ich bei Jonas, da Papa arbeiten musste. Geschenke gab es dann am ersten Weihnachtstag. Am zweiten Feiertag besuchten wir die Eltern meiner Stiefmutter.

Ich bekam nicht viel. Meine Eltern schenkten mir zwei Bücher und etwas Geld, von den Eltern meiner Stiefmutter bekam ich Geld. Jonas schenkte mir eine kleine Fotocollage mit Bildern von uns beiden, Phil und Alex.

Ende des Jahres – am 30.12., um genau zu sein – hatte ich Geburtstag. Ich wollte auch an dem Tag gleich feiern, allerdings war es eine recht kleine, überschaubare Runde. Ich hatte geplant, dass wir uns abends treffen würden und vielleicht Skat spielen oder pokern könnten. Brettspiele hatten wir nicht, als mussten wir uns mit Kartenspielen zufrieden geben.

 

Von meinem Vater und meiner Stiefmutter wurde mein Geburtstag nicht besonders hervorgehoben. Ich bekam nur noch etwas Geld, weil ja grade erst Weihnachten gewesen war. Ums Essen für die feier musste ich mich selber kümmern, weil Papa nicht da war – arbeiten – und meine Stiefmutter angeblich noch einen wichtigen Termin hatte.

Dafür hatte Jonas beschlossen, meinen Geburtstag gebührend zu feiern. Mittags aßen wir bei ihnen in der Pizzeria – das Essen ging, wie fast immer, aufs Haus –, danach schleppte Jonas mich an den Strand. Obwohl es Winter war, war es doch wunderschön am Strand. Vereinzelt schwammen kleine Eisschollen auf der Brandung und man konnte den ein oder anderen Schneefleck auf dem Sand und in den Dünen entdecken.

Wie immer, wenn ich nicht zum Joggen am Strand war, ließ ich mich in den Sand plumsen und beobachtete das Wasser. Jonas ließ sich langsam neben mir nieder. Wir unterhielten uns über dies und das. Abi, Zukunftspläne, Freunde, Familie.

Irgendwann warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war inzwischen schon fünf Uhr. Ich musste bald nach hause. Das Essen machte sich schließlich nicht von selbst. Aber irgendwie war der Moment grade so schön, ich wollte ihn nicht zerstören.

Letztendlich war es Jonas, der zum Aufbruch drängte. Das war um halb Sechs. Um ungefähr zwanzig oder viertel vor sechs waren wir dann bei unserem Haus angekommen. Zum Abschied umarmte Jonas mich, ließ aber nicht wieder los. Er hatte den Kopf gesenkt und in meinen Haaren vergraben. Zumindest so gut das bei meinen kurzen Haaren ging.

Sein Atem streifte mein Ohr und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Aber die Umarmung war schön. Ich fühlte mich geborgen und sicher.

„Willst du meine Freundin werden?“ Die Frage kam unvermittelt und außerdem leise, aber ich hörte sie. Und sie brachte mich dazu, das Atmen zu vergessen. In meinem Bauch brach eine Rebellion der Schmetterlinge aus. Alles Flatterte und Kribbelte durcheinander, nichts wollte stillhalten.

„Jace?“ Dieses eine Wort brachte mich zurück. Ich hob den Kopf und sah in Jonas' wunderschöne haselnussbraune Augen. Sie sahen warm und hoffnungsvoll zu mir herunter.

„Ja, ich will“, lächelte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um Jonas zu küssen. Er kam mir entgegen und als unsere Lippen sich berührten, drehten die Schmetterlinge vollkommen durch. Hatte ich gesagt, das eben wäre eine Revolution gewesen? Vergesst das. Das war eine Revolte. Das, was jetzt da unten an Chaos herrschte, das war die Revolution.

 

Um sechs ging ich los, um die Sachen fürs Essen einzukaufen. Um halb sieben war ich wieder da. Als ich die Gestalt vor unserem Haus entdeckte, musste ich ein Grinsen unterdrücken. Leise – oder so leise, wie es eben mit Einkaufstüten in den Händen ging – schlich ich mich hinter den schlaksigen jungen Mann.

„Wie lange stehst du hier schon?“, fragte ich belustigt. Schnell drehte er sich um.

„Ähm...“, gab er nicht sehr intelligent von sich. „Nein. Nicht lange“, brachte er schließlich hervor, umarmte mich herzlich und küsste mich zur Begrüßung – oder wie auch immer man das nennen sollte. Wir hatten uns doch nur für eine gute halbe Stunde nicht gesehen. Und ich konnte es nicht wirklich fassen, dass Jonas und ich jetzt zusammen waren. Er war einfach wundervoll.

„Erst fünf Minuten oder so.“ Trotzig sah er mich an. „Ich wollte noch ein bisschen die frische Luft genießen, bevor ich in eure muffige Wohnung muss.“

„Vielen dank auch.“ Beleidigt wandte ich sich ab. „Willst du denn jetzt mit hoch kommen, oder brauchst du noch etwas frische Luft?“ Ich sah ihn über die Schulter hinweg lächelnd an und schloss währenddessen die Haustür auf.

„Ich komm ja schon“, brummte Jonas. Gemeinsam stiegen wir die Treppen hoch. „Ist denn schon wer von den anderen Gästen da?“

„Nein. Du bist der erste.“ Ich grinste frech. „Aber dafür hast du auch die Ehre, uns beim Essen zu Ende vorbereiten zu helfen.“ Jonas zog fragend die Augenbrauen hoch. „Du bist eine halbe Stunde zu früh da“, erklärte ich schließlich. „Dir war doch bewusst, dass die Feier erst um sieben anfangen sollte, oder?“

„Ähm...“ Er sah mich verdutzt an. „Es ist erst halb sieben?“ Ein Blick auf die Uhr bestätigte es ihm. „Oh, sorry. Vielleicht sollte ich doch noch mal in die erste Klasse und lernen, wie man die Uhr liest.“ Verlegen sah er mich an. „War keine Absicht.“

„Ist doch nicht schlimm.“ Ich lachte. „So lange du nicht zu spät bist.“ Ich schloss die Wohnungstür auf und wir betraten unsere kleine Wohnung. „Okay, kannst du vielleicht den Salat schnippeln? Das ist noch das hauptsächliche, was noch gemacht werden muss. Dann kann ich in der zeit schon mal die Pizzabrötchen rein schieben.“

Eine halbe Stunde später trudelten dann auch die anderen Gäste ein und bald saßen wir am Tisch und aßen genüsslich. Es fielen mehrere Lobesworte zum Essen. Danach spielten wir eine Runde Skat und schließlich machte ich mich ans Geschenke auspacken.

Zu dem Zweck holten wir eine leere Flasche, um so aus zu losen, wessen Geschenk an der Reihe war. Die erste Runde „ging“ an Alex. Er beugte sich vor, gab mir das Geschenk und sah mich gespannt lächelnd an.

Vorsichtig, um das Papier nicht kaputt zu machen, löste ich die Tesafilm.Streifen und faltete schließlich die Verpackung auseinander. Und hervor kam...

Ein Buch. Fantasy. Der neuste Band meiner Lieblingsreihe. Strahlend bedankte ich mich bei Alex, der jetzt die Flasche drehte. Sie zeigte auf Jonas. Gespannt sah ich ihn an. Er reichte mir ein recht großes, aber flaches Paket.

„Ich hoffe, es gefällt dir.“ Jonas bedachte mich mit einem schiefen Lächeln. Auch das Geschenk packte ich vorsichtig aus. Es war ein Bild.

Das Zentrum wurde von einem alten, toten Baum beherrscht, durch dessen verkohlte Äste die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen. Der Baum stand in Mitten von Unmengen an Trümmern. Teilweise konnte man noch Hauswände oder ähnliches erkennen. Über dem Baum kreiste ein Schwarm Vögel und Mitten unter ihnen schwebte ein Drache am Himmel.

Mein Blick wanderte zu dem Baum zurück. Erst jetzt bemerkte ich, dass im Zentrum des Baumes, wo er am verkohltesten war, scheinbar etwas neues Wuchs. Ich konnte einen grünen Sprössling erkennen.

„Es ist wundervoll“, erklärte ich Jonas und fiel ihm um den Hals. Dann lehnte ich mich ein Stück zurück und küsste ihn. Ich konnte mir die erstaunten Gesichter der anderen vorstellen. Wir waren noch nicht wirklich dazu gekommen, ihnen mitzuteilen, dass Jonas und ich jetzt ein Paar waren.

Weltuntergang mal anders

Alex

 

Schließ die Augen. Stell dir vor, du wärt in der zwölften Klasse eines Gymnasium. Stell dir vor, es wäre Januar. Stell dir vor, du würdet in drei Monaten Abi schreiben. – Hast du das? Gut.

Grob gesehen war ich grade in der Situation. Mein Alltag bestand momentan hauptsächlich aus Schule, schon mal die ersten Sachen fürs Abi wiederholen und Tennis. Manchmal, wenn meine Eltern und die Schule es zu ließen, traf ich mich auch mit Phil, Jonas und Jace. Obwohl wir jetzt schon seit über einem Monat befreundet waren, konnten Phil und Jonas es noch immer nicht glauben.

Aber ich konnte sie beruhigen, manchmal glaubte ich auch nicht daran, dass Jace und ich wirklich befreundet waren. Dazu war sie einfach zu sprunghaft. Wobei es ja für sie sprach, dass sie mit Jonas zusammen war. Die zwei waren ein hübsches Paar. Sie passten irgendwie zusammen.

„Alex? Alles klar?“ Jace' Stimme riss mich aus den Gedanken. Erschrocken sah ich auf.

„Was? Ja, klar, alles bestens. Ich war grad nur mit den Gedanken wo anders.“

„Da hab ich gemerkt.“ Mit einem verschmitzten Lächeln sah sie mich an, wandte sich dann aber wieder den Zetteln vor ihr zu. Mit einem leisen Seufzen folgte ich ihrem Beispiel. Wir hatten uns getroffen, um für Englisch eine Übersicht zusammen zu stellen, was wir alles lernen mussten.

Zwei Stunden später klappte ich mit einem lauten Knall das Englischbuch zu. Jace zuckte erschrocken zusammen und sah mich vorwurfsvoll an.

„Schluss für heute“, erklärte ich entschlossen. „Wir haben jetzt fast drei Stunden gearbeitet. Das muss reichen.“ Jace zog eine Augenbraue hoch und sah mich skeptisch an. Schließlich schlug sie aber auch ihr Buch zu und erhob sich.

„Okay, dann mache ich mich mal auf den Weg. Hab ja noch ne ganz nette Strecke vor mir.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr. Der nächste Bus fuhr in einer halben Stunde, da war sie fast noch schneller, wenn sie lief.

„Soll ich dich schnell rüber fahren? Dann bist du schneller zu hause“, bot ich ihr an, während sie ihre Sachen zusammen suchte.

„Danke, ich laufe gerne. Mein tägliches Pensum an Bewegung ist noch nicht ausgeschöpft.“ Sie nahm ihr Notizbuch und ließ es in die Tasche gleiten. Dabei fiel ein Bild heraus. Ich hob es auf, mit der Absicht, es ihr zu geben. Mein Blick fiel darauf. Erstaunt hielt ich inne.

„Woher kennst du sie?“ Jace sah auch und entdeckte das Bild in meiner Hand. Ich beobachtete, wie sie rot wurde und entzog das Foto ihrer Reichweite, als sie es zurück haben wollte. „Also? Wer ist sie?“ Das Bild zeigte eine hübsche, blonde, junge Frau am Klavier. Es sah verdächtig nach diesem Benefiz-Konzert aus, zu dem mich meine Eltern im Herbst geschleppt hatten.

„Eine Freundin?“ Es klang eher wie eine Frage. Jetzt war es an mir, skeptisch zu gucken.

„Und wer ist sie wirklich?“

„Ich.“ Sie flüsterte es. Beinahe hätte ich es überhört. Nun starrte ich sie ungläubig an und ließ mir auch das Foto wegnehmen.

„Du warst das?“

„Ja, ich war das. Macht das irgendeinen Unterschied?“ Plötzlich funkelte Jace mich wütend an. „Oder findest du sie jetzt nicht mehr so hübsch und unglaublich talentiert?“

„Doch, natürlich tue ich das noch“, versuchte ich sie zu beruhigen, aber sie funkelte mich noch immer wütend an.

„Und ändert es was daran, dass du sie so perfekt findest? Ich meine, damals hörtest du dich so an, als hättest du sie sofort geheiratet.“

„Jace, du bist die unglaublichste Person, die ich je kennen gelernt habe. Du bist die erste, bei der ich klassische Musik interessant fand. Mal davon abgesehen, dass du einem mit deinen ganzen Widersprüchen echt faszinieren kannst, bist du einfach eine super Freundin.“

Jace starrte mich an, als käme ich vom Mond oder so.

„Ich meine, wenn wir mal beim Beispiel Musik bleiben“, versuchte ich zu erklären, was ich meinte. „Du hörst für den Leben gerne AC/DC, spielst aber unglaublich gut Klavier. Beine Kleidung...“

„Pass auf, was du sagst, sonst bist du mich ganz schnell los“, knurrte Jace und in ihren Augen lag ein gefährliches Glitzern.

„Keine Angst, ich hatte nicht vor, dich zu beleidigen. Ich wollte eigentlich sagen, dass das total gut aussah, zu dem roten Cocktailkleid ein Lederarmband zu tragen.“ Jace sah mich skeptisch an, doch sie wirkte schon nicht mehr so wütend.

„Und findest du noch immer, sie, bzw. ich, sei das einzige Mädchen, mit dem du jemals glücklich werden kannst?“ Ihre Stimme hatte jetzt einen fast spöttischen Klang angenommen.

„Was?“ Verwirrt sah ich zu dem rothaarigen Zwerg hinüber. „Das habe ich doch nie behauptet!“, empörte ich mich.

„Nein, aber genauso hast du geklungen, als du von diesem dir fremden Mädchen geschwärmt hast“, erklärte Jace trocken, wobei sich ein Lächeln auf ihr Gesicht geschlichen hatte.

„Nein, ich glaube nicht.“ ich lächelte ebenfalls. „Ich glaube, ich habe mich im ersten Moment tatsächlich nur vom Äußeren blenden lassen. Wenn ich damals erfahren hätte, dass du das warst, hätte ich das nie geglaubt. Jetzt kann ich es mir schon irgendwie vorstellen. Ich empfinde immer noch etwas für dich. Aber das ist keine Liebe. Das ist einfach nur Freundschaft.“

„Beruhigend.“ Jace grinste. „Ich weiß nicht, wie wir das Jonas hätten erklären sollen. Verliebt in die Freundin des besten Freundes. Könnte glatt aus einer Seifenoper kommen.“

Ich musste ebenfalls grinsen. „Wie gut, dass das nicht eingetroffen ist. Der arme Jonas. Und das so kurz vor dem Abi. Sagen wir ihm, dass ich es raus gefunden habe?“

„In Anbetracht der Tatsache, dass er immer noch nicht ganz verkraftet hat, dass wir beide uns verstehen, sollten wir es ihm vielleicht eher schonend beibringen.“

Ich nickte langsam. Ja, das wäre wohl das beste für alle.

„Du, ich muss jetzt echt los, sonst regt sich Papa wieder so auf, weil ich erst so spät zu hause bin.“ Jace erhob sich und lief zur Tür.

„Warte, ich fahre dich, dann hat dein Vater nichts zu meckern.“

 

Keine zehn Minuten später hielt ich vor dem Hochhaus, in dem Jace mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter wohnte. Jace bedankte und verabschiedete sich und betrat dann das Haus. Ich fuhr wieder los, schlug jedoch nicht den Weg nach hause ein. Ich musste nachdenken. Und das konnte ich am besten am Strand.

 

Es stimmte, was ich Jace gesagt hatte. Ich war nicht in sie verliebt. Das war ich nie. Aber nur Freundschaft war es auch nicht. Da war noch etwas anderes. Ich glaube, in gewisser Weise bewunderte ich sie, dass sie sich so durch zu setzten wusste. Und auch für das, was sie bei dem Konzert mit mir gemacht hatte.

Aber war das alles, was ich für sie empfand? Bewunderte ich sie einfach nur? Ich meine, sie war schon faszinierend. Ihr ganzer Charakter war ja ein Widerspruch in sich. Zum einen war sie unglaublich schlagfertig und auch sarkastisch, zum anderen konnte sie total nett und verständnisvoll sein.

Oh Mann, was für ein Chaos. Erst die Vorbereitungen auf das Abi und jetzt auch noch das mit Jace. Wie sollte das denn bitte gut gehen? Fehlte nur noch, dass aus den Wellen, die friedlich an den Strand schwappten, ein Monster stieg und die Welt zerstören wollte.

Okay, so schlimm war es nicht, aber die Situation war schon irgendwie seltsam. Allein der Gedanke, dass ich, ohne es zu wissen, für Jace geschwärmt hatte... Bei dem Gedanken wurde ich unweigerlich rot. Jetzt wo ich darüber nachdachte, war es mehr als offensichtlich gewesen, dass Jace das Mädchen von damals war. Ich kannte keine andere mit solchen Augen und die so gut Klavier spielen konnte. Allerdings hatten die blonden Haare sie so anders aussehen lassen...

Ach, verdammt. Was sollte ich bloß machen? Ich war nicht in Jace verliebt, aber es war mehr als Freundschaft, das ich für sie empfand. Bewunderung, Achtung, vielleicht auch Ehrfurcht? Ich wusste es einfach nicht.

I have to think about

Jace

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, noch weiter für Englisch zu lernen, aber als ich die Wohnungstür aufschloss, wusste ich, dass ich heute nicht mehr zum Lernen kommen würde. Alex hatte mir einfach zu viel zum Nachdenken gegeben. Auch wenn das bestimmt nicht seine Absicht gewesen war.

Aber wie sollte ich mit dem Ganzen umgehen? Alex hatte mir zwei versichert, dass er nicht mehr in sie verliebt war, aber ich hatte seine Augen aufleuchten sehen, als er das Foto gesehen hatte. Und irgendwie bezweifelte ich stark, dass die Verliebtheit von jetzt auf gleich verschwinden würde, wenn man erfuhr, wer sie war. Schon gar nicht, wenn man seit fast einem halben Jahr versucht, herauszufinden, wer sie ist – oder grade dann?

Wobei er ja eindeutig noch für sie geschwärmt hatte. Vielleicht eher unbewusst, aber er hatte es. Und das, obwohl er sie nur einmal so gesehen hatte. Also, er hatte mich nur einmal so gesehen. Ich konnte die junge Frau von dem Abend einfach mit mir in Einklang bringen. Das war nicht ich. Das war die Rolle der braven Tochter, die ich einen Abend lang für Papa gespielt hatte.

Wo war bloß die beste Freundin, wenn man sie brauchte?“ Ich könnte jetzt Jacky gebrauchen. Jacky würde wissen, was zu tun war und wie ich mit der Situation umgehen sollte.

Nachdenklich ließ ich meine Tasche in eine Ecke meines Zimmers fallen und schaltete meinen Laptop an. Wenn ich Glück hatte, was Jacky grade auf Skype on und konnte mir doch helfen. Wenn nicht, musste ich ihr halt eine E-Mail schreiben und versuchen, es da zu erklären.

Aber soweit kam ich gar nicht. Mein Vater musste gehört haben, dass ich wieder da war, denn jetzt kam er ohne anzuklopfen in mein Zimmer.

„Wo warst du denn noch so lange? Ich habe dich schon vor einer Stunde erwartet.“

Ich seufzte. „Ich war die ganze Zeit bei Alex zum Lernen. Er hat mich grade nach hause gebracht. Im Übrigen habe ich dir gesagt, dass es spät werden könnte.“

Mein Vater grummelte etwas unverständliches und erklärte dann, dass in der Küche noch etwas zu Essen stand. Also stand ich wieder auf und machte mir das Essen warm. Vorher würde Papa keine Ruhe geben. Seiner Meinung nach aß ich viel zu wenig. Totaler Stuss. Ich aß genug.

 

Letztendlich schrieb ich Jacky eine E-Mail und legte mich dann ins Bett, um noch etwas zu lesen. Aber ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu dem Foto und Alex' Reaktion.

Sollte ich es vielleicht doch Jonas sagen? Vielleicht hatte der ja eine Idee, was ich machen sollte. Aber andererseits wollte ich ihn nicht beunruhigen. Am besten würde ich das Erlebte einfach vergessen. Alex war schließlich nicht in mich verliebt.

Mit diesem Vorsatz – das Ganze einfach zu vergessen – schlief ich schließlich ein. Mein Wecker am nächsten morgen holte mich sanft, aber energisch in die Wirklichkeit zurück. Und mein Gehirn hatte wohl den Vorsatz vom Abend vergessen. Denn kaum war ich richtig wach, musste ich wieder an Alex und das Foto denken.

Der Schultag verlief recht geordnet. Der Unterricht brachte mich auf andere Gedanken und zum ersten Mal seit langer Zeit war ich gerne in der Schule. Alex versuchte ich aus dem Weg zu gehen. Gar nicht so einfach, wenn man mit seinem besten Freund zusammen war und mit besagtem Freund auch Zeit verbringen wollte.

Nach der Schule fuhr ich direkt in die Stadt zum Klavier-Unterricht. Ich spielte so gut, wie lange nicht mehr. Und auch dort schaffte ich es, Alex und das Foto aus meinen Gedanken zu verbannen. Obwohl ich es ja dem Klavier spielen zu verdanken hatte, dass es überhaupt so weit gekommen war.

 

Um sieben Uhr war ich dann endlich wieder zu hause. Hausaufgaben hatte ich glücklicherweise keine auf. Damit musste ich mich also nicht mehr herum schlagen.

Als ich meinen Laptop eingeschaltet hatte und die Mails checkte, stellte ich erfreut fest, dass Jacky schon geantwortet hatte.

 

Oh, Jace! *riesen, dicke, fette Umarmung *

Was tust du denn schon wieder für einen Mist? Kaum bin ich mal ein halbes Jahr nicht da, um auf dich aufzupassen, verrennst du dich schon wieder in allem. *Kopf schüttel *

Aber gut, das kann man jetzt nicht mehr rückgängig machen – wenn ich komme, habe ich allerdings noch mal ein ernstes Wörtchen mit dir zu reden. Aber zurück zu deinem Problem. Alex weiß jetzt also, wer diese mysteriöse Fremde ist und laut deiner Aussage ist er immer noch in sie verliebt, hat es aber abgestritten, um dich nicht in Verlegenheit zu bringen? Bzw., weil du ja einen Freund hast und der sein bester Freund ist.

Hmm, da hast du dich wirklich tief in die Scheiße reingeritten. Andererseits bist du nicht vollkommen alleine schuldig. Dein Vater hätte dir einfach nicht diese Perücke aufzwingen sollen.

(ich bin übrigens der Meinung, du siehst auch mit deiner Frisur in Abendkleidung super aus. Ich weiß gar nicht, warum sich dein Vater immer so aufregt. Bei dieser Kunstausstellung durftest du doch auch so gehen. Und das Foto von dir sah einfach nur super aus.)

Wie auch immer. Du wolltest wissen, wie du mit der Situation umgehen sollst?

Rede mit Alex noch mal da drüber. Und mit Jonas auch! Wenn er es irgendwann später herausfindet, wird er dich sonst fragen, warum du es ihm nicht damals erzählt hast; warum du ihm nicht vertraust.

Das würde ich vorschlagen. Mehr weiß ich auch nicht. Hast du schon mal daran gedacht, mit deinem Vater darüber zu reden? Vielleicht hat er ja eine Idee, wie sich das Problem lösen lässt?

Ok, ich muss dann auch los.

HDGDL :*

Jacky

PS: Ich hoffe, du hast dir, bis ich komme, nicht noch mehr Probleme eingehandelt. Ich will nicht immer deinen Mist aufräumen ;)

 

Mit einem leisen Seufzer schließe ich die E-Mail und lehne mich zurück. Und jetzt? Sollte ich wirklich mit Papa über das Problem reden? Würde er mir helfen können?

Ja, vermutlich sollte ich es tun. Wenn er auch nicht weiter wusste – gut, dann wusste er halt nicht weiter. Aber einen Versuch war es wert.

Ich stieß hart die Luft aus, erhob mich von meinem Stuhl und verließ mein Zimmer. Papa saß im Wohnzimmer und sah sich ein Klavierkonzert im Fernsehen an. Vorsichtig setzte ich mich neben ihn und hörte mit halb geschlossenen Augen zu. Die sanften Klänge des Flügels beruhigten mich.

„Was ist los, Schatz? Du bist doch wohl nicht nur gekommen, um die das Konzert anzuhören, oder?“, fragte Papa schließlich.

„Ich hab ein Problem“, erklärte ich ihm vorsichtig. Noch immer waren meine Augenlider gesenkt. „Es hat in gewisser Weise mit dem Benefiz-Konzert im Herbst zu tun.“

„Das Konzert? Das ist doch schon fast ein halbes Jahr her“, wunderte sich Papa.

„Ja, ich weiß.“ Also erklärte ich ihm die Situation. Danach schwieg Papa eine ganze Weile. Ich hatte die Augen ganz geschlossen und lauschte dem Pianisten.

„Du solltest auf jeden Fall mal mit Alex und Jonas darüber reden. Also, erstmal solltest du mit Alex klären, was denn nun Sache ist. Und dann solltest du es Jonas erklären.“

„Das hat Jacky auch gesagt“, seufzte ich, öffnete die Augen, drehte mich leicht zu Papa. „Was soll ich machen, wenn Alex doch in mich verliebt ist? Wie soll ich mit ihm umgehen?“ Unglücklich sah ich ihn an.

„Sag ihm, was du für ihn empfindest. Und behandle ihn nicht anders als vorher. Er ist doch immer noch einer deiner Freunde, oder ändern seine Gefühle irgendetwas an deinen für ihn?“

„Nein, tun sie nicht.“ Ich seufzte abgrundtief. „Warum muss das Leben so kompliziert sein, Papa?“

We have to talk

Alex

 

Das Abi rückte immer näher. Und mit jedem Monat, der verging, wurde auch der Stress größer. Ich war unglaublich erleichtert, als die Osterferien begannen und ich neben dem Lernen nicht auch noch zur Schule gehen musste.

Ich war nie ein schlechter Schüler gewesen. Eigentlich gehörte ich sogar zu den besten, aber also ich mir den Stoff ansah, den ich fürs Abi lernen musste, fragte ich mich, wie ich das alles lernen sollte. Es würde anstrengend werden.

Fast die gesamten Ferien verschanzte ich mich in meinem Zimmer. Die einzigen Gründe, raus zu gehen, waren die Toilette, das Essen und Surfen. Wobei ich das Gefühl hatte, nur beim Surfen würde ich richtig vom Lernen abschalten.

Es kam durchaus vor, dass ich Jace am Strand traf, weil sie sich dort ebenfalls eine Auszeit vom Lernen gönnte, aber mit zum Ende der Ferien hin wurde das immer seltener. Nicht, weil ich nicht mehr surfen ging, sondern weil Jace nicht mehr zum Strand kam. Zumindest nicht, wenn ich da war.

Wir hatten über das Konzert, das Foto und uns gesprochen. Und ich hatte ihr erklärt, dass ich nicht in sie verliebt war. Ich war es nie gewesen. Ich hatte einfach unglaublich Respekt vor ihr. Und, ja, ich bewunderte sie. Das war alles.

Wir hatten es auch Jonas gesagt. Ich glaube, er hat es recht gut aufgenommen. Sofern man das so sagen darf. Er sah etwas geschockt aus. Das war es eigentlich auch schon wieder.

 

Nach den Ferien ging es mit dem Abi los. Meine erste Klausur war Mathe. Das war mein viertes Prüfungsfach gewesen, also hatte ich nur grundlegendes Niveau. Genau wie Phillip. Jace und Jonas hatten beide erhöhtes Niveau. Keine Ahnung, wie die das freiwillig hatten wählen können.

Zwischen den Klausuren lagen immer ein oder zwei Tage, aber es fühlte sich an, als würde alles Schlag auf Schlag kommen. Als ich dann die mündliche Prüfung hinter mir hatte und aus dem Schulgebäude trat, holte ich erstmal tief Luft. Jetzt hatte ich das Abi hinter mir. Und zum Glück musste ich auch nicht noch zu einer Nachprüfung.

Jace und Phillip hatten ihre mündlichen Prüfungen schon gestern gehabt, Jonas war morgen dran. Danach hieß es erst mal Ruhe. Wenn ich nur daran dachte, die nächsten Wochen nicht zur Schule zu müssen und auch nicht mehr zu lernen, breitete sich schon ein Glücksgefühl in mir aus.

Langsam ging ich zu meinem Auto. Ich hatte es nicht eilig nach hause zu kommen. Klar, meine Eltern würden sich freuen, zu hören, dass ich die mündliche Prüfung mit vierzehn Punkten bestanden hatte, aber wie würden wohl auch ein paar Minuten länger warten können.

„Na, wie fühlt man sich damit, das Abi bestanden zu haben?“, wurde ich plötzlich von der Seite angesprochen. Erstaunt drehte ich mich zu Jace um, die mich freundlich angrinste.

„Super. Aber das weißt du ja schließlich schon, nicht wahr?“

„Ja, das weiß ich wohl. Hör mal, ich wollte mit dir was besprechen. Deswegen habe ich dir hier auch aufgelauert.“ Sie zögerte kurz und sah mich scharf an. „Ich bekomme bald Besuch aus Chile und ich hoffe, dass du dich ihr gegenüber benehmen wirst.“

Ich öffnete den Mund, um zu fragen, warum sie mir das sagte und was sie überhaupt meinte, aber Jace hob eine Hand, um mir zu signalisieren, dass sie noch nicht fertig war.

„Ich kenne dich, Alexander. Und ich kenne Lainy. Benimm dich einfach und mach nicht das zu Nichte, was ich als Eindruck bei ihr aufgebaut habe. Momentan bist du ein recht netter, reicher Schnösel. Wenn du allerdings so anfängst wie bei mir, weil sie gerne sagt, was sie denkt, wirst du sehr schnell zum eingebildeten, reichen Arschloch.“

„Heißt das, es kommt eine zweite Ausgabe von dir hier her?“, fragte ich und sah Jace schon fast verzweifelt an.

„In mancher Hinsicht, ja. Aber eigentlich kann man nicht sagen, dass Lainy eine zweite Ausgabe von mir ist. Aber sie ist halt meine beste Freundin.“ Jace sah mich mit einem Blick an, den ich nicht so recht deuten konnte. „Sie weiß also alles, was zwischen uns passiert ist. Von deinem zweiten Vornamen vielleicht mal abgesehen. Das fand ich dann doch etwas zu hart.“

„Sehr beruhigend“, murmelte ich und schloss mein Auto auf. „Soll ich dich nach hause fahren?“

„Nein, danke. Ich muss zum Klavier-Unterricht. Aber danke für das Angebot.“ Jace lächelte mich noch mal freundlich an und machte sich dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Nachdenklich sah ich ihr nach. Wie Lainy wohl aussah? Und ob sie wohl nett war?

 

Die nächste Woche über sah ich Jace nicht. Keine Ahnung, wo sie sich rum trieb. Beim Parcours-Training am Mittwoch tauchte sie auf jeden Fall nicht auf. Phil wusste auch nicht, wo sie war. Am Wochenende traf ich mich mit Phillip und Jonas. Letzterer erklärte, Jace könnte nicht kommen, weil ich etwas dazwischen gekommen war. Was genau konnte er leider nicht sagen.

Montag begleitete ich Phil wieder mit zum Parcours. Ich spielte mit den Gedanken, es selber mal zu versuchen. Daher hatte ich Sportsachen mitgenommen und suchte sofort den Trainer auf, um zu fragen, ob ich mal mitmachen könnte.

Ich fand ihn in seinem Büro. Grade verließ eine junge Frau, die ich hier noch nie gesehen hatte, den Raum. Sie hatte eine Kaffee-braune Haut und schwarze Haare, die sie im Nacken zu einem Zopf zusammen gefasst hatte. Auf den ersten Blick wirkte sie ziemlich hübsch.

„Hallo Alexander, was kann ich für dich tun?“, riss mich der Trainer aus meinen Gedanken.“

„Hi, ähm... ich wollte fragen, ob ich mal beim Training mitmachen könnte“, erklärte ich schnell. „Ich meine, ich hab schon sooft zu gesehen, jetzt würde ich das gerne mal selber ausprobieren.“

„Wieso nicht. Zieh dich um und sei in fünf Minuten mit den anderen in der Halle. Du bist heute übrigens nicht der einzige Neuzugang.“ Mehr verriet er nicht, aber ich nahm an, dass er damit die junge Frau von eben meinte.

 

Keine fünf Minuten später betrat ich mit Phil die Halle. Einige waren schon da und wärmten sich schon mal auf. Nach dem ich meine Falsche an den Rand gestellt hatte, schloss ich mich ihnen mit Phil an. Kurz nach uns betraten Jace und die junge Frau die Halle. Ihnen folgte der Trainer. Damit begann das Training offiziell.

Die nächsten zehn Minuten joggten wir durch die Halle und dehnten uns. Schließlich rief uns der Trainer zusammen.

„Okay, hört zu. Wir haben heute zwei Neuzugänge. Alexander kennt ihr ja alle. Und diese junge Dame –“ Er wies auf die Lateinamerikanerin, die mit Jace zusammen reingekommen war „– ist Yolainy. So, lasst uns anfangen. Baut bitte einen kleinen Parcours auf, an dem ihr euch dann zu ende aufwärmen könnt.“

Yolainy gleich Lainy? Vom Aussehen her konnte es schon hinkommen. Na ja, ich würde es noch früh genug herausfinden. Gemeinsam mit dem Rest der Mannschaft baute ich einen kleinen Parcous auf, den wir dann nacheinander absolvierten.

Yolainy kam kurz nach mir dran. Sie war echt gut. Man konnte sehen, dass sie das nicht zum ersten Mal machte. Als dann alle dran gewesen waren, rief der Trainer uns wieder zusammen und erklärte, was heute anstand: Wiederholung des Saltos.

Don't know

Jace

 

Sanft erklangen die ersten Töne des Frühlings von Vivaldi und ich lehnte mich mit geschlossenen Augen in meinem Sessel zurück. Entspannt lauschte ich dem Orchester, aber etwas störte.

Langsam öffnete ich wieder die Augen und sah Lainy durchdringend an.

„Ist irgendwas?“ Fast automatisch sprach ich Spanisch, da das meine Lieblingssprache war. Lainy konnte zwar Deutsch, aber warum kompliziert und in gewisser Weise umständlich für beide, wenn es auch einfach und entspannt geht?

„Alex ist süß.“ Laniy grinste. „Warum hast du nie erzählt, dass er so gut aus sieht? Und jetzt red dich nicht heraus, du hast immer nur gesagt, dass er ganz gut aussieht. Unter ganz gut verstehe ich was anderes.“ Meine beste Freundin malte Gänsefüße in die Luft, als sie das erklärte.

„Ich war halt nicht der Meinung, dass er so gut aussieht.“ Trotzig sah ich Yolainy an. Sie wirkte nicht wirklich wie die Überzeugung in Person. „Okay, vielleicht fand ich ihn süß, aber war mir dann am nächsten Tag auch egal, als ich gesehen hab, was er für ein Arschloch ist“, versuchte ich zu erklären. Und jetzt hab ich einen Freund, da hört es sich komisch an, zu sagen, dass dessen bester Freund gut bzw. süß aussieht.“

Lainy sah mich eine Weile mit schief gelegtem Kopf an. „Okay, akzeptiert. Sag mal, hat er eigentlich eine Freundin?“

„So weit ich weiß, nicht. Nein. Wieso?“

„Och, nur so...“ Ihre Ausrede wurde zunichte gemacht, als ihre Wangen einen rosa Schimmer bekamen. „Er sieht halt nicht schlecht aus“, versuchte sie sich raus zu reden, da sie meinen zweifelnden Blick gesehen hatte. „Ein armes, kleines Mädchen wie ich, muss sich halt alle Möglichkeiten offen halten.“

„Schon klar.“ Ich grinste. „Aber wenn du willst, können wir uns ja mal mit den Jungs treffen. Dann hast du Zeit, den geheimnisvollen, gutaussehenden Engländer näher kennen zu lernen.“

Nun musste auch Yolainy grinsen. „Wie wäre es mit heute? Der Tag ist doch noch jung.“

Stöhnend erhob ich mich aus dem Sessel, um nach meinem Wecker zu greifen. Sechs Uhr abends. Unter einem jungen Tag verstand ich zwar was anderes, allerdings hatten wir heute noch nicht wirklich was gemacht – vom Joggen mal abgesehen.

„Na von mir aus. Ich kann sie ja mal fragen“, gab ich schließlich unter Lainys großen, treuen Auge nach. „Aber ich kann dir nichts versprechen. Heute ist Dienstag, da hat Alex eher selten Zeit.“

„Und? Dann stelle ich mich halt erstmal mit seinen beiden besten Freunden gut.“ Lainy ließ sich durch nichts von ihrem Plan abbringen, da was offensichtlich. Also versuchte ich mein Handy in den Untiefen meiner Tasche zu finden, um die Jungs zu fragen.

 

Eine halbe Stunde später trafen wir bei Alex ein. Da Lainy schon achtzehn war und einen Führerschein hatte, hatten wir uns von Papa das Auto ausgeliehen und mussten so nicht erst noch auf den nächsten Bus warten.

Jonas und Phil waren schon da, wobei ich den leicht abwesenden Ausdruck in Jonas' Gesicht bemerkte. Er musste grade an einem neuen Bild arbeiten, anders war der Gesichtsausdruck nicht zu erklären. Ich seufzte leise, resigniert, sagte aber nichts, da ich das ja selber irgendwie kannte. Wenn ich mal eine neue Melodie im Kopf hatte, musste ich sie auch immer möglichst schnell auf der Gitarre oder dem Klavier ausprobieren und aufschreiben, vorher gab mir das keine Ruhe.

Den Abend verbrachten wir letztendlich damit zu reden – hauptsächlich irgendwelchen Mist, wodurch vor allem Lainy und ich immer wieder Lachanfälle bekamen – und zwischen durch zu gucken, ob irgendwas gutes im Fernsehen lief – tat es nicht.

Letzten Endes lief es darauf hinaus, dass Lainy und Alex sich über England und Chile unterhielten und Phil, Jonas und ich über Musik. Irgendwann – auf jeden Fall nach Mitternacht, ich hatte nicht auf die Uhr geguckt – erklärte Lainy plötzlich, dass sie müde sei und sich gerne langsam auf den Weg machen würde.

Erstaunt zwar, aber nicht unglücklich darüber, stimmte ich ihr zu. Auch Phil und Jonas wollten sich so langsam auf den Weg machen. Wobei Phil nur einmal über den Zaun hüpfen musste...

Die ganze Rückfahrt schwiegen wir. Ich döste neben Yolainy vor mich hin und ließ die Lichter der Straßenlaternen an mir vorbei fliegen. Es musste also vor eins oder nach drei sein, sonst wären die Laternen nicht an.

Zuhause verzog sich Lainy sofort ins Bad. Während ich auf sie wartete, zog ich mir schon mal den Schlafanzug an. Mit der Begründung, mich nur kurz hinzulegen und ins Bad zu gehen, wenn Lainy wieder auftauchte, krabbelte ich in mein Bett.

Das nächste, was ich mit bekam, war die warme Frühsommersonne auf meinem Gesicht. Verwirrt blinzelte ich zu meinem Fenster herüber, aus dem mir die Sonne von einem wolkenlosen, blauen Himmel entgegen lachte.

„Na du Schlafmütze, auch schon wach?“ Yolainys Gesicht tauchte über mir aus. Ihr Mund war zu einem Grinsen verzogen, das durch das vergnügte Funkeln in ihren Augen noch verstärkt wurde. Ich brummte etwas unverständliches und wollte mich umdrehen und weiter schlafen. Und das, obwohl ich doch eigentlich die Frühaufsteherin und Lainy der Morgenmuffel war.

„Hey, aufstehen, wir haben heute noch viel vor und du hast schon viel zu viel des Tages verschlafen.“ Energisch griff Yolainy nach meiner Decke und zog sie mir weg. Widerwillig drehte ich mich wieder um und sah bitterböse zu meiner besten Freundin hoch. Mein Blick musste so ungefähr sagen „Du bist so was von Tod“, aber die Lateinamerikanerin lachte nur fröhlich.

„Na komm schon, wir treffen uns in einer halben Stunde mit den Jungs am Strand.“ Mit einem leisen Stöhnen kletterte ich umständlich aus dem Bett, bedachte die junge Frau mit meiner Decke in der Hand noch einmal mit einem bösen Blick und verzog mich dann ins Bad, um kurz zu duschen.

Zwanzig Minuten später verließ ich dann leise vor mich hin fluchend die Wohnung. Lainy folgte mir noch immer mit einem breiten Grinsen. Dass ich mir in der Dusche den Kopf gestoßen hatte – nein, ich habe bis heute keine Ahnung, wie ich das geschafft habe –, zog ihre gute Laune nicht ein Stückchen runter.

Meine Rettung tauchte fünf Minuten später in Form eines großen, schlaksig wirkenden, jungen Mannes auf den Dünen auf. Mit einem erleichterten Seufzer umarmte ich Jonas, legte den Kopf auf seine Brust und schloss die Augen. Ja, so konnte man es aushalten.

„Was hast du denn mit ihr gemacht, dass sie so müde ist? Sonst ist sie doch die Energie in Person.“ Ich spürte, wie Jonas' Brust vibrierte, als er lachte. Es war ein schönes Gefühl. So schön einschläfernd...

„Hey, was ist denn hier los?“, riss Alex' Stimme mich aus meinem Dämmerzustand. „Es ist schon fast Mittag und Jace schläft noch? Hast du ihr irgendwas ins Trinken gemischt, Lainy?“

Grade zu mühsam öffnete ich die Augen und sah zu Alex hinüber. Der umarmte grade Yolainy zur Begrüßung. Nun hatte er meine volle Aufmerksamkeit. Wann war das denn passiert? Die zwei kannten sie grade mal gute zwölf Stunden und umarmten sich schon? Sehr interessant. Das musste ich auf jeden Fall im Auge behalten.

Aller Abschied ist schwer

Alex

 

Sich mit Yolainy zu unterhalten, war total interessant. Sie ging Chile zwar auf eine deutsche Schule, aber ansonsten, die ganze Kultur war völlig anders als hier in Deutschland oder England. Wir konnten uns stundenlang über unsere Leben unterhalten, die verschiedener nicht sein konnten – ich aus reichem, englischen Hause, sie aus der mittleren Bevölkerung Chiles – aber wir konnten auch einfach da sitzen und die Gesellschaft des Anderen genießen.

Jacintas Blicke bemerkte ich sehr wohl. Wen wir uns zu fünft trafen und Yolainy und ich uns irgendwann ein Stück von den anderen weg setzten, folgte sie mir immer mit einem skeptischen Ausdruck in ihren graugrünen Augen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie, sollte das mit Lainy und mir nicht klappen, mir die Schuld geben würde. Und das würde dann ein übles Nachspiel haben.

„Jace wird mich umbringen, sollte ich dich jemals verletzen“, sprach ich das Thema schließlich an, als Yolainy und ich wieder alleine waren. Wir hatten uns in der letzten Woche jeden Tag getroffen. „Sie beobachtet mich immer ganz genau, wenn wir zwei zusammen sind.“

„Ach, das.“ Yolainy lachte. „Das gibt sich wieder. Sie erinnert sich halt noch daran, wie du am Anfang zu ihr warst und jetzt hat sie Angst, dass du mich auch irgendwann so behandeln könntest, wenn du mich kennen lernst.“ Ihre sanften, braunen Augen funkelten vergnügt. „Aber so lange du dich anständig benimmt, wird nichts passieren.“

„Sehr beruhigend“, murmelte ich und warf einen kurzen Blick über die Schulter zu Jace, Jonas und Phil. Die rothaarige hatte sich bei Jonas angelehnt und hörte mit einem Grinsen auf dem Gesicht einer Erzählung von Phillip zu. Als er geendet hatte, brachen alle drei in schallendes Gelächter aus.

„Willst du dir jetzt etwa von Jace den Tag verderben lassen?“ Yolainy erhob sich neben mir, grinste mich herausfordernd an und stürzte sich dann jubelnd in die Brandung. Kurz sah ich ihr verdutzt hinterher, dann hörte ich von rechts noch mehr Jubeln.

Jace war ihrer besten Freundin ins Wasser gefolgt und auch Jonas und Phil waren auf den Weg dorthin. Lachend folgte ich meinen Freunden ins Wasser. Es gab doch nichts besseres, als an einem schönen Sommertag im Meer schwimmen zu gehen.

 

Erst fast eine Stunde später verließen wir das Wasser. Glücklich aber erschöpft, ließen wir uns in den Sand sinken. Dass unsere Klamotten jetzt voller Sand waren, war uns egal. Die Sonne schien noch immer kräftig und warm vom Himmel und trocknete unsere Sachen.

Wir unterhielten uns über alles mögliche, aber hauptsächlich darüber, was wir jetzt nach dem Abi vor hatten.in zwei Wochen war der Streiche-Tag, dann kam die Entlassungsfeier und dann waren wir offiziell mit der Schule fertig. Und nach dem Abiball würden wir uns dann in alle Winde zerstreuen.

Phil würde tatsächlich in Amerika Hotel- und Wirtschaftswesen studieren; ich ging nach Oxford, um in Dads Fußstapfen als Firmenchef treten; Jonas blieb in Deutschland, Hamburg um genau zu sein, wo er Grafikdesign studieren wollte und Jace war in Mainz für das Musikstudium angenommen worden. Yolainy wollte erstmal ein FSJ – Freies Soziales Jahr – machen und sich dann vermutlich einer Ausbildung als Erzieherin zu wenden.

 

Die nächsten zwei Wochen bis zum Abiball traf ich mich fast jeden Tag mit Yo. Nicht immer waren Jace und die Jungs dabei. Und je näher der Abiball und damit der Abschied kam, desto mehr versuchte ich es zu verdrängen. Ich mochte Yo. Und ich wollte mich nicht von ihr verabschieden, wo wir uns doch grade erst kennen gelernt hatten.

Eine Woche vor dem Abiball haben wir uns das erste Mal geküsst. Es war ein Montag. Jace und Phil waren beim Training; Jonas war auf der Suche nach guten Fotos, um unsere gemeinsame Zeit in einer Collage zusammen zu fassen.

Yo und ich ließen das Training ausfallen und trafen uns stattdessen am Strand. Wir reden über alles mögliche. Keine Ahnung, wie oft wir das Thema gewechselt haben. Mal war es eine sanfte Überleitung ins nächste Thema, mal war es ein plötzlicher Umbruch.

Würde mich jemand fragen, wer wen zuerst geküsst hat, ich könnte es nicht sagen. Wir wollten es beide. Ich weiß nur noch, dass wir uns geküsst haben. Und dass es der beste Kuss war, den ich je bekommen hatte.

Und seit dem Tag waren wir dann zusammen. Es war wie in einem dieser Filme. Man kommt irgendwann zusammen und dann muss einer weg. Nur dass bei uns beide wegfuhren. Yo würde zurück nach Amerika fliegen, ich nach England.

Dass Jace dem Ganzen noch immer skeptisch gegenüberstand, war wohl selbstverständlich. Und irgendwie konnte ich sie auch ein bisschen verstehen. Yo wollte zwar wahrscheinlich nach ihrem FSJ nach England kommen und da ihre Ausbildung machen, aber ein Jahr war eine lange Zeit. Da konnte viel passieren.

 

Der Abijuks-Tag kam und ging.

Die Abienlassung kam und ging.

Der Abiball kam und ging.

Der Abschied kam.

Yo blieb noch eine Woche in Deutschland, dann brachten Jace und ich sie nach Hamburg zum Flughafen. Wir alle waren traurig, dass Yo fahren musste. Aber kurz bevor unsere Abschiedsstimmung ihren Tiefpunkt erreichen konnte, erklärte Jace plötzlich energisch, dass ein Jahr doch nicht so lang sei. Sie hätte ihr Jahr hier in Deutschland an der Schule doch auch überlebt und es war gar nicht so schlimm gewesen.

„Aber du hast auf keinen Freund auf der anderen Seite der Erde“, meinte Yolainy trocken. „Du hast deinen hier gefunden und musst nicht wieder zurück nach Chile. Im Gegensatz zu mir.“

„Und trotzdem wird das Jahr ganz schnell vorbei gehen.“ Jace blieb fest bei ihrer Meinung und versuchte so, etwas von diesem Optimismus auf uns zu übertragen.

Und dann war es für die Südamerikanerin Zeit, in ihren Flieger zu steigen. Sie war nicht die erste, die durch die Türen zur Abflughalle ging, aber auch nicht die letzte und so blieb ich noch lange vor den Türen stehen. Jedes mal, wenn sie sich öffneten, sah ich nach, ob ich dort irgendwo ihre dunklen Locken sehen konnte. Irgendwann zog Jace mich weg.

„Na komm, sie ist bestimmt nicht mehr da“, meinte sie mit sanfter Stimme. „Außerdem will ich nach hause. Wir sind schon den ganzen Tag unterwegs.“

Epilog – Sechs Jahre später

Jonas

 

„Wo wollen wir denn hin?“ Jace sah mich aus großen Augen an. Geheimnisvoll lächelnd erwiderte ich ihren Blick.

„Das ist eine Überraschung. Lass mich einfach machen. Ich weiß schon wo wir hin müssen.“ Ich lenke das Auto auf einen Parkplatz, parkte, stieg aus, lief um das Auto herum und öffnete meiner Freundin die Tür. „Komm, wir werden schon erwartet.“

Stumm folgte Jace mir. Sie war gestern aus Chile zurück gekommen, wo sie ein Jahr lang an einer Musikschule für Hochbegabte also Referendarin gearbeitet hatte. Heute hatte ich sie zu einem „Abend voller Überraschungen“ eingeladen, um ihre Rückkehr zu feiern.

Wir bogen vom Parkplatz aus zwei mal rechts und einmal links ab, dann blieb ich vor einem der Läden in der Straße an. Jace sah mich erstaunt an.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ Sie warf noch einen Blick auf den Laden. „Ich hatte irgendwie etwas ... edleres erwartet.“

Ich lächelte. „Na ja, in ein schickes Restaurant gehen, das macht doch jeder, wenn er die Rückkehr von jemandem feiert. Ich dachte mir, wir machen mal was anderes, um uns an dein Schema zu halten, nie ganz genauso wie die breite Masse zu sein.“

„Und deswegen hast du beschlossen, wir gehen in einen Buchladen.“ Jaces Blick war noch immer leicht skeptisch, aber ihr Mund verzog sich schon zu einem süßen, kleinen Grinsen. „Gefällt mir. Das ist nicht so Mainstream.“

Nun musste auch ich grinsen und gemeinsam betraten wir den Buchladen.

„Such dir ein Buch aus und das kaufe ich dir dann als Wiedersehensgeschenk“, flüsterte ich ihr von hinten ins Ohr und sah mit einem leichten Lächeln, dass sich ihre Haare im Nacken aufstellten.

„Egal welches?“

„Egal welches“, bestätigte ich. Jace wirbelte zu mir herum, fiel mir um den Hals und war dann verschwunden. Ich sah ihren roten Haarschopf zwei Regalreihen weiter kurz aufleuchten, dann hatte ich sie vollends verloren.

Mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen schlenderte ich durch die Reihen voller neuer Bücher und überflog die Buchtitel. Keiner sprach mich so richtig an, aber ich war auch nicht so ein Bücherwurm wie meine Freundin.

 

Eine halbe Stunde später tauchte Jace plötzlich neben mir auf, ein Buch in der Hand.

„Ich glaube, ich habe mich entschieden“, erklärte sie leise lächelnd. „Wenn mir jetzt nicht noch ein anderes, bessereres Buch über den Weg läuft, nehme ich das hier.“

Also liefen wir zur Kasse, ich bezahlte das Buch, ließ es einpacken und gemeinsam verließen wir wieder den Laden.

„Und was hast du jetzt geplant?“

„Lass dich überraschen“, war das einzige, was ich auf Jaces neugierige Frage hin antwortete. Kurz seufzte meine Freundin resigniert, dann lächelte sie glücklich und harkte sich bei mir unter.

„Okay, ich werde nicht mehr fragen und mich einfach von dir führen lassen.“ Ich nickte zufrieden.

Unser nächster Stopp war ein Musikgeschäft. Diesmal ließ ich Jace aber nicht einfach losstürmen und suchen, sondern führte sie direkt zur Gitarrenabteilung.

Dort gab ich ihr den Auftrag, sich umzusehen und auch mal die ein oder andere Gitarre auszuprobieren. Mit großen Augen sah sie sich die ganzen Instrumente an. Bei einigen warf sie einen kurzen Blick auf den Preis, wandte sich aber sofort den nächsten zu, als sie die hohen Beträge sah.

Stumm beobachtete ich, wie Jace immer wieder eine neue Gitarre entdeckte. Aber ich bemerkte auch, wie ihr Blick immer wieder zu einer Gitarre zurück glitt. Es war eine zwölfsaitige Akustikgitarre. Jace sah sie sich immer wieder an, wagte es aber nicht, sie mal in die Hand zu nehmen und auszuprobieren, wie sie klang.

Sie spielte einige andere Gitarren an – alle sechssaitig –, war aber nie ganz mit dem Klang zufrieden. Ich erkannte es daran, wie sie beispielsweise bei einer Gitarre die Augen leicht zusammen kniff oder bei einer anderen, die Stirn runzelte und die Augenbrauen zusammen zog.

Irgendwann nahm ich Jaces Favoriten und reichte sie ihr mit der Aufforderung, mal zu spielen. Die junge Frau öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber dann siegte ihre Neugierde und sie nahm die Gitarre in die Hand.

Selbst als Laie hörte ich den Unterschied zwischen der zwölfsaitigen und den sechssaitigen. Und Jace, als langjährige Expertin verzog das Gesicht zu einem verträumten Ausdruck.

Doch plötzlich brach sie an, stellte die Gitarre wieder an ihren Ort und nahm sich eine andere.Sie probierte noch einige andere und sah mich dann nachdenklich an.

„Warum sollte ich eigentlich die ganzen Gitarren ausprobieren? Willst du mir jetzt auch noch eine Gitarre schenken?“ Bei den Worten glitt ihr Blick wieder kurz über die Zwölfsaitige. „Oder willst du mich einfach nur quälen?“

„Ja.“ Mit einem Grinsen sah ich sie an. „Genaueres später. Komm, wir müssen weiter.“

„Du bist doch blöd.“ Schmollend sah die junge Frau mich an und rempelte mich leicht von der Seite an. Lachend legte ich den Arm um ihre Schulter und zog sie aus dem Laden. Auf dem Weg zurück zum Auto klingelte dann mein Handy. Ich holte es raus und warf einen Blick auf den Display. Volker.

„Sorry, das ist wichtig.“ Entschuldigend sah ich Jace an. „Gehst du schon mal vor zum Wagen?“ Nickend machte sie sich auf den Weg. Ich blieb stehen und nahm den Anruf entgegen. Keine Fünf Minuten später saßen wir wieder im Auto und ich steuerte uns durch den Verkehr aus Hamburg raus. In einem kleinen Vorort hielt ich auf dem Parkplatz einer kleinen Gastronomie.

„Jonas, das ist wunderschön.“ Mit leuchtenden Augen sah die Rothaarige mich an. „Es wirkt richtig schön traditionell.“

Erleichtert, dass es ihr gefiel, führte ich sie ins Innere der Gaststätte. Ich hatte dort einen Tisch reserviert, an den wir jetzt geführt wurden.

 

Wir blieben eine Stunde dort, genossen das Essen und unterhielten uns über alles mögliche. Hauptsächlich über meine Arbeit und ihr Jahr in Chile. Zwischendurch kamen wir auch auf das Thema Freunde. Alex und Yolainy waren wider aller Erwartungen noch immer zusammen und sogar schon verlobt. Auch Phil hatte in zwischen eine Freundin. Er hatte sie auf dem College kennen gelernt.

Aber irgendwann drängte ich zum Aufbruch, da noch immer eine letzte Überraschung an diesem Abend fehlte. Ich bezahlte, wir verließen das Raustaurant und fuhren wieder Richtung Heimat. Aber ich fuhr nicht in den Ort rein, sondern bog vorher zum Strand ab.

Dort wartete eine Picknickdecke mitsamt einem Picknickkorb auf uns. Auf der Decke lag ein Gitarrenkoffer. Jace betrachtete das Ganze perplex. Besonders der Koffer hatte es ihr angetan.

„Ist das nicht ein etwas großes Geschenk?“ Unsicher sah sie mich an. „Ich meine, ich war doch nur ein Jahr weg und außerdem haben wir uns zwischendurch doch auch gesehen.“

„Nun, ich finde, es ist genau dem Anlass entsprechen groß“, erklärte ich lächelnd. Dann fuhr ich mir einmal nervös durch die Haare, strich mein Hemd glatt und kniete mich dann vor Jace in den Sand.

„Jacinta Frank, möchtest du meine Frau werden?“

Im ersten Moment sah Jace mich einfach nur erstaunt und überrumpelt an. Dann breitete sich ein Strahlen über ihr ganzes Gesicht aus. „Ja!“, rief sie lachend. „Ja, ich will.“

Impressum

Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Chemielehrerin. In ihrer Stunde ist der entscheidende Funke geflogen

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