Vor sechs Jahren hat Leon seine Affäre mit Melvin beendet - und es schnell bitter bereut. Viel zu spät hat er damals erkannt, dass es längst mehr als Sex und Freundschaft war.
Jetzt ist Melvin wieder in der Stadt, und Leon wird bewusst, dass er den Mann immer noch liebt. Aber die ersten Treffen laufen alles andere als gut, für einen Neuanfang scheint es zu spät zu sein.
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Die Story ist online in meinem Adventskalender 2015 erschienen. Ich danke euch allen fürs Lesen.
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Diese Geschichte widme ich Nico
Viele Menschen mögen und schätzen dich, Nico.
Dazu gehöre auch ich, deshalb ist diese Geschichte für dich.
Drei Worte. Sie gingen Leon einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich liebe dich. Nur drei kleine Worte, aber sie hatten alles verändert. Leon wusste, dass er sich wie ein Idiot aufgeführt hatte, als Melvin ihm seine Gefühle gestanden hatte.
Melvin. Sie kannten sich nun schon seit einer halben Ewigkeit, waren einander so nah. Dennoch hatte Leon nie darüber nachgedacht, dass es mehr sein könnte als Freundschaft, Sex und vertraute Nähe. Das war ihm erst jetzt klar geworden.
An jenem Nachmittag vor gut einer Woche war er völlig überfordert gewesen. Aus heiterem Himmel hatte Melvin ihm gesagt, dass er ihn liebte. Leon hatte einfach nicht gewusst, wie er reagieren sollte. Er hatte keinen klaren Gedanken mehr fassen können und er hatte Angst.
Liebe bedeutete Verpflichtungen, und eine feste Beziehung ließ sich auf Dauer nicht so einfach verheimlichen. Wahrscheinlich würde er sich dann outen müssen, aber dazu war er noch nicht bereit, und überhaupt … Sie waren doch einfach nur Kumpel, die miteinander ins Bett gingen, oder? Von Liebe war nie die Rede gewesen, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
So hatte er das ausgesprochen, was ihm durch den Kopf schoss, und das war kein »Ich liebe dich auch« gewesen. Eher das Gegenteil. Er hatte Melvin mit seiner Ansage, dass es für ihn nur Sex war und sie es wohl besser beendeten, sehr wehgetan. Der Ausdruck in Melvins Gesicht, sein Blick, als Leon das gesagt hatte … Ihm wurde übel, als er daran dachte, wie sehr das seinen Freund verletzt haben musste.
Seitdem hatten sie sich weder gesehen noch miteinander geredet. Leon vermisste Melvin wie verrückt, und in den letzten Tagen war ihm klar geworden, dass es eben nicht nur Freundschaft war. Er liebte Melvin, und nun musste er zusehen, dass er das wieder hinbog. Irgendwie musste er alles wieder in Ordnung bringen. Sich bei Melvin entschuldigen und ihm sagen, dass er seine Gefühle erwiderte. Es würde sicher eine Weile dauern, bis sein Freund ihm verziehen hatte, aber Leon war mehr als bereit, ihm Zeit zu lassen und zu Kreuze zu kriechen. Hauptsache, er bekam Melvin zurück.
Mit wild klopfendem Herzen wartete er darauf, dass sich die Haustür öffnete. Er klingelte erneut, aber niemand reagierte. Verdammt! Wo steckte Melvin nur? Normalerweise war er Samstagsnachmittags immer Zuhause. Eigentlich war es zu kalt, um draußen zu warten, aber das war es Leon wert. Er wollte seinen Freund auf keinen Fall verpassen. Deshalb hockte er sich auf die Treppe und zog die Fußmatte unter seinen Hintern, damit er wenigstens nicht direkt auf der eiskalten Stufe saß. Dennoch hatte er schon nach einer halben Stunde das Gefühl, festgefroren zu sein. Er stand wieder auf und lief alle paar Minuten einige Male hin und her, um sich etwas aufzuwärmen. Erwartungsvoll schaute Leon auf, als endlich ein Auto vor dem Haus stoppte. Doch statt Melvin kam dessen Vater aufs Haus zu.
Die Tatsache, dass Wolfgang diesmal kein Lächeln für ihn übrig hatte, sprach für sich. Melvin hatte seinem Vater schon immer sehr nah gestanden. Selbst für Leon war Wolfgang mehr ein Vater, als es sein leiblicher Erzeuger jemals gewesen war. Mit dem war Leon noch nie besonders gut ausgekommen, mit Wolfgang hingegen konnte er reden. Zumindest im Normalfall, aber im Moment sah der ältere Mann nicht besonders erfreut aus, und das konnte ihm Leon nicht verdenken. Melvin hatte seinem Vater mit Sicherheit erzählt, was vorgefallen war.
»Was machst du hier?«, fragte Wolfgang reserviert, während er die Treppe hochstieg.
»Ich muss mit Melvin reden. Ich habe riesigen Bockmist gebaut und will das wieder geradebiegen. Kann ich drin auf ihn warten?«
Wolfgang wandte den Kopf und sah ihn ernst an. »Dazu ist es zu spät. Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du Melvin das Herz gebrochen hast. Deinetwegen ist er nach Hamburg umgezogen. Ich bin ziemlich sauer auf dich. Weil du ihm wehgetan hast und weil ich ihn deswegen nicht mehr in der Nähe habe. Geh einfach nach Hause, Leon!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss Wolfgang auf und betrat das Haus. Wie erstarrt schaute Leon auf die Tür, die ihm gerade buchstäblich vor der Nase zugeschlagen worden war. Zu spät!? Melvin war weggezogen!? Er war weg … zu spät …
***
»Kommst du klar?«, fragte Thomas und drückte Leons Schulter.
Es war ein kalter Märztag und der Regen hatte die Trauergäste schnell vom Friedhof vertrieben. Nur Leon und Thomas standen noch am offenen Grab. Innerlich wie erstarrt schaute Leon auf den Sarg, in dem seine Oma lag. Nun hatte er auch noch den letzten Menschen verloren, dem er wirklich etwas bedeutet hatte.
Ende Januar, nur zwei Wochen nach Melvins Umzug, hatte Leon sich bei einem heftigen Streit mit seinem Vater eher unfreiwillig geoutet. Es kam, wie Leon es befürchtet hatte: Seine Eltern hatten ihn rausgeworfen und seitdem herrschte Funkstille. Aber seine Großmutter hatte zu ihm gehalten. Er war bei ihr eingezogen und sie hatte ihn immer wieder ermuntert, den Kontakt zu Melvin zu suchen.
Wenn das nur so einfach wäre! Seine Mail-Adresse und die gewohnte Handynummer waren abgeschaltet, und Wolfgang weigerte sich, Leon die neuen Kontaktdaten zu nennen. Auch die Postanschrift hatte Leon bisher nicht herausfinden können. Unzählige Briefe hatte er Melvin geschrieben und Wolfgang gebeten, sie weiterzuleiten. Ob sein Freund sie bekommen und gelesen hatte, wusste Leon nicht. Es war jedenfalls keine Reaktion erfolgt, außer dass Melvin ihm ausrichten ließ, dass er ihn in Ruhe lassen sollte.
»Leon?«, riss Thomas ihn aus seinen Gedanken.
»Alles okay«, erwiderte Leon leise und wünschte sich, dass es wirklich so wäre. Aber nichts war okay. Melvin war weg und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und jetzt war auch noch völlig überraschend seine Oma gestorben. Für Leon war das ein großer Schock. Sie war morgens einfach nicht mehr aufgewacht, und nun war er allein.
»Ich hab hier was für dich«, sagte Thomas und hielt ihm einen Zettel hin. »Das ist Melvins neue Telefonnummer. Frag mich bitte nicht, wer sie mir gegeben hat, ich habe versprochen, es nicht zu verraten. Ich glaube, du solltest versuchen, noch mal mit ihm zu reden.«
Mit wild schlagendem Herzen starrte Leon den Zettel an, griff danach und steckte ihn in seine Manteltasche. Seine Finger krampften sich um das winzige Stück Papier, und als ihm bewusst wurde, dass er den Zettel zerknitterte, ließ er ihn schnell los. Nur die Fingerkuppen ließ er auf dem Papier ruhen, als ob er dadurch eine direkte Verbindung zu Melvin hätte.
»Danke«, flüsterte er erstickt.
»Gern geschehen. Ich geh dann mal. Ruf mich später an, wenn du mit ihm gesprochen hast, ja? Egal, wie das Gespräch ausgeht.«
Leon nickte und sah seinem Freund nach. Bis vor ein paar Wochen waren sie eher flüchtige Bekannte gewesen, aber Thomas hatte sich als echter Freund entpuppt. Er war der einzige Freund, der ihm geblieben war. Alle anderen aus der Clique hatten sich nach der Sache mit Melvin von Leon distanziert, was er ihnen nicht einmal übel nahm.
Mit zittrigen Fingern zog Leon den Zettel wieder aus seiner Tasche und starrte ihn an. Sollte er gleich anrufen? Nein, er würde lieber warten, bis er in ein paar Minuten zuhause war. Zum Leichenschmaus würde er nicht gehen. Er fand diese Tradition makaber, und seine Mutter hatte sehr erleichtert gewirkt, als er ihr vorhin mitgeteilt hatte, dass er nicht dabei sein würde. Ein kurzes Nicken war die einzige Antwort gewesen. Nicht einmal bei der Beerdigung hielten es seine Eltern für nötig, mit ihm zu reden. Das tat weh, aber es gab Schlimmeres. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass die beiden Menschen, die ihn geliebt hatten, nicht mehr Teil seines Lebens waren. Seine Oma war für immer fort, aber vielleicht würde er bei Melvin doch noch eine Chance bekommen.
Als Leon die Haustür aufschloss, erwartete ihn bedrückende Stille. Ohne seine Großmutter war das Haus irgendwie nur eine leere Hülle, und genauso fühlte sich auch Leon. Er ging rasch in sein Zimmer und zog sich etwas Bequemes an, bevor er den Zettel und sein Handy nahm, um Melvin anzurufen.
Sein Herz schlug wie verrückt, und obwohl er sehnsüchtig darauf wartete, zuckte er zusammen, als am anderen Ende abgenommen wurde. Doch gleich darauf war er bitter enttäuscht. Es war nur die Ansage auf dem Anrufbeantworter. Dennoch war es so schön, endlich wieder Melvins Stimme zu hören. Als das Signal ertönte, räusperte sich Leon. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er anfing zu reden.
»Hallo Melvin, hier ist Leon. Es tut mir alles so leid. Bitte lass uns reden. Ich weiß, ich habe einen riesigen Fehler gemacht, aber ich will es wiedergutmachen.« Leon räusperte sich erneut und zögerte einen Moment, während er nach Worten suchte. »Ich weiß nicht, ob du meine Briefe gelesen hast. Es gibt so vieles, was ich dir sagen möchte, worüber ich mit dir reden will. Mir ist klar, wie sehr ich dich verletzt habe, und es tut mir schrecklich leid. Können wir wenigstens miteinander reden? Bitte Melvin. Wir waren einander doch so nah, und … Du fehlst mir so sehr. Nicht nur der Sex, sondern du, als Freund und Mensch. Ich vermisse dich furchtbar. Bitte gib mir noch eine Chance, ich -« Piep. Die Aufzeichnung hatte sich abgeschaltet. Seufzend rief Leon wieder an.
»Ich liebe dich, Melvin. Bitte ruf mich an«, war alles, was er diesmal aufs Band sprach. Dann trennte er die Verbindung, legte das Handy auf den Couchtisch und machte sich einen Kaffee. Die Stunden verstrichen, aber das Telefon blieb stumm.
***
Fröstelnd wachte Leon auf der Couch auf. Es war inzwischen dunkel draußen, und er tastete gerade nach dem Schalter der Tischlampe, als ihm das blaue Blinken des Handys auffiel. Hastig schaltete er das Licht ein und schnappte sich sein Mobiltelefon. Verdammt noch mal! Er hatte es für die Beerdigung auf Vibration geschaltet und vergessen, das wieder zu ändern! Offenbar hatte er so fest geschlafen, dass er das Vibrieren nicht mitbekommen hatte.
Das Telefon zeigte vier Anrufe an. Drei waren von Thomas, aber der musste jetzt warten, denn der vierte Anruf war von Melvin, und er hatte eine Nachricht hinterlassen. Leon drückte die Kurzwahl für die Mobilbox und wartete mit Herzklopfen auf die Ansage. Gleich darauf wurde er leichenblass, als er Melvins zornige Stimme hörte. Die Nachricht war kurz, doch jedes einzelne Wort traf Leon wie ein Messerstich ins Herz. Wie betäubt legte er das Handy auf den Tisch zurück und starrte vor sich hin. Das Klingeln an der Tür ließ ihn zusammenzucken, aber er blieb einfach sitzen, während sich der Schmerz immer tiefer grub.
»Leon! Mach bitte die Tür auf!«, hörte er Thomas rufen.
»Kann jetzt nicht«, flüsterte Leon und es war ihm völlig gleichgültig, dass sein Freund das nicht hören konnte.
Jetzt war alles egal. Langsam stand er auf, tappte ins Bad und starrte sich gleich darauf im Spiegel über dem Waschbecken an. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, sein Gesicht war in den letzten Wochen schmal geworden. Er sah müde aus. Er war müde. So müde … Leon sehnte sich nach Ruhe und Frieden. Dieser Schmerz in ihm sollte einfach nur aufhören.
Thomas war dazu übergegangen, Sturm zu klingeln und an die Tür zu hämmern. Leon ignorierte es. Sein Freund würde ihn vielleicht für eine Weile vermissen, aber dann würde er ihn ziemlich schnell vergessen.
Das Rasierset seines Großvaters, das der ihm vererbt hatte, stand direkt vor ihm neben dem Wasserhahn. Einen Moment lang starrte Leon das scharfe Rasiermesser an. Mit einem traurigen Lächeln griff er danach und legte es auf den Rand der Badewanne. Mechanisch zog er sich aus und stieg in die Wanne. Niemand sollte unnötig viel Mühe damit haben, die Sauerei zu beseitigen, die er hinterlassen würde.
Das Klingeln und Hämmern hatte aufgehört, Thomas hatte wohl aufgegeben und war gegangen. Die Ruhe tat gut, und bald würde Leon ganz viel davon haben. Ohne Zögern setzte er das Messer an seinem linken Handgelenk direkt auf der Ader an, die durch die blasse Haut zu sehen war. Merkwürdig. Er hatte mit Schmerzen gerechnet, aber es brannte nur etwas. Fast wie durch Butter glitt die scharfe Klinge durch das Gewebe, als Leon das Messer schnell nach oben bis zum Ellbogen zog. Während das Blut aus der Wunde quoll, fing es nun doch an wehzutun. Egal, das würde bald vorbei sein. Es würde aufhören, sowohl das brennende Gefühl am Arm wie auch der viel schlimmere Schmerz, der sein Herz zerriss.
Irgendwie seltsam fasziniert sah er zu, wie das Leben aus ihm herausströmte. Wie lange es wohl dauern würde? Ihm war kalt, also drehte er das warme Wasser auf, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Offenbar ging es schnell, ihm wurde schummrig und nur am Rand nahm er Geräusche wahr. Eine Stimme rief irgendwas, dann splitterte Glas. Jemand schrie seinen Namen, kalte Hände griffen nach ihm, und Leon war dankbar, als das Vergessen ihn einhüllte.
***
Nerviges Piepen und ein seltsamer Geruch. Das waren Leons erste Eindrücke, als er orientierungslos aufwachte. Sein linker Arm pochte dumpf. Was war denn bloß passiert? Wo war er? Mühsam öffnete er die Augen. Krankenhaus. Er war in einem Krankenhaus. Über das »Warum« musste er nicht lange nachdenken. Die Erinnerung stürmte auf ihn ein und er stöhnte auf. Das Geräusch brachte Bewegung in die Person, die neben dem Bett saß. Thomas beugte sich besorgt über ihn. Er sah blass und übernächtigt aus.
»Leon … Was machst du nur für Sachen!?«
»Ich wünschte, ihr hättet mich einfach gehen lassen!«, brach es aus Leon hervor. Dann fing er an zu weinen, und er hatte das Gefühl, nie wieder damit aufhören zu können. Es war einfach alles zu viel. Hastige Schritte näherten sich, ein Arzt trat an sein Bett.
»Wir geben Ihrem Freund erst einmal ein Beruhigungsmittel«, sagte der Doktor an Thomas gewandt. »Viel Ruhe und Schlaf sind im Moment wohl das Beste.«
»Ich fürchte, er wird es wieder versuchen«, erwiderte Thomas leise, aber Leon hörte es trotzdem.
»Darum wird sich der Psychologe kümmern. Das kommt schon wieder in Ordnung.«
Der Typ hatte ja keine Ahnung! Wie sollte das denn jemals wieder in Ordnung kommen? Leon vergrub das Gesicht weinend im Kissen. Er wollte zurück in die Dunkelheit. Nichts mehr denken, und vor allem nichts mehr fühlen. Einfach nur Stille, ohne diesen Schmerz tief in ihm drin. War das wirklich zu viel verlangt?
Melvin stöhnte genervt auf, als er den Briefkasten öffnete und den großen Umschlag sah. Verärgert warf er ihn in der Wohnung auf den Küchentisch und setzte erst einmal die Kaffeemaschine in Gang. Während das Gerät anfing zu blubbern und zu zischen, ging er unter die Dusche und zog sich dann bequeme Klamotten an.
Mit einem Becher Kaffee machte er es sich im Wohnzimmer gemütlich und öffnete zögernd den Briefumschlag. Wie befürchtet waren darin mehrere Briefe, auf denen als Absender Leons Name stand. Offenbar schrieb sein ehemaliger Freund jetzt jeden Tag. Hatte der Typ nichts Besseres zu tun?
Sein Vater hatte eine kurze Notiz dazu gelegt, die Melvin rasch durchlas.
Hallo mein Junge,
ich weiß, du willst die Briefe nicht haben, das habe ich Leon schon mehrfach gesagt. Er gibt einfach nicht auf. Vielleicht solltet ihr doch miteinander reden? Und sei es nur, damit du mit der ganzen Sache endlich abschließen kannst.
Ich hab dich lieb,
Paps
Seufzend griff Melvin nach dem Telefon und rief seinen Vater an. Nach der Begrüßung kam er direkt auf den Punkt.
»Schick mir seine Briefe bitte nicht mehr, Paps. Das Porto kannst du dir wirklich sparen. Ich zerreiße jeden ungelesen, also kannst du sie auch gleich wegwerfen. Sag ihm, dass es keinen Sinn hat.«
»Vielleicht solltest du ihm das selbst sagen, damit er es endlich kapiert. Ich glaube, du bedeutest Leon mehr, als er damals zugeben wollte, und er bereut eure Trennung wirklich.«
Melvin verzog das Gesicht. Auch Wochen später noch tat es schrecklich weh. Das Letzte, was er wollte, war mit Leon reden. Das würde es nur noch schlimmer machen.
»Ja, dass er es bereut, kann ich mir sogar vorstellen. Jetzt ist keiner mehr da, mit dem er verstohlen ins Bett steigen kann«, erwiderte Melvin bitter.
Die Tatsache, dass Leon nicht bereit war, sich zu outen, hatte mehr als einmal für Diskussionen zwischen ihnen gesorgt. Klar, ihre engsten Freunde wussten, was Sache war, aber sonst durfte niemand davon erfahren, erst recht nicht Leons Familie. Für dessen Eltern war Melvin immer nur der gute Kumpel aus Schulzeiten gewesen. Dabei hatte ihre Beziehung – nein, Affäre – immerhin mehr als ein Jahr gedauert.
»Ich denke, mit den Heimlichkeiten ist es vorbei. Leon hat sich wohl geoutet. Jedenfalls hört man Gerüchte, dass seine Eltern ihn deswegen rausgeworfen haben. Er wohnt jetzt bei seiner Großmutter in der Seilerstraße.«
Na, sieh mal einer an. Aber das änderte gar nichts! Leon war ein Arsch, der ihm das Herz aus dem Leib gerissen hatte. Melvin wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das könnte seinem Ex wohl so passen, die bequeme Affäre weiterführen. Dem war doch scheißegal, wie sehr Melvin litt. Nein, das machte er nicht mehr mit. Leon konnte bleiben, wo der Pfeffer wächst!
Melvin machte seinem Unmut lautstark Luft. »Wirf seine Briefe einfach weg, Paps«, bekräftigte er zum Schluss.
»Ist gut«, seufzte sein Vater und wechselte das Thema.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann verabschiedete sich Melvin. Vorhin nach der Arbeit war er müde gewesen und hatte beschlossen, den Freitagabend gemütlich Zuhause zu verbringen. Aber jetzt sah das anders aus. Die Müdigkeit war erst einmal verflogen, in ihm stritten sich Schmerz und heißer Zorn miteinander.
Er gestand es sich nicht gerne ein, aber er liebte Leon noch immer. Jedes Mal, wenn er einen der Briefe ungelesen wegwarf, fiel ihm das unglaublich schwer. Damit er erst gar nicht auf die Idee kam, sie später doch wieder aus dem Altpapier zu fischen, zerriss er jeden einzelnen Brief in unzählige Fetzen. Genau das machte er auch jetzt.
Die Papierschnipsel landeten im Behälter für Altpapier, dann stapfte Melvin entschlossen in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Hey, er war jung, er war schwul, und die Jungs in den Clubs flogen auf ihn. Ganz sicher fand sich ein süßer Typ, mit dem er sich im Darkroom austoben konnte. Vorzugsweise ein großer Kerl mit blonden Haaren, also äußerlich das genaue Gegenteil von Leon.
In den ersten Wochen in Hamburg hatte Melvin sich quer durch die Clubs gefickt. Eigentlich hatte er genug davon, das war einfach nicht sein Ding. Aber im Moment brauchte er Zerstreuung, und was lenkte besser ab als ein guter Fick? Das war jedenfalls tausendmal besser, als Zuhause rumzuhocken und Leon nachzutrauern!
***
Die nächsten beiden Wochen verliefen ruhig. Keine Briefe mehr von Leon, und auch in den Telefonaten mit Melvins Vater oder Freunden wurde sein Ex nicht erwähnt. Ein wenig kam Melvin dadurch zur Ruhe, aber der Schmerz blieb. Egal, wie sehr Leon ihm auch wehgetan hatte, die Gefühle hörten dadurch leider nicht einfach auf. Ja, er vermisste Leon, sehnte sich nach ihm. Nach seinem fröhlichen Lachen, den stundenlangen Gesprächen, den Zärtlichkeiten, dem Sex. Aber ein zurück gab es wohl nicht.
Denn obwohl Leon ihm so fehlte … Sorry, aber für mich ist es nur Sex unter Freunden. Wir sollten das wohl besser beenden. Die Worte gingen Melvin nicht mehr aus dem Kopf, und sie taten immer noch weh. Es wäre für Leon kein Problem gewesen, ihm das auf schonendere Art beizubringen. Stattdessen hatte er ihm diese herzlosen Worte an den Kopf geknallt und war gegangen.
Das hätte Melvin ihm verzeihen können, wenn es eine Kurzschlussreaktion gewesen wäre, wenn sein Freund ihn auch lieben würde und nur aus … keine Ahnung, aus welchen Gründen, so reagiert hätte. Aber Leon hatte nicht wieder vor der Tür gestanden, um da etwas richtigzustellen. Er war nicht wie erhofft mit einem »Ich liebe dich auch, verzeih mir« aufgetaucht. Leon hatte sich gar nicht mehr gemeldet, und für Melvin war das das Ende ihrer Beziehung gewesen. In seinem Leben war kein Platz für jemanden, der ihn nicht liebte und noch dazu so unachtsam mit seinen Gefühlen umsprang.
Natürlich war ihm klar gewesen, dass er ein Risiko einging, als er seinem Freund gesagt hatte, dass er ihn liebte. Aber er hatte mit seinen Gefühlen nicht mehr länger an sich halten können. Irgendwo tief in ihm drin hatte er geahnt, dass Leon ihn nicht liebte. Sonst hätte er doch nach über einem Jahr wenigstens mal in Erwägung gezogen, offen zu ihrer Beziehung zu stehen. Für Leon war es eben keine richtige Beziehung gewesen, sondern nur eine Affäre. Aber das hätte er Melvin nicht mit so herzlosen Worten sagen müssen, auch wenn der schon insgeheim befürchtet hatte, dass diese Liebe einseitig war. Es tat schrecklich weh, und Melvin konnte nur hoffen, dass es bald besser werden würde.
Aber wie sehr ihm die Trennung immer noch zusetzte, zeigte sich an diesem Abend, als er von der Arbeit heimkam und seinen Anrufbeantworter abhörte. Leons Stimme versetzte ihm Stiche ins Herz. Zu hören, was er da von sich gab noch viel mehr. Jetzt plötzlich? Nachdem seine Familie nun wusste, dass er schwul war, hatte er beschlossen, dass er Melvin vermisste? Aber kein Wort, dass es mehr für ihn war. Ja, Freundschaft und Sex, aber das war auch alles!
Leon ging es mal wieder nur um sich selbst! Er vermisste was? Und weil das so war, glaubte er wirklich, dass Melvin noch mal auf ihn hereinfallen würde? Leon war klar, wie sehr er Melvin verletzt hatte? Hatte dieser Mistkerl auch nur ein einziges Mal wirklich darüber nachgedacht, was er Melvin angetan hatte? Nein, offenbar nicht, denn dann würde er nicht einfach denken, dass mit ein paar Worten alles wieder so sein würde wie früher!
Das tat nicht nur weh, es machte Melvin auch unglaublich wütend. Mr. Egoismus vermisste den Sex und die Freundschaft und glaubte offenbar, dass er nur mit dem Finger zu schnipsen brauchte? Na, dem würde er jetzt was anderes erzählen! Melvin war völlig außer sich, er zitterte vor Wut. Wie schade, dass Leon nicht persönlich ans Telefon ging! Aber egal, er konnte seinen Frust auch an der Mobilbox auslassen!
»Du willst noch eine Chance? Eher friert die Hölle zu! Du hattest deine Chance, und es ist mir so was von scheißegal, was du willst oder ob du mich vermisst! Ich hoffe, es geht dir so richtig mies dabei! Meinetwegen kannst du verrecken, das interessiert mich nicht mehr. Ruf mich nie wieder an!«
Wütend trennte Melvin die Verbindung. Er musste hier raus, sofort! Weg, in einen der Clubs. Tanzen, ficken, irgendwie diese Wut loswerden. Dieses Chaos, das in ihm tobte. Zorn, Schmerz, tiefe Traurigkeit. Mit einem wütenden Schrei stürmte Melvin ins Bad und riss sich die Büroklamotten regelrecht vom Leib.
Unter der Dusche und während er sich anzog, versuchte er jeden Gedanken an Leon zu verdrängen. Ganz gelang es ihm nicht, und das verschlechterte seine Laune noch mehr. Aber gerade das, diese finstere Aura, schien die Typen anzuziehen wie das Licht die Motten. Als Melvin Stunden später nach Hause kam, war er nicht nur mit einem Kerl im Darkroom gewesen. In dieser Nacht war er so oft gekommen wie schon lange nicht mehr. Doch das war nur Druckabbau, der unbändige Zorn war dadurch zwar verschwunden, aber wie immer waren der Schmerz und die Traurigkeit geblieben.
Müde strich er sich mit den Händen übers Gesicht und sah seufzend zu dem Anrufbeantworter, der immer noch blinkte. Das Ding war so eingestellt, dass es die ältesten ungehörten Nachrichten zuerst abspielte. Nach Leon hatte wohl noch jemand angerufen, darauf hatte Melvin in seinem Zorn nicht geachtet. Wahrscheinlich war das sein Paps gewesen. Es war vier Uhr am Morgen, also eindeutig nicht die richtige Zeit, um irgendwen zurückzurufen, aber Melvin wollte wenigstens die Nachricht noch abhören, bevor er schlafen ging.
Doch es war nicht die Stimme seines Vaters, sondern die von Leon. Immer wieder drückte Melvin die Taste zum Wiederholen der Nachricht. Er konnte nicht fassen, was er da hörte.
Ich liebe dich, Melvin. Bitte ruf mich an.
Ich liebe dich …? Da waren sie, die Worte, auf die Melvin so lange gewartet hatte. Aber jetzt war es wohl wirklich zu spät. Denn dummerweise musste er ja unbedingt seine Wut loswerden, bevor er die zweite Nachricht gehört hatte. Ach du Scheiße! Was hatte er da nur angerichtet?
Er konnte leider nicht zurücknehmen, was er auf Leons Mobilbox hinterlassen hatte. Das hatte sein Freund sicher schon längst abgehört, er hatte ja auf den Rückruf gewartet. Zwar konnte Melvin sich nicht an jedes einzelne Wort erinnern, aber er hatte in seiner Wut einige sehr unschöne Dinge gesagt. Es waren Worte, die Leon sicher sehr verletzt hatten und von denen Melvin sich wünschte, dass er sie nie ausgesprochen hätte. Was nun?
***
Melvin hatte nicht geschlafen. Die restliche Nacht hatte er damit verbracht, sich die beiden Nachrichten wieder und wieder anzuhören. Erst nach einer Weile war ihm aufgefallen, dass der AB bei der ersten Nachricht wohl abgeschaltet hatte. Wenn man genau hinhörte, merkte man, dass Leon unterbrochen worden war. Aber was nutzte ihm diese Erkenntnis jetzt?
Er schämte sich für seine Reaktion auf die erste Nachricht. Selbst wenn es die zweite nicht gegeben hätte … Beim erneuten Abhören der ersten musste er sich eingestehen, dass er wohl etwas hinein interpretiert hatte, was einfach nicht vorhanden war. Leon hörte sich da schon so traurig an.
Hätte er nur besser hingehört! Wäre er nur nicht gleich ausgetickt! Völlig übernächtigt saß er an diesem Morgen am Küchentisch und hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Zigmal hatte er im Lauf der Nacht bei Leon angerufen, immer mit unterdrückter Rufnummer, damit sein Freund das Gespräch überhaupt annahm. Jedesmal war Melvin darauf vorbereitet, ein hastiges »Verzeih mir, leg bitte nicht auf« zu rufen. Aber es klingelte und klingelte, nicht einmal die Mailbox ging ran.
Am liebsten hätte sich Melvin sofort in sein Auto gesetzt und wäre losgefahren. Aber zuerst musste er schlafen, damit er nicht unterwegs hinter dem Steuer einpennte, und die Fahrt würde Stunden dauern. Insgesamt eine lange Zeit, in der Leon mit den harten Worten auf der Mobilbox und ohne weitere Nachricht klarkommen müsste, und das wollte Melvin auf keinen Fall. Er musste dringend mit seinem Freund reden, ihm sagen, dass es nicht so gemeint war, dass es ihm leid tat.
Diesmal wurde schon nach dem dritten Klingeln abgenommen, aber die hastige Entschuldigung blieb Melvin regelrecht im Hals stecken. Denn die tiefe Stimme, die sich meldete, gehörte definitiv nicht seinem Freund. »Bei Leon Schneider.«
Melvin warf einen Blick zur Uhr. Es war erst kurz vor acht und irgendein Kerl ging an Leons Handy?
»Ist Leon da?«
»Er schläft. Kann ich was ausrichten?«
Leon schlief noch? Ein eisiger Klumpen bildete sich in Melvins Bauch. Das bedeutete dann wohl, dass der Typ die letzte Nacht mit seinem Freund verbracht hatte. Es konnte nicht weit her sein mit der Liebe, wenn er sich so schnell getröstet hatte.
Vorsicht, ermahnte er sich. Er selbst hatte gleich mehrere Kerle gefickt, um sich abzulenken. Wie war noch mal der Spruch? Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Und angesichts der ohnehin schon ziemlich verfahrenen Situation war es wohl besser, wenn er sich Klarheit verschaffte. Also fragte er den Typen einfach.
»Bist du ein One-Night-Stand oder sein Freund?«
»Was? Spinnst du? Ich bin ganz sicher kein One-Night-Stand! Wer bist du überhaupt?«
Melvin antwortete nicht, er legte einfach auf. Tränen liefen über seine Wangen. Leon hatte also bereits einen anderen Kerl. Warum zum Teufel hatte er Melvin dann gesagt, dass er ihn liebte? Hatte er ihn mit diesen Worten nur einwickeln wollen? Oder tanzte er jetzt auf zwei Hochzeiten?
Melvin konnte nicht verstehen, was das sollte, er wusste nur, dass es schrecklich weh tat. Mühsam drängte er die Tränen zurück, doch als er sich ein paar Minuten später im Bett verkrochen hatte, ließ er dem Schmerz freien Lauf. So schwer ihm das auch fallen würde: Es war wohl Zeit, das Kapitel Leon zu schließen und ein neues aufzuschlagen.
An diesem Maitag war es angenehm warm draußen. Leon saß auf der Bank im Park der Klinik und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Zwei Monate waren vergangen, seit seine Welt zusammengebrochen war. Es war keine leichte Zeit gewesen. War es immer noch nicht, auch wenn er das Schlimmste wohl hinter sich hatte.
Am Anfang hatte er sich oft zurück in dieses friedvolle Vergessen gewünscht, und dann die Tatsache verflucht, dass Thomas an jenem Abend voller Sorge ums Haus herum gegangen war und durch das Fenster entdeckt hatte, was Leon getan hatte. Er seufzte tief. Selbstmordversuch. Früher hätte er sich nicht vorstellen können, dass ihn jemals irgendetwas so weit bringen würde.
Weiterhin akut suizidgefährdet hatte der Psychologe nach ihrem ersten Gespräch festgestellt. Okeee … Das war er gewesen, daran gab es nichts zu rütteln. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er nicht mehr den Wunsch verspürt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Manchmal, an schlechten Tagen, kam der Gedanke ab und zu wieder hoch, aber er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Tod. An solchen Tagen suchte er inzwischen von sich aus Hilfe. Durch die Therapie hatte er gelernt, mit seiner Situation umzugehen.
Erneut seufzte Leon tief auf. Es tat nach wie vor verflucht weh, auch nur an Melvin zu denken, aber er hatte die Realität akzeptiert. Es war ein wirklich schmerzvoller Prozess mit langen, zutiefst aufwühlenden und verstörenden Gesprächen, in denen sein Psychologe alles mit ihm aufgearbeitet hatte. Seit vier Wochen gehörte auch eine Gruppentherapie zum Behandlungsplan, und das hatte ihm ebenfalls sehr geholfen.
An den Gruppensitzungen würde Leon auch weiterhin zweimal die Woche teilnehmen, den Anfahrtsweg nahm er gerne in Kauf. Kaum zu glauben, dass man ihn an diesem Tag überhaupt wieder in ein halbwegs normales Leben entließ. Ein wenig fürchtete er sich davor, aber er würde das packen. In den letzten Wochen hatte er gelernt, dass mehr Stärke in ihm steckte, als er gedacht hatte.
Außerdem hatte er Thomas an seiner Seite. Der hatte sich als wirklich guter Freund gezeigt, und Leon wollte ihn nicht mehr missen. Sie waren sich sehr nah gekommen, aber beide betrachteten den anderen wie einen Bruder. Das war auch gut so. Noch eine Freundschaft wollte Leon nicht mit Sex kaputtmachen, so wie die zu Melvin. Das Herz tat ihm weh, als er an ihn dachte und er musste schlucken.
»Hey«, sagte in diesem Moment eine tiefe Stimme leise.
Leon öffnete die Augen und lächelte Thomas zu. Der ließ sich neben ihm nieder, beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Alles Gute zum Geburtstag, Leon.«
»Danke. Für alles.« Leon lehnte sich kurz an Thomas und seufzte. »Habe ich mich überhaupt schon bei dir bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast?«
»Das musst du nicht.«
»Doch, ich denke schon. Denn ich bin froh, dass ich noch am Leben bin. Also danke dafür.«
Thomas lächelte ihm warm zu und drückte ihn kurz an sich. »Es ist schön, dass du es so siehst. Eine ganze Weile hörte sich das ja anders an.«
»Ja, und das tut mir leid. Ich habe dir ziemlich viel Kummer gemacht. Sorry.«
Leon holte tief Luft. Er hatte dieses Thema bisher nicht zur Sprache bringen wollen, aber bevor sie losfuhren, sollte er das wohl besser tun.
»Hör mal … und werde bitte nicht sauer, aber … Tust du das alles, weil du dir Vorwürfe machst? Der Doc hat mir vor einiger Zeit von eurem Gespräch erzählt.«
Einen Moment lang schwieg Thomas verblüfft.
»Das wusste ich nicht. Ich hatte ihm gesagt, dass er dir das alles erzählen kann, aber du hast nie etwas erwähnt, deshalb dachte ich … Nein, Leon. Ich tue das alles, weil ich dich wirklich mag. Du hast mich von Anfang an sehr an meinen kleinen Bruder erinnert, und du bist so ein netter Kerl. Es stimmt, ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich dir Melvins Nummer gegeben und dich gedrängt habe, ihn anzurufen. Und weil ich an jenem Morgen nicht daran gedacht habe, dass es vielleicht Melvin ist, der da anruft. Die Nummer war unterdrückt, und das ist mir erst sehr viel später in den Sinn gekommen. Ich war total durch den Wind, nachdem du …«
Als sein Freund abbrach und seufzte, lehnte sich Leon an ihn und legte kurz den Kopf auf seine Schulter.
»Nachdem ich versuchte habe, mich umzubringen. Du kannst es ruhig aussprechen. Du musst mich nicht immer in Watte packen. Weißt du … Es war richtig, dass du mir die Nummer gegeben hast. Ja, ich habe mir eine andere Reaktion von Melvin gewünscht, aber es ist gut zu wissen, woran ich bin. Und ob wirklich er es war, der an jenem Morgen nach meinem Selbstmordversuch angerufen hat, und wenn ja warum, werden wir wohl nie erfahren. Ich wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen, irgendwas mit ihm zu klären. Also vergiss den Gedanken, dass sich das zwischen uns vielleicht wieder eingerenkt hätte, wenn es Melvin war und du ihm erzählt hättest, was los ist. Ich glaube auch nicht, dass ich bereit gewesen wäre, mit ihm zu reden.«
»Und jetzt? Wirst du noch mal Kontakt mit ihm aufnehmen?«
»Darüber habe ich lange nachgedacht, und auch viel mit dem Doc geredet. Einerseits wäre es für mich vielleicht besser, schon um einen klaren Schlussstrich zu ziehen, aber …« Leon lächelte traurig. »Seit seinem Anruf sind inzwischen zwei Monate vergangen, und ich denke, für Melvin wäre es nicht gut, wenn ich die ganze Sache nun wieder aufrühre. Mal davon abgesehen, dass er nicht wollte, dass ich mich noch mal bei ihm melde.«
»Aber wenn er das an jenem Morgen war -«
»Könnte er genauso gut angerufen haben, um mich wieder zur Sau zu machen«, unterbrach ihn Leon. »Aber selbst wenn nicht … Meinst du nicht auch, dass er nach den vielen Wochen inzwischen endgültig mit der Sache abgeschlossen hat? Ich habe ihm damals sehr, sehr wehgetan, und ich kann seine Reaktion wirklich verstehen, auch wenn sie mir nicht gefällt. Das Letzte was ich will, ist ihn noch mehr zu verletzen. Warum soll ich bei ihm gerade erst verheilte Wunden aufreißen? Nur weil ich besser klarkommen würde, wenn wir uns aussprechen würden? Das wäre ziemlich egoistisch. Deshalb werde ich ihn in Ruhe lassen.« Leon schluckte schwer. »So weh es auch tut … Ich hoffe, er findet einen Mann, mit dem er wirklich glücklich werden kann, und der ihn verdient.«
Er brachte ein klägliches Lächeln zustande. »Und nun lass uns meine Sachen holen und fahren. Du hast mir einen Geburtstagskuchen versprochen.«
Thomas zögerte, er wollte offenbar etwas sagen, doch dann ließ er es, und Leon war dankbar dafür. Sein Freund stand auf und zog ihn mit sich hoch.
»Den Kuchen bekommst du. Es gibt nur ein Problem mit der Dekozahl.«
»Dekozahl?« Leon schaute ihn verwirrt an.
»Ja, du weißt schon, diese Zahlen, die man zur Dekoration in die Kuchenmitte steckt. Ich hab’ keine einzelnen Ziffern bekommen und deshalb die 25 genommen.«
»Hey! Du hast mich ein Jahr älter gemacht?!«, gab Leon sich gespielt empört.
Thomas grinste breit. »Wir heben sie auf und verwenden sie nächstes Jahr noch mal. Dann stimmt es.«
Leon grinste zurück, und irgendwie fühlte sich das sehr gut an. Er war noch weit davon entfernt, glücklich zu sein, aber er schaute wieder mit Zuversicht in die Zukunft. Wer wusste schon, was das Leben noch alles für ihn bereithielt?
Sechs Jahre später
Es war für Melvin irgendwie sehr seltsam, wieder in seinem Elternhaus zu sein. Nichts schien sich in den letzten Jahren verändert zu haben. Nicht sein Jugendzimmer, und erst recht nicht seine Gefühle. Der Anblick des Betts, in dem er und Leon zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, reichte aus, um alles wieder hochkochen zu lassen. Shit!
»Bist du in Ordnung, Junge?« Die besorgte Stimme seines Vaters brachte Melvin dazu, sich umzudrehen.
»Keine Ahnung, Paps. Eigentlich dachte ich, es würde mir nichts mehr ausmachen, aber …«
Sein Vater wusste offenbar ganz genau, was er meinte, denn er nickte verständnisvoll. »Vielleicht kannst du damit abschließen, wenn du endlich mit Leon redest. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber du solltest es versuchen.«
Mit Leon reden? Dagegen sträubte sich alles in Melvin, und Leon hatte wahrscheinlich noch weniger Bock auf ein solches Gespräch. Nach der wutentbrannten Nachricht, die Melvin damals auf der Mobilbox hinterlassen hatte, stand seinem ehemaligen Freund sicher nicht der Sinn danach, sich noch irgendetwas von dem anzuhören, was Melvin ihm zu sagen hätte. Dabei wäre das einiges.
Es gab Dinge, die bereute man über sehr lange Zeit, vielleicht sogar ein Leben lang. Dazu gehörte die Tatsache, dass er seinerzeit nicht versucht hatte, alles zu klären. Anfangs war er einfach zu verletzt gewesen, und auch zu zornig. Da hatte so einiges zusammengespielt. Die Sache mit diesem anderen Typen und Melvins Vermutung, dass Leon seine Liebeserklärung nicht ernst gemeint hatte, waren ein Teil davon gewesen.
Hinzu kam die Unsicherheit, weil Leon es während ihrer Beziehung, die immerhin über ein Jahr gedauert hatte, nie in Erwägung gezogen hatte, offen zu Melvin zu stehen. Und nicht zuletzt waren da noch Leons Worte, die eigentlich sehr gut zu seinem Verhalten passten. Sorry, aber für mich ist es nur Sex unter Freunden. Wir sollten das wohl besser beenden.
Diese Worte hatten sich regelrecht in Melvins Gehirn gebrannt. Was also, wenn sie sich versöhnten und Leon ihn dann wieder verließ? Wenn er sich auch weiterhin für ihre Beziehung schämte? So konnte und wollte Melvin nicht leben. Er wollte jemanden, der offen zu ihm stand und ihm auch zeigte, dass er ihn liebte.
Mit der Zeit hatte Melvin etwas Abstand gewonnen und konnte logischer über die Sache nachdenken. Womöglich hatte er Leon unrecht getan. Vielleicht hatte der seine Liebeserklärung durchaus ernst gemeint, und dieser Typ war einfach nur ein Freund? Das hätte er an jenem Morgen herausfinden können, doch stattdessen hatte er verletzt den Hörer aufgelegt.
Als Melvin es endlich schaffte, die ganze Sache mit etwas Abstand zu betrachten, waren Wochen ins Land gegangen. Und je mehr Zeit verstrichen war, desto weniger Mut hatte er gehabt, Leon doch noch mal anzurufen. Darüber hatte er dann irgendwann den richtigen Zeitpunkt verpasst und sich schließlich nie wieder bei Leon gemeldet. Das bereute er heute noch.
Man sollte meinen, dass es inzwischen ein Leichtes wäre, Leon einfach anzurufen. Sie hatten beide ausreichend Abstand gehabt. Es waren sechs Jahre vergangen, sie waren keine 23 mehr, sondern erwachsen. Da sollte er echt kein Problem damit haben, ein klärendes Gespräch mit Leon zu führen, oder? Das sagte ihm jedenfalls sein Verstand. Doch leider hatten gerade wieder seine Gefühle die Führung übernommen.
In Melvin herrschte ein ziemliches Chaos. Einerseits wollte er nichts mehr, als endlich wieder mit Leon reden, die Mauern zwischen ihnen einreißen und noch mal von vorne beginnen. Andererseits hatte er wirklich eine Scheißangst. Vor Leons Reaktion, wenn er ihn anrief oder bei ihm auftauchte, und davor, dass sein Freund nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Was verständlich wäre nach der Nachricht, die Melvin damals hinterlassen hatte.
Aber von dieser Angst hatte er sich jahrelang beherrschen lassen, und er wollte das nicht mehr. In Hamburg, Hunderte Kilometer entfernt von hier, hatte er das alles ziemlich gut verdrängen können. Da bestand nicht die Möglichkeit, Leon jederzeit auf der Straße zu begegnen, er gehörte nicht mehr zu Melvins alltäglichem Leben. Natürlich hatte er sehr oft an ihn gedacht, aber es war mit der Zeit einfacher geworden, das alles von sich zu schieben und sich abzulenken.
Aber hier? Seine Reaktion auf sein altes Zimmer sagte doch wohl schon alles. Melvin war froh, dass er nur ein paar Tage hier übernachten musste, bis seine neue Wohnung fertig renoviert war. Er liebte sein Elternhaus und war froh, wieder in der Nähe seines Vaters zu sein, aber in diesem Zimmer waren die Erinnerungen einfach zu intensiv.
Hier hatten er und Leon unzählige Stunden miteinander verbracht. Zuerst als Schulkameraden, dann viele Jahre als beste Freunde und schließlich als Paar. Gemeinsame Hausaufgaben, lange Abende vor der Spielkonsole oder dem Fernseher, gegenseitiges Trösten beim ersten Liebeskummer. In diesem Zimmer hatten sie gemeinsame Urlaube geplant, oder einfach geplaudert.
An Melvins 22. Geburtstag hatte Leon ihn da drüben am Fenster das erste Mal geküsst und ein paar Tage später hatten sie in dem schmalen Bett den ersten Sex miteinander gehabt. Aber hier hatte sich Leon auch von ihm getrennt, und das war immer noch mehr als präsent. Leons Reaktion, als Melvin ihm seine Gefühle gestanden hatte, tat nach sechs Jahren noch genauso weh wie damals.
Doch vielleicht war es endlich an der Zeit, alles aus dem Weg zu räumen, was zwischen ihnen stand. Denn es gab so viele andere, sehr schöne Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Tief in seinem Innern wusste Melvin, dass sein Vater recht hatte. Es war an der Zeit, die Sache mit Leon endlich zu klären und mit ihm zu reden. Wenn sein Freund nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, dann musste er das akzeptieren.
Aber wenigstens versuchen wollte und musste er es. Er seufzte. Mit Leon abschließen? Das würde ihm wohl ohnehin nie gelingen, aber vielleicht konnte er endlich wieder nach vorn schauen, wenn sie sich ausgesprochen hatten. Ob nun mit oder ohne Leon. Dabei wünschte er sich wirklich, dass Leon wieder ein Teil seines Lebens war. Denn er liebte ihn, immer noch.
»Lass uns einen Kaffee
trinken«, sagte sein Vater weich und riss ihn damit aus seinen
Erinnerungen und Gedanken.
Melvin nickte nur und verließ
fast fluchtartig den Raum. Sein Vater sagte nichts dazu, als er
später am Abend ins Gästezimmer umzog. Melvin hielt es in
seinem alten Zimmer einfach nicht aus. Viel zu groß war die
Sehnsucht nach Leon geworden. Und deshalb musste er nun endlich mal
den Arsch hochbekommen, seine Ängste zur Seite schieben und mit
Leon reden. Er wollte ihn zurück, als Freund und als Mann.
***
Melvin hatte leider keine Ahnung, wann Leon anfing zu arbeiten. Um kurz vor sieben Uhr morgens anzurufen, wenn er vielleicht erst später zur Arbeit musste, würde bedeuten, ihn aus dem Schlaf zu reißen. Das konnte allerdings auch Vorteile haben. Früher, wenn Leon noch verschlafen war, dann war er total süß verpeilt. Falls sich das nicht geändert hatte, bestand die Chance, dass er Melvin zuhörte und nicht direkt wieder auflegte.
Alles in ihm kribbelte und ihm war übel, so aufgeregt war er, als er die vertraute Nummer wählte. Nach dem vierten Freizeichen wurde das Gespräch angenommen, und Leon klang hellwach.
»Leon Schneider.«
Gott, es war so schön, endlich wieder seine Stimme zu hören! Selbst wenn es nur diese beiden Worte waren.
»Hallo?«, hörte Melvin seinen Freund fragen und riss sich zusammen.
»Ich rufe an, um mich zu entschuldigen«, brachte er hervor. Shit, seine Stimme hörte sich total kratzig an. Er räusperte sich und versuchte es noch mal. »Bitte leg nicht auf. Können wir reden?«
Einen Moment lang war es völlig still. »Melvin?«, fragte Leon dann überrascht.
»Ja, ich bin es. Bitte, können wir reden?«
Wieder kurze Stille und Melvin schlug das Herz bis zum Hals. Er hörte Leon tief Luft holen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich mit dir reden will. Lass mich ein paar Tage darüber nachdenken. Ich melde mich bei dir.«
Enttäuschung durchflutete Melvin, als Leon einfach auflegte, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, etwas zu erwidern. Nun ja, was hatte er erwartet? Dass Leon sofort einem Treffen zustimmen würde nach allem, was passiert war? Wenigstens hatte er nicht direkt »Nein« gesagt, das ließ Spielraum für Hoffnung.
Aber nachdem Melvin endlich seinen Entschluss gefasst hatte, wollte er Nägel mit Köpfen machen. In zwei Stunden musste er seinen neuen Job antreten. Duschen und der Weg zur Arbeit würden ungefähr eine Stunde dauern. Also blieb ihm noch eine Stunde Zeit, sich Gedanken zu machen, wie er Leon zurück gewinnen könnte. Er wollte ihm zeigen, wie wichtig er ihm war, und er hatte da auch schon eine Idee.
Als er später das Haus verließ, hatte er im Internet gefunden, was er gesucht hatte. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er das Ganze gleich in die Tat hätte umsetzen können, aber das musste warten bis nach der Arbeit. Doch etwas konnte er direkt tun. Deshalb hielt er beim nächsten Blumengeschäft und kaufte eine rote Rose sowie eine Karte mit einem »Verzeih mir«-Motiv. War das kitschig? Und wenn schon! Er wollte Leon zurück, da waren ihm auch solche Mittel recht.
Auf dem Weg zum Büro stoppte er vor dem kleinen Haus, in dem Leons Großeltern früher gewohnt hatten. Tatsächlich stand nun Leons Name an der Klingel. Zu gerne hätte Melvin den Knopf gedrückt, aber sein Freund hatte ihn um Bedenkzeit gebeten. Er wollte ihn nicht zu sehr bedrängen, deshalb klingelte er nicht.
Die Karte warf er in den Briefkasten, die Rose steckte er oben in den Schlitz. Leon konnte sie unmöglich übersehen, und falls er schon weg war, würde das Plastikröhrchen mit Wasser, in dem die Blume steckte, sie bis zum Abend frisch halten. Einen Moment lang zögerte Melvin noch, dann drehte er sich seufzend um und ging zu seinem Wagen.
Als er einstieg, sah er, dass sich die Gardine am Fenster neben der Tür bewegte und sein Herz raste los. Er hatte keine Ahnung, ob das Leon war, aber er hob die Hand zum Gruß und wartete noch einen Moment. Vielleicht kam Leon ja heraus und … Nein. Die Haustür öffnete sich nicht.
Aber deswegen würde Melvin noch lange nicht aufgeben. Jetzt die Rose und die Karte, heute Abend würde er seine andere Idee in die Tat umsetzen. Solange Leon ihm nicht klipp und klar sagte, dass er abhauen sollte, würde er nicht aufgeben. Und selbst dann würde er kämpfen, beschloss er. Das hätte er schon vor Jahren machen sollen. Diesmal würde er nicht die Flinte ins Korn werfen.
Im Krieg und in der Liebe war alles erlaubt, und er liebte Leon. Solange er seinem Freund nicht weh tat, war ihm fast jedes Mittel recht, um den Mann wieder für sich zu gewinnen. Da musste Leon sich dann eben auch mit kitschigen Gesten abfinden. Melvins Eroberungsfeldzug hatte begonnen.
Den ganzen Tag stand Leon irgendwie neben sich. Nach sechs Jahren aus heiterem Himmel Melvins Stimme zu hören, hatte ihn eiskalt erwischt. Sein Ex wollte sich also entschuldigen und reden? Leon wusste nicht, ob er das auch wollte und ob es gut für ihn war. Damals war es wirklich schwer gewesen, aus diesem tiefen Loch wieder ganz herauszukommen. Schwer und verflucht schmerzhaft, aber er hatte es geschafft.
Inzwischen hatte er sich ein neues Leben aufgebaut, ohne Melvin. Er dachte noch sehr oft an ihn, ja. Aber Melvin gehörte nicht mehr zu diesem neuen Leben. Leon wollte nicht, dass er vorübergehend ein Teil davon wurde und dann wieder ging. Denn darauf würde es wohl im Endeffekt hinauslaufen. Das war ihm klar geworden, als er Melvin vor seinem Haus entdeckt hatte.
Das Telefonat war schon ein Schock gewesen, aber seinen Freund zu sehen, das hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Offenbar besuchte Melvin seinen Vater und wollte die Gelegenheit nutzen, die Dinge zwischen ihnen zu klären. Aber was dann? Melvin würde zurück nach Hamburg fahren, wo er dem Autokennzeichen nach immer noch wohnte. Er würde erneut aus Leons Leben verschwinden und ihn zurücklassen.
Leon wollte nicht noch einmal an dem Punkt landen, an dem er damals gewesen war. Sicher, er war älter geworden und hatte inzwischen mehr Lebenserfahrung, aber was Melvin betraf, schaltete sich sein Verstand nur allzu rasch ab. Leon gestand es sich selbst endlich ein: Er liebte Melvin immer noch, daran würde sich vielleicht auch nie etwas ändern. Dem anderen Mann für kurze Zeit wieder einen Platz einzuräumen, würde ihm wohl endgültig das Herz brechen. Die möglichen Konsequenzen jagten ihm gehörige Angst ein.
Als er einfach den Hörer aufgelegt hatte, wollte er wirklich in Ruhe darüber nachdenken. Er hätte auch nicht gewusst, was er in diesem Moment noch sagen sollte. Aber Melvin war damit scheinbar alles andere als einverstanden. Offenbar war ihm die Aussprache wirklich wichtig. Das machten die Karte und die Rose deutlich klar. Irgendwie fand Leon die Geste schön, aber das machte es ihm nicht leichter. Und musste es ausgerechnet eine rote Rose sein? Was wollte ihm sein Ex damit sagen? Dass er noch Gefühle für ihn hatte?
Das konnte sich Leon kaum vorstellen. Immerhin waren keine sechs Wochen oder Monate vergangen, sondern sechs Jahre. Sechs verflucht lange Jahre, in denen jeder von ihnen sein eigenes Leben gelebt hatte. Noch dazu hatte Melvin damals klipp und klar gesagt, dass er nichts mehr mit Leon zu tun haben wollte. Vielleicht hatte Melvin keine Ahnung, was eine rote Rose in der Sprache der Blumen bedeutete. Wahrscheinlich hatte sie ihm einfach am Besten gefallen, und das hätte dann wohl genauso gut irgendeine andere Blume sein können. Und von Gefühlen war in der Karte nicht die Rede. Es tut mir sehr leid. Bitte lass uns reden. Melvin.
»Was ist mit dir los, Kleiner?« Jos Stimme riss Leon aus seinen Gedanken.
»Hm?«
»Du starrst schon den ganzen Vormittag Löcher in die Luft und bist völlig abwesend.« Jo deutete auf Leons Teller, wo der sein Mittagessen gedankenverloren mit dem Besteck hin und her schob, ohne etwas zu essen. »Du bist in Gedanken meilenweit weg. Was ist los?«
Leon zögerte kurz, doch dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Er vertraute Jo, mit ihm konnte er über alles reden. Es war seltsam, dass sich nach der Sache im vergangenen Sommer aus der kollegialen Sympathie eine so tiefe Freundschaft entwickelt hatte. Immerhin hatte Leon sich von Jos Freund im Darkroom eines Clubs ficken lassen, was fast das Ende der Beziehung zwischen Lukas und Jo bedeutet hätte.
Aber die beiden hatten dann doch noch die Kurve gekriegt, und erstaunlicherweise hatte sich – rein platonisch – eine tiefe Freundschaft zwischen Leon und dem Paar entwickelt. Auch die anderen aus der Clique waren zu sehr guten Freunden geworden. Besonders mit Raik, dem sanften Riesen, verstand Leon sich super. Er war bisher auch der einzige gewesen, dem Leon von dem Selbstmordversuch erzählt hatte. Außer Raik und Thomas, der immer noch sein bester Freund war, wusste es niemand. Jo war ziemlich geschockt, als er nun davon erfuhr, das war ihm deutlich anzumerken.
»Puh. Das ist echt … Süßer, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, außer: Rede bitte mit uns, bevor du noch mal auf so dumme Gedanken kommst! Und was Melvin betrifft: Ich kann deine Vorbehalte verstehen, aber irgendwann musst du auf die eine oder andere Art mal mit der Sache abschließen. Du hast Lukas und mir vor ein paar Monaten einen verdammt guten Rat gegeben: Miteinander reden. Ohne dich wären wir wohl nicht zusammen, und jetzt rate ich dir dasselbe. Rede mit Melvin.«
Leon seufzte. Vielleicht hatte Jo recht, aber er wusste im Moment wirklich nicht, was er wollte, oder was gut für ihn war. Abends lief er unruhig in seiner Wohnung auf und ab. Irgendwann legte er sich auf das Sofa und starrte in die Dunkelheit, während seine Gedanken wie auch die Gefühle Achterbahn fuhren. Es war schon fast ein Uhr, als er einen Wagen vor dem Haus hörte, und kurze Zeit später die Klappe des Briefkastens. Überrascht tappte Leon in den Flur, und als er die Haustür öffnete, sah er gerade noch einen Wagen mit Hamburger Kennzeichen wegfahren. Melvin!
Verblüfft schaute Leon in den Briefkasten und hielt gleich darauf eine CD in der Hand. Was sollte das denn nun? Neugierig fuhr er seinen Laptop hoch und legte die CD ein. Ein paar Minuten später liefen ihm Tränen über das Gesicht. Es hörte sich etwas schräg an, obwohl Melvin eigentlich eine schöne Stimme hatte. Aber darauf kam es gar nicht an, denn auch wenn Leon in diesem Moment nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, war die Botschaft dieses Songs kaum misszuverstehen. Hard to say I’m sorry.
***
»Du siehst nicht aus, als hättest du viel geschlafen.« Jo schaute seinen Kollegen forschend an.
»Um ehrlich zu sein, fast gar nicht«, erwiderte Leon, seufzte tief und erzählte seinem Freund von der CD.
»Ihr solltet wirklich miteinander reden. Frag ihn, was das zu bedeuten hat. Wenn du Melvin immer noch liebst, und er dich auch, solltest du euch eine zweite Chance geben.«
Leon verzog das Gesicht. »Wie soll das gehen, er in Hamburg und ich hier?«
»In Hamburg gibt es auch Jobs für Webdesigner, davon solltest du das nicht abhängig machen. Da werdet ihr schon einen Kompromiss finden.«
Leon seufzte erneut. Jo hatte recht, das sollte wirklich keine Rolle spielen. Aber da gab es einige andere Dinge, die es taten, und es lief alles auf das eine hinaus: Er hatte Angst. Fragte sich nur, ob er sich von dieser Angst beherrschen ließ, oder ob er das Risiko einging und Melvin wieder in sein Leben ließ. Wenn der das überhaupt wollte. Vielleicht interpretierte er in den Song ja doch zu viel hinein.
In der Mittagspause nahm er seinen ganzen Mut zusammen und rief Melvin an. Sein Herz schlug wie verrückt, als der das Gespräch entgegennahm und ihn mit warmer Stimme begrüßte.
»Leon. Es ist schön, dass du anrufst.«
»Störe ich dich?«
»Nein, gar nicht. Ich mache gerade Mittagspause.«
Alarmiert runzelte Leon die Stirn. »Mittagspause? Du bist schon wieder in Hamburg?«
Melvin schwieg kurz. »Nein. Ich habe seit gestern hier einen Job. Ich gehe nicht zurück nach Hamburg.«
Leon holte tief Luft. »Du bist wieder da?«
»Ja, ich bin wieder da, und ich habe nicht vor, noch mal wegzugehen.«
Diese Neuigkeit musste Leon erst einmal verdauen, denn das änderte vielleicht alles. Wenn Melvin hierblieb, hatten sie Zeit, sich neu kennenzulernen, einander wieder näherzukommen.
»Leon?«
»Ich bin noch dran. Ich … Das hat mich jetzt ziemlich überrascht. Ich dachte, du bist nur zu Besuch bei deinem Vater.«
Es dauerte einen Moment, bis Melvin etwas erwiderte, und er klang enttäuscht. »Ich hatte gehofft, du freust dich wenigstens ein bisschen, dass ich wieder da bin.«
»Ich … Ja, ich finde es gut, aber …« Leon seufzte erneut. »Es gibt da einiges, über das wir sprechen sollten. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.«
»Dann lass uns bitte miteinander reden und die Dinge klären. Du fehlst mir.«
Leons Herz schlug Purzelbäume. »Okay. Lass uns reden. Aber nicht am Telefon, und ich brauche ein wenig Zeit, um mir vorher über einige Dinge klar zu werden. Wie wäre es am Samstag?«
»Samstag erst?« Jetzt war Melvin die Enttäuschung ganz deutlich anzuhören. »Geht es nicht früher?«
»Melvin … bitte dräng mich nicht.«
Ein tiefes Seufzen war am anderen Ende zu hören. »In Ordnung, dann Samstag. Aber ich kann erst gegen Abend. Meine Wohnung wird gerade renoviert, und Samstag kann ich einziehen. Ein paar Freunde helfen mir, und sie haben nur an diesem Tag Zeit. Ist das okay für dich?«
»Ja. Komm einfach am Samstag gegen Abend bei mir vorbei, wenn ihr fertig seid.«
»Mache ich. Dann … bis Samstag.«
»Ja, wir sehen uns dann. Tschüss.«
»Tschüss. Ich freue mich auf dich.«
Das ließ Leon unkommentiert und trennte die Verbindung. Samstag. Das würden vier lange Tage werden. Aber er musste wirklich zuerst über einiges nachdenken.
Jo schaute ihn kopfschüttelnd an. »Nimm’s mir nicht übel, aber langsam bekomme ich ein wenig Mitleid mit Melvin.«
»Wieso? Was hab ich denn gemacht? Ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken!«
»Hm, verstehe ich. Aber du hättest ihm trotzdem sagen können, dass dir der Song gefallen hat.«
Leon stöhnte leise auf. »Ach verflucht! Das habe ich völlig vergessen!«
Jo grinste. »Nun hast du zumindest eine Ausrede, ihn noch mal anzurufen, wenn du willst.«
Leon seufzte. Vielleicht war es besser, wenn Melvin nicht wusste, wie sehr ihm das Lied an die Nieren gegangen war. Nur für den Fall, dass er das alles total missverstanden hatte, dann stand er wenigstens nicht als verliebter Trottel da. Auch wenn er das ja eigentlich war.
***
Am Mittwochmorgen steckte wieder eine rote Rose im Briefkasten. Leon war etwas enttäuscht. Nicht, weil diesmal keine Karte mit dabei war, sondern weil er das Auto nicht gehört und somit die Chance verpasst hatte, aus sicherem Abstand einen kurzen Blick auf Melvin zu werfen.
Als er abends nach Hause kam, fand er eine weitere CD vor. In freudiger Erwartung fuhr er den Laptop hoch und musste gleich darauf lächeln. White Flag. Melvins Version fand er besser als das Original. Am Besten gefiel ihm dieser eine Satz am Ende, der nicht zum Lied gehörte. Mit diesem Schiff untergehen und aufgeben, das werde ich nicht tun, Leon.
Seufzend saß er da und hörte sich das Lied noch mal genauer an. Er musste erneut lächeln, als er begriff, was Melvin meinte. Mann, der legte sich ja wirklich ins Zeug! Und auch wenn Melvin ihn in einer gewissen Art damit etwas bedrängte, er fand es wirklich … Es war romantisch und irgendwie total süß.
Für den nächsten Morgen stellte sich Leon den Wecker früher. Diesmal bekam er mit, wie sein Freund die Rose brachte. Sein Herz schlug schneller beim Anblick des großen, dunkelhaarigen Mannes, der auf sein Haus zukam. Fast war er enttäuscht, als Melvin nicht klingelte. Aber es waren nur noch zwei Tage, bis er es tun würde.
Je näher der Samstag kam, desto nervöser wurde Leon. Aber desto sicherer war er auch, dass er Melvin noch eine Chance geben wollte. Ja, es war ein Risiko und vielleicht brach Melvin ihm noch mal das Herz. Aber Garantien gab es in der Liebe nie, und wenn er auf die letzten Jahre ohne seinen Freund zurückschaute, konnte er nicht behaupten, dass er besonders viel Glück mit anderen Männern gehabt hatte. Jeden hatte er in Gedanken mit Melvin verglichen. Dass er nie aufgehört hatte, ihn zu lieben, war ihm inzwischen klar geworden.
Er hatte immer noch eine Scheißangst, aber die Aussicht, auch in Zukunft ohne Melvin leben zu müssen, machte ihm genauso viel Angst. Sie hatten vieles zu klären. Leon hatte keine Ahnung, wie er Melvin sagen sollte, dass er damals versucht hatte, sich umzubringen. Sollte er das besser verschweigen? Aber das käme einer Lüge gleich, und auf dieser Basis wollte er eine erneute Beziehung nicht aufbauen.
Wie Melvin wohl darauf reagieren würde? Wenn sein Freund die richtigen Schlüsse zog, würde er sich die Schuld geben. Nun ja … zumindest war Melvin der Grund dafür gewesen. Ein tiefer Seufzer entrang sich Leon. Er wollte nicht, dass das zwischen ihnen stand. Am liebsten würde er das alles vergessen, aber er wusste, dass das nicht möglich sein würde. Wenn sie überhaupt noch eine Chance hatten, dann mussten sie ehrlich zueinander sein. Also mussten sie darüber reden und das aufarbeiten.
Am Donnerstagabend war Leon enttäuscht, weil der Briefkasten leer war. Keine CD. Er hatte sich schon richtig darauf gefreut. Aber spät am Abend hörte er ein Auto und das Klappern am Briefkasten. Diesmal war es ein deutscher Song. Plötzlich Perfekt. Vielleicht wurde es das wirklich, wenn sie sich endlich ausgesprochen hatten.
Am Freitag fischte Leon die vierte Rose aus dem Briefkasten, und diesmal war auch wieder eine Karte dabei. Ich freue mich unglaublich auf dich.
Ich mich auch auf dich, schoss es Leon durch den Kopf. Mit einem Lächeln stellte er die Rose zu den anderen in die kleine Vase. Morgen, dachte er. Morgen würden sie sich endlich treffen. Er war gespannt, ob er auch an diesem Abend eine CD bekommen würde. Als er nach der Arbeit nach Hause kam, fischte er sie mit zitternden Fingern aus dem Briefkasten.
Achtlos warf er seine Jacke auf das Sofa und schaltete rasch den Laptop ein. Als die CD anlief, hörte er ein tiefes Durchatmen. Dann Melvins warme Stimme: Ich wollte, dass du das weißt, bevor wir uns morgen sehen. Ich liebe dich. Leon erkannte das Lied schon bei den ersten Takten. Ihm kamen die Tränen, und als Melvin anfing zu singen, liefen sie bereits über seine Wangen. I just can’t stop loving you.
Melvin hatte richtig gute Laune. Morgen würde er endlich Leon wiedersehen, und er freute sich so sehr auf ihn. Hoffentlich gab sein Freund ihm noch eine Chance. Sie mussten über vieles reden, ja, aber sie konnten es hinbekommen. Das Wichtigste war, dass sie überhaupt redeten.
»Du denkst schon wieder an ihn«, riss Hendriks amüsierte Stimme ihn aus seinen Gedanken.
Mit einem breiten Lächeln nickte Melvin seinem besten Freund zu. »Ja, tue ich.«
Hendrik lachte und zerzauste ihm das Haar. »Mann, du bist wirklich total verliebt. Ich wusste ja, dass du noch Gefühle für ihn hast, aber mir war nicht klar, wie stark sie noch sind.«
»Mir auch nicht. Ich meine, dass ich nicht über ihn hinweg bin, war mir immer klar, aber wie sehr ich ihn liebe, das ist mir erst hier so richtig bewusst geworden.«
Er schnappte sich einen der Kartons aus Hendriks Kofferraum und trug ihn nach oben in seine neue Wohnung. Seine anderen Freunde kamen mit dem Lkw, den er für die Möbel gemietet hatte. Sie würden sicher auch bald da sein. Es war schon fast 18 Uhr, und nach der langen Fahrt waren seine Freunde bestimmt geschafft. Die Sachen konnten über Nacht im Lkw bleiben, aber Hendriks Auto wollten sie noch ausräumen.
Sobald die anderen da waren, würden seine Freunde erst einmal im Hotel einchecken und anschließend würden sie gemeinsam essen. Wenn die Jungs dann nicht zu müde waren, konnten sie noch was trinken gehen. Melvin war seinen Freunden wirklich dankbar, dass sie ihm beim Umzug halfen und dafür die lange Fahrt auf sich nahmen. Die Jungs würden ihm sehr fehlen, aber hier gab zwei Menschen, die ihm wichtiger waren: sein Paps und Leon.
Von Zeit zu Zeit würde er – hoffentlich zusammen mit Leon – nach Hamburg fahren und seine Freunde besuchen, und die hatten schon beschlossen, im nächsten Sommer hier Urlaub zu machen. Den Kontakt wollte er auf keinen Fall komplett einschlafen lassen, schon gar nicht den zu Hendrik. Sie waren sich gleich in seiner ersten Woche in Hamburg begegnet. In den Clubs dort hatte Melvin sich ausgetobt und versucht, vor dem Schmerz zu fliehen. Mit Hendrik war es nur ein einziger, kurzer Fick gewesen. Nicht berauschend, für keinen von beiden. Auf körperlicher Ebene passten sie nicht zusammen.
Aber sie waren ins Gespräch gekommen und hatten sich langsam angefreundet. Inzwischen war Hendrik sein bester Freund. Sex hatte es nie wieder zwischen ihnen gegeben, und das war gut so. Noch eine Freundschaft wollte Melvin nicht mit Sex kaputtmachen. Auch wenn es damals mit Leon so viel mehr für ihn gewesen war. Immer noch war. Er hoffte nur, dass Leon ihm eine zweite Chance gab. Doch was, wenn nicht? Nein, daran wollte er jetzt lieber nicht denken.
»Erde an Melvin.« Hendriks Lachen war ansteckend. »Mann, wenn Torben dich so sehen könnte. Er hat wohl immer davon geträumt, dass du so schaust, wenn du an ihn denkst.«
Melvin verzog das Gesicht. In einer ganzen Reihe von mehr oder weniger kurzen Beziehungen war Torben sein letzter fester Freund gewesen. Immerhin hatte er es ein gutes Jahr mit Melvin ausgehalten, viel länger als jeder andere vor ihm, von Leon mal abgesehen. Melvin hatte Torben wirklich gemocht, vielleicht war er sogar zumindest am Anfang verknallt in ihn gewesen, und im Bett verstanden sie sich wirklich prima. Aber er war nun mal nicht Leon.
Trotzdem wäre er mit Torben vielleicht immer noch zusammen, wenn der nicht fremdgegangen wäre. Oder besser gesagt, wenn es dabei nur um Sex gegangen wäre. Aber Torbens Grund für den Seitensprung hatte Melvin die Augen geöffnet.
»Du bist total beziehungsunfähig, du kannst dich nicht auf deinen Partner einlassen. Keine Ahnung, wie der Typ sein muss, der echte Gefühle in dir wecken kann, der muss wohl extra gebacken werden.«
Nein, musste er nicht. Denn dieser Typ war klein, zierlich, sehr hübsch und trug den Namen Leon.
Torben hatte Melvin noch so einiges an den Kopf geworfen und ja, mit vielem hatte er wohl recht. Melvin konnte verstehen, dass sein Freund einen Partner wollte, der sich auch gefühlsmäßig auf ihn einließ, der für ihn da war. Das hatte Melvin nie geschafft. Er mochte Torben wirklich, aber er liebte ihn nicht.
Bei dem Streit mit Torben war ihm zum ersten Mal seit Langem bewusst geworden, dass Leon ihm immer noch sehr fehlte, und dass er alle Männer mit ihm verglich. Bei dem Vergleich konnte einfach keiner gut wegkommen. Also sollte er vielleicht mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen, damit er wieder nach vorn schauen konnte.
Deshalb hatte er sich hier in der Gegend einen Job gesucht, fest entschlossen, sich mit allem, was damals passiert war, auseinanderzusetzen. Auch mit Leon, obwohl sich wirklich lange Zeit alles in Melvin gesträubt hatte, direkten Kontakt mit seinem früheren Freund aufzunehmen.
Eine Weile hatte er geglaubt, er könnte das alles auch so bewältigen, ohne mit Leon zu reden. Da war ihm allerdings noch nicht bewusst gewesen, wie sehr er ihn noch immer liebte. Doch inzwischen war ihm das mehr als klar, und mit jedem Tag wurde die Sehnsucht größer, Leon endlich wiederzusehen und mit ihm zu reden. Morgen war es endlich so weit. Er konnte nur hoffen, dass sie noch eine Chance hatten.
***
»Eure Gegend hier hat einige Vorzüge.« Piet rieb sich zufrieden den flachen Bauch. »Gutes Essen gehört wohl dazu, und die Landschaft ist wirklich schön.«
Sein Lebensgefährte Helge nickte zustimmend. »Stimmt, und auf den Urlaub im Sommer freue ich mich schon.« Er grinste breit. »Aber wie sieht es mit dem Angebot für Schwule aus? Gibt es so was hier überhaupt?«
Melvin lachte. »Keine Ahnung, wie es inzwischen ist, aber früher gab es hier eine ziemlich coole Gay-Bar, nur eine Straße weiter.«
»Das weißt du noch nicht? Du bist schon seit über einer Woche hier!«, wunderte sich Piet.
»Ja, aber mal davon abgesehen, dass ich in den letzten Tagen andere Dinge im Kopf hatte: Ich bin nicht auf der Suche.«
Helge lächelte ihm zu. »Ich bin echt gespannt darauf, diesen Leon mal kennenzulernen. Morgen triffst du ihn also?«
»Hm, endlich.«
»Was machst du, wenn aus dem hübschen Twink auf deinen Fotos ein übergewichtiger Typ mit Haarschwund geworden ist?« Helge grinste bei seiner Frage und tätschelte den Rettungsring an seiner Taille, während er sich mit der anderen Hand über die Halbglatze fuhr.
»Also ich liebe jedes Gramm an dir, Schatz«, meinte Piet und küsste seinen Freund, wobei er den pikierten Blick ignorierte, den eine ältere Frau am Nebentisch ihnen zuwarf.
»Und das werde ich bei Leon auch, wenn es wirklich so ist«, meinte Melvin gelassen. »Er ist doch mehr als ein hübsches Gesicht oder ein toller Body.«
»Gute Einstellung.« Hendrik lächelte seinem Freund zu. »Jungs, wie sieht es aus, schauen wir nach, ob dieser Gay-Club noch existiert? Zum Abschluss könnte ich ein Bier vertragen.«
Seine Freunde stimmten ihm zu und wenig später zahlten sie den Eintritt in den Club. Es war mehr los als früher, oder kam das Melvin nur so vor? Sie bekamen noch einen Platz an der Ecke der Theke, aber es war wirklich viel Betrieb.
Hendrik schlang den Arm um ihn. »Gehst du mit mir tanzen?«
Melvin gab seinem besten Freund einen Kuss auf die Wange. »Klar.« Er wandte sich den beiden anderen zu. »Kommt ihr mit?«
Piet nickte, während Helge den Kopf schüttelte. »Geht ihr ruhig. Ich bestelle uns was zu trinken und schau euch zu. Heizt meinem Süßen mal so richtig ein.« Er zwinkerte, gab Piet noch einen Kuss und schubste ihn dann mit einem sanften Stoß in Melvins Arme.
Der lachte amüsiert, umfasst Piet von hinten und schob ihn vor sich her zur Tanzfläche. Hendrik folgte ihnen, und als er sich gleich darauf beim Tanzen eng an Melvins Rücken schmiegte, grinste der nur. Er klebte genauso dicht an Piet. Es war ein harmloser Spaß, sie tanzten oft so. Piet drehte sich zu Melvin um und legte die Hände auf seine Hüften.
»Du wirst uns echt fehlen«, rief er seinem Freund über die laute Musik zu.
»Ihr mir auch!« Spielerisch kniff Melvin den anderen in den Po. Piet kiekste, lachte dann und schlug Melvin genauso spielerisch auf die Finger. Der erwiderte das Lachen und zog den kleineren Mann noch ein wenig dichter an sich.
Piet drehte den Kopf zum Tresen, um Helge einen Luftkuss zuzuwerfen. Doch dabei geriet ein schmales, fassungsloses Gesicht in sein Blickfeld, das er bisher nur von unzähligen Fotos kannte.
»Scheiße!«, stieß er hervor, blieb stehen und schaute Melvin ernst an. »Du solltest ihm besser ganz schnell erklären, dass das hier nur harmloser Spaß ist.«
Melvin verstand nur Bahnhof, doch Hendrik löste sich von ihm und fluchte leise, was ihn dazu brachte, sich umzudrehen. Melvin holte erschrocken Luft, als er in Leons enttäuschtes Gesicht schaute. Er stand nur wenige Meter von ihm entfernt wie erstarrt da.
»Leon«, flüsterte Melvin und machte einen Schritt auf ihn zu. Das brachte Bewegung in den anderen Mann. Er drehte sich abrupt um und drängte sich Richtung Ausgang.
»Scheiße!«, fluchte Melvin und ging ihm hastig nach.
Weit kam er nicht. Kurz bevor er den Ausgang erreichte, wurde er gepackt, herumgerissen und hart gegen die Wand gedrückt. Er sah sich einem wutschnaubenden Kerl gegenüber, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam, aber er konnte es nicht einordnen.
»Du verdammtes Arschloch! Wie kannst du ihm das antun?! Wenn ich ihn wieder in der Wanne finde, dann gnade dir Gott!«
»Was?« Melvin riss sich aus dem harten Griff des Fremden los.
»Lass Leon doch in Ruhe mit deinem Mist! Erst machst du ihm Hoffnung und dann so ein Scheiß!«, fauchte der Mann ihn an.
»Den Teufel werde ich! Das ist ein blödes Missverständnis! Und nun lass mich vorbei, damit ich es klären kann!«
»Den Teufel wirst du, da hast du recht!«
Es war ein reiner Reflex, Melvin sah den Schlag nicht wirklich kommen, aber er riss den Kopf zur Seite und die Faust donnerte direkt neben seinem Ohr hart gegen die Wand. Der Typ schrie vor Schmerz auf, und Melvin nutzte die Gelegenheit, stieß ihn von sich und war gleich darauf an der Tür. Hastig verließ er den Club und entdeckte Leon ein ganzes Stück die Straße hinunter. Er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
»Leon!« Entweder hörte der es nicht, oder er reagierte absichtlich nicht. Leise fluchend setzte Melvin sich in Bewegung und lief hinter Leon her. Der war immer noch so schnell wie früher, Melvin hatte keine Chance, aufzuholen, aber er blieb hartnäckig dran. Als er in die schmale Straße einbog, sah er gerade noch, wie Leon in seinem Haus verschwand.
Melvin blieb stehen, beugte sich vor und stützte keuchend seine Hände auf den Oberschenkeln ab. Er hielt sich durch Schwimmen fit, aber Laufen, das war nie seins gewesen. Leon hingegen hatte es schon immer geliebt, und offenbar lief er immer noch regelmäßig. Der Sprint durch die Straßen hatte Melvin völlig außer Atem gebracht. Es dauerte ein paar Minuten, bis er wieder ruhig atmete. Einen Moment lang stand er noch zögernd in der stillen Gasse, bevor er auf das Haus zuging. Sollte er klingeln oder nicht?
War das wirklich eine gute Idee? Er war ziemlich aufgewühlt, und so wie Leon die Flucht ergriffen hatte, ging es ihm wohl genauso. Andererseits war Melvin nicht durch die halbe Stadt hinter ihm her gerannt, nur um jetzt wieder umzukehren. Vor der Haustür zögerte er erneut, und während sein Finger noch unentschlossen über dem Klingelknopf schwebte, hörte er einen Laut, der ihm tief ins Herz schnitt.
Leises Schluchzen, direkt hinter der Tür. Leon weinte. Melvin holte ganz tief Luft, während auch ihm Tränen in die Augen schossen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich umzudrehen und zu gehen. Mit Zorn, Vorwürfen, Streit, was auch immer, kam er klar. Aber damit? Langsam ließ er die Hand sinken und trat einen Schritt zurück.
Doch dann gab er sich einen Ruck. Das hier war zu wichtig. Es reichte mit den ständigen Missverständnissen zwischen ihnen, er musste das so schnell wie möglich klären. Entschlossen drückte er auf den Klingelknopf. Immer wieder, bis schließlich die Tür aufgerissen wurde.
»Thomas, es ist okay, ich -«
Leon brach abrupt ab, als er erkannte, wer da vor seiner Tür stand. Er wollte sie wieder schließen, doch Melvin war schneller und stand bereits im Flur.
»Das waren nur Kumpel, da läuft nichts!«, stieß er hervor.
»Ist mir scheißegal! Hau ab!«
»Nein«, erwiderte Melvin, und Leons abfälliges Schnauben brachte das Fass zum Überlaufen.
Er dachte nicht darüber nach, was er da tat, er griff einfach nach Leon und zog ihn an sich. Sein Mund fand die bebenden Lippen des anderen. Leon wehrte sich, versuchte ihn wegzustoßen, und als ihm das nicht gelang, biss er zu.
Melvin zuckte mit dem Kopf zurück, als sich die Zähne schmerzhaft in seine Unterlippe gruben, aber er ließ Leon nicht los und küsste ihn wieder. Sanft streifte sein Mund über den des anderen, und er konnte die Tränen schmecken. Leon wehrte sich immer noch gegen die Umarmung, aber langsam ließ sein Widerstand nach, während Melvins Lippen immer wieder sacht über seine streichelten.
»Ich liebe dich«, murmelte Melvin.
Leon seufzte tief. Dann gab er seine Abwehr auf und erwiderte den Kuss.
Melvin mit diesen beiden Männern zu sehen, das ließ Leons gute Laune auf einen Schlag verpuffen. Er hatte das Gefühl, dass ihm das Herz rausgerissen wurde. Es tat weh, so verflucht weh.
Warum machte Melvin das? Ihm sagen, dass er ihn liebte, und dann mit den beiden Typen … Bei dem »Ich liebe dich« auf der CD hatte Leon zwar gewisse Zweifel gehabt, aber so sehr gehofft, dass Melvin es ernst meinte und alles wieder in Ordnung kommen würde zwischen ihnen. Wohl doch nicht. Leon wusste, dass er sich das selbst zuzuschreiben hatte. Er hatte damals seine Chance gehabt und sie verspielt.
Doch das Wissen, dass es seine eigene Schuld war, machte es nicht besser. Im Gegenteil. Heiße Tränen stiegen in Leon auf. Als Melvin in diesem Moment einen Schritt auf ihn zumachte, brach er den Blickkontakt ab, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang. Völlig egal, ob das für Melvin nach Flucht aussah. Leon musste einfach nur hier weg.
In der kalten Luft der Novembernacht zog er fröstelnd die Schultern hoch. Seine Jacke war noch im Club, aber das war ihm schnuppe. Er würde jetzt nicht wieder da reingehen. Alles Wichtige wie seinen Schlüssel, das Handy und die Brieftasche hatte er bei sich, und es waren nur zehn Minuten bis zu seinem Haus. Weniger, wenn er rannte, und das tat er nun.
Hinter sich hörte er jemanden seinen Namen rufen, aber er reagierte nicht darauf. Er wollte im Moment nicht mit seinen Freunden reden, nicht einmal mit Thomas, weshalb er einfach weiter rannte. Wenig später schlug er keuchend die Haustür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Alle Energie schien aus seinem Körper zu weichen. Leon ließ sich auf den Boden sinken, zog die Knie an und legte die Stirn darauf. Dann ließ er seinen Tränen freien Lauf.
Das Klingeln ließ ihn zusammenzucken, aber er ignorierte es und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Doch Thomas gab so schnell nicht auf. Das Dauerklingeln erinnerte Leon fatal an jenen Abend, als er sich das Leben nehmen wollte. Nein, egal, wie weh es auch tat, egal, wie sehr er sich nach Melvin sehnte, so einen Blödsinn würde er nicht noch mal machen.
Aber er konnte verstehen, warum Thomas Sturm klingelte. Bevor sein Freund aus Sorge wieder eine Scheibe einschlug, machte er wohl besser auf. Leon rappelte sich auf, wischte so gut es ging die Tränen ab und riss die Tür auf.
»Thomas, es ist okay, ich -«
Die restlichen Worte blieben Leon im Hals stecken, denn es war nicht sein bester Freund, sondern Melvin. Mit dem hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass Melvin sich auch weiterhin im Club amüsierte. Hastig wollte er die Tür wieder schließen, doch Melvin war schneller. Er drängte sich an Leon vorbei und schaute ihn ernst an.
»Das waren nur Kumpel, da läuft nichts!«
Ja, klar! So wie die getanzt hatten, kannten sie sich auf sehr vertraute Art. Von wegen, nur Kumpel! Leon war verletzt und wütend, im Moment wollte er einfach nur, dass Melvin verschwand.
»Ist mir scheißegal! Hau ab!«
»Nein.«
Nein? Einfach nein? Wenn Melvin dachte, dass er das akzeptierte, hatte er sich aber gewaltig geschnitten! Leon stieß die Luft aus und … Melvin zog ihn an sich, im nächsten Moment hatte er die Arme um Leon geschlungen und küsste ihn. Nicht drängend, sondern sehr sanft. Weich und warm schmusten die Lippen über seine, und von einem Moment auf den anderen sehnte sich Leon so sehr nach mehr, dass er Angst bekam.
Heftig wehrte er sich gegen die Umarmung, aber obwohl Melvin sanft war, hielt er ihn unerbittlich fest in den Armen. Leon war mehr als einen halben Kopf kleiner und bei Weitem nicht so kräftig, er hatte keine Chance. Die Arme waren an seine Seiten gepresst, er bekam sie nicht frei, um den anderen Mann von sich zu stoßen. Melvins Mund brachte seine Mauern immer mehr zum Einsturz. Er wollte sich so gern in diesen Zärtlichkeiten verlieren, alles andere vergessen, aber das wäre nicht klug.
Er wollte das nicht! Wollte nicht wieder süchtig werden nach Melvins Küssen, nach seinen Berührungen, seiner Nähe, nach ihm! Wenn er jetzt nachgab und Melvin dann doch wieder aus seinem Leben verschwand, wusste er nicht, wie er damit klarkommen sollte. Er drehte den Kopf zur Seite, doch Melvin fing seinen Mund sofort wieder ein.
Leon wusste sich nicht anders zu helfen, er biss Melvin fest in die Unterlippe. Dessen Kopf zuckte zurück, aber die Umarmung löste er nicht. Im nächsten Moment zog er Leon noch ein wenig enger an sich, dann war der sanfte Mund wieder auf seinem. Noch zärtlicher als vorher, streichelnd und bittend. Leons Widerstand erlahmte. Er wollte seine Wut festhalten, wollte sich weiter sträuben, aber im Moment wehrte er sich mehr gegen seinen verräterischen Körper als gegen den anderen Mann.
»Ich liebe dich.«
Drei Worte, sanft an seinem Mund gemurmelt. So leise, dass sie kaum zu verstehen waren. Aber Leon hörte sie. Er hatte sie vor einigen Stunden auf der CD schon mal gehört. Es hatte ihn glücklich gemacht, aber dennoch war ein Zweifel geblieben, er hatte diesen Worten nicht wirklich vertraut. Aber das hier war anders.
Denn er hörte diese Worte nicht nur, er spürte sie. Konnte fühlen, dass Melvin es ehrlich meinte, und das brachte die Mauern in ihm endgültig zum Einsturz.
Leon seufzte tief und kapitulierte. Eng schmiegte er sich an Melvin und küsste ihn. Er hörte den erleichterten Laut, den sein Freund von sich gab, und intensivierte den Kuss. Jetzt wollte er Melvins Mund richtig spüren, nicht nur das zärtliche Schmusen der warmen Lippen. Mit der Zungenspitze glitt er über die Unterlippe, die er gerade noch mit den Zähnen malträtiert hatte, streichelte sanft darüber und verlangte Einlass, der ihm bereitwillig gewährt wurde.
Es war, wie nach Hause kommen. Melvin schmeckte noch genauso gut wie früher. Leon versank in diesem Kuss, vergaß alles um sich herum, genoss einfach nur. Endlich war er wieder da, wo er hingehörte: in Melvins Armen.
Der Kuss wurde leidenschaftlich, und Leon wollte mehr davon, wollte Melvin noch näher sein. Er spürte die warme Hand, die über seinen Rücken nach oben glitt, bis sanfte Finger seinen Nacken streichelten und sich dann um seinen Hinterkopf legten. Leon bekam die Arme frei, schlang sie um Melvins schmale Taille und schmiegte sich noch enger an ihn.
Doch der beendete den Kuss und lehnte schwer atmend die Stirn an seine. An seinem Bauch konnte Leon spüren, dass Melvin genauso hart war wie er. Der Kuss hatte auch ihn nicht kalt gelassen.
»Wir müssen reden, Leon.« Melvins Stimme klang heiser.
»Ja, ich weiß. Aber nicht jetzt. Ich will dich einfach nur spüren«, flüsterte Leon.
Melvins Zögern entging ihm nicht, und er konnte es verstehen. So viel stand noch zwischen ihnen, und sie mussten wirklich reden, aber das hatte Zeit.
Im Moment wollte er das wiederhaben, was er immer nur bei Melvin gespürt hatte: die Nähe, die Vertrautheit. Diese Verbundenheit, die tiefer ging als die körperliche Vereinigung, wenn Melvin in ihm war. Das brauchte er mehr als alles andere.
»Lass uns später reden. Bitte.«
Melvin zögerte noch immer, doch als Leon ihn wieder küsste, gab er nach. Das leise Stöhnen, als er sich an der harten Erregung des anderen rieb, war Musik in Leons Ohren. Er löste den Kuss gerade lange genug, um mit seinem Freund ins Wohnzimmer zu kommen. Leon ließ sich auf die Couch fallen und zog Melvin mit sich.
Warme Finger streichelten über seine Seiten und der leidenschaftliche Kuss machte ihn fast verrückt. Er schob die Hände unter Melvins Hemd, und der Kontakt mit der warmen, glatten Haut ließ ihn aufstöhnen. Leon zog Melvin noch enger an sich, schlang die Beine um die schmalen Hüften, genoss das Gewicht des anderen Mannes.
Sehnsüchtig rieb er sein Becken an Melvin und gab einen zufriedenen Laut von sich, als er das Stöhnen hörte und die Erwiderung spürte. Er protestierte leise, weil Melvin sich von ihm löste, doch gleich darauf waren dessen Finger an den Knöpfen seines Hemdes und alles war gut. Hastig zogen sie einander aus, küssten und streichelten sich dabei immer wieder.
Nackt schmiegten sie sich aneinander. Endlich! So gut! Melvins harter Schwanz rieb sich an seinem, und Leon wollte den anderen Mann so gerne tief in sich spüren. Aber dazu waren sie beide zu ungeduldig, und als Melvin sich neben ihm abstützte, die Hand zwischen sie schob und sie gemeinsam umfasste, stöhnte Leon zustimmend in den leidenschaftlichen Kuss.
Er schloss seine Hand um die des anderen, verstärkte den Druck. Gemeinsam beschleunigten sie das Auf und Ab ihrer Hände, und er spürte, dass sich seine Hoden zusammenzogen. Es ging zu schnell, er wollte das länger genießen, aber gegen die aufgestaute Erregung kam er nicht an. Unaufhaltsam spürte er den Höhepunkt heranrasen, löste den Mund von Melvin und schnappte nach Luft.
»Melvin, ich -«
»Ja, ich auch. Komm«, stieß sein Freund hervor und Leon spürte, wie der schlanke Körper über ihm sich anspannte, hörte Melvins kehliges Stöhnen, und ließ los. Zwischen ihnen mischte sich ihr Sperma, während sie gemeinsam den Höhepunkt auskosteten und sich küssten.
***
Langsam kehrten sie beide ins Hier und Jetzt zurück. Mit einem kleinen Seufzer küsste Melvin seinen Freund noch mal, dann richtete er sich zögernd auf und zog seine Pants an.
»Wir sollten wirklich reden, Leon.«
»Hm. Ich weiß.« Leon lächelte fast schüchtern. »Aber vielleicht erst mal duschen? Du kannst das Gästebad hier unten benutzen, ich wasche mich inzwischen oben.«
Das war mit Sicherheit keine schlechte Idee. »Kannst du uns dann vielleicht einen Kaffee machen? Wenn das für dich in Ordnung ist.«
»Klar.« Leon stand auf, streifte seinen Slip über und ging ins Bad voraus. Er deutete auf das offene Regal mit den Handtüchern. »Bedien dich. Shampoo und Duschgel sind in der Duschkabine.«
Sein Gast nickte und drehte das Wasser auf. Als er sich umdrehte, hatte Leon das Bad bereits verlassen. Innerlich seufzte Melvin. Die Gefühle waren mit ihnen beiden durchgegangen, aber er hätte sich besser beherrschen sollen. Mit Leon Sex zu haben, obwohl sie nichts geklärt hatten, war wahrscheinlich nicht unbedingt eine gute Idee gewesen. Andererseits konnte er es nicht wirklich bereuen, dazu war es einfach zu schön gewesen, Leon endlich wieder so nah zu sein.
Unter dem heißen Wasser entspannte sich Melvin und hing eine Weile seinen Gedanken nach. Nach dem Abtrocknen stieg er in die Pants, seine restlichen Klamotten lagen noch neben der Couch. Im Wohnzimmer zog er sich fertig an und war gerade dabei, die Sneakers zuzuschnüren, als ein schrilles Klingeln und heftiges Klopfen an der Haustür ihn zusammenzucken ließ.
»Leon! Mach sofort die Tür auf, oder ich schlage eine Scheibe ein!«, rief eine Männerstimme.
Melvins Nackenhaare stellten sich auf. Was sollte das denn? Drohte dieser Kerl Leon etwa?
»Ich komme ja, Jo! Beruhige dich mal wieder!«
Was ging denn hier ab? Besorgt trat er an die Wohnzimmertür, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Leon die Haustür öffnete. Immerhin war er inzwischen ebenfalls wieder angezogen. Melvins Kehle schnürte sich zu, als ein gut aussehender Mann in den Flur kam und Leon sofort in die Arme schloss.
»Bist du okay, Süßer? Warum gehst du denn nicht ans Handy? Ich hatte echt Angst, du -«
»Jo!«, fuhr Leon den großen Mann scharf an.
Im gleichen Moment entdeckte der Mann Melvin im Türrahmen. »Oh.«
Leon seufzte. »Das Handy steht noch auf Vibration, ich hab es nicht mitbekommen. Wie du siehst, geht es mir gut.«
Melvin spürte den durchdringenden Blick, mit dem dieser Jo ihn von Kopf bis Fuß musterte.
»Hm«, machte der Typ dann. »Es geht mich nichts an, wenn du dich amüsierst, aber Thomas ist stinksauer. Übrigens ist er im Krankenhaus.«
»Was??? Wieso denn das?!«
»Er hat die Hand gebrochen. Wie das gekommen ist, solltest du vielleicht besser den Kerl da fragen.« Jo nickte mit dem Kinn in Melvins Richtung. »Er ist doch dein Ex, oder?«
Leon warf einen verwirrten Blick zu Melvin. »Ja, ist er. Jo – Melvin. Melvin – Jo.« Er zog die Augenbrauen hoch und starrte Jo an. »Was sollte Melvin mit Thomas‘ gebrochener Hand zu tun haben?«
Melvin räusperte sich. »So ein großer Kerl wollte mich aufhalten, im Vorraum des Clubs. Er hat versucht, mir eine zu verpassen, ich hab rechtzeitig den Kopf eingezogen und er hat statt mir die Wand erwischt.«
Ungläubig starrte Leon ihn an. »Du hast dich mit Thomas geprügelt?«
»Nein! Ich hab ihn nicht angerührt. Zumindest nicht so. Ich hab ihn aus dem Weg geschubst, damit ich dir nachlaufen konnte, nachdem er versucht hat, mich zu schlagen. Das war alles. Ich habe nicht zurückgeschlagen, und die gebrochene Hand hat er sich selbst zuzuschreiben.«
»Du hast ihn verletzt zurückgelassen? Sag mal, geht’s noch?«, fuhr Leon ihn ärgerlich an.
Melvin atmete tief durch. Er fühlte sich ungerecht behandelt, aber er wollte keinen Streit mit Leon, daher antwortete er betont ruhig. »Es ist ja nicht so, als ob keiner da gewesen wäre, der sich um ihn kümmert. Er ist selbst dran schuld, ich kenne ihn nicht mal, und ich wollte zu dir. Du bist mir nun mal wichtiger als irgendein fremder Typ, der noch dazu versucht hat, mich zu schlagen. Tut mir leid, wenn dein Kumpel verletzt ist, aber das ist nicht meine Schuld.«
Leon schnaubte. »Er ist mein bester Freund! Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten macht er sich Sorgen um mich!«
Wen Leon mit »andere Leute« meinte, machte sein Blick mehr als klar. Melvin fand das nicht fair, aber er beherrschte seinen Ärger.
»Können wir vielleicht in Ruhe reden? Unter vier Augen?«
»Jetzt nicht. Ich fahre mit Jo ins Krankenhaus zu Thomas. Es ist besser, wenn du gehst.«
Ja, das sah Melvin unter diesen Umständen genauso. Er fragte sich, ob dieser Thomas wirklich nur ein guter Freund war, oder mehr. Jedenfalls war der Kerl für Leon wichtiger als Melvin. Der Gedanke tat weh. Wo Leons Prioritäten lagen, war nun deutlich klar, und offenbar war im Moment nicht mit ihm zu reden.
»In Ordnung, wie du willst. Ich komme dann morgen Abend vorbei, wenn wir mit dem Umzug fertig sind.«
»Ruf besser vorher an. Wenn Thomas mich braucht, werde ich bei ihm sein.«
Melvin holte tief Luft. »Ich brauche dich auch, Leon. Ich denke, das habe ich deutlich klargemacht.«
»Aber er war immer für mich da, und ist verletzt. Du nicht.«
Das saß, und es tat verflucht weh. Melvin hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte, also sagte er gar nichts und ging.
Die Worte taten Leon leid, sobald er sie ausgesprochen hatte. Erst recht, als Melvin blass wurde und ihn für einen Moment verletzt ansah. Dann presste sein Freund die Lippen fest aufeinander, schob sich an Jo vorbei und ging einfach. Wie erstarrt schaute Leon ihm nach. Er wollte etwas sagen, wollte hinter ihm herlaufen und ihn aufhalten, aber weder seine Stimme noch seine Füße gehorchten ihm. Wie angenagelt stand er da.
»Ich wusste bis eben nicht, was für ein Arschloch du sein kannst!«
Jo schaute ihn ärgerlich und voller Unverständnis an. Als Leon nicht reagierte, stieß sein Freund einen unwilligen Laut aus, fasste nach seiner Schulter und schüttelte ihn kurz.
»Erde an Leon! Hallo!? Dass du ihm nicht gleichgültig bist, sieht ein Blinder! Ja, er hat damals Scheiße gebaut, aber er versucht doch offenbar, es wiedergutzumachen! Wenn du ihn so gehen lässt, wirst du das sicher bereuen.«
Endlich kam Bewegung in Leon. Hastig bückte er sich und zog die Sneakers an. »Du hast recht. Zieh bitte einfach die Tür hinter dir zu und richte Thomas aus, ich sehe später nach ihm. Und sollte er noch mal versuchen, sich an Melvin zu vergreifen, kann er was erleben!«
Leon schnappte seinen Schlüssel, ohne eine Antwort abzuwarten. Er rannte auf die Straße und sah sich um. Melvin ging Richtung Stadtzentrum und hatte die Straßenecke schon fast erreicht. Leon sprintete los.
»Melvin!«
Sein Freund reagierte nicht, und Leon lief noch schneller. »Melvin, bitte warte!«
Er blieb zwar stehen, drehte sich aber nicht um. Leon war mit wenigen Schritten bei ihm und schaute ihn an. Das Licht der Straßenlaternen reichte kaum aus, um Melvins Gesicht deutlich zu erkennen, aber auf seiner Wange glitzerte eine feuchte Spur.
»Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe«, flüsterte Leon beschämt.
Etwas zittrig holte Melvin Luft. »Nur leider stimmt es. Zumindest der erste Teil. Ich war nicht für dich da. Was das andere anbelangt, irrst du dich allerdings. Du kannst mir auch heute noch mit ein paar Worten wehtun.«
»Es tut mir leid«, wiederholte Leon traurig. »Ich will dich nicht verletzen.« Sanft fasste er nach Melvins Hand und war froh, als der sie nicht zurückzog. »Bitte komm mit mir zurück. Lass uns einen Kaffee trinken und reden.«
Nach langem Zögern nickte Melvin schließlich und Leon atmete auf. Es gefiel ihm nicht, als Melvin nun doch seine Hand wegzog, aber er wollte ihn nicht zu sehr bedrängen und ließ ihn los. Der Kontakt mit der warmen Haut fehlte ihm sofort.
Schweigend gingen sie zu Leons Haus zurück. Wenig später standen sie in der kleinen, aber modernen Küche. Leon nahm die Kanne von der Maschine und goß zwei Kaffeebecher voll. Dann verzog er sich mit einem davon ans Fenster, während Melvin nach dem anderen Becher griff und sich an die Wand neben der Tür lehnte. Es waren nur etwa drei Meter Abstand, aber die brauchten sie im Moment beide.
»Wolltest du nicht zu deinem Freund ins Krankenhaus?« Melvin konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht verbergen.
»Das hat auch noch Zeit. Und Thomas ist wirklich nur ein guter Freund«, erwiderte Leon.
»Aber er bedeutet dir sehr viel.«
»Ja, aber auf rein freundschaftlicher Basis. Er war da, als ich ihn gebraucht habe.« Leon holte tief Luft. Jetzt oder nie. »Ohne Thomas wäre ich nicht mehr am Leben.«
Melvin trank einen Schluck und stellte die Tasse auf der Arbeitsplatte ab. »Das ist dann doch etwas übertrieben, oder?«
Leon antwortete nicht darauf und wich seinem Blick aus, während er seinen Kaffee neben sich auf der Fensterbank platzierte. Unbewusst rieb er über seinen linken Unterarm, sobald er die Hand frei hatte.
Melvin schaute ihn fragend an, und je länger das Schweigen zwischen ihnen dauerte, desto kälter wurde ihm innerlich. Ich hatte echt Angst, du …? Wenn ich ihn wieder in der Wanne finde … Plötzlich ergaben diese Sätze einen Sinn. Einen schrecklichen, kaum fassbaren Sinn.
Seine Augen hingen an Leons Hand, die gerade erneut über den Unterarm strich. Nein! Sicher irrte er sich, und das hatte eine ganz andere Bedeutung. Melvin war mit wenigen Schritten direkt neben Leon, griff nach seinem Arm und hatte gleich darauf den Pulloverärmel über den halben Unterarm nach oben geschoben. Entsetzt starrte er die lange Narbe an, die vom Handgelenk nach oben Richtung Oberarm verlief und unter dem Ärmelsaum verschwand.
»Scheiße!«, stieß Melvin hervor, während Leon ihm den Arm entzog und zurückwich. »Du wolltest dich wirklich umbringen? Warum?«
Warum? In Leon kochte in diesem Augenblick alles wieder hoch. Wut, Schmerz, Verzweiflung. Von einem Moment auf den anderen war einfach alles zu viel. Er hatte ruhig mit Melvin reden wollen, aber gerade schaffte er das nicht.
»Warum?!«, brach es aus ihm heraus, während Tränen über sein Gesicht liefen. »Du willst wissen, warum? Was denkst du wohl? Ja, ich weiß, ich habe dir damals sehr wehgetan, und ich bin selbst dran schuld. Ich habe viel zu spät begriffen, wie sehr ich dich liebe. Aber dass du mich einfach aus deinem Leben gestrichen hast … dass die Jahre unserer Freundschaft plötzlich nichts mehr wert waren … Du hast mir keine Chance gegeben, es wiedergutzumachen. Vielleicht hatte ich diese Chance nicht verdient, aber dass es dir egal ist, ob ich am Leben bin …«
Melvin schaute ihn bestürzt an. Er konnte das alles noch gar nicht richtig fassen, wusste nicht, was er sagen sollte, aber auf Leons letzte Bemerkung wollte und musste er unbedingt antworten.
»Das war mir nie egal! Ich wollte immer, dass du lebst und es dir gut geht!«
Leon wischte die Tränen ungeduldig weg. »Ach ja? Das hörte sich damals aber völlig anders an!«
Er zog sein Handy aus der Jeans und
musste nicht lange suchen. Diese Nachricht hatte er nie gelöscht.
Wenn er ein anderes Handy bekam, kopierte er sie auf das Neue. Das
mochte an Selbstzerstörung grenzen und sicher hätte es
seinem Therapeuten nicht gefallen, wenn er davon gewusst hätte.
Aber Leon hatte es für sich behalten. Ab und zu hörte er
sich Melvins letzte Nachricht an und setzte sich dann erneut mit
allem auseinander. Für ihn war es ein Weg, damit klarzukommen,
auch wenn es für andere wahrscheinlich völlig
unverständlich war.
Jetzt drückte Leon auf die
Play-Taste und gleich darauf war Melvins wütende Stimme zu
hören.
Du willst noch eine Chance? Eher friert die Hölle zu! Du hattest deine Chance, und es ist mir so was von scheißegal, was du willst oder ob du mich vermisst! Ich hoffe, es geht dir so richtig mies dabei! Meinetwegen kannst du verrecken, das interessiert mich nicht mehr. Ruf mich nie wieder an!
Es entging Leon nicht, dass sein Freund blass wurde, und plötzlich wich aller Ärger aus ihm. Es tat ihm jetzt schon leid, dass er Melvin die Nachricht vorgespielt hatte. Das war ein unnötiger Tiefschlag gewesen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sein Freund ihn an und Leon konnte förmlich sehen, wie die Rädchen einrasteten, als er begriff.
Sanft fasste Leon nach seiner Hand, aber Melvin drehte sich abrupt um und stürzte aus der Küche. Gleich darauf hörte Leon die Tür vom Gästebad an die Wand knallen, und dann würgende Geräusche. Mann, er war so ein Idiot! Das hätte nun echt nicht sein müssen! Wann lernte er endlich, zuerst nachzudenken, bevor er etwas sagte oder tat? Ständig machte er bei Melvin alles falsch.
Zögernd folgte er seinem Freund. Melvin kauerte vor dem Klo und übergab sich, während er gleichzeitig heftig schluchzte. Einen Moment lang stand Leon hilflos da, dann kniete er sich hinter Melvin, hielt seinen Kopf und streichelte mit der anderen Hand sein Haar. Als Melvin endlich aufhörte zu würgen, zog er ihn noch näher an sich und schlang den Arm um ihn.
Widerstandslos lehnte sich Melvin mit dem Rücken an Leon, während er weinte. Er zitterte am ganzen Körper, und es dauerte lange, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.
»Es tut mir leid!«, stieß Melvin hervor.
»Nein, mir tut es leid, dass ich eben so ausgerastet bin. Das war unnötig.« Leon zögerte, dann drückte er Melvin an sich und gab ihm einen Kuss auf die Haare. »Was meinst du, gehen wir in die Küche und reden miteinander? Diesmal in Ruhe?«
Melvin holte tief Luft. »Ich weiß nicht, ob ich gerade in der Lage bin, zu reden. Ich muss erst einmal begreifen, dass du dich meinetwegen … Dass du …«
Das verstand Leon, aber so konnte und wollte er Melvin nicht gehen lassen. Es hatte ja nicht nur an ihm gelegen, es war einfach alles zu viel gewesen damals. Die Trennung von Melvin, der Streit mit seinen Eltern und dann der Tod seiner Großmutter. Er wollte nicht, dass Melvin das Gefühl hatte, der einzige Auslöser zu sein. Seine Nachricht war ja nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Leon seufzte leise. Er wollte Melvin nicht noch mehr verletzen, wollte ihm Zeit lassen, aber wenn er ihn nun einfach gehen ließ, würde die ganze Sache vielleicht noch mehr aus dem Ruder laufen.
»Melvin … Ich kann nachvollziehen, dass du das erst einmal richtig sacken lassen musst. Aber wenn du jetzt nach Hause gehst, ohne einige Dinge zu wissen, dann steigerst du dich da womöglich in was rein. Also komm bitte mit in die Küche und hör mir wenigstens zu.«
Melvin schluckte laut, nickte dann aber zu Leons Erleichterung. »Hast du vielleicht eine Zahnbürste für mich?«
»Natürlich.« Leon stand auf. »Ich gehe schnell nach oben und hole dir eine.«
Er hielt Melvin die Hand hin und der ergriff sie widerstandslos und ließ sich aufhelfen.
»Bin gleich wieder da.«
Leon hastete nach oben, und als er wenig später wieder ins Gästebad kam, stand Melvin am Waschbecken und schöpfte sich Wasser ins Gesicht. Er sah nicht auf, als Leon die Packung mit der Zahnbürste auf das Waschbecken legte.
»Komm einfach in die Küche, wenn du so weit bist.«
»Okay.«
In der Küche nahm Leon die beiden Kaffeebecher, schüttete die Reste aus und füllte die Tassen neu. Dann setzte er sich an den Tisch und wartete auf Melvin, während er versuchte, sich auf das Gespräch vorzubereiten. Aber wie machte man das unter solchen Umständen? Noch dazu, wo er Melvin bereits so bittere Worte an den Kopf geworfen hatte.
Obwohl nur wenige Minuten vergangen waren, kam es Leon vor wie eine Ewigkeit, bis sein Freund endlich in die Küche kam. Das Zögern, als er zum Tisch ging und sich auf dem Stuhl gegenüber niederließ, war unverkennbar. Eindeutig wäre Melvin in diesem Moment lieber woanders gewesen, und das schmerzte.
»Irgendwie ist es ziemlich schwierig für mich, darüber zu reden, aber das müssen wir. Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde, vieles wird für dich vielleicht nach Vorwurf klingen, aber das soll es nicht. Ich will dir auch nicht wehtun. Also leg bitte nicht jedes Wort auf die Goldwaage, okay? Ich versuche einfach nur, dir zu erklären, was damals los war. Wie schwierig das alles für mich war, und dass das nicht nur an dir gelegen hat.«
Melvin nickte. »Ich versuche es, mehr kann ich dir nicht versprechen.«
Leon trank einen Schluck Kaffee, um sich noch einen Moment zu sammeln, dann gab er sich einen Ruck.
»An dem Tag, als du mir gesagt hast, dass du mich liebst, war ich damit völlig überfordert. Und ich gebe ehrlich zu, dass ich mir vorher nie Gedanken gemacht habe, dass es mehr sein könnte. Bis zu diesem Zeitpunkt war es wirklich nur das für mich: Sex zwischen Freunden.«
Bei diesen Worten holte Melvin tief Luft, als ob er etwas einwenden wollte, aber Leon redete einfach weiter.
»Es hat eine Weile gedauert, bis ich kapiert habe, dass es mir genauso geht. Dass ich dich wirklich liebe. Als ich neun Tage später vor eurer Tür stand, hat dein Vater mir gesagt, dass du weg bist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das für mich war. Ich konnte es nicht verstehen. Ehrlich gesagt, ich verstehe es heute noch nicht. Eine Woche, Melvin! Ja, für dich muss diese Woche lang gewesen sein, aber man zieht ja nicht mal eben so von einem Tag auf den anderen ein paar Hundert Kilometer weit weg! Du konntest nicht einmal eine beschissene Woche auf mich warten?!«
Okay, das war nun doch ein Vorwurf, und so wie Melvin ihn gerade anschaute, kam es auch genauso bei ihm an. Aber er sagte kein Wort dazu, presste nur die Lippen zusammen. Leon holte tief Luft und wieder deutlich ruhiger fuhr er fort.
»An dem Punkt habe ich mich gefragt, wie weit es mit der Liebe bei dir her ist. Denn ich hätte gewartet, Melvin. Aber okay, du hast es nicht getan, und vielleicht war es die gerechte Strafe für mich. Meine Eltern haben öfter mal nach dir gefragt, und das machte es nicht leichter für mich. Als ich dann irgendwann gesagt habe, dass du nach Hamburg umgezogen bist, meinte Vater, ich sollte mir ein Beispiel an dir nehmen, du würdest wenigstens etwas aus dir machen. Ich war so wütend. Auf dich, auf ihn, auf alles. Wir haben uns ziemlich gestritten, und irgendwann hab ich ihm an den Kopf geworfen, dass du weg bist, weil wir uns getrennt haben. Natürlich hat er nachgehakt, und ich habe ihm gesagt, dass wir seit über einem Jahr eine Beziehung hatten. Er ist total ausgetickt und hat mich regelrecht aus dem Haus geprügelt.«
Melvins Augen hatten sich vor Schreck geweitet. »Er hat dich geschlagen, weil wir …?«
Leon nickte und schluckte. »Die zweite große Baustelle in meinem Leben war eröffnet. Ich stand plötzlich auf der Straße, wusste erst einmal nicht wohin. Dass mein Vater und ich noch nie gut ausgekommen sind, war die eine Sache. Aber meine Mutter unterstützte ihn auch noch. Das tat verflucht weh, tut es immer noch. Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihr zu reden, letztes Jahr habe ich es aufgegeben und mich damit abgefunden. Wenn sie nach fünf Jahren nicht bereit ist, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, dann muss ich das hinnehmen. Aber damals hat es mir das Herz gebrochen, zum zweiten Mal. Innerhalb weniger Wochen hatte ich wieder jemanden verloren, den ich liebte. Zuerst dich, dann sie. Das hat meine Welt ganz schön ins Wanken gebracht. Noch dazu wollten unsere Freunde nichts mehr von mir wissen, sie standen alle auf deiner Seite. Der einzige Freund, der mir geblieben war, war Thomas. Er hat mir zugehört, mich immer unterstützt. Und falls du dich fragst, ob da jemals mehr zwischen uns war, lautet die Antwort nein. Aber er ist mir wichtig, wirklich wichtig. Er und Oma waren die einzigen Menschen, die noch für mich da waren. Meine Großmutter hatte weitaus mehr Verständnis als meine Eltern, sie hat mich hier bei sich einziehen lassen und mir immer wieder gut zugeredet, mich mit dir in Verbindung zu setzen. Aber das hast du ja gründlich verhindert. Andere Handynummer, andere Mailadresse, und auf meine Briefe kam nie eine Reaktion.«
»Ich habe keinen Einzigen davon gelesen,« gestand Melvin. »Das tut mir sehr leid. Hat es damals schon, nachdem du angerufen hattest und ich so ausgetickt war. Ich hatte nur die erste Nachricht gehört, Leon. Deine Zweite, wo du gesagt hast, dass du mich liebst, habe ich erst spät in der Nacht gehört, lange, nachdem ich ausgerastet war. Es tut mir so leid.«
Leon schloss kurz die Augen. »Und ich dachte die ganze Zeit, es ist deine Antwort auf meine Liebeserklärung.« Er holte tief Luft, wollte jetzt nicht weiter über dieses »was wäre, wenn« nachdenken. Denn das würde ihn verrückt machen.
»An dem Tag, als ich dich angerufen habe, wurde meine Oma beerdigt. Sie ist ganz überraschend gestorben, und das hat mich endgültig in ein tiefes Loch gestoßen. Thomas war auf der Beerdigung bei mir, meine Eltern haben nicht einmal an diesem Tag mit mir geredet, und ich fühlte mich trotz Thomas so schrecklich allein. Ich weiß bis heute nicht, von wem er deine neue Festnetznummer hatte, aber als er sie mir gegeben hat, da kam Hoffnung in mir auf. Ich habe so sehr gehofft, dass ich wenigstens das mit dir wieder hinbiegen kann. Dass du mir vielleicht doch verzeihst.«
Leon musste hart schlucken, um die Tränen zurückzudrängen. »An jenem Tag warst du für mich der einzige Grund, zu leben. Aber du warst nicht mehr da«, sagte er leise. »Deine Nachricht hat jedes bisschen Hoffnung zerstört, das ich noch hatte. Dir war es egal, ob ich lebe oder nicht, also … Aber diese Nachricht war einfach nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es waren nicht nur deine harten Worte, es war die ganze Situation damals. Einfach zu viel in zu kurzer Zeit. Doch das ist mein Problem, nicht deines. Ich bin damit klargekommen, mit der Hilfe von Thomas und einer Therapie. Aber ich kann das alles nicht noch mal durchmachen, Melvin. Ich habe endlich wieder ein Leben, mit dem ich zufrieden bin. Freunde, denen ich nicht egal bin. Wenn du nicht damit klarkommen kannst, was damals passiert ist, dann ist es besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.«
Hilflos schaute Melvin ihn an. »Leon … Ich will damit klarkommen, aber das ist im Moment alles ziemlich viel. Gibst du mir ein paar Tage Zeit? Ich weiß, das ist viel verlangt, aber … Ich muss das erst einmal alles begreifen und darüber nachdenken. Ich liebe dich, und ich denke, gemeinsam können wir das schaffen, aber im Moment … Ich weiß es einfach nicht.«
Leon schluckte und nickte dann. »Ist in Ordnung. Denk darüber nach. Aber wenn du dich gegen uns entscheidest, dann lass es mich direkt wissen. Lass mich bitte nicht unnötig lange im Ungewissen.«
»Traust du mir das wirklich zu?«, fragte Melvin schockiert und auch ärgerlich.
»Ich weiß im Augenblick nicht, was ich denken soll. Für mich ist das auch nicht einfach, ich muss genauso über alles nachdenken wie du. Wir können ein anderes Mal weiter reden, falls du es dann wirklich noch willst. Jetzt kann ich das gerade nicht, dazu bin ich zu aufgewühlt, und ich denke, du ebenso.«
Melvin atmete tief durch. »Du hast recht. Ich … ich geh dann mal, okay? Ich rufe dich an.«
»Na los, nun geh schon«, sagte Hendrik und deutete mit dem Kinn auf das kleine Haus. »Ich suche mir einen Parkplatz in der Nähe, vertiefe mich in ein eBook, und wenn du mich brauchst, ruf einfach an.«
»Du bist ein toller Freund«, erwiderte Melvin und stieg dann zögernd aus Hendriks Auto.
Sein Freund hatte ihn gefahren, weil Melvin sich im Moment nicht auf den Straßenverkehr konzentrieren konnte. Stundenlang hatte er mit sich gehadert, ob er zu Leon gehen sollte. Es war noch nicht einmal ein Tag vergangen, doch er brauchte ein paar Antworten, um alles gründlich überdenken zu können. Aber er war sich immer noch nicht sicher, ob es eine gute Idee war, so bald schon wieder bei Leon aufzutauchen. Seine Zweifel wuchsen, als er klingelte und die Tür gleich darauf von einem baumlangen Kerl geöffnet wurde.
Melvin war mit seinen einsachtundachtzig nicht gerade klein, aber der Typ überragte ihn um ein gutes Stück. Noch dazu war er gut durchtrainiert und füllte mit seinen Schultern fast den Türrahmen aus. Der Mann trug ein Sweatshirt, dessen Ärmel hochgeschoben waren, und auf dem rechten Unterarm war ein kunstvolles Tattoo zu sehen. Wer zum Teufel war dieser Riese? Nur ein Freund von Leon oder vielleicht mehr? Das war noch so etwas, worüber sie nicht geredet hatten: Ob es in Leons Leben einen anderen Mann gab.
Ein durchdringender Blick musterte Melvin von Kopf bis Fuß und wieder zurück. »Du musst Leons Ex sein. Sieh an. Traust du dich also doch so schnell wieder her.«
Der Mann machte einen Schritt zurück in den Hausflur und ließ die Tür offen.
»Süßer, du hast Besuch. Melvin ist da. Ich bin oben, wenn du mich brauchst«, rief der Kerl über seine Schulter, dann schaute er Melvin ernst an. »Ich warne dich. Wenn du ihm wieder wehtust, bekommst du es mit mir zu tun.«
»Lass es gut sein, Raik«, sagte Leon hinter ihnen. »Ich habe ihn damals verlassen, nicht umgekehrt.«
»Weiß ich. Aber er war es, der dich wochenlang ignoriert hat, als du versucht hast, das wieder hinzubiegen. Seinetwegen wolltest du dir -«
»Raik!«, unterbrach Leon den großen Mann scharf.
Der hob die Hände, warf Melvin noch einen warnenden Blick zu und brummelte etwas vor sich hin, während er die Treppe hinauf stapfte. Gleich darauf klappte oben eine Tür, dann war es still. Melvins Herz schlug schmerzhaft schnell. Lag der Kerl nun oben im Bett und wartete auf Leon???
»Ist das dein Freund?«, brachte er hervor.
Leon wich seinem Blick nicht aus. »Nein, nicht in dem Sinn. Er ist ein guter Freund, ja, aber mehr auch nicht. Wenn ich einen festen Freund hätte, dann wäre ich nicht mit dir auf der Couch gelandet.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Leon sich um und ging den Flur hinunter in die Küche. Melvin folgte ihm erleichtert. Der Punkt wäre dann schon mal geklärt.
»Willst du einen Kaffee?«
»Ja, danke. Und ich brauche ein paar Antworten, Leon.«
»Ich auch. Zum Beispiel auf die Frage, warum du damals innerhalb weniger Tage weg warst. Warum du meine Briefe nicht einmal gelesen hast.«
Leon sah ihn dabei nicht an, sondern füllte zwei Tassen. Als er sich dann zu Melvin umdrehte, wirkte er ruhig. Fast schon zu ruhig.
Melvin setzte sich an den Tisch und griff nach dem Becher, den Leon ihm zuschob. Er trank einen Schluck und seufzte dann.
»Ich habe damals befürchtet, dass du mich nicht liebst. Ehrlich gesagt war ich mir ziemlich sicher, dass es für dich nur Sex ist. Vielleicht hätte ich noch lange Zeit den Mund gehalten, wenn da nicht dieses Angebot aus Hamburg gewesen wäre. Eine private Hochschule, die durch einen meiner Profs auf mich aufmerksam wurde, hatte kurzfristig einen Platz zu vergeben. Doch ich wollte nicht einfach gehen und dich zurücklassen, wenn auch nur die geringste Chance bestanden hätte, dass du mich auch liebst. Ich musste sicher sein. Für mich stand fest, dass ich nicht gehe, wenn du meine Gefühle erwiderst. Aber ich war auch an einem Punkt, an dem ich nicht mehr einfach so weitermachen konnte wie vorher. Ich war dein schmutziges Geheimnis, und das wollte ich nicht mehr sein. Also habe ich dir gesagt, dass ich dich liebe, und wir wissen beide, wie das ausgegangen ist. Als du dich dann tagelang nicht gemeldet hast, dachte ich, du hast mich wirklich abgehakt, und ich habe das Angebot angenommen.«
»Es tut mir leid, Melvin. Alles. Vor allem meine herzlosen Worte damals. Ich brauchte einfach ein paar Tage, um mir über alles klar zu werden, und dann … du warst schon weg. Gleich im ersten Brief habe ich dir geschrieben, wie sehr es mir leid tut, und dass ich dich auch liebe.«
Melvin schluckte hart. Hätte er die Briefe doch nur gelesen! »Ich habe es nicht fertiggebracht, sie zu lesen, ich konnte es einfach nicht. Ich habe mich davor gefürchtet, was du mir schreibst. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass da der Satz Ich liebe dich stehen könnte. Ich dachte eher, du schreibst, wie viel dir unsere Freundschaft bedeutet hat, und dass du das trotz allem nicht aufgeben willst. Ich hatte einfach Angst, dass du mich damit weichkochst und das alles wieder von vorne losgeht. Bei jedem Brief, den Paps mir weitergeleitet hat, fiel es mir schwer, ihn ungelesen zu zerreißen, aber ich sah nur den einen Weg, um endlich über dich wegzukommen. Es tut mir so leid.«
Es tat weh, das zu hören, aber Leon riss sich zusammen. Keiner von ihnen konnte die Vergangenheit ändern, sie konnten nur versuchen, damit klarzukommen.
»Ist okay. Ich hätte es mir anders gewünscht, aber ich akzeptiere das. Es bleibt mir auch kaum etwas anderes übrig. Meine dringlichsten Fragen wären damit beantwortet. Welche hast du?«
Melvin atmete tief durch. »Na ja, die eine, mit dem festen Freund, hast du ja schon beantwortet. Und die andere lautet: Wie geht es dir jetzt? Ich meine, bist du … Ach, verflucht, das ist so schwierig. Aber ich frage mich … Wenn wir wieder zusammen wären, müsste ich dann bei einem Streit Angst haben, dass du dir was antust?«
»Nein! Ich bin stabil, wenn es das ist, was du wissen möchtest. Ich war sehr lange in Therapie und habe gelernt, mit allem umzugehen. Egal, wie du dich entscheidest: Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich wieder versuche, mich umzubringen.« Leon zog die Augenbrauen hoch. »Ist es das? Du hast Angst, dass ich mir wieder was antue, wenn du mir sagst, dass es keine zweite Chance für uns gibt?«
»Ja, natürlich macht es mir Angst! Aber das soll nun nicht heißen, dass ich mich gegen dich entschieden habe. Ich muss wirklich darüber nachdenken, ob ich mit all dem klarkommen kann. Man bekommt nicht jeden Tag gesagt, dass man daran schuld ist, dass sich jemand umbringen wollte.«
»Ich habe dir gesagt, dass es nicht nur an dir lag, Melvin! Da kam einfach zu viel zusammen, ich bin damit nicht mehr klargekommen. Aber es war meine Entscheidung, nicht deine. Deine Nachricht war vielleicht der Auslöser, der letzte Tropfen, aber die Verantwortung für meinen Selbstmordversuch trage ich allein. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich es tun. Aber das kann ich nicht. Manchmal muss man einfach mit den Konsequenzen seiner Fehler leben.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Leon. Ich weiß es einfach nicht«, flüsterte Melvin verzweifelt. »Ich habe Angst, dass das immer zwischen uns stehen wird, und ich dir dadurch wieder wehtue. Das ist das letzte, was ich will.«
Einen Moment lang war es so still in der Küche, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Leon holte tief Luft.
»Dann ist es besser, wenn du jetzt gehst, Melvin. Ich sagte es gestern schon, ich kann das nicht noch mal durchmachen. Wenn ich mich wieder auf dich einlassen soll, muss ich darauf vertrauen können, dass du mit der Vergangenheit klarkommst. Und das kannst du zumindest im Augenblick ganz offensichtlich nicht.«
Melvin suchte Leons Blick, doch der wich ihm aus und starrte auf seinen Kaffeebecher.
»Du schickst mich weg?«
Leon schaute ihn nicht an, als er antwortete. »Was bleibt mir im Moment anderes übrig?«, flüsterte er heiser. »Ich liebe dich, Melvin, und ganz sicher müssten wir noch öfter über alles reden, um es gemeinsam zu verarbeiten. Aber wie soll das unter diesen Umständen gehen? So kann ich keine Beziehung mit dir führen, immer in der Angst, dass eines Tages der große Knall kommt, weil du nicht mit unserer Vergangenheit klarkommst und dir alles zu viel ist. Das schaffe ich einfach nicht. Deshalb geh jetzt bitte.«
Melvin stand mit Tränen in den Augen auf. »Lass mir bitte ein wenig Zeit.«
»Ich warte nicht noch mal sechs Jahre, Melvin.«
***
Wieder und wieder spulte Melvin in den nächsten Tagen Leons Worte in Gedanken ab. Besonders ein Satz war regelrecht in sein Gedächtnis eingebrannt. Ich liebe dich. Gegenwart, nicht die Vergangenheitsform. Das machte ihm Hoffnung.
Es war ihm unglaublich schwergefallen, an jenem Tag zu gehen. Aber während Leon ihm diese Dinge gesagt hatte, war Melvin etwas klar geworden: Er musste wirklich sicher sein. Leon hatte seinetwegen genug gelitten, das durfte nicht noch einmal passieren. Damals war er unreif gewesen und hatte seinen Freund tief verletzt. Doch nun war er erwachsen und er musste jetzt vor allem an Leon denken.
Er liebte Leon über alles, aber wie er mit dieser ganzen Sache umgehen sollte, wusste er noch nicht. Darüber musste er ernsthaft nachdenken. Manchmal reichte Liebe leider nicht aus. Wenn die Gefahr bestand, Leon noch mal so zu verletzen, musste er ihn gehen lassen. Egal, wie weh ihm das selbst tun würde. Er war lange genug selbstsüchtig gewesen und hatte nur an sich gedacht. Jetzt ging es um Leon, und er würde alles tun, um ihn nicht noch mal so zu verletzen.
Bevor er einen erneuten Schritt auf Leon zumachte, musste er sich erst darüber klar werden, ob er wirklich einen neuen Anfang wagen konnte. Unnötige Hoffnung wollte er in Leon auf keinen Fall wecken. Wenn er zu ihm ging, musste er sicher sein, dass er mit der Vergangenheit klar kam.
Er hatte viel nachgedacht und stundenlang mit Hendrik und seinem Paps über alles geredet. Sein Vater war erschüttert, als er erfuhr, dass Leon sich hatte umbringen wollen. Davon hatte er keine Ahnung gehabt, was an ein Wunder grenzte, so viel wie in dieser kleinen Stadt getratscht wurde.
Sein Paps hatte schließlich etwas gesagt, was alle Zweifel aus dem Weg räumte.
»Du liebst ihn genug, um ihn gehen zu lassen, statt ihm noch mal wehzutun. Dann liebst du ihn auch genug, um mit der Vergangenheit klarzukommen und ihm zu glauben, dass er es nicht wieder tut, oder? Denn dann solltest du ihn nicht gehen lassen. Wirf dein Glück nicht weg, Junge. Manchmal begegnet man der Liebe nur ein Mal im Leben. Es ist fast 25 Jahre her, seit deine Mutter bei diesem Unfall starb. Es ist nicht so, als ob es danach keine Frauen in meinem Leben gegeben hätte, auch wenn ich sie nicht mit hierher gebracht habe. Es war nur nie eine dabei, in die ich mich verliebt habe, bis ich vor einigen Wochen Sonja begegnet bin. Vielleicht triffst du nie wieder einen Mann, den du so lieben kannst wie Leon. Also kämpfe um ihn. Wenn ihr euch wirklich liebt, dann schafft ihr das.«
Ja, inzwischen war Melvin sicher. Er liebte Leon von ganzem Herzen und er würde mit der Vergangenheit zurechtkommen, zusammen mit Leon. Er vertraute seinem Freund, und wenn der sagte, dass es nicht noch mal passieren würde, dann glaubte er ihm das. Natürlich musste er sorgsam mit Leon umgehen, durfte ihn nicht noch mal verletzen, aber sie würden gemeinsam bewältigen, was damals passiert war. Sie hatten beide Fehler gemacht, einander sehr wehgetan, und es gab vieles, das sie aufarbeiten mussten. Wenn Leon ihn noch liebte, würden sie das schaffen.
Wenn sein Freund ihn inzwischen nicht mehr wollte … Der Gedanke tat sehr weh, aber wie Leon so treffend gesagt hatte: Manchmal musste man mit den Folgen seiner Fehler leben, und eigentlich hatte er diesen Mann gar nicht verdient. Doch mit seinen Fehlern leben musste Melvin zum Glück nicht wirklich, denn Leon war am Leben, und es bestand Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde.
Der Gedanke an die helle, leicht wulstige Narbe an Leons Arm verursachte ihm immer noch Übelkeit. Das war kein halbherziger Versuch gewesen, er hatte es offenbar sehr ernst gemeint. Sobald Melvin das nächste Mal Thomas begegnete, würde er ihm dafür danken, dass Leon noch am Leben war.
Doch zuerst einmal musste er das zwischen ihnen endlich auf die Reihe bringen. Der Nikolaustag war genau richtig, um Leon zu sagen, wie sehr er ihn liebte und dass er sich eine gemeinsame Zukunft wünschte. Keine Zweifel mehr, kein hätte, wäre, könnte. Jetzt war er unterwegs zu Leon, und mit jeder Minute wurde er unruhiger.
»Hör auf, so zu zappeln. Du machst mich ganz nervös«, sagte Hendrik neben ihm.
Diesmal saß Melvin am Steuer. Der dicke Schaumstoffbauch unter Hendriks Nikolauskostüm wäre beim Fahren zu hinderlich gewesen.
»Es geht um meine Zukunft mit Leon«, murrte Melvin.
»Ja, daran brauchst du mich nicht zu erinnern! Ich habe so schon Schiss genug, dass ich es verbocke!«
Mit einem Seufzer parkte Melvin gegenüber von Leons Haus.
»Das wirst du nicht. Wenn es schief geht, ist das meine Schuld, nicht deine. Du bist ja nur der Überbringer der Nachrichten. Und nun geh, sonst platze ich vor Ungeduld!«
***
Leon holte die letzten Plätzchen aus dem Ofen. Alle in Herzform, und er hatte den größten Teil davon bereits liebevoll glasiert und verziert. Früher hatte Melvin diese Kekse geliebt. Leon wollte am folgenden Tag einen Versuch starten, alles wieder hinzubiegen. Ja, er hatte Melvin vor einigen Tagen weggeschickt, aber dennoch hoffte er, dass sie es wieder hinbekommen würden.
Er hatte sich gewünscht, Melvin würde nicht so lange brauchen. Allerdings machte er ihm daraus keinen Vorwurf. Nach allem, was Leon ihm an den Kopf geworfen hatte … Wäre er an Melvins Stelle gewesen, hätte er auch sehr gründlich nachgedacht. Ihm war klar, dass sein Freund ihn nicht unnötig zappeln ließ, auch wenn er ihm das unfairerweise mehr oder weniger vorgeworfen hatte. Melvin hatte da wirklich einiges zu verarbeiten. Aber vielleicht rief sein Freund ja an diesem Abend endlich an.
Raik hatte Leon gründlich den Kopf gewaschen, weil er zum Abschied wohl wieder einmal das Falsche gesagt hatte. Statt »ich werde auf dich warten« ein »ich warte nicht noch mal sechs Jahre«. Seine Wortwahl war nicht unbedingt die beste gewesen.
So sehr er sich auch am liebsten selbst dafür in den Hintern getreten hätte, er konnte nur versuchen, es wieder hinzubiegen. Daher auch die Herzkekse. Jeder Einzelne war mit einer Botschaft versehen. Oder besser gesagt mit zweien. Immer abwechselnd Ich liebe dich und Bitte verzeih mir.
Das letzte Blech stellte Leon zum Abkühlen auf die Spüle und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. In der kleinen Küche war es ziemlich heiß geworden. Er hätte den dicken Pullover besser gegen ein Shirt getauscht. Jetzt war er völlig verschwitzt.
Als es an der Tür klingelte, schaute er überrascht auf. Sein Herz schlug schneller. Melvin? Er hatte zwar gesagt, er würde anrufen, aber vielleicht hatte er beschlossen, einfach vorbeizukommen? Leon wünschte sich das so sehr, im Moment hätte er aber gerne kurz Zeit gehabt, um unter die Dusche zu gehen. Doch Melvin würde sich wohl mit seinem Anblick abfinden müssen. Er war nicht nur verschwitzt, an seinen Klamotten klebten außerdem Mehl, Teigrückstände und geschmolzene Schokolade.
Erwartungsvoll öffnete er die Tür, doch es war leider nicht Melvin. Stattdessen stand da … ein Nikolaus?
»Hallo … Ich fürchte, Sie haben sich in der Tür geirrt. Hier wohnen keine Kinder.«
»Ich weiß. Du bist doch Leon, oder?«
Verwirrt nickte er.
»Dann bin ich hier richtig. Willst du deine Geschenke hier draußen in Empfang nehmen, oder lässt du mich rein?«
Leon versuchte zu erkennen, ob einer seiner Freunde in dem Kostüm steckte. Doch die hellgrauen Augen waren ihm ebenso unbekannt wie die Stimme. Der Nikolaus schaute ihn fragend an, aber Leon zögerte. Immerhin kannte er den Typen nicht, also warum sollte er ihn ins Haus lassen?
Seufzend nahm der Nikolaus einen braunen Sack von seinem Rücken und stellte ihn vor sich auf den Boden. Er öffnete ihn, holte ein hübsch eingewickeltes Päckchen heraus und hielt es Leon hin.
»Mach es einfach auf.«
Leon öffnete vorsichtig das Geschenkpapier und fand zu seiner Überraschung ein Fotoalbum vor. Als er es öffnete, schnürte sich seine Kehle zusammen. Auf dem Deckblatt stand in einer schwungvollen, aber klar lesbaren Schrift »Für immer Wir. In Liebe, Melvin«.
Er blätterte durch die Seiten. Von der fünften Klasse an, als sie sich begegnet waren, zeigten die Bilder Leon. Manchmal war Melvin bei ihm, aber oft war Leon allein auf einem Foto zu sehen. Einige der Bilder kannte er, weil er sie auch hatte, doch viele waren ihm unbekannt. Melvin musste die Bilder aufgenommen haben, ohne dass Leon es mitbekommen hatte. Je älter der Leon auf den Fotos wurde, desto öfter waren es solche unbemerkten Schnappschüsse.
Das letzte Foto war mittig auf der linke Hälfte einer ansonsten leeren Doppelseite eingeklebt. Einer ihrer Freunde musste das Bild aufgenommen haben. Melvin und er standen eng aneinander geschmiegt da und schauten sich versunken an. Ein Blinder konnte sehen, was sie füreinander fühlten. Warum hatte Leon es damals nicht erkannt? Tränen stiegen ihm in die Augen. Als er das Album zuklappen wollte, hinderte der Nikolaus ihn mit einer sanften Handbewegung daran.
»Blätter mal um.«
Leon schlug die nächste Doppelseite auf. Sie war schwarz eingefärbt. Auf der linken Seite war ein Schnappschuss von Melvin, der allein auf einer Bank im Park saß. Er wirkte verloren und einsam. Auf der rechten Seite hatte Melvin mit einem goldfarbenen Stift etwas geschrieben. Es fiel Leon schwer, die Worte zu entziffern, weil alles vor seinen Augen verschwamm. Er wischte hastig die Tränen ab.
So ist mein Leben, seit du nicht mehr da bist. Dunkel und leer. Ich liebe dich und du fehlst mir so sehr.
Leon schluckte schwer. Dann holte er tief Luft und schaute den Nikolaus an.
»Wo ist er?«, wollte er leise wissen.
»Da sind noch mehr Geschenke. Darf ich reinkommen?«, meinte der Nikolaus, statt zu antworten.
Leon öffnete ihm die Tür und ging dann voraus ins Wohnzimmer. Dort legte er behutsam das Album auf den niedrigen Tisch, während der Nikolaus bereits das nächste Päckchen aus dem Sack nahm.
»Sei vorsichtig damit, es ist zerbrechlich.«
Zum Vorschein kam eine große Schneekugel. In ihrem Inneren stand ein Pärchen in enger Umarmung. Als Leon genauer hinsah, erkannte er erstaunt, dass die beiden Figuren verblüffende Ähnlichkeit mit Melvin und ihm selbst hatten.
»Wo hat er denn die her?«, platzte es aus Leon heraus.
»Er hat sie extra von einer befreundeten Künstlerin anfertigen lassen. Dreh sie mal um.«
Als Leon das tat, wirbelte der feine glitzernde Schnee in der Kugel auf. In den Boden des Sockels war eine Inschrift graviert. Meine Liebe ist stark genug, um jeden Sturm zu überstehen. Ich komme mit allem klar, was damals passiert ist. Wenn du nur bei mir bist.
»Auch das ist zerbrechlich«, murmelte der Nikolaus und hielt Leon das nächste Päckchen hin.
Er stellte die Schneekugel vorsichtig neben das Album auf den Tisch und öffnete das dritte Päckchen.
»Oh, es ist leider zerbrochen!«, entfuhr es Leon. Doch dann bemerkte er, dass das Absicht war. Er hielt einen kleinen Schaukasten aus Glas in den Händen. Auf dem Boden waren unzählige kleine Glassplitter festgeklebt. Sie waren zu einem stilisierten Herz angeordnet.
»Es hat ebenfalls eine Inschrift«, wies der Nikolaus leise hin.
Das ist mein Herz ohne dich. Kalt, erstarrt, in 1000 Stücke zerbrochen.
Leon konnte das Schluchzen nicht länger unterdrücken, als der Nikolaus ihm den Glaswürfel aus den Händen nahm und ihm das nächste Päckchen reichte.
»Das ist das letzte Geschenk.«
Leon riss das Papier auf und hielt gleich darauf ein rotes Herz in der Hand, das sich warm anfühlte. Es war einer dieser Taschenwärmer, aber in dem Päckchen war auch noch eine Karte. Ob sich mein Herz jemals wieder so warm anfühlen wird? Das kann es nur mit dir. Ich liebe dich, Leon. Bitte verzeih mir. Unsere Liebe ist stark genug, die Vergangenheit zu bewältigen.
Zittrig atmete Leon durch und schaute den Nikolaus an. »Wo ist er?«, wiederholte er seine Frage.
»Draußen, im Auto.« Als Leon an dem Nikolaus vorbei zur Tür gehen wollte, wurde er mit einem sanften Griff aufgehalten. »Leon … Ich weiß, dass er dich sehr verletzt hat, aber auch Melvin hat gelitten. Er ist damals fast zugrunde gegangen. Mach ihm bitte keine unnötige Hoffnung.«
»Ich liebe ihn!«
Der Nikolaus nickte. »Dachte ich mir schon, so wie du ihn neulich im Club angeschaut hast.«
In diesem Moment fiel es Leon wie Schuppen von den Augen. »Du bist sein Freund, der mit ihm im Club war?!«
»Ja, das bin ich. Aber nicht im Sinn von Geliebter. Zwischen uns ist nichts, er ist einfach mein bester Freund.«
Der Nikolaus lächelte breit, ließ seinen Arm los und im nächsten Moment war Leon schon auf dem Weg zur Haustür. Als er sie aufriss und sich umsah, wurde an einem Wagen auf der anderen Straßenseite die Fahrertür geöffnet. Melvin stieg aus, schaute zu ihm herüber und kam langsam auf ihn zu.
»Melvin!«
Leon stürmte den kurzen Weg hinunter, während sein Freund nun mit schnellen Schritten die Straße überquerte. Sie kamen zur gleichen Zeit auf dem Gehsteig an und Leon flog dem geliebten Mann regelrecht in die Arme. Melvin fing ihn auf und drückte ihn fest an sich.
Gleichzeitig flüsterten beide »Ich liebe dich.«
Heiligabend
Mit einem leisen Stöhnen löste sich Melvin von Leon, der ihn gerade leidenschaftlich küsste. Mehr war seit jenem ersten Abend vor einigen Wochen nicht mehr zwischen ihnen passiert. Küsse und in enger Umarmung auf dem Sofa kuscheln, während sie redeten. Es war wie ein stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen, zuerst alles zu klären und sich wieder richtig nahezukommen, bevor sie Sex hatten.
Immer wieder hatten sie sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt, über alles geredet. Zweimal waren sie in der Zwischenzeit zusammen bei Leons Therapeut gewesen. Mittlerweile waren sie an einem Punkt angelangt, an dem für sie beide der Ballast aus der Vergangenheit aus dem Weg geräumt war. Sie waren sich wieder so nah wie früher, und ab Januar würden sie noch mehr Zeit füreinander haben, denn dann würde Melvin hier bei Leon einziehen. Sie waren noch nicht lange wieder zusammen, aber keiner der beiden hatte Zweifel daran, dass es die richtige Entscheidung war. Sicher würde es auch in Zukunft noch so manches Gespräch über die Vergangenheit geben, aber sie schauten wieder nach vorne. Gemeinsam.
Doch je näher sie sich gefühlsmäßig gekommen waren, desto schwerer wurde es für Melvin, sich auf körperlicher Ebene zurückzuhalten, und er war sicher, dass es Leon genauso ging. Am liebsten wäre er jetzt mit ihm ins Bett gegangen, aber für ihr erstes Mal nach der langen Zeit wollte er Zeit und Ruhe haben. Die hatten sie heute leider nicht, also fing er Leons streichelnde Hände ein, die in diesem Moment unter seinen Pulli krabbelten, während er tief durchatmete.
»Schatz, wir sollen in einer guten Stunde bei meinem Vater sein. Weihnachtsessen, schon vergessen?«
Nicht nur mit Melvin hatte Leon lange und viel geredet. Auch mit dessen Vater hatte er sich ausgesprochen, und das war gut so. Sie begegneten sich fast wieder so unbeschwert wie früher.
»Nein. Ich habe wohl eher vergessen, dir zu sagen, dass das auf Morgen verschoben ist«, erwiderte Leon mit einem schelmischen Lächeln, doch dann wurde er ernst.
»Ich weiß, dass du dich auf den ersten Heiligabend seit Langem in deinem Elternhaus gefreut hast. Die letzten Jahre war dein Vater ja immer bei dir in Hamburg. Wenn du es wirklich unbedingt willst, fahren wir hin. Aber es ist auch unser erstes Weihnachten seit sehr langer Zeit, und den Abend möchte ich eigentlich lieber alleine mit dir verbringen. Für Wolfgang ist das in Ordnung. Er meinte, er wird dann den Abend mit Sonja genießen und wir sehen uns morgen zum Mittagessen.«
Für einen Moment musste Melvin einfach grinsen, denn er ahnte, dass sein Vater das Genießen wortwörtlich gemeint hatte. Melvin mochte die Frau, mit der sein Vater seit einiger Zeit ausging, sehr gerne. Es gefiel ihm, seinen Paps wieder so glücklich zu sehen, aber er wollte sich lieber nicht vorstellen, was die beiden machten, wenn sie allein waren.
Was ihn aber prompt zu dem Gedanken brachte, wie er den Abend mit Leon verbringen könnte … Denn plötzlich hatten sie sehr viel Zeit füreinander. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, Leon endlich wieder Haut an Haut zu spüren. Ihn endlich wieder lieben und sich von ihm lieben lassen. Es war so verflucht lange her.
»Lass uns hier bleiben und morgen zu meinem Vater fahren«, brachte er rau hervor.
»Gut«, flüsterte Leon an seinem Mund und rieb seine harte Erregung an der von Melvin. »Wenn du Hunger hast, essen wir zuerst, ich habe was vorbereitet. Ansonsten würde ich lieber direkt zum Dessert kommen.«
Okeee … Sein Süßer ging ganz schön ran, aber das zeigte Melvin, dass Leon sich ebenso nach ihm sehnte wie umgekehrt. Sein Herz schlug rasend schnell, als er seinen Freund küsste und ihn noch enger an sich zog.
»Im Moment bist du das Einzige, wonach ich Hunger habe«, raunte Melvin, als er den Kuss beendete. »Ehrlich gesagt bin ich am Verhungern, was dich betrifft.«
Leon fasste nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her, die Treppe hinauf. Es war das erste Mal, dass Melvin das Schlafzimmer betrat, und er hielt überrascht inne. Fragend schaute er Leon an. Der lächelte sanft.
»Erinnerst du dich an unser Gespräch damals, als du überlegt hast, dein Jugendbett gegen ein breiteres zu tauschen?«
»Und ob!« Er hatte Leon erzählt, wie er sich sein Schlafzimmer vorstellte, und der hatte ihm sofort zugestimmt. Sie hatten schon immer einen ähnlichen Geschmack gehabt. Dieses Zimmer spiegelte seine Vorstellung von damals genau wider.
»Es sieht toll aus, und es fühlt sich irgendwie an, als ob ich nach Hause komme. Wann hast du das Zimmer so eingerichtet?«
»Kurz nach … nach der Klinik. Der Therapeut hielt es nicht gerade für die beste Idee, aber etwas anderes kam für mich nicht infrage. Es war ein wenig so, als wäre es auch dein Zimmer. Unser Zimmer.« Leon schluckte. »Als würdest du jeden Moment zur Tür hereinkommen.«
»Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe«, flüsterte Melvin ergriffen.
»Hauptsache, du bist endlich da. Willkommen Zuhause, Schatz.« Leon holte tief Luft. »Nur damit das ein für alle Mal klar ist: Ich habe nie einen anderen Kerl mit hierher genommen. Und wo wir schon dabei sind: Es ist schon ein paar Monate her, also mach ein wenig langsam. Okay?«
Es war ein seltsames Gefühl. Warm, ein wenig schmerzhaft und doch unglaublich schön. Es bedeutete Melvin viel, dass kein anderer Mann in diesem Bett – ihrem Bett – gewesen war. Aber etwas wollte er noch klären.
»Damals warst du nicht gerne der Top. Wie ist das jetzt?«
»Das hat sich nicht geändert. Der einzige Mann, in dem ich je sein wollte, bist du. Nach dir gab es keinen anderen, den ich getoppt habe. Aber du irrst dich. Bei dir habe ich es gern getan.«
Melvin atmete tief durch. »Gut, denn du bist der Einzige, von dem ich mich je habe nehmen lassen. Ich möchte, dass diese Nacht etwas wirklich Besonderes wird. Später will ich dich haben, aber jetzt, beim ersten Mal … Ich möchte dich tief in mir spüren, wenn du das auch willst.«
»Ja«, flüsterte Leon. »So gerne.«
Unter zärtlichen Küssen fingen sie an, einander auszuziehen. Wenig später waren sie beide nackt und schmiegten sich auf dem breiten Bett aneinander. Es war wunderbar, endlich wieder die warme Haut des anderen zu spüren. Aus anfangs sanften Liebkosungen wurde schnell heiße Leidenschaft.
Melvin stöhnte, als Leons Mund an seinem Körper immer tiefer glitt und schließlich warm und feucht seinen harten Schwanz umschloss. Das leise Klicken, als Leon die Tube mit der Gleitcreme öffnete, nahm er nur am Rande wahr. Als Leons Finger über seine Hoden und den Damm weiter nach unten strichen, erschauerte er und biss sich auf die Unterlippe.
Leon verlagerte sein Gewicht und kam mit dem Oberkörper nach oben, ohne seine Finger von der intimen Stelle zu nehmen.
»Tu das nicht«, forderte er leise und küsste Melvin. »Ich will nicht nur sehen und fühlen, wie sehr dich das anmacht. Ich will es auch hören.«
Melvin nickte nur und stöhnte im nächsten Moment laut auf, als Leon mit einem Finger sanft in ihn eindrang und fast auf Anhieb den Hotspot in seinem Inneren traf. Die Fingerkuppe massierte den empfindlichen Punkt und entlockte Melvin damit ein weiteres Stöhnen.
Er drängte sich der Berührung entgegen, wollte unbedingt mehr. Und Leon gab ihm mehr. Er nahm einen zweiten Finger hinzu, dann noch einen, dehnte und weitete den Muskel und reizte dabei unaufhörlich die Prostata. Melvins Atem kam nur noch abgehackt, er war verdammt dicht davor. Aber er wollte Leon tief in sich, wenn er kam.
»Leon … Mach endlich. Nimm mich!«
Er stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sein Geliebter die Hand zurückzog. Melvin hörte das Knistern der Folie, als Leon nach dem Kondom griff, und öffnete die Augen.
»Du bist wunderschön!«, stieß er hervor, und er meinte es ernst. Leon war ein zierlicher Typ, dennoch hatte er deutlich sichtbare, schlanke Muskeln, die unter der glatten Haut spielten, während er sich bewegte. Und sein Schwanz war … Wow. Melvin hatte fast vergessen, wie gut sein Freund bestückt war. Fasziniert sah er zu, wie Leon das Kondom über die vor Erregung geschwollene Eichel stülpte und es über dem langen geraden Schaft abrollte.
Leon beugte sich über ihn und küsste ihn erneut. »Bereit?«
Melvin nickte nur, öffnete die Schenkel noch weiter und zog die Knie an. Leon richtete sich auf, hockte sich auf seine Fersen und zog Melvin an den Hüften nah zu sich, bis dessen Hintern auf den Oberschenkeln seines Geliebten ruhte.
Sanft drückte Leon seinen Schwanz gegen den Muskel. Melvin keuchte schmerzlich, als die dicke Eichel den Widerstand überwand und in ihn glitt. Doch Leon ließ ihm Zeit, sich an die Dehnung zu gewöhnen. Er streichelte Melvins Schenkel, massierte leicht die Hoden und schloss dann die Hand um das harte Glied, strich daran auf und ab und lenkte seinen Freund so von dem Dehnungsschmerz ab.
Melvin entspannte sich und drängte seine Hüften näher an Leon. Langsam drang er tiefer in ihn ein, verharrte immer wieder und ließ Melvin genug Zeit, sich an ihn zu gewöhnen. Schließlich war der Schmerz völlig verschwunden und hinterließ nichts als pure Lust.
Leon zog sich zurück und drang wieder tief ein. Diesmal setzte Melvins Körper ihm kaum noch Widerstand entgegen. Er nahm die Hand von Melvins Schwanz und umfasste seinen kleinen Hintern, zog die festen Pobacken sanft auseinander. Beim nächsten Stoß änderte er den Winkel etwas und strich mit seinem Schwanz über den Lustpunkt in Melvin. Der stöhnte dabei laut auf, schlang die Beine um Leon und holte ihn so ganz dicht zu sich.
Seine Hüften zuckten dem nächsten Stoß entgegen. Wieder und wieder traf Leon seinen Hotspot, trieb ihn immer höher. Melvin kam mit einem heiseren Schrei, und als sich seine Muskeln zuckend um den Schwanz in seinem Inneren zusammenzogen, drang Leon mit einem harten Stoß ganz tief in ihn ein und ergoss sich in heftigen Schüben.
Leon ließ sich auf seinen Geliebten sinken. Keuchend klammerten sie sich aneinander. Es dauerte lange, bis sie wieder ruhiger atmeten. Leon hatte sich nur kurz von Melvin gelöst, um das Kondom zu entsorgen. Irgendwann hob er den Kopf und schaute Melvin tief in die Augen.
»Willkommen Zuhause und frohe Weihnachten. Ich liebe dich.«
Sanft strich Melvin ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Ich liebe dich auch. Frohe Weihnachten, Schatz. Dein Geschenk bekommst du später, es liegt unter dem Baum.«
Leon lächelte total süß. »Deins auch. Aber mein Weihnachtsgeschenk habe ich schon bekommen. Dich. Etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen.«
Ja, das ging Melvin umgekehrt genauso, und er würde es Leon noch ganz oft zeigen und sagen. Denn jetzt würde er ihn nicht mehr loslassen.
~~~ Ende ~~~
Texte: Christina McKay
Bildmaterialien: Shutterstock Bild 251121793 / Christina McKay, Coverdesign: Christina McKay
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2015
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