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Prolog

                                                      Prolog

 

 

 

Müde und abgespannt sah ich auf meine schlafende Tochter Sandra.

Wie ein Engel lag sie in ihrem Bett und selbst im tiefsten Schlaf hielt sie ihre Lieblingspuppe fest an sich gepresst. Ihr Gesicht wirkte entspannt und nichts erinnerte an die Probleme, mit denen sie sich momentan herumschlug. Das Licht der Straßenlampe schien sanft in das Zimmer.

Alles erschien mir ruhig und friedlich.

Leise schloss ich die Tür des Kinderzimmers und ging langsam in das Wohnzimmer. Hier verbreitete nur eine Stehlampe neben der Sesselecke mattes Licht. Doch mehr benötigte ich auch nicht.

Unendlich müde kuschelte ich mich in einen besonders großen Sessel und blickte sehnsüchtig zu dem Telefon. Doch der Apparat auf dem kleinen Hocker blieb still. Hoffentlich würde es bald klingeln. Unser Vati muss nämlich noch für ein langes Jahr in einem afrikanischem Land arbeiten. Erst zum Weihnachtsfest wird er wieder zu Besuch kommen. Ich wartete wieso oft abends auf das Klingeln des Telefons, um mit ihm sprechen zu können.

Die anheimelnde Wärme des Zimmers ließ mich leicht einschlafen.

Ich schrak hoch, als Sandra plötzlich vor mir stand. Sie hatte wieder Tränen in den Augen.

„Mama, ich bin aufgewacht von einem schrecklichen Traum. Ich habe solche Angst vor der neuen Schulklasse und überhaupt ...“

„Komm, leg Dich auf das Sofa, mein Schatz.“ Versuchte ich sie zu beruhigen. Ich deckte sie dabei mit einer molligen, bunten Decke zu.

Meinen Sessel zog ich herum, um nahe bei ihr zu sitzen. Sanft strich ich ihr blondes Haar aus dem Gesicht und redete dabei weiter.

„Du weißt doch, dass der Umzug sein muss. Ich habe nun einmal diese neue Arbeitsstelle in Dresden bekommen. Auch dort wird es viele nette Kinder geben.“

„Aber was soll ich tun, wenn die neuen Kinder da mich nicht mögen? Und wie werden dort die Lehrer sein?“

„Sandra, überlege doch einmal genau. Du bist jetzt in der ersten

Klasse und hast nur liebe Lehrerinnen. Auch in Deiner neuen Schule

werden nette Lehrerinnen und Lehrer sein. Das ist in der ersten

Klasse überall so.“

„Woher willst Du das so genau wissen? Und überhaupt, wenn es mir nun in der neuen Stadt nicht gefällt? Darf ich dann allein wieder in unsere Wohnung hier ziehen?“

Ich war für einen Moment sprachlos, aber dann fiel mir etwas ein: „Weißt Du was, ich werde Dir jetzt einmal erzählen, was ich alles erlebt habe, als ich mit meinen Eltern umziehen musste. Ich wardamals noch nicht einmal so alt wie Du jetzt. Möchtest Du es hören?“

„Ja, Mama. Bitte erzähle es mir!“

Ich setzte mich bequemer in meinen Sessel, noch etwas näher zu meiner Tochter und begann meine Geschichte zu erzählen.

 

 

 

 

 

Erinnerungen

          Erinnerungen

 

Für mich begann das ganze Abenteuer damals als meine Eltern mir abends mit strahlenden Gesichtern mitteilten:

„Jessica, Du darfst ganz allein bei Oma und Opa ein paar Tage Urlaub machen. Ist das nicht toll?“

Klar, das war toll und ich freute mich riesig. Meine Oma ist die beste Oma auf der Welt und es gibt nichts Schöneres, als bei ihr zu sein. Sie wohnt mit Opa in einem alten Haus voller herrlicher Verstecke und Winkel. Am liebsten spielte ich jedoch mit ihren beiden Hunden Charlie und Jacky. Alles in allem war meine Freude wirklich riesig groß. Doch dann begann ich langsam zu überlegen. Wofür bekam ich diese Belohnung eigentlich? Ich hatte weder etwas Besonderes getan, noch hatte ich Geburtstag. Ich war zwar erst sechs Jahre alt, aber die Erwachsenen kannte ich bereits ziemlich gut. Hier stimmte jedenfalls etwas nicht!

„Warum darf ich zu Oma und Opa fahren?“ erkundigte ich mich vorsichtig. Diese Frage brachte meine Mutti ziemlich durcheinander. Sie sah Hilfe suchend zu Vati, aber dieser blickte nur noch konzentrierter auf seine Zeitung.

Leider kenne ich noch nicht alle Buchstaben. Aber ich war überzeugt, dass die Antwort bestimmt nicht in der Zeitung stand. Langsam und umständlich begann Mutti mit einer Erklärung. Kurz und gut - ich erfuhr meine Eltern hatten ein Haus gekauft. Eigentlich nicht so schlimm, aber das Haus stand in einer anderen Stadt. In Trotzkau. Für die Zeit des Umzuges sollte ich zu den Großeltern gebracht werden. Jetzt wusste ich wenigstens woran ich war.

„Wann bringt ihr mich zu Oma?“

„Morgen schon, mein Schatz“ beteiligte sich jetzt Vati an dem Gespräch.

„Wenn wir Dich wieder abholen, fahren wir gleich in unser neues Heim. Es wird Dir bestimmt gut gefallen.“

„Nein, so schnell nicht!“ empörte ich mich. „Da sehe ich meine Freunde ja überhaupt nicht mehr. Ich muss mich doch wenigstens von ihnen verabschieden.“

Typisch meine Eltern. Sonst legten sie immer so viel Wert auf gutes Benehmen und jetzt das. Mutti und Vati begannen nun gleichzeitig auf mich einzureden. Da ich keine Chance hatte noch einmal zu Wort zu kommen, griff ich zu einem altbewährten Mittel - Tränen.

Wenn ich weine, fragt Mutti immer warum ich denn weine und dann hört sie mir wenigstens zu. Es klappte auch diesmal. Wir einigten uns dann darauf, dass ich erst am übernächsten Tag zu Oma gebracht werden sollte.

 

Beruhigt ging ich in mein Zimmer und begann schon einmal meine Spielsachen für die Urlaubstage einzupacken. Die Entscheidung, was ich mitnehmen wollte, war ziemlich schwer. Alle Regale in meinem Zimmer waren vollgestellt mit Puppen, Bären und Spielen. Irgendwie reichte dann auch meine Reisetasche nicht aus. Als meine Mutti in das Zimmer kam, versuchte ich gerade verzweifelt wieder alles neu zusammen zu stopfen. Mutti lachte und machte sich daran meine ausgesuchten Spielsachen noch einmal von vorn in die Tasche zu legen. Komisch, jetzt passte alles hinein. Taschen packen kann meine Mutti prima, bestimmt am besten von allen Muttis auf der Welt.

Vati sagt immer, sie könne deshalb so gut Lücken finden, weil sie das auch bei ihrer Arbeit tun müsse. Meine Mutti arbeitet auf einem Finanzamt. Dort müssen alle Leute ihr Geld hinbringen. Das hat aber nichts mit Sparen zu tun, denn keiner erhält es zurück. Na, mein Geld bekommen diese Leute jedenfalls später nicht! Mein Vati hat da einen viel interessanteren Beruf. Er ist Restaurator und macht ganz alte Sachen wieder schön.

 

Am nächsten Morgen wurde ich munter, als die Sonne bereits in mein Zimmer schien. Ich war verwundert und wusste nicht gleich was los war. Mutti weckte mich doch sonst immer viel zeitiger. Eilig sprang ich aus dem Bett und blieb dann total verblüfft an unserer Wohnzimmertür stehen. Meine Mutti hockte auf den Knien mitten im Zimmer und um sie herum standen riesige Stapel Geschirr, Gläser und Vasen. Mir war bisher nicht aufgefallen, welche Mengen wir davon hatten.

„ Guten Morgen, mein Schatz!“.

Mama sah nur kurz zu mir und packte beim Sprechen weiter ein.

„Ich musste schon anfangen die Schränke leer zu räumen. Viel Zeit ist heute nicht für Dich. Zieh Dich bitte an und frühstücke schon in der Küche. Wenn Du fertig bist, fahre ich Dich in den Kindergarten zu Deinen Freunden!“

Ich trabte in das Bad. Zuerst Zähne putzen, Gesicht waschen und abtrocknen. Danach anziehen. Mein Lieblingskleid lag bereits auf dem Hocker. Am letzten Tag mit meinen Freunden wollte ich schon chic aussehen. Was meine Freunde wohl sagen würden. Eigentlich wollte ich gar nicht wegziehen. Lustlos biss ich in mein Brötchen. Warum mussten

 

 

wir eigentlich ein Haus kaufen? Ich glaube, ich brauche kein Haus. Und warum stand es auch noch so weit weg? Es gibt doch auch in unserer Stadt viele Häuser zum Kaufen. Aber so sind Eltern eben. Mich fragen sie nie nach meiner Meinung! Das Brötchen war aufgegessen und die Milch blieb stehen. Da wollte ich im Kindergarten lieber Saft trinken. Der schmeckt besser.

„Ich bin fertig!“ rief ich in das Wohnzimmer und zog mir bereits die Schuhe an. Mutti kam eilig nach. Zusammen stiegen wir in ihr rotes, kleines Auto und los ging die Fahrt zum Kindergarten. Unterwegs hielt Mutti noch kurz an der Kaufhalle an, um etwas zu besorgen. Als sie zurück kam, gab sie mir eine große Tüte mit Süßigkeiten.

„Für Dich und Deine Freunde. Damit euch der Abschied nicht so sauer wird!“

Wieso kann ein Abschied sauer werden? Bisher war ich immer der Überzeugung, dass höchstens Milch sauer werden kann. Doch egal! Hauptsache wir hatten etwas zum naschen.

Mein Kindergarten befand sich etwas außerhalb der Stadt, neben einem Fußballstadion. Es war ein flaches Haus mit einem großen Garten darum. Dort spielten wir bei schönem Wetter auf der Wiese, im Sandkasten oder konnten schaukeln und Bälle werfen. Im Kindergarten kamen mir schon Susi und Lisa entgegen. Unsere Erzieherin, Frau Kaiser, hatte bereits allen erzählt, dass ich mit meinen Eltern in eine andere Stadt ziehen würde. Während meine Freundinnen und ich auf unseren Lieblingstisch zusteuerten, wollte Susi ganz genau wissen, wie es in dem neuen Haus sein würde. Ich erzählte, was ich wusste. Doch viel war es nicht. Als ich die Bonbons und Schokoriegel verteilte, kam Tim an unseren Tisch. Lauthals verkündete er:

„Erwachsene sind blöd. Alles entscheiden sie ohne uns!“ dabei schielte er zu Frau Kaiser, ob sie ja nichts gehört hatte. Sie hatte nicht. Mit ihrem grauem Kleid und dem blonden Dutt saß sie an ihrem Schreibtisch und machte Notizen über alle Kinder in ihr großes blaues Buch. Frau Kaiser war bereits eine Oma und einmal hatte sie sogar ihre

Enkeltochter mitgebracht. Aber viel war da nicht zu sehen gewesen. Sie war noch ein Baby und lag unter Bergen von Kissen in einem Kinderwagen.

„Wozu braucht ihr ein Haus“ begann Susi wieder mit ihren Fragen.

„Keine Ahnung!“ meinte ich und zuckte mit den Schultern. Nun gesellte sich noch Mirko zu uns.

„Ein Haus zu haben ist ‘in’ sagt mein Vater immer. Damit ist man ‘wer’!“

„Ich möchte aber nicht ‘wer’ sein. Ich bin am liebsten ich!“ fuhr ich Mirko an. Lisa überlegte schon praktischere Dinge.

„Ob du wieder neue Freunde finden wirst?“ - „Sicher! Irgendwer muss ja auch in Trotzkau Kinder haben.“

Frau Kaiser kam nun auch an unseren Tisch und ich bot ihr Bonbons an.

„Bist du sehr traurig, wenn du weggehst von uns, Jessica?“

„Nein!“ - „Du brauchst auch nicht traurig zu sein. Du wirst ganz sicher neue Freunde finden!“

„Bestimmt werden in der neuen Stadt auch Kinder wohnen. Nur Sie tun mir etwas leid, Frau Kaiser. Sie können ja nun nichts mehr über mich in Ihr großes Buch schreiben.“

Frau Kaiser lachte. „Das macht nichts. Die anderen Kinder sorgen schon dafür, dass ich mir viele Notizen machen muss.“ Mutti rief mich in diesem Moment von der Tür aus und ich verabschiedete mich endgültig. Alle sahen mir nach und winkten. Ich war plötzlich richtig wichtig. Fast so wie zu einem Geburtstag.

Zu Hause bekam ich einen riesigen Schreck. Unsere Wohnung schien nur noch aus Kisten und Wäschekörben zu bestehen. Überall stand etwas herum. Kaum das man laufen konnte. Vati war auch gekommen und bemühte sich nach Kräften in seinem Arbeitszimmer das gleiche Durcheinander anzurichten. Ich fühlte mich reichlich überflüssig und als ich auf einem Wäschekorb meinen bunten Ball entdeckte, verschwand ich mit ihm schnell auf den Hof. Dort spielte schon die kleine Tochter unserer Nachbarin. Sie stürmte auf mich zu, kaum dass sie mich sah.

„Ball! Ball!“ wiederholte sie hartnäckig mit ihren drei Jahren und zeigte dabei auf meinen in allen Farben leuchtenden Ball. Er hatte es ihr angetan. Na gut. Von mir aus. Es war ja das letzte Mal. So ließ ich mich herab mit dem Dreikäsehoch Ball zu spielen. Ich erzählte ihr, warum ich morgen schon wegfahren musste und nicht mehr wieder kommen würde. Sie verstand das noch nicht und freute sich nur an dem Ballspiel.

Hoffentlich würden in der neuen Stadt nicht nur solche Babys wohnen! Ich fragte mich, ob meine Eltern sich wohl nach so etwas Wichtigem erkundigt hatten. Daran hatte ich jedoch meine Zweifel. Erwachsene hatten andere Vorstellungen von dem, was wichtig war. Langsam kam die Dämmerung über den Hof und die Sonne hatte sich unbemerkt davongestohlen. Die Kleine wurde von ihrer Mutti gerufen und ich ging auch nach oben. Ein richtiges Abendessen gab es nicht. Auf dem Küchentisch standen belegte Brote und ich musste allein essen. Meine Eltern waren immer noch mit Kisten und Kästen beschäftigt. Ich bekam von Mutti und Vati nur ein kleines Küsschen und marschierte allein in mein Bett. Zum Glück würde ich morgen zu Oma und Opa fahren. Bevor ich einschlief wünschte ich mir nur noch, dass meine Eltern mich in dem neuen Haus nicht ganz vergessen.

 

 

Als ich meine Augen öffnete, bekam ich einen riesigen Schreck. Um mich herum war alles schwarz und finster. Ich wollte keinesfalls aufstehen aus meinem warmen, sicheren Bett.

„Du fährst doch heute zu Oma und Opa!“ erinnerte mich Mutti und versuchte dabei mich munter zu kitzeln. Das war natürlich etwas anderes. Wie konnte ich das nur vergessen? Ich sprang aus dem Bett und stürmte das Bad, als gelte es einen Wettkampf zu gewinnen. Später frühstückten Mutti und ich zusammen in der Küche.

„Wo ist eigentlich Vati? Bringt er mich nicht mit zu Oma?“ wollte ich wissen.

„Er ist noch früher als wir zu unserem neuen Haus gefahren. Da arbeiten noch einige Handwerker und Vati muss ihnen genau erklären, wie wir alles haben möchten. - Nimm Dir etwas zum Spielen mit für die Autofahrt. Du weißt, dass wir fast drei Stunden unterwegs sind.“ empfahl mir Mutti, während sie ihren letzten Bissen in den Mund schob.

Gut gemeint, aber meine Lieblingsspielsachen waren schon seit vorgestern Abend in der Tasche verpackt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutti begeistert wäre, wenn ich alles wieder ausräumte. In meinem Zimmer fiel mir auch nichts Besseres ein. Wahllos nahm ich aus einem Karton noch zwei Bilderbücher und meinen zweitliebsten Teddy. Besser als nichts, dachte ich und schleppte alles zur Wohnungstür.

Mutti hatte sich meine Spielzeugtasche über die Schulter gehängt und trug in der anderen Hand einen gewaltigen Koffer mit meiner Kleidung bereits zum Auto. Es sah aus, als würden sie mich nie mehr abholen wollen. Ein letztes Mal sah ich mich in unserer Wohnung um. Komisch, dass ich nie mehr hier her kommen würde! Es war bisher immer unsere Wohnung gewesen. Später würden andere Leute hier einziehen. Ob die auch ein kleines Mädchen hatten? Zumindest sollte sich dieses Mädchen nicht auch über die grässliche Blumentapete in meinem Zimmer ärgern. Dafür wollte ich sorgen.

Ich ging zurück und versuchte von der Tür aus die Tapete abzuziehen. Zuerst konnte ich sie kaum fassen. Mit den Fingernägeln kratzte ich einen kleinen Anfang ab. Jetzt ging es ganz leicht. Riesige Tapetenstücke, auch ohne Blumen, kamen mir entgegen. Das war wohl doch etwas zu viel des Guten. Von draußen hörte ich Mutti rufen. Eilig kletterte ich über die Tapetenfetzen hinweg und rannte die Treppen nach unten. Mutti saß schon ungeduldig hinter dem Lenkrad. Noch anschnallen und los ging die Fahrt.

Es war bereits hell geworden. Ganz unauffällig hatte die Sonne mit ihren ersten Strahlen die Dunkelheit zurückgedrängt. Nur wenige Menschen waren jetzt unterwegs. Ich sah neugierig durch die Autoscheiben und wusste, dass die Fahrt später viel langweiliger werden würde. Wir mussten dann nämlich lange Zeit auf der Autobahn fahren. Dafür hatte ich wenigsten meine Bilderbücher. Ansprechen wollte ich Mutti während der Fahrt lieber nicht. Manchmal antwortete sie sowieso nicht - das war noch das kleinere Problem. Aber manchmal wurde sie etwas nervös und das Auto fuhr dann auch nicht mehr so richtig gerade. Da mir das schon öfters Angst gemacht hat, bin ich lieber still wenn Mutti fährt. Mit Papa war das ganz anders. Er erzählte mir Geschichten und Witze. Trotzdem ist das Auto immer ruhig geradeaus gefahren.

Nach dem zweimaligen Ansehen meiner Bilderbücher und einer kleinen Traumreise hatten wir es geschafft. Wir hielten vor dem Haus meiner Großeltern. Oma kam uns auf dem Gartenweg entgegen gelaufen und umschlang mich mit ihren Armen. Ich weiß, dass sie sich freute mich zu sehen; aber mir wurde die Luft etwas knapp. Meine Oma ist nicht sehr groß.„Für ihre Größe nur etwas breit!“ sagt Vati immer.

Ich mag sie wie sie ist, Hauptsache sie lässt mich wieder Luft holen. Jetzt war auch Opa heran gekommen. Er schüttelte mir die Hand und gab mir einen Kuss auf die Wange. Das stachelte etwas, wie immer.Oma nahm mich an die Hand - als könnte ich ihr wieder verloren gehen - und zog mich mit in Richtung Küche.

„Wir können bald Mittag essen. Hast du schon großen Hunger? Wie war die Fahrt?“ überschüttete sie mich mit Fragen. Da ich nicht wusste, auf welche Frage ich zuerst antworten sollte, schwieg ich erst einmal. Mich interessierte viel mehr, wo Jacky und Charlie waren. Auf die beiden Terrier mit ihrem schönen, braunen Struppelfell hatte ich mich doch so gefreut. Endlich entdeckte ich eine Hundenase. Oma erzählte gerade, was sie Gutes gekocht hatte, und ich verkrümelte mich unauffällig in Richtung Flur, wo sich die beiden Racker unter der Treppe versteckt hatten. Bei ihrem Versteck angekommen, brausten beide wie ein Wirbelwind um mich herum und sprangen an mir hoch. Einfach toll, mit ihnen so herumzutoben. Schade, dass ich nicht selbst einen Hund haben durfte.

Meine Garderobe und Spielsachen hatte Opa bereits in das kleine Zimmer gebracht. Früher gehörte dieser Raum meiner Mutti zum spielen und lernen. Jetzt schlafe ich immer hier, wenn wir bei Oma und Opa zu Besuch sind. Eigentlich ist es eher eine kleine Kammer. Direkt unter dem Dach. Wenn es nachts regnet, hört man die Tropfen wie Trommelwirbel. Das klingt manchmal richtig gruselig. Aber ich bin ja schon groß und habe keine Angst. Schließlich hat mir Vati alles genau erklärt. Für meine Kleidung ist ein schmaler, rosa Schrank da und zum Spielen habe ich noch einen Tisch und Stuhl vor dem Fenster stehen. Nichts hatte sich hier verändert.

Gerade wollte ich mein Spielzeug ausräumen, als Oma zum Essen rief. Wir setzten uns in der Küche an den großen Tisch. Alles war hier so wie immer. Auch Omas Küchenschrank, der mir mit seinen vielen kleinen Türen so gut gefiel, stand noch an seinem Platz. Nach dem Essen fuhr Mutti gleich wieder zurück, weil sie noch viel Arbeit in der alten Wohnung hatte. Ich bekam mit dem Abschiedsküsschen einen Schokoriegel und eine Unmenge Belehrungen und Ordnungshinweise. Als wenn ich nicht selbst wüsste, dass ich mich zu waschen habe und die Haare zu kämmen sind. Und dann noch: „Sei bitte auch schön artig!“. Was denn sonst? Ich bin ja schließlich nicht mit Absicht böse! Mama brauste davon und ich winkte mit Oma hinter dem Auto her.

Opa wollte jetzt seinen Mittagsschlaf machen und Oma die Küche aufräumen. Da konnte ich endlich die Tasche mit den Spielsachen auspacken. Aber allein hatte ich keine rechte Lust. So lockte ich kurz entschlossen Jacky und Charlie mit nach oben. Den beiden Hunden gefiel es bei mir. Auf allem was ich aus meiner Tasche holte, versuchten sie rum zu kauen. So hatte ich mir das jedoch nicht gedacht. Meine Puppe zum Beispiel sollten sie in Ruhe lassen. Nahm ich aber Charlie die Puppe weg, schnappte Jacky wieder nach ihr. Es war richtig zum verzweifeln.

Nach vielen Anstrengungen lagen endlich alle Spielsachen im Schrank verstaut, unerreichbar für die beiden Hunde. Meine Garderobe wollte Oma selbst auspacken. Den Koffer machte ich aber schon einmal auf, um zu sehen, was ich vielleicht allein einsortieren könnte. Der Koffer ließ sich auf jeden Fall viel schwerer öffnen, als ich mir vorgestellt hatte. Schon der Kampf mit dem Reißverschluss dauerte etliche Minuten. Er ließ sich einfach nicht aufziehen. Fast brachen mir die Finger ab, doch ich schaffte es. Der Deckel kippte endlich nach hinten und beide Hunde dachten, ein neues Spiel würde beginnen. Sie stürzten sich auf die Wäschestücke im Koffer. Meine Chancen standen gleich Null, sie davon wieder wegzubringen. Im Nu war alles durcheinander gewühlt. Jacky und Charlie stritten sich um meine neue rote Sommerhose. Jeder hatte ein Bein im Maul, und ich konnte schimpfen wie ich wollte. Sie ließen die Hosenbeine nicht los. Zum Glück fiel mir der Schokoriegel von Mutti ein. Die Hunde liebten Schokolade über alles. Ich lockte die beiden Chaoten damit auf den Flur. Volltreffer - sie hatten die Hose vergessen und fraßen erst einmal vor der Tür genüsslich den Riegel.

Als ich jedoch meine Hose betrachtete, wurde mir ganz anders. Riesige Löcher waren gleichmäßig über beide Hosenbeine verteilt. Wie sollte ich das bloß meiner Oma erklären. Am besten ich legte die Hose erst einmal unter das Bett und wartete einen günstigen Moment ab. Doch der Rest meiner Bekleidung sah auch nicht viel besser aus. Alles bildete einen unbeschreiblichen Haufen mitten im Zimmer.

„Was ist denn hier passiert?“ hörte ich plötzlich Omas Stimme. Siewar unbemerkt herein gekommen. Ich konnte nicht mehr verhindern, dass mir die Tränen in die Augen schossen und erzählte alles der Reihe nach. Auch die kaputte Hose beichtete ich gleich mit. Mit gesenktem Kopf wartete ich auf mein Donnerwetter. Doch von Oma kam keine Reaktion. Langsam hob ich den Kopf und sah in ihr Gesicht. Viele Lachfalten hatten sich da gebildet und ihre grauen Locken wippten auf und ab vor unterdrücktem Lachen. Sie legte den Arm um meine Schultern und setzte sich mit mir auf das Bett.

„Weißt Du, Kleines, das ist sicher nicht Deine erste zerrissene Hose, und es wird auch nicht die Letzte sein. Heute Abend erzähle ich dir einmal, wie viele Hosen und Röcke Deiner Mutti kaputt gegangen sind, als sie so alt war wie Du. Jetzt wisch Dir die Tränen weg. Opa wartet schon unten auf Dich. Ihr geht mit den Hunden etwas spazieren und ich räume hier auf.“

„Danke, Oma!“ Ich fiel ihr um den Hals und stürmte dann die Treppe hinunter. Im Garten hatte Opa Jacky und Charlie bereits angeleint. Die beiden konnten es nicht erwarten hinauszukommen und zerrten wie verrückt an ihren Leinen. Opa gab mir die Leine mit Charlie und behielt selbst Jacky.

„Endlich habe ich einmal Hilfe bei den beiden Räubern!“ freute er sich. Wir liefen auf die Straße und dann nach rechts. In dieser Richtung stehen nur noch wenige Häuser und dann beginnt eine riesige Gartenanlage. Hier war ich früher schon oft mit meinen Großeltern gewesen. Nach einigen Schritten in dieser parkähnlichen Anlage nahm Opa den Hunden die Leinen ab. Beide stürmten erst einmal los.

„Was ist, wenn sie jetzt weglaufen?“ wollte ich wissen.

„Keine Angst! Sie laufen nicht weit. Sie sind so erzogen, dass sie immer in einem bestimmten Abstand vor oder hinter uns bleiben.“

„Kann man denn Hunde so genau erziehen?“ Opa erklärte mir ganz genau wie so etwas gemacht wird.

„Pass einmal auf Jessica.“ Wir blieben stehen und Opa rief: „Platz!“ Ich staunte nicht schlecht. Charlie und Jacky setzten sich wie Marmorfiguren genau dorthin, wo sie gerade standen. Jetzt pfiff mein Opa und beide kamen sofort zu uns gesprungen. Dafür erhielten sie auch eine Belohnung.

Schade, dass man Erwachsene nicht auch so erziehen konnte. Dann könnte ich Vati und Mutti auch einfach von dem neuen Haus wegpfeifen. Jetzt zauberte Opa auch für mich einige Bonbons aus der Tasche. Einfach Klasse, mein Opa.

„Woher sind eigentlich Charlie und Jacky?“

„Das ist ein komische Geschichte.“ schmunzelte Opa vor sich hin.

„Deine Oma hat sich schon immer einen Hund gewünscht. Aber entweder fehlte uns früher das Geld dazu oder die Zeit. Später musste Oma dann nicht mehr arbeiten. Da wollte ich ihr den alten Wunsch erfüllen und suchte einen Züchter. Als die Hunde dann geboren waren und ich einen abholen sollte, waren noch zwei kleine Welpen da. Ich konnte mich nicht entscheiden. Immer wenn ich einen Kleinen aus dem Körbchen nahm, begann der Andere ganz jämmerlich zu jaulen. Mir tat das so leid, dass ich beide Hunde kaufte. So bekam Deine Oma mehr Hunde als ihr lieb war. Sie hatte auch nichts von dieser Überraschung gewusst. Du hättest mal ihr Gesicht sehen sollen, als ich mit Charlie und Jacky ankam!“

Opa lachte noch jetzt über diese Erinnerung. Wir liefen immer noch durch die Gartenanlage. Die Blumen links und rechts blühten in allen Farben. In vielen Gärten gab es Schaukeln und kleine Goldfischteiche. Opa erzählte mir Geschichten aus der Zeit als er noch klein war. Diese Zeit muss sehr komisch gewesen sein. Mein Opa war nie in einem Kindergarten. Auch Autos gab es damals nicht viele. Fernseher kannten die Leute überhaupt nicht.

„Was haben die armen Kinder denn gemacht, wenn es regnete? Ohne meine Fernsehserien wäre es mir doch zu langweilig!“

Opa schüttelte den Kopf. „Langweilig war uns bestimmt nicht. Wir mussten in der Küche mit helfen oder die Tiere füttern.“

Selbst Mc Donald gab es damals noch nicht. Ich bin schon sehr froh, dass ich erst jetzt geboren wurde.

Die Sonne war langsam verschwunden. Nur am Horizont sah man noch einen roten Rand. Oma würde bestimmt schon auf uns warten. Also machten wir uns auf den Heimweg. In der Küche war bereits der Abendbrottisch gedeckt. Bei diesem Anblick merkte ich erst einmal, welchen großen Hunger ich hatte. Von meiner Lieblingsspeise - Wiener mit Kartoffelsalat - packte ich mir den ganzen Teller voll. Noch beim Essen musste ich meine Fragen an Oma loswerden.

„Hast du als Kind auch nicht ferngesehen?“

„Nein, Jessica. Das gab es damals noch nicht. Ab und zu hat unsere Mutti uns eine Geschichte vorgelesen. Aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Ein anderes Buch besaßen wir nämlich nicht.“

Ich war überzeugt, jetzt sollte ich veralbert werden. Also fragte ich vorsichtshalber noch einmal nach. „Ihr hattet wirklich in der ganzen Familie nur ein Buch?“

„Ja, Kleines. Wir besaßen nur ein Buch. Auch für die Schule gab es nur einige Hefte zum Mitschreiben. Trotzdem war es auch eine schöne Zeit.“

Was würden wohl meine Eltern sagen, wenn ihre ganzen Bücher verschwunden wären. Ich kann mir nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 03.06.2014
ISBN: 978-3-7368-1742-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein herzliches Dankeschön an meine Familie für Ihre Unterstützung und Geduld!

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