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 Der Besucher

Deserteur Alexej-Kurzgeschichte

 

 

Selma J. Spieweg

Der Besucher

Der Besucher

 

Nur das Knacken eines einzelnen Zweiges verriet, dass jemand an meinen Lagerplatz getreten war. Keine Schritte, kein raschelndes Laub hatten meinen Besucher angekündigt. Ich sah nicht auf, ich wusste auch so, wer es war: Der letzte Mensch, den ich sehen wollte, und ich hatte erwartet, ihm ginge es genauso. Unser letztes Zusammentreffen endete … nun ja … nicht gerade einvernehmlich.

Vor mir auf dem Waldboden stand mein Campingkocher. Eine frisch geöffnete Dose Bohnen wärmte über kleiner Flamme auf. Mit dem Gas musste ich sparsam umgehen, es war die letzte Kartusche. Ich fror. Der Nebel, der sich seit Wochen nicht lichtete, fraß sich mit seiner Feuchtigkeit durch die Kleidung. Alles war kalt und klamm. Nicht nur das Wetter, nicht nur die Welt, in der ich lebte, auch meine Gedanken und all meine Empfindungen. Grau und trüb. Trostlos. Diese Bohnen waren die einzige Farbe, der einzige Lichtblick. Seltsam, wie viel Trost man aus einer lauwarmen Mahlzeit ziehen konnte. War ich früher, als ich noch ein Leben hatte, auch so dankbar für solche Kleinigkeiten gewesen?

Mein Besucher stand regungslos vor mir und starrte mich an. Unauffällig hob ich den Blick, sah seine Schuhe und Hosenbeine. Sie waren nass und stanken nach brackigem Wasser, so als säße er noch immer in dem verlassenen Bunker fest. Die Begegnung damals hatte alles geändert, alles zerstört, was wir beide an Zukunft oder Hoffnung jemals besessen hatten.

Manchmal drangen … Gäste … zu mir durch. Sie tauchten entweder in meinen Verstecken auf, standen vor mir, so wie mein neuester Besucher, blieben meistens aber unsichtbar – eine Stimme aus der Nacht oder aus dem Wald. Sie kamen, um mir zu sagen, was für ein schlechter Mensch ich sei. Ein Versager, ein Arschloch, ein Dreckskerl und Verräter.

Er war noch nie aufgetaucht und ich wunderte mich, dass er es wagte, hier zu erscheinen, dass er den Mumm hatte, mir unter die Augen zu treten, nach dem, was er getan hatte – nach dem, was ich getan hatte.

„Was willst du?“, fragte ich.

Mir brach die Stimme weg. Ich schob es darauf, dass es die ersten Worte seit Langem waren, die ich sprach. Warum verschwand er nicht einfach dahin, wo er hergekommen war? Von mir aus, nachdem er seinen Spruch aufgesagt hatte. Er konnte mir nichts vorwerfen, dessen ich mich nicht schon selbst beschuldigt hatte.

„Alexej.“

Ich wartete darauf, dass dem irgendetwas folgte, doch es kam nichts. Es gab nur eine Sache, die ich von ihm hören wollte, aber die hat er nicht einmal über die Lippen gebracht, als es um Leben oder Tod gegangen war. Warum sollte er es also jetzt tun, wo dieser Anreiz nicht mehr bestand?

„Verzieh dich“, sagte ich. „Kriech zurück in das Loch, aus dem du gekommen bist und verrotte dort.“

Er rührte sich nicht vom Fleck und schließlich schaute ich auf und blickte in seine verhasste Fratze. Er sah genauso schlimm aus wie bei unserer letzten Zusammenkunft, aber alles andere wäre auch seltsam gewesen. Schließlich musste er wirklich aus einem Loch gekrochen sein. Aus einem tiefen Loch. Zwei Meter unter dem Waldboden.

Sein aschfahles, aufgedunsenes Gesicht bebte vor Angst. Gefangen in einem Albtraum.

Da geht es dir wie mir, dachte ich ohne Genugtuung, auch ich kann dem, was ich getan habe, nicht entkommen.

Was auch immer ihn in Angst und Schrecken versetzte, ich war nicht derjenige, vor dem er sich fürchtete. Nicht mehr. Hätte auch keinen Sinn, was sollte ich ihm jetzt noch antun? Das hatten wir alles schon hinter uns. Die Eintrittswunde prangte groß und rot genau zwischen seinen Augenbrauen und, als die Kugel am Hinterkopf wieder ausgetreten war, hatte sie ihm den halben Schädel weggesprengt. Er war tot und ich konnte ihn ja schlecht ein zweites Mal erschießen.

„Du bist schuld“, fand er endlich seine Sprache wieder.

„Ja, klar“, erwiderte ich und rührte die Bohnen um.

„Du hast mich umgebracht!“

„Auch schon bemerkt?“

Mir war bewusst, dass ich mich hinter diesen bissigen Bemerkungen versteckte. Doch ihm stand es nicht zu, mir irgendetwas vorzuwerfen, nicht, bevor er mir genau sagte, wofür er sich die Kugel eingefangen hatte. Und bis dahin war ich ihm keine Rechenschaft schuldig. Er war nicht der erste Mensch, den ich getötet hatte, wenn auch der erste Mord. Man hätte meinen sollen, ich wäre auf das Schuldgefühl vorbereitet gewesen.

Früher, in einem anderem, schmerzlich fernen Leben, war ich Polizist, Mitglied einer Spezialeinheit, die gerufen wurde, wenn die Scheiße wirklich überkochte. Der organisierte Drogenhandel war ein Milliardengeschäft, die Killer der Drogenmafia beinahe so gut ausgebildet wie wir – und manchmal sogar besser ausgerüstet. Natürlich hatte es Tote bei unseren Einsätzen gegeben. Aber von denen war niemals einer aufgetaucht, um sich bei mir zu beschweren. Er war die erste Leiche, die ein so dringendes Mitteilungsbedürfnis hatte, dass sie ihr Grab verließ. Im Vergleich zu dem Drogenkillern und Terroristen war er nur ein kleines Licht – und ein erbärmlicher Feigling. Er hatte sich eine Art zu töten ausgesucht, für die ihn kein Gericht der Welt verurteilen würde.

„Wie bist du aus dem Loch rausgekommen?“, schützte ich mich mit Spott. „Ich dachte, ich hätte dich tief genug verbuddelt. Hättest du nicht längst Kompost sein müssen? Aber anscheinend weigerst du dich sogar als Leiche, nützlich für die Allgemeinheit zu sein.“

An seiner Kleidung klebte keine Erde. Seine Haut zerkratzt, käsig und aufgequollen, aber keine Spur von Verwesung. Er war nur eine Halluzination.

Meine anderen Besucher, Trugbilder wie er, waren meines Wissens nach alle noch am Leben. Meistens kam Dimitri, mein ehemaliger Vorgesetzter und Einsatzleiter meiner Einheit. Den realen Dimitri hatte ich ganz gerne. Er war ein fähiger Mann. Doch die Wahnvorstellung von ihm hatte nichts anderes zu tun, als mir meine Fehler und mein Versagen aufzuzählen. Wenigstens war ich nicht vollständig am durchdrehen, noch wusste ich, dass meine Besucher nicht real waren. Meistens zumindest.

Ich streckte die Hand nach der Dose aus. Sie wurde langsam warm. Es war schön, das zu spüren, die Wärme, den Duft der roten Bohnen zu riechen. Wie ein Band zu einer Zeit, als es noch Geborgenheit und Halt gegeben hatte, als die Welt noch in Ordnung, als ich noch bei meiner Einheit gewesen war.

Meinen Job hatte ich geliebt, er war wichtig, dort konnte ich etwas bewirken und ... ich hatte ihn gut gemacht. Ich hatte viele Menschen gerettet. Wenn Dimitri kam oder als Stimme aus dem Wald rief, dann, um mir zu sagen, dass das nicht stimmte. Er warf mir vor, zu unbeherrscht, jähzornig, ein Wackelkandidat und ein Sicherheitsrisiko zu sein, man hätte mich im Grunde rauswerfen müssen. Wenn mir in solchen Momenten einfiel, dass ich mit einem Hirngespinst redete, musste ich ihm recht geben. Alles, was ich seit Alexandras Tod getan hatte, sprach dafür. Doch vorher hatte ich ihm keinen Grund zur Klage geliefert. Ich hatte meinen Job gemacht. Und ich hatte ihn gut gemacht!

„Warum habt ihr mich dann nicht rausgeworfen?“, rief ich in den undurchdringlichen Nebel, der mein kleines Lager eingekreist hatte, hinein.

Im Wald blieb es still. Klar, darauf fiel Dimitri nie etwas ein, denn dann hätte er zugeben müssen, dass ich mich früher immer im Griff gehabt hatte.

„Es hat mir etwas bedeutet, Unschuldige zu beschützen!“

Aber das hörte er nicht mehr.

Dafür stand dieses Arschloch mit seinem Loch in der Stirn noch immer vor mir und glotzte mich blöd an.

„Ich habe Geiseln befreit!“, herrschte ich ihn aufgebracht an. „Ich habe Terror- und Drogennester ausgehoben, habe Kopf und Kragen riskiert, um andere zu retten!“

Das ganze Elend meines Lebens, meiner versauten Zukunft, meiner Tat, brach mit Wut aus mir heraus.

„Und das sollte ich immer noch tun! Aber schau dir an,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6963-2

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