Warum wurde noch mal die Schule erfunden? Um uns arme Schüler zu quälen? Ich nehme es stark an. Aber vielleicht sollte man einfach nur abschaffen, dass die Ferien zu lange dauerten.
Ich weiß, ich weiß, ihr werdet mich jetzt alle komisch angucken. Kürzere Ferien, wie komme die denn auf den Scheiß?, fragt ihr euch vielleicht. Aber ich hab da schon meine Gründe. Ich muss nämlich in den Ferien immer meine Verwandtschaft besuchen.
Ja ja, Verwandtschaft ist was tolles und die sind das Beste, was einem passieren kann. Schon klar. Aber das trifft nicht auf meine Verwandtschaft zu. Denn die, die es von denen noch gibt, sind nicht wirklich in der Lage, sich um mich zu kümmern. Nachdem meine Eltern einfach getürmt sind, als ich grade mal fünf war, wurde ich erst mal zu den Eltern meiner Mutter abgeschoben worden. Aber die haben fünf Jahre später das Zeitliche gesegnet.
Jetzt wohne ich seit sechs Jahren bei einer Pflegefamilie, da meine anderen Großeltern in einem Pflegeheim wohnen und der Bruder meiner Mutter geistig zurück geblieben ist. Heißt im Klartext, körperlich gesehen ist er zwar 35, aber geistig ist er auf dem Stand eines Drittklässlers. Wenn ich also bei dem wohnen würde, müsste ich mich eher um ihn kümmern, als dass er sich um mich kümmert.
Ihr seht also, meine Familie ist nicht grade der Hit. Und wenn ihr das jede Ferien ertragen müsstet – jeden Tag mit einem Drittklässler und zwei alten Käuzen, die nicht einen guten Fleck an dir finden, in einem Zimmer zu hocken –, würdet ihr auch anfangen euch zu wünschen, die Ferien wären kürzer.
Und ich habe grade sechs lange Sommerferienwochen mit eben jenen Personen verbracht. Jetzt habe ich erstens für sehr lange Zeit genug von den Dreien und zweitens Energie im Überfluss. Jeden Tag habe ich im Pflegeheim gesessen. Manchmal hab ich mit Ralf draußen Fußball spielen dürfen, aber er ist, was solche Sachen angeht, nicht leicht zu motivieren.
„Ardilla!“ Mit einem Ruck öffnet sich meine Zimmertür und die Tochter meiner Pflegefamilie stürmt herein. Sie ist erst fünf und für sie bin ich immer die große Schwester gewesen, auch, wenn wir nicht wirklich verwandt sind. Und sie ist für mich eine kleine Schwester. Ich bin bei ihrer Geburt dabei gewesen. Karen – ihre Mutter – hat mich vom ersten Tag an wie eine Tochter behandelt und eigentlich sind die Müllers eher meine Familie, als die, die Biologisch gesehen mit mir verwandt sind.
Lachend schließt Tess die Arme um meine Beine und drückt mich ganz fest an sich. Sie vermisst mich jedes mal schrecklich, wenn ich in den Ferien wegfahre und heult mir und Karen immer die Ohren voll, dass ich doch hier bleiben soll. Es bricht mir aber auch jedes mal aufs neue das Herz, sie so traurig zurück zulassen.
Ich wuschle ihr durch die Haare und löse dann vorsichtig ihre Umklammerung. Zusammen verlassen wir wieder mein Zimmer und steuern auf die Küche zu.
„Hallo Schatz, hast du gut geschlafen?“ Ich nicke auf die Frage von Karen hin und fülle mir eine Tasse mit Milch. Karen beobachtet die Aktion mit hochgezogenen Augenbrauen und lächelt. Eigentlich bin ich ja eine Kaffeetrinkerin, aber nach sechs Wochen Kaffee und kaum Bewegung, brauche ich nicht auch noch Koffein, um wach zu bleiben. Denn das bin ich sowieso schon hundertprozentig.
„Ich muss dann auch gleich los zur Schule“, erkläre ich und trinke die Tasse auf Ex aus. Schnell gehe ich wieder in mein Zimmer und schnappe mir meine Tasche.
„Aber dein Bus fährt doch erst in zwanzig Minuten“, wundert sich Karen. Ich nicke und deute auf die Inlineskater im Flur. Der Weg zur Schule ist nicht weit. Im Sommer fahre ich deshalb meistens mit dem Fahrrad oder Inlinern hin. Die Bewegung brauche ich einfach, sonst bin ich im Unterricht unruhig und unkonzentriert.
„Bitte geh nicht.“ Der kleine Engel macht einen Schmollmund und drückt mich erneut ganz fest an sich. Ich lächle, knie mich vor sie und erwidere die Umarmung. Dann halte ich sie ein Stück von mir weg und sehe sie ganz fest an.
„Ich bin doch bald wieder da. Und außerdem musst du doch auch gleich los.“ Ich umarme sie erneut und ziehe mir dann meinen fahrbaren Untersatz an. „Keine Angst, in ein paar Stunden bin ich wieder da. Du wirst gar nicht werken, dass ich weg war.“ Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und verlasse dann das Haus.
„Na sieh einer an, wenn das nicht unsere liebe Attila ist.“ Der spöttische Klang, der in der Stimme mit schwingt, versetzt mir einen Stich. Auch wenn mein Name vielleicht auf den ersten Blick an den des gefürchteten Hunnenkönigs erinnert, so wird er doch vollkommen anders ausgesprochen. Ardilla kommt aus den Spanischen, deswegen wird das doppel-l eher wie ein j ausgesprochen.
„Hey Attila, wo ist den dein Reitergefolge ab geblieben?“, ertönt schon der nächste Kommentar, gefolgt von fröhlichem Gelächter. Okay, ich nehme alles zurück, was ich vorhin gesagt habe. Ferien können gar nicht lang genug sein. Wobei ich mich auch damit zufrieden geben würde, wenn die Schule gar nicht existieren würde. Oder meine liebevollen Eltern hätten mir einen anderen Namen geben sollen. Ardilla Deyrn. Mit so einem Namen ist es doch vorprogrammiert, dass es Witze über ihn geben wird.
Die Gruppe, die sich so köstlich über meinen Namen amüsiert, besteht aus ein paar Jungs aus der Zehnten, Elften und Zwölften. Wobei sie noch nicht ganz vollständig sind. Es fehlt noch Jakob. Der Anführer dieser ach so coolen und lustigen Bande.
Ohne die sechs weiter zu beachten, ziehe ich mir die Inliner aus, meine Straßenschuhe an und betrete das Schulgebäude. Mein erster Anlaufpunkt ist, wie immer, der Vertretungsplan. Aber auf halbem Weg drehe ich wieder um und mache mich auf den Weg zum Oberstufensekretariat.
Heute ist mein erster Schultag in der zehnten Klasse. Heißt so viel wie eine neue Klasse und hoffentlich neue Lehrer. Schnell überfliege ich die Klassenlisten und suche meinen Namen. 10F. Mit Justus und seinen Freunden. Na wundervoll. Alle von Jakobs lieben Freunden aus meinem Jahrgang in meiner Klasse. Das kann ja nur nach hinten los gehen.
„Dilla!“ Erfreut drehe ich mich in die Richtung, aus der mein Kosename ertönt. Kurz darauf fällt mir meine beste Freundin Farina um den Hals. „Gott, ich hab dich so vermisst!“, seufzt sie und löst die Umarmung dann wieder um die Klassenlisten zu studieren. Aber auch nur, um mir Sekunden später wieder um den Hals zu fallen. „Dilla, wir sind mit Lassy in einer Klasse“, freut sie sich.
Ich kann nur lachen. Fari ist eine kleine Frohnatur und mag eigentlich so ziemlich jeden in unserem Jahrgang. Selbst von Jakob und Co sagt sie immer, dass die eigentlich voll nett wären und so.
„Lassy!“, schreit mir besagte Frohnatur auch schon ins Ohr und stürmt an mir vorbei. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie ihr roter Haarschopf sich mit dem braunen von Larissa vermischt. Larissa, Farina und ich sind – hab ich manchmal das Gefühl – an der ganzen Schule bekannt. Es vergeht kein Monat, ja eigentlich sogar fast keine Woche, in der nicht eine von den beiden mit irgendeiner peinlichen Situation die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und ich, tja ich bin wohl so bekannt, da wir eigentlich nur zu dritt auftreten und ich außerdem noch einen kleinen, weißen Schatten habe, der mir nie von der Seite weicht. Oder zumindest fast nie.
Tja und wie sagt man so schön? Wenn man vom Teufel spricht...? Denn genau in diesem Moment taucht mein weißer Schatten wieder auf. Er springt auf meine Schulter und rollt dann den bauschigen Schwanz wie einen Schal um meinen Hals. Jimmy hatte schon so manchen Lehrer zur Weißglut getrieben.
„Tja, und damit wären wir wohl wieder komplett“, grinst Lassy und krault Jim hinter seinen Ohren. Seine Augen blitzen vergnügt, als er sich von mir durch die Schule tragen lässt. „Wo haben wir jetzt eigentlich Unterricht?“
Fari wirft einen kurzen Blick auf den Stundenplan, der für unsere neue Klasse aushängt. „In J04“, erklärt sie schließlich und grinst. „Bei Herrn Waldt.“ Ich verdrehe die Augen und laufe in die Richtung, in der der Raum liegt. Dabei entwirre ich vorsichtig meine Haare aus Jims Pfoten. Er kann es aber auch nicht lassen, mit meinen Haaren rum zuspielen.
„Sag mal, Dilla, wann bringst du Jimmy eigentlich bei, deine Haare richtig zu flechten?“ Lassy grinst mich frech an. „Ich meine, wenn dein Eichhörnchen doch schon so eine Vorliebe für deine Haare hat, könnte er ja zumindest etwas vernünftiges damit anstellen, anstatt sie nur immer wieder durcheinander zu bringen.“
„Stimmt. Du hast ihn doch jetzt schon fast ein Jahr. Da sollte er doch allmählich was gelernt haben“, erklärt nun auch Fari.
„Ja klar, wenn Jim mir die Haare flechtet, fresse ich einen Besen“, pruste ich los. „Kommt schon Leute. Er ist ein halb wildes Eichhörnchen. Ihr könnt nicht ernsthaft erwarten, dass er irgendwelche Tricks beherrscht.“ Ich hebe die Hand erneut und kraule Jim hinter den Ohren. „Da werde ich noch eher Kaiserin von China, als dass Jimmy flechten lernt.“
Der erste und der letzte Schultag sind immer die besten. Jeder ist noch bzw. schon motiviert von bzw. für den/die Ferien und niemand achtet auf die Lehrer, die versuchen uns etwas zu erklären. Alle erzählen, was sie gemacht haben bzw. machen werden. So auch heute.
Zum Glück ist am ersten Tag für alle nach der Sechsten Schluss. Jetzt noch eine Doppelstunde Geschichte würde ich nicht überleben. Schon die sechs Schulstunden waren zu lang für meinen sportsüchtigen Körper. Ich hab nicht eine Minute still sitzen können. Froh, meine Beine beim Inliner fahren endlich wieder strecken zu können, verlasse ich das Schulgebäude.
„Ach nee, wenn das nicht unsere gefürchtete Attila ist.“ Genervt schließe ich die letzte Schnalle meines Schuhs und gucke zu Justus hoch. Er ist Jakobs treuster Freund. Jimmy neben mir macht sich groß und streckt die Arme von sich. Dadurch, dass seine Krallen sowieso leicht gekrümmt sind, sieht es aus, als wollte er ein böses Monster spielen und Justus damit Angst machen. Nur schwer kann ich mir ein Lächeln verkneifen.
„Oh, und nicht zu vergessen ihr treuer Diener Jimmy“, lacht der Junge vor mir.
„Was willst du, Justus?“, frage ich und sehe ihn eindringlich an. Doch er ignoriert mich und kniet sich vor Jim auf den Boden. Vorsichtig streckt er eine Hand aus, an der sich mein verräterisches Eichhörnchen natürlich sofort fest klammert. Justus steht langsam wieder auf und hebt dabei Jimmy mit hoch. Dann, ganz plötzlich, macht der Junge vor mir eine ruckende Handbewegung und mein treuer, kleiner Diener verliert den Halt. Er fliegt ein Stück zur Seite und kracht dann auf den Boden.
Entsetzt springe ich auf und rolle zu dem Kleinen hin. Er rappelt sich schon wieder auf und klettert auf die Hand, die ich ihm hinhalte. Aber ganz gesund scheint er doch nicht zu sein. Er belastet sein eines Bein nicht. Vorsichtig besehe ich mir das verletzte Bein. Es sieht fast so aus, als wäre es gebrochen. Wütend stehe ich auf und drehe mich zu dem Übeltäter um. Er steht grinsend noch immer an der gleichen Stelle.
„Sag mal bist du total bescheuert?“, fahre ich den Jungen an. „Wenn sich Jimmy was gebrochen hat, darfst du für die Rechnung aufkommen! Und Gnade dir Gott, wenn sein Bein gar nicht mehr verheilt.“ Ich rolle wieder zu der Bank, auf der ich gesessen hatte und halte direkt vor dem Idioten an. Er macht keine Anstalten sich zu entschuldigen. Nicht mal dieses selbstgefällige Grinsen ist verschwunden.
„Oh, tut mir Leid, habe ich deinem Schatz etwa weh getan?“, fragt er nun scheinheilig, sieht aber noch immer nicht so aus, als würde es ihm leidtun. „Soll ich mal pusten?“ Was zu viel ist, ist zu viel. Ohne weiter nachzudenken, scheuere ich ihm eine. Dass er einen halben Kopf größer ist als ich, beeindruckt mich nicht im mindesten. Einen Moment starrt er mich verdutzt an, dann grinst er wieder.
„Sollte das etwa weh tun?“ Und erneut landet meine flache Hand in seinem Gesicht. Nun hält er sich die Wange und sieht mich wirklich erstaunt an.
„Respekt, Ardilla. Das hat sich noch niemand getraut“, meint eine belustigte Stimme hinter mir. Wütend drehe ich mich um und funkle nun Jakob an. Er ist eigentlich fast zwei Köpfe größer als ich, aber weil ich auf Inlinern stehe, ist es nur ein Kopf.
„War es deine Idee, dass Justus Jimmy durch die Luft schleudert und ihm das Bein bricht?“ Einen kurzen Moment starrt mich Jakob erstaunt an. Dann sieht er über mich hinweg zu Justus. Sein Blick wird enttäuscht. Das wiederum erstaunt mich.
„Du kapierst auch echt nicht, wann es zu viel ist, oder?“, fragt er und auch in seiner Stimme ist die Enttäuschung über deutlich zu hören. Als ich mich wieder zu Justus umdrehe, um seine Reaktion zu sehen, hat dieser den Kopf eingezogen und macht sich grade aus dem Staub.
„Zeig mal her, was hat er denn?“, fragt nun Jakob und seine Stimme ist ungewöhnlich sanft und besorgt, dafür, dass er mit mir redet. Ich sehe ihn wieder an und erkläre ihm, was passiert ist. Seine grünen Augen werden dunkel vor Zorn, während er mir zuhört.
„Eins kannst du mir glauben. Ich würde es nie wagen, einem Tier etwas zu leide zu tun oder jemanden zu so etwas zu beauftragen. Das ist allein auf Justus' Mist gewachsen. Ich werde auch noch ein ordentliches Hühnchen mit ihm rupfen. Da wird er nicht so einfach mit davon kommen. Immerhin –“ Jetzt lächelt der Junge vor mir ein wenig „– ist Jimmy doch so etwas wie unser Schulmaskottchen.“
Ich lächle ebenfalls. Ja, das Albino-Eichhörnchen ist tatsächlich so etwas wie das Maskottchen unserer Schule. Überall bekannt und überall geliebt.
„Komm, ich fahre euch zwei zum Tierarzt. Wir sollten den Armen nicht länger als nötig quälen.“ Jakob hebt meine Tasche auf, tut die Schuhe hinein und geht zum Parkplatz. Unsicher, was ich von diesem neuen Jakob halten soll, folge ich ihm. Er ist in der zwölften Klasse und schon in der elften achtzehn geworden, aber vor den Ferien ist er immer Bus gefahren. Und er hat schon etwas länger ein Auto, so weit ich weiß.
„Wie kommt es, dass du heute mal mit dem Auto da bist?“, versuche ich ein Gespräch aufzubauen. Ich hasse es einfach, neben einer Person herzulaufen, ohne mich zu unterhalten. Dafür rede ich zu gerne und höre den Leuten zu gerne beim Reden zu.
„Erster Schultag. Da sind die Busse immer so schrecklich voll.“ Er lächelt. „Ich hatte einfach keine Lust, schon am frühen Morgen zerquetscht zu werden.“ Ich nickte verständnisvoll. Das war auch ein Grund, warum ich heute meine Inliner genommen hatte. „Et voilà, mein Auto.“ Er deutet auf einen schwarzen Mini Cooper und ich grinse. Mini Cooper sind meine Favoriten unter den Autos.
„Ich wusste ja gar nicht, dass du so einen guten Geschmack hast, was Autos angeht.“ Auch Jakob grinst und schließt auf.
„Du weißt vieles über mich nicht.“ Meine Tasche landet auf dem Rücksitz. Ich steige ein und Jakob schließt hinter mir wieder die Autotür. Kurz darauf sitzt er neben mir und startet das Gefährt. Ich habe mich in der Zwischenzeit angeschnallt und streichle nun besorgt über Jimmys Fell. Er hatte sich vorhin auf meiner Hand zusammen gerollt und seit dem nicht mehr bewegt. Jakob wirft mir einen kurzen Blick zu.
„Wie geht es ihm?“
„Nicht so gut, glaube ich.“ Ich unterdrücke die Tränen, die langsam in mir auf steigen. „Er hat sich nicht mehr bewegt, seit er auf meine Hand geklettert ist.“ Nun stiehlt sich doch eine Träne aus meinem Augenwinkel. Jakob hebt eine Hand und streichelt mich kurz am Arm, um mich zu trösten.
„Ich hoffe er kommt durch.“ Eine zweite Träne kullert meine Wange hinunter. „Er ist doch mein kleines Kind. Er soll nicht so sterben.“ Vorsichtig hebe ich die Hände und drücke Jim einen leichten Kuss auf das weiße Fell.
Kurz darauf hält der Wagen vor der Praxis von Dr. Hoffmann. Wir steigen aus und Jakob hält mir die Praxistür auf, als wir ein treten. Die Sprechstundenhilfe blickt auf, als sie die Glocke hört.
„Hallo Jakob, wie geht es dir?“ Sie lächelt freundlich zu dem Jungen hoch und guckt dann mich an. Sofort wird ihr Blick besorgt. „Und was kann ich für dich tun, Ardilla?“ Ihr Blick fällt auf meine Hände. „Ist das etwa Jimmy?“ Erschrocken sieht sie von mir zu Jakob.
„Ja, er wurde von einem Mitschüler durch die Luft geworfen und ist unglücklich aufgekommen“, erklärt Jakob für mich. „Wir vermuten, dass sein eines Hinterbein gebrochen ist.“ Laura springt sofort auf und verschwindet im hinteren Teil der Praxis. Nicht mal eine Minute später taucht sie mit Dr. Hoffmann wieder auf.
„Dann zeig doch mal her, unseren kleinen Schlingel“, meint dieser freundlich, nicht ohne kurz erstaunt zwischen mir und Jakob hin und her zu schauen. „Was ist es denn diesmal?“
„Verdacht auf gebrochenes Bein“, erklärt Jakob erneut. „Justus hat es mit seinen Späßen mal wieder etwas übertrieben.“ Dr. Hoffmann runzelt die Stirn und blickt von seiner ersten kurzen Untersuchung zu Jakob auf.
„Tja, irgendwann musste wohl so etwas in der Art passieren“, seufzt der Tierarzt. „Nun gut, ich werde den Kleinen dann mal röntgen.“ Vorsichtig nimmt er mir Jimmy ab und verschwindet mit ihm wieder im hinteren Teil der Praxis. Jakob führt mich ins Wartezimmer, wo ich mich erschöpft auf einen Stuhl fallen lasse. Jakob läuft noch mal schnell nach draußen, um mir meine Schuhe zu holen. Lange sagt niemand etwas, aber schließlich siegt doch meine Neugierde.
„Woher kennst du Dr. Hoffmann eigentlich so gut?“, durchbreche ich die Stille.
Jakob sieht mich erstaunt an. „Er ist mein Vater, wusstest du das nicht?“ Ich schüttle den Kopf, erstaunt, dass ich es noch nicht vorher bemerkt habe. Ich weiß doch eigentlich, dass Jakob auch Hoffmann mit Nachnamen heißt.
„Woher sollte ich das denn wissen? Dein Vater redet mit Kunden nicht über seine Familie und du erzählst mir ja auch nichts über den Privatleben. Mal davon abgesehen, dass ihr euch überhaupt nicht ähnlich seht, ist es ja auch bis heute noch nie vorgekommen, dass du mit mir geredet hast, ohne mich zu ärgern.“
Jakob verzieht das Gesicht. „Auch wenn es sich jetzt scheiße und falsch an hört“, meint er schließlich und sieht mich entschuldigend an. „Ich habe nie gewollt, dass so auf dir und deinem Namen herumgeritten wird. Justus hat es damals indirekt eingeführt, weil er nur deinen Namen gelesen hat, aber nicht wusste, wie er richtig ausgesprochen wird. Und da hörte es sich halt ähnlich wie Attila an.“ Er sieht mir fest in die Augen. „Es tut mir Leid, dass das Ganze so aus dem Ruder gelaufen ist. Ich wollte dich schon seit langem darauf ansprechen, aber es war immer jemand dabei, der Witze gerissen hat.“
„Wenn du es doch nicht wolltest, warum hast du dann mit gelacht, wenn über mich und mein Reitergefolge gewitzelt wurde?“, frage ich verletzt. Ein trauriger Schimmer legt sich über seine Augen, als er den Blick senkt.
„Weil ich nicht stark genug war, um gegen den Gruppenzwang anzukämpfen“, gesteht er schließlich und sieht zaghaft wieder zu mir hoch. „Ich weiß nicht, wie sehr es geschmerzt hat, dass wir so über dich hergezogen sind. Aber du hast mich immer wieder beeindruckt, dass du uns so gekonnt ignoriert hast.“ Nun lächelt er wieder ein bisschen. „Aber am meisten hast du mich beeindruckt, als du dich so gut um Jimmy gekümmert hast. Mein Vater hat mir damals begeistert erzählt, wie gut du dich um den kleinen Kerl kümmerst. Von da an war mein schlechtes Gewissen dir gegenüber noch schlimmer als vorher schon. Du hast es nicht verdient, wegen deinem Namen aufgezogen zu werden. Er ist nämlich eigentlich wunderschön und passt perfekt zu dir.“ Er lächelt jetzt richtig. „Weißt du eigentlich, was Ardilla auf Deutsch heißt?“
Ich schüttle den Kopf. Ich habe immer angenommen, dass Ardilla ein Name ist.
„Eichhörnchen“, erklärt Jakob mir. Nun muss auch ich lächeln.
„Eichhörnchen“, wiederholte ich die Bedeutung meines Namens leise. Jakob nickt.
„Wie es aussieht wird Jimmy wohl wieder gesund.“ Jakobs Vater ist zu uns ins Wartezimmer gekommen und lächelt mich jetzt an. „Der Knochen ist nur angebrochen und wird schnell wieder verheilen. Er braucht jetzt vor allem Ruhe für die nächsten Wochen.“ Erleichtert und dankbar sehe ich Dr. Hoffmann an. Dieser lächelt. „Komm, der Glückspilz ist bereit, Besucher zu empfangen.“
„Vielleicht war es ja Schicksal, dass das passieren musste, damit alles geklärt werden kann“, flüstert mir Jakob auf dem Weg zum Behandlungszimmer zu und ich nicke nachdenklich. Jimmy wird wieder gesund. Und das Problem mit meinem Namen ist jetzt auch geklärt.
Schicksal...
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Lennart