Spin off der Serie Boris und Olga
Wassilisa
Der Patient der Anarchistin
Kurzgeschichte
Der Patient der Anarchistin
Wassilisa
»Radik!«, stieß Wassilisa aus und eilte dem jungen Soldaten hinterher, der ihr das Klemmbrett mit den Krankenunterlagen entrissen hatte. Übermütig lief er zu seinem Freund zurück, um ihm seine Beute zu zeigen. Wieder einer von Radiks Scherzen. Für die Soldaten, die im Lazarett ihre Verletzungen auskurierten, eine willkommene Abwechslung. Johlend feuerten sie ihn an, andere hielten zu ihr, riefen: »Schnapp ihn dir!« oder »Wassilisa, verteidige deine Ehre!«
Die ausgelassene Stimmung täuschte. Streng genommen waren diese Männer ihre Feinde, Erfüllungsgehilfen eines Regimes, das sie bekämpfte, doch fernab der Schlachtfelder verwandelten sie sich in das, was sie in Wassilisas Augen wirklich waren: zu groß geratene, um Aufmerksamkeit buhlende Kinder. Doch auf der Krankenstation pfiffen ihnen weder Kugeln um den Kopf noch zerfetzten Explosionen ihre Körper. Stattdessen schliefen sie in sauberen Betten, bekamen regelmäßig zu essen und dachten sich alberne Scherze aus. Diese halben Kinder, sie glaubten, das große Los gezogen zu haben. Dass diese Annehmlichkeiten nur dazu dienten, sie auf etwas Schlimmeres als die Schlachtfelder, denen sie entronnen waren, vorzubereiten, ahnten sie nicht. Regierung und Ochrana verstanden sich auf Geheimhaltung, es kursierten kaum Gerüchte, was im geheimen Gebäudeteil geschah, selbst Wassilisas Organisation wusste nur, dass es sich um ein militärisches Projekt handelte. Weitere Informationen drangen nicht nach außen. Um mehr herauszufinden, hatte sich Wassilisa als Krankenschwester einstellen lassen.
Radik erreichte seinen Freund, setzte sich neben ihn und zeigte ihm die Krankenakten. Es war Wassilisa ein Rätsel, was er damit bezweckte. Radiks Freund, Boris, war ihr schon am ersten Tag aufgefallen. Ein seltsamer Kerl, mindestens doppelt so alt wie die anderen, viel zu alt, um noch als einfacher Soldat – als der er eingeliefert worden war – an die Front geschickt zu werden. Über seine rechte Gesichtshälfte zog sich eine auffällige Narbe und seine unbewegte und finstere Miene schien eine Warnung an die Welt zu sein: Halt dich von mir fern! Anfangs hatte Wassilisa vermutet, bei Boris handele es sich um einen in Ungnade gefallenen Offizier. Ein potenzieller Verbündeter. Doch inzwischen war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass er einfach nur ein weiteres armes Schwein war, eines, das zu viele Kämpfe erlebt hatte und letzten Endes irgendjemandem lästig geworden war. Er tat ihr leid, dabei wusste sie, dass sie sich Mitleid nicht erlauben konnte. Unter anderen Umständen, rief sie sich in Erinnerung, wäre er ein Todfeind. Ein treuer Soldat des Zaren, der, ohne mit der Wimper zu zucken, sie und ihre Kampfgenossen umbringen würde. Dennoch kreisten ihre Gedanken bisweilen um diesen Kerl, sie schob es darauf zurück, dass er sie an ihren Mann Gregory erinnerte. Gregory fehlte ihr und sie wusste nicht, ob er überhaupt noch lebte. Ihr Mann und Boris waren im selben Alter, ähnelten sich in Aussehen und Statur. Beide waren sie groß und kräftig und ihre Haare ergrauten. Außerdem besaßen beide eine Ausstrahlung, die einen dazu brachte, sich nach ihnen umzudrehen, selbst wenn sie nur still in einer Ecke saßen. Und da endeten die Gemeinsamkeiten. Wenn Gregory still in einer Ecke saß, was selten vorkam, dann verfolgten seine wachen Augen das Geschehen um ihn herum, auf den Lippen ein feines Grinsen, das zu einem gewinnenden Lächeln wurde, wenn er einem seine Aufmerksamkeit schenkte. Ihr Patient Boris war das genaue Gegenteil.
Ganz zu Anfang hatte Wassilisa, als sie noch glaubte, er wäre mehr als nur ein einfacher Soldat, Boris‘ Verschlossenheit für Feindseligkeit und Arroganz gehalten, doch sie hatte schnell gemerkt, es war nichts davon. Es war weder Gehabe noch Desinteresse, nicht einmal eine bewusste Taktik, andere Menschen auf Abstand zu halten.
Wassilisa kannte solche Menschen und auch das erinnerte sie an ihren Mann. Vor seiner Verbannung in ein sibirisches Straflager hatte Gregory als Arzt für Geisteskrankheiten gearbeitet. Ein guter Arzt. Einer der wenigen, die nicht glaubten, das Wegsperren in feuchte Keller wäre eine adäquate Behandlungsmethode, egal, ob es sich um Schwachsinnige handelte, um Menschen, die an unstillbarer Trauer litten oder unliebsame Verwandte, die man loswerden wollte. Boris hätte ein Patient ihres Mannes sein können. Auf die meisten Menschen wirkte Boris vermutlich, als hätte er kein Interesse an seiner Umgebung, doch Wassilisa war sich sicher, es steckte etwas anderes dahinter: Boris hatte keine Ahnung, wie man einen Kontakt zur Welt herstellte. Ein Schiffbrüchiger auf einer Insel, das Festland unerreichbar.
Vielleicht hatte Boris die Verbindung während des Krieges verloren – er wäre nicht der Erste –, aber möglicherweise hatte er sie auch schon als Kind nicht aufbauen können. Gregory hätte Boris mit Freuden als Patienten angenommen. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, der verknöcherten Fachwelt zu beweisen, dass Menschen wie Boris keine schwachsinnigen Idioten waren, sondern sich, mit etwas Hilfestellung, in der Gesellschaft zurechtfinden konnten; dass ihre Andersartigkeit eher einer unbekannten Sprache gleichkam und kein Zeichen verminderter Intelligenz darstellte.
Tatsächlich war Boris genau die Art von Patient, nach der Gregory immer gesucht hatte. Zu seinem Unglück wurden Kinder mit dieser Veranlagung entweder in die Armee oder in Fabriken abgeschoben.
Nun hatte es die Armee so verfügt, dass Boris ihr Patient war, wenn auch aus anderen Gründen, und vielleicht konnte sie die Theorien ihres Mannes beweisen. Dadurch könnte sie sich ihm nah fühlen.
»Was sollte das?«, fragte Wassilisa ärgerlich, als sie Radik erreichte. Sie riss ihm das Klemmbrett aus den Händen.
»Ich wollte nur mal sehen, was da über mich steht«, log Radik und grinste sie wie ein Schuljunge an, dem ein grandioser Streich gelungen war, »ob ich bald gesund bin.«
»Und, kannst du lesen?«
»Nein, aber ich dachte, ich könnte es ja mal probieren.«
Gereizt verzog sie den Mund. Was Radik mal probieren wollte, war nicht schwer zu erraten. Seit er sich – warum auch immer – mit Boris angefreundet hatte, versuchte er, sie mit Boris zu verkuppeln und Wassilisa wusste nicht, ob Radik ernsthaft glaubte, er könne Erfolg haben oder ob er sich nur einen Spaß mit seinem Kameraden erlaubte. Es war unfair, diesem armen Kerl Hoffnungen zu machen. Geistesabwesend ließ sie die Krankenblätter durch ihre Finger gleiten und erkannte entsetzt, was Radik seinem Freund gezeigt hatte: eine Zeichnung von Boris. Wassilisa hatte sie angefertigt, als sie noch geglaubt hatte, Boris könne ein ehemaliges hohes Tier beim Militär sein. Um Boris‘ wahre Identität in Erfahrung zu bringen, wollte sie diese Zeichnung ihren Mitverschwörern zukommen lassen. Hoffentlich zog Boris, nachdem er die Zeichnung gesehen hatte, keine falschen Schlüsse und gab sich unerfüllbaren Erwartungen hin. Zwar hatte es den Anschein, als hätte Boris der Zeichnung kaum einen Blick geschenkt, doch Wassilisa wusste inzwischen, dass dieser stumme Kerl weit mehr von seiner Umwelt wahrnahm, als der erste Eindruck vermuten ließ.
In einem Punkt hatte Radik recht, sie verbrachte mehr Zeit mit Boris als mit ihren anderen Patienten. Bei seiner Einlieferung quälte ihn ein eiternder Backenzahn, dieser war gezogen worden und Wassilisas Aufgabe bestand darin, die Wunde zu versorgen, bis die Entzündung abklang. Sie hatte sich angewöhnt, mit Boris zu reden, während sie den Eiter anstach und abtupfte. Lange zeigte er keine Reaktion, zuckte nicht einmal vor Schmerz, doch wenn sie aufstand, um zu gehen, senkte er unmerklich den Kopf. Als ihr diese minimale Geste zum ersten Mal auffiel, kam ihr der Verdacht, es könne ein Ausdruck des Bedauerns sein. Sie hatte sich wieder gesetzt und Boris hatte den Kopf wieder gehoben.
Seit diesem Tag blieb sie länger bei ihm, als für ihre Arbeit nötig wäre. Sie redete mit ihm, erzählte von im Grunde belanglosen Dingen, beschrieb ihm Landschaften. Und Boris hörte zu, drehte den Kopf in ihre Richtung. Einmal strich er mit den Fingern über das Laken, als sie von einem Weber berichtete, so als wolle er das Leinen, von dem sie erzählte, auch fühlen.
Ihr Interesse an Boris war selbstverständlich rein beruflicher Natur. Wäre sie als Mann zu Welt gekommen oder wäre die Welt eine andere, hätte sie – wie Gregory – Medizin studiert. Am Tag nach der Geschichte mit dem Weber und dem Laken brachte sie eine Rabenfeder mit, legte sie wie beiläufig aufs Bett und erzählte das Märchen der sieben Raben. Wie vermutet, tastete Boris‘ Hand nach der Feder und erstaunlich behutsam erkundeten seine Finger die zarten Strukturen. Wenn man genau darauf achtete, veränderte sich sogar sein Gesichtsausdruck.
Im Schwesternzimmer schloss Wassilisa das Klemmbrett mit den Krankenunterlagen weg. Sie mochte Radik wegen seiner fröhlichen und unbekümmerten Art und auch, weil er nicht versucht hatte, ihr den Hintern zu tätscheln oder an den Busen zu greifen, was die anderen Soldaten, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihre Mutter sein könnte, immer wieder mal ausprobierten. Umso ärgerlicher war es, dass er es darauf anlegte, Boris zu diesem Verhalten zu animieren. Das Absurde daran war, hätte es Boris wirklich getan, wäre es ein Fortschritt für ihn gewesen. Eine Kontaktaufnahme mit der Welt.
Wassilisa rieb sich erschöpft die Schläfen. Sie musste noch mal in den Krankensaal zurück, Boris irgendwie vorsichtig beibringen, dass Radik sich irrte, ihn aufzog. Am besten, ohne Boris zu verletzen, ohne die Brücken, die er grade zaghaft zu errichten begann, gleich wieder mit Stumpf und Stiel einzureißen. Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und kehrte zurück.
»Oho«, machte Radik in seiner typischen Art, nachdem sie sich zu Boris aufs Bett gesetzt hatte, »dann will ich mal nicht stören und lasse euch allein.«
Wassilisa seufzte. Aber wenigstens ging Radik. Sie sah ihm nach, um festzustellen, wo er jetzt Unsinn anzustellen gedachte. Als sie sich wieder umdrehte, stellte sie fest, dass Boris sie ansah. Das hatte er noch nie getan und es hielt auch nur einen winzigen Moment an. Sofort wandte er den Blick ab.
Die Unfähigkeit, Blickkontakt zu halten, markierte einen weiteren Baustein in Gregorys Theorie. Er hielt es für falsch, das mit Unehrlichkeit und Verschlagenheit gleichzusetzen. In diesem Punkt – man sollte es nicht glauben – widersprach Gregory sogar seiner Mutter. Diese war felsenfest davon überzeugt, den Charakter eines Menschen erkenne man daran, wie lange er einem in die Augen sehen konnte. Daher rührte wohl auch ihre Angewohnheit, alles und jeden niederzustarren.
»Wir sollten uns beide nicht so von Radik verschaukeln lassen«, sagte Wassilisa.
Ein kaum wahrnehmbares Zucken in Boris‘ Mundwinkeln.
»Sag mal, Boris«, sie beugte sich vor, »das ist jetzt doch nicht etwa ein Lächeln, oder?«
Ein weiteres Zucken, genauso leicht zu übersehen wie das erste. Er sah sie weiterhin nicht an, schaute nach unten. Sie folgte seinem Blick. Wie immer trug Wassilisa ihre Haare zu einem Zopf geflochten. Lange Haare waren unpraktisch für eine Widerstandskämpferin, aber ihr Mann liebte sie. Der Zopf fiel über ihren Rücken, fiel bis auf die Matratze und seine Spitze ringelte sich in Boris‘ offener Handfläche. Vorsichtig strich er mit dem Daumen über ihr Haar. In diesem Moment brachte Wassilisa es nicht über sich, Boris zu sagen, dass er für sie nur ein Patient sei. Sie konnte ihm seine Illusion nicht rauben. Und – in ihrem Magen bildete sich ein Klumpen – was spielte das schon für eine Rolle? Dies war kein normales Krankenhaus. Es war eine geheime militärische Anlage. Diese Männer wurden nicht gesund gepflegt, um ein besseres Leben zu führen. Und auch Wassilisa war nicht hier, um sie zu kurieren. Sie war umringt von Toten, die nur noch nicht zu atmen aufgehört hatten. Die wenigsten würden diese Anlage jemals wieder verlassen. Sie zwang sich dazu, sich an ihre Aufgabe zu erinnern: Herauszufinden, was die Regierung hier plante. Und bis dahin … wem schadete sie denn, wenn sie Boris in dem Glauben ließ, sie wäre ein wenig verliebt in ihn?
In den nächsten Wochen konnte Wassilisa einiges in Erfahrung bringen. Die komplexe und verzweigte Anlage verfügte über einen Keller, in der eine besondere Art von Maschine stehen musste. Obwohl als Heizungskeller deklariert, wurde der Einlass streng bewacht. Zugang hatten nur wenige, einer davon ein Mann, der einen weißen Kittel trug und den sie dennoch nie bei den Patienten gesehen hatte. Also kein Arzt. Vielleicht ein Wissenschaftler. Sie fand heraus, dass er Tachyon hieß und so gut wie kein Russisch sprach. Immer wenn er den Keller aufsuchte, schienen kurz darauf tiefe, niederfrequente Wellen durch die Mauern zu vibrieren. Einmal konnte sie diesen Tachyon belauschen, wie er sich mit einem Assistenten unterhielt. Die Sprache, die sie benutzten, hörte sich nach Deutsch an. Wassilisa verstand kein Deutsch, doch einige Worte hatten den gleichen Ursprung wie im Russischen. Sie erkannte Experiment, einige andere könntenOperation und Anästhesie bedeuten.
Eines Nachts erreichte neues Personal das Lazarett, zumindest war das ihr erster Gedanke gewesen, als sie die lachenden Frauenstimmen durch die Gänge hallen hörte und die üblichen Balzlaute der Wachmannschaft. Noch mehr Krankenschwestern, hatte sie vermutet. Allerdings tauchten diese Krankenschwestern nie bei den Patienten auf. Man schien sie ohne Umwege auf die geheime Station gebracht zu haben. Wassilisas Versuche, diese geheime Station auszukundschaften, scheiterten, sie kam nicht einmal in die Nähe.
Zwei Tage nach dem Eintreffen des vermeintlich neuen Personals erschien Wassilisa morgens zum Dienst und sah, wie ein Arzt ihre Unterlagen durchging. Mit einem Nicken befahl er ihr, ihm zu folgen. Schreckliches ahnend, schloss sie sich ihm an, als er die Reihen der Krankenbetten abschritt. Die Patienten waren an diesem Tag in Hochstimmung, die Zarin hatte ihr erstes Kind zur Welt gebracht und man hatte den Männern Fleisch, Kuchen und warmen Wein versprochen. Der Arzt wies auf einzelne Männer, sagte: »Der! Und der dort!«, pickte sich die Gesündesten und Kräftigsten heraus. Wassilisa wusste, was das bedeutete, auf der geheimen Station würden sie mit ihrer Arbeit beginnen. Mit den Experimenten, den Operationen. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch als der Arzt auf Boris zeigte, stockte ihr der Atem. Ausgerechnet jetzt, wo er anfing zu gesunden. Nicht körperlich, die Entzündung und andere kleinere Verletzungen waren längst ausgeheilt, doch geistig. Eine erste dünne, zerbrechliche Brücke von seiner Insel zum Festland hatte er gebaut. Auf eine Art unterhielt sie sich sogar mit Boris, nicht mit Worten, die schienen für ihn nach wie vor etwas zu sein, was nicht zur Kommunikation gehörte, doch sie hatte gelernt, in seiner Mimik zu lesen. Und von Boris hatte sie gelernt, das Schweigen zu schätzen. Sie hatten stille Spaziergänge unternommen. Keine weiten, nur die Gänge zwischen den Betten auf und ab. Die Patienten hatten im Krankenzimmer zu bleiben und selbst das Personal dufte das Gebäude nicht verlassen. So blieben ihnen nur die Reihen zwischen den Krankenlagern, manchmal begleitet von den Witzen der Soldaten. Boris ertrug die Häme, die man über ihn ausschüttete. Nur wenn man ihn allzu laut und allzu nachdrücklich Idiot nannte, warf er einen grimmigen Blick in Richtung des Spötters.
Als der Arzt auf Boris zeigte und sagte: »Der da auch!«, wusste Wassilisa, sie würden nie wieder Spaziergänge unternehmen. Und sie würde sie vermissen.
Den ganzen restlichen Tag über brachte sie es nicht fertig, sich zu Boris zu setzen, obwohl beide diese Angewohnheit lieb gewonnen hatten und er sie – für seine Verhältnisse – traurig und fragend ansah, wenn sie sich mit anderen Patienten beschäftigte und um sein Lager einen großen Bogen machte.
Am Abend tauchten Pfleger auf, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Große Kerle, so kräftig, als hätte man sie extra dafür gezüchtet, den Widerstand von Patienten zu brechen. Einer von ihnen steuerte auf Boris zu, hastig schloss sich Wassilisa ihm an. Sie musste ihm wenigstens Lebewohl sagen, das war sie ihm schuldig.
»Schade«, sagte Radik zu Boris. »Ich hatte gehofft, wir würden zusammen feiern.«
Boris senkte den Kopf und hob die Schultern. Die armen Kerle ahnten wirklich nichts und Wassilisa biss sich auf die Zunge.
Widerstandslos ließ sich Boris von dem Pfleger abführen. Erneut schloss sich Wassilisa ihm an, sie würde Boris so weit begleiten, wie man es zuließ.
»Wassilisa«, rief Radik ihr anzüglich nach. »Ich verlasse mich darauf: Du passt auf, dass mein Freund Boris nicht zu kurz kommt. Du weißt schon.«
Du weißt schon. Diese Kinder, so ahnungslos, sie wussten nicht, was ihnen bevorstand.
Zu Wassilisas Erstaunen hielt niemand sie auf, als sie dem Muskelpaket von Pfleger Gang um Gang folgte. Alle Wachen ließen sie passieren, warfen ihr bestenfalls einen beiläufigen Blick zu und widmeten sich lieber wieder ihren Gesprächen über die geplanten Feierlichkeiten. In diesem Zusammenhang erfuhr Wassilisa, was es mit den neuen Krankenschwestern auf sich hatte. Offiziell wurden sie tatsächlich so genannt und man hatte sie auch in Schwesterntrachten gesteckt, doch in Wahrheit handelte es sich um Prostituierte, die man aus Perm und Jekaterinburg hergebracht hatte, um die Wissenschaftler und deren Assistenten bei Laune zu halten. Die Wachen rechneten sich Chancen aus, diesen Abend auch in den Genuss der Dienstleistungen dieser Damen zu kommen. Daher vielleicht ihre Unachtsamkeit. Jedenfalls stellte ihr niemand Fragen und Wassilisa betrat die geheime Station.
Hier war die Feier anlässlich der Geburt Prinzessin Olgas bereits im Gange. Irgendwo saß man bei einem Gelage zusammen, Männer johlten in fremden Sprachen, Frauen lachten übertrieben. Wassilisa versuchte sich alles genau einzuprägen. Die vielen Operationssäle erschreckten sie. In einem war ein Gehilfe damit beschäftigt, das Operationsbesteck zu säubern und auf einem Tuch auszubreiten. Auf dem Operationstisch saß ein weiterer Pfleger und ließ ein paar Tropfen aus einer Glasflasche auf ein Tuch träufeln. Das Tuch presste er sich dann auf Nase und Mund. In der Luft lag ein schwerer, blumiger Geruch. Ether, wurde Wassilisa bewusst. Das Anästhetikum, von dem Tachyon gesprochen hatte. Der Pfleger, der sich am Ether berauschte, rief dem anderen etwas zu und machte eine obszöne Geste. Wassilisas Pfleger lachte, öffnete eine Tür direkt gegenüber des Operationssaals und gab Boris mit einem Wink zu verstehen, er solle hineingehen. Wieder schloss sich Wassilisa ungefragt an. Der Pfleger wirkte kurz erstaunt und leckte sich dann über die Lippen. Wassilisa sah sich hastig um, erfasste die Situation: Sie befanden sich in einem Krankenzimmer, ein einzelnes Bett, am Stahlrahmen baumelten Hand- und Fußfesseln. Im Gegensatz zum Krankenlager besaß dieser Raum ein richtiges Fenster und es tröstete Wassilisa, dass Boris wenigstens den Himmel sehen konnte. Natürlich war das Fenster vergittert. Auf dem Bett lag ein Kittel, auf einem Tisch Rasierzeug und Desinfektionsseife. Vor dem Bett stand ein Hocker, daneben eine Waschschüssel.
»Du musst das jetzt ausziehen«, sagte sie und zupfte an Boris‘ Krankenhaushemd. »Dort auf dem Bett liegt ein Kittel für dich.«
Der Pfleger, der es wohl ursprünglich übernehmen sollte, Boris für die Operation vorzubereiten, verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die Tür und grinste dreckig. Wassilisa ignorierte ihn, so gut es ging, vermied es allerdings auch, Boris anzusehen, als dieser das Hemd über den Kopf zog. Erst als er den Kittel angelegt hatte, drehte sie sich zu ihm um und band den Kittel im Nacken zu.
»Jetzt setz dich«, sagte sie mit belegter Stimme, wandte Boris und dem Pfleger den Rücken zu, als sie den Rasierschaum anrührte. Als sie ihren Mann zum letzten Mal gesehen hatte, war er es, den sie rasiert und dem sie den Kopf geschoren hatte. Er war zu lebenslanger Verbannung und zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden, saß im Gefängnis und wartete auf seinen Abtransport. Als angesehener Arzt erlaubte man ihm, seine Frau ein letztes Mal zu sehen. Gregory hatte sie gebeten, Rasierzeug mitzubringen. Den zur Katorgra, zur Verbannung Verurteilten brannte man die Buchstaben K. A. T. ins Gesicht und schor ihnen die Schädel, oft mit rostigen Rasiermessern. Die kleinen Schnittwunden infizierten sich. Gregory wollte jede Entzündung vermeiden. Er war ein Kämpfer. Er wollte überleben und er wollte zu ihr zurückkehren.
»Läuse?«
Die Frage ließ Wassilisa zusammenzucken. Jetzt erst bemerkte sie, sie hatte Boris, so wie ihrem Mann, nicht nur den Bart, sondern auch die Schläfen rasiert. Er war das erste Mal, dass Boris mit ihr gesprochen hatte. Und nicht nur das, er sah sie an. Diesmal war sie es, die den Blick abwandte. Was hatte sie nur angerichtet. Sie hatte den armen Kerl aus seinem Panzer gelockt, ihm gezeigt: Die Welt war es wert, mit ihr in Kontakt zu treten, nur um ihn in die Hölle zu entlassen.
»Für deinen großen Tag morgen«, spottete der Pfleger gehässig. Sein Russisch hatte einen hässlichen Akzent.
Wassilisa presste die Lippen aufeinander, zwang sich, mit der Arbeit fortzufahren. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie dicht sie vor Boris stand, ihre Brüste direkt vor seinem Gesicht. Sie wunderte sich, dass ihr diese Nähe nicht unangenehm war, sah, wie Boris beschämt den Blick niederschlug. Es war ein seltsamer Moment, voller Vertrautheit. Sie spürte eine Berührung am Knie, so sacht und zaghaft, als wäre sie rein zufällig. Eine unausgesprochene Frage lag in der Luft:Darf ich dich berühren? Und sie antwortete mit Ja, indem sie ihr Bein nicht wegzog. Leise ließ Boris die Luft aus den Lungen entweichen, sein erleichtertesDanke. Eine stumme Unterhaltung, als würde man sich seit Ewigkeiten kennen und keiner Worte mehr bedürfen.
Wassilisa ließ sich Zeit, sollte man dem armen Kerl doch seine unschuldige Freude lassen.
»Bist du langsam fertig?« Der Pfleger verlor die Geduld.
»Ja«, sagte sie erschrocken. Sie hatte seine Anwesenheit beinahe vergessen.
»Na, dann können wir ja endlich abhauen. Ich will die Feier nicht versäumen.«
Wassilisa räumte das Waschzeug zusammen, folgte dem Pfleger nach draußen. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. Boris sah sie an und wieder wich sie seinem Blick aus. Es gab nichts, was sie für ihn tun konnte.
»Ich bin nur für das Krankenlager zuständig«, versuchte sie Boris zu erklären, »das bedeutet, ab morgen werden sich andere um dich kümmern.«
»Ja«, sagte der Pfleger, »Ab morgen gibt es dann endlich mal was fürs Auge. Alles, was hier mit dem Hintern wackelt, ist von den hohen Herren persönlich ausgesucht, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ach, halt den Mund«, fuhr Wassilisa den Pfleger voller Abscheu an, doch der lachte, klatschte ihr auf den Hintern und griff ihr zwischen die Beine.
»Nicht so alte Gestelle wie die hier.«
Wassilisa biss die Zähne zusammen, brach dem Mistkerl weder die Finger noch den Kiefer. Stattdessen ließ sie sich von ihm nach draußen schieben. Auf dem Gang verriegelte er die Tür zu Boris' Zimmer. Wassilisa beeilte sich, wegzukommen – und Boris' fragenden Blick zu vergessen.
»Na«, der Pfleger holte sie ein, legte einen seiner massigen Arme um ihre Schultern und knetete grob ihre Brust, »jetzt gehen wir beide ein wenig feiern.«
Solche Arschlöcher rechneten nie damit, dass eine Frau willens und fähig war, sich zu wehren. Ein Griff in das weiche Gewebe zwischen Daumen und Handwurzel, der andere um sein Ellenbogengelenk, eine leicht ausgestellte Hüfte und der Kerl lag auf dem Boden. Sein Glück, das sie hier eine Aufgabe zu erledigen hatte, sonst wäre ihm für eine lange Zeit die Lust auf feiern vergangen.
Einmal war es ihr passiert. Einmal war sie vergewaltigt worden. Es war in ihrer Verlobungszeit geschehen. Von diesem Vorfall hatte sie Gregory nie erzählt, er war wirklich ein guter Mann, unterstützte sie in allem, was sie tat, doch was seine Familie betraf … da war er mit gnadenloser Blindheit geschlagen. Für ihn bestand seine Familie nur aus Heiligen und Helden. Doch das war, neben seiner übertriebenen Eifersucht, sein einziger Fehler und im Laufe ihrer Ehe war Wassilisa sehr erfindungsreich geworden, wenn es darum ging, Ausreden zu finden, ihn nicht zu seinen Eltern zu begleiten.
Auf dem Weg nach unten prägte Wassilisa sich jede Einzelheit dieses verbotenen Stockwerks ein, zählte die Krankenzimmer, sah einen Lagerraum für Ether und seltsame Maschinen, die sie nicht einordnen konnte. Gerade die Maschinen hätte sie gerne genauer in Augenschein genommen, doch ein Mann im weißen Kittel musterte sie misstrauisch, als sie sich einer näherte. Auch diesen Mann hatte sie noch nie gesehen. Er war um die fünfzig und schien vor Energie und Selbstbewusstsein zu strotzen. Eindeutig kein Handlanger, sondern jemand, der etwas zu sagen hatte.
Währenddessen nahmen die Feierlichkeiten anlässlich der Zarentochter groteske Züge an. Die Patienten freuten sich über das Festmahl. Halb verhungert waren sie vor Wochen hier angekommen und die meisten hatten noch nie ein derart gutes Essen bekommen. Sie sangen Loblieder auf den Zaren, auf Prinzessin Olga und immer wieder die russische Nationalhymne. Die Ärzte und Schwestern der Krankenstation ließen sich davon anstecken. Wahrscheinlich suchte sich die Anspannung, unter der alle standen, ein Ventil. Auch wenn niemand wusste, wozu diese Anlage wirklich diente, dass es sich um ein streng geheimes Militärprojekt handelte, war allen klar. Nicht nur die Patienten, auch das medizinische Personal war in abgedunkelten Wagen durch die russische Wildnis gekarrt worden, sie hatten alle ein Dokument unterschreiben müssen, niemals ein Wort über ihre Tätigkeit hier zu verlieren. Auf Zuwiderhandlung stand der Tod. Und nun, nachdem sie ein paar Wochen mitten im Nirgendwo eingesperrt waren, fragte sich wahrscheinlich der ein oder andere, ob man überhaupt vorhatte, sie lebend von hier fortzulassen. Der Wein war bald aufgebraucht, auch der Wodka, den manch einer in seinem Gepäck mitgebracht hatte. Schnell fanden sie ein anderes Rauschmittel. Sie vergriffen sich an dem Ether, der den Patienten bei Operationen die Schmerzen ersparen sollte. Die Entdeckung dieses Narkosemittels lag erst wenige Jahrzehnte zurück. Veränderungen und Entwicklungen hatten es schwer im Zarenreich. Noch immer lehnten die meisten Ärzte und Feldscher die Narkose ab. Aber als Droge hatten sie Ether schätzen gelernt.
Wassilisa holte ihre Unterlagen hervor. Es war Zeit, die Zeichnung von Boris zu vernichten. Wie unvorsichtig, sie so lange aufzuheben. Boris war kein ehemals hochrangiger Militär, sie hatte auch keinen Weg gefunden, Botschaften hier herauszuschmuggeln und selbst wenn, Boris würde nicht lange überleben. Man hatte ihn als einen der Ersten geholt, was immer sie mit ihm vorhatten, es war mit Sicherheit noch nicht ausgereift. Sie schlug die Zeichnung auf und konnte sich auf einmal nicht dazu durchringen, sie zu zerreißen. Wer wusste alles von der Zeichnung? Würde sie sich nicht eher verdächtig machen, wenn sie sie vernichtete? Verdächtiger, als sie es ohnehin schon war? Die Frau eines Kartorga-Sträflings, selbst einmal zu einer milden Form der Verbannung verurteilt worden. Wegen so einer Zeichnung. Damals hatte sie sich darauf hinausgeredet, sie hätte den Mann, bei dem es sich um einen Offizier der russischen Geheimpolizei handelte, nicht gekannt, aber ihn auf der Straße gesehen, sich in ihn verliebt und daraufhin gezeichnet, um ihn immer am Herzen tragen zu können. Genau diese Worte hatte sie vor dem Richtertisch gesagt und dabei mit den Wimpern geklimpert. Diese Art von Lüge glaubte man gern. Die untreue Ehefrau. Der arme Gatte, der ihr verzieh und ihr in die Verbannung folgte. Das konnte ihr doch auch diesmal als Tarnung dienen. Die untreue Ehefrau verliebte sich in einen Patienten. Radik schien überzeugt, dass es sich so verhielt. Wahrscheinlich war er nicht der Einzige.
Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien es ihr, diese Tarnung aufrechtzuerhalten, sie konnte sie sogar nutzen, um noch einmal auf die geheime Station zu gelangen. Wassilia wartete, bis das Chaos seinen Höhepunkt erreichte, und ging in die Küche, in der sich gerade der Koch und einer der Ärzte mit einem Küchenmädchen vergnügten. Sie drückten sich gegenseitig Ethertücher ins Gesicht und ließen sich durch Wassilisa nicht stören. Von dem Festessen war nur noch Hühnereintopf übrig, aber immerhin konnte sie einen Rest Wein auftreiben. Das musste genügen. Sie drapierte es auf einem Tablett und machte sich auf den Weg.
Auf der geheimen Station bot sich ihr ein ähnliches Bild wie unten. Auch hier wurde gesungen und dem Etherkonsum gefrönt. Niemand beachtete sie.
Sie schlich in einen der Räume, in denen sie eine der Maschinen gesehen hatte, stellte das Tablett ab und untersuchte sie. Entfernt ähnelte der Apparat modernem Kriegsgerät, sie sah etwas, was Energieleitungen sein konnten, Energiekartuschen, doch ohne Ladung.
Eine Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Erschrocken fuhr sie herum. Es war der zudringliche Pfleger, er hatte in der unbekannten Sprache geredet, doch als er sie erkannte, wechselte er ins Russische.
»Ach, das alte Gestell.« Er klang, als wäre ihr Alter eine persönliche Beleidigung für ihn. Sein Arm lag diesmal um eine sehr üppige Rothaarige, die nicht einmal vorzuspielen versuchte, sie wäre eine Krankenschwester.
»Nee, Uljana«, sagte er zu der Rothaarigen, »mit der will ich nicht. Suchen wir uns eine andere.«
Wassilisa wollte schon aufatmen, doch dann sah der Pfleger sie scharf an.
»Was machst du überhaupt hier?«
»Ich soll meinem Boris was zu essen bringen«, sagte Wassilisa und verfluchte sich, weil sie nicht sehr überzeugend klang. Sie hatte lallend begonnen, war aber mitten im Satz von betrunkene Matrone auf naive Unschuld umgeschwenkt. Zum Glück schien es weder dem Pfleger noch der Rothaarigen aufgefallen zu sein.
»Da bist du hier aber falsch«, sagte er.
»Warum geht der Herd denn nicht an?«, Wassilisa hatte sich entschieden, die Betrunkene zu geben, »Ich muss doch den Eintopf heiß machen.«
»Na, wenn es sich mit dir begnügt, dann wird ihm auch nicht auffallen, dass der Fraß ebenfalls nicht heiß ist.«
Er lachte über seinen eigenen Witz, die Prostituierte stimmte pflichtschuldig mit ein. Beide blieben stehen. Also nahm Wassilisa das Tablett und verließ den Raum. Pfleger und Prostituierte folgten ihr den Gang entlang, wechselten wieder in die andere Sprache, doch es war eindeutig, dass sie sich über sie lustig machten. Als Frau musste man lernen, damit umzugehen. Jede kannte das, egal, ob jung oder alt, ob hübsch oder hässlich. Gregory war wirklich ein guter Ehemann, war nie auf die Idee gekommen, Herr im Haus zu spielen oder ihr Vorschriften zu machen, doch als er sich einmal zwei Tage lang darüber beklagt hatte, dass zwei Assistenzärzte einen Witz über ihn gerissen hatten, hatte sie ihm an den Kopf geworfen: Ertrag' es wie eine Frau! Daraufhin strafte er sie eine Woche lang mit seiner schlechten Laune.
Der Pfleger und die Hure liefen hinter Wassilisa her, bis sie die Tür zu Boris‘ Zimmer erreicht hatte. Wassilisa schob den Riegel zurück und ging hinein. Es war, als beträte sie eine andere Welt. Der dunkle Raum schien mit Einsamkeit und Unglück angefüllt zu sein, dünstete er Elend und Verzweiflung doch förmlich aus.
»Wassilisa?«
Boris' Stimme in der Schwärze. Sie hörte, wie er sich aufsetzte.
Wenn man sich die Mühe machte, auf seine minimalen Gebärden, die winzigen Veränderungen seiner Mimik zu achten, dann war er nicht der abgestumpfte Soldat, für den man ihn halten konnte, erst recht nicht der schwachsinnige Idiot. In seiner Stimme klangen ungläubige Verwunderung und Hoffnung mit. Und eine Spur Angst. Angst, was mit ihm hier geschehen sollte. Genauso wie bei der Frage: Läuse? Er wollte wissen – verstehen -, was die Welt mit ihm vorhatte. Wahrscheinlich ein großer Schritt für ihn. Die Brücke zum Festland – und wofür? Nur um zu erfahren: Er sollte für ein Projekt herhalten, dessen Sinn und Zweck er nie erfahren würde, dass ihm nach viel Leid das Leben kosten würde. All die Operationssäle, die seltsamen Maschinen.
Ob Boris sich bewusst war, dass er sie bei ihrem Namen genannt hatte?
»Pst«, machte sie, stellte das Tablett ab und schloss die Tür.
»Ist das wegen Olga?«, fragte er schüchtern.
Obwohl den ganzen Tag über auf den Zaren und die neugeborene Prinzessin angestoßen worden war, begriff sie nicht sofort, was er meinte. Ja, auch sie hatte ihn unterschätzt. Doch Boris bekam mit, was um ihn herum geschah. Und er wollte nicht wirklich wissen, ob sie hier war, um ihm das versprochene Festessen zu bringen, er wollte wissen, ob sie wegen ihm gekommen war. Wassilisa fühlte sich elend.
»Ja«, erwiderte sie bitter, »ein Tag der Freude. Aber wenigstens ein Vorwand, noch einmal herzukommen.«
Sie kam sich schäbig vor, setzte sich zu ihm auf den Bettrand, vielleicht, um es irgendwie wiedergutzumachen.
»Es gibt keinen Weg raus«, sagte sie und meinte nicht nur diese gut gesicherte Anlage mitten im Nichts. Sie spürte, dass Boris die Hand bewegte, dann eine leichte Berührung am Bein.
»Du hast nicht die geringste Ahnung, was hier passiert, oder?«, fragte sie.
Sofort zog er erschrocken die Hand zurück. Sie bedauerte es, die Frage gestellt zu haben. Die Berührung hatte sie nicht gestört. Weder etwas Forderndes noch Bedrohliches hatte ihr angehaftet.
»Ich habe noch nie Huhn gegessen«, sagte Boris, um abzulenken.
Und noch nie eine Frau geküsst, die dich liebt, hätte Wassilisa beinahe hinzugefügt. Sie musste es gar nicht aussprechen, Boris sagte es selbst. Nur benutzte er andere Worte.
»Radik sagt, er hat ein Mädchen. Und er will nach Sibirien.«
Ein so bescheidener Wunsch und gleichzeitig so unerfüllbar. Ein Mensch zum gernhaben, ein Ort, an dem man in Frieden leben konnte. Es war nicht leicht, Wassilisa zum Weinen zu bringen, das konnte sie sich weder als Krankenschwester noch als Widerstandskämpferin leisten, doch jetzt rann ihr eine Träne übers Gesicht.
»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte Boris erschüttert.
Etwas schnürte sich um ihren Brustkorb zusammen. Boris war wirklich kein stumpfsinniger Idiot. Wenn man sich nur die Mühe machte, auf die feinen Signale zu achten. So wie er es tat. Es war dunkel, er hatte die Träne nicht sehen können, und selbst wenn, ihrer Erfahrung nach waren Männer sehr gut darin, nicht mitzubekommen, wenn es einer Frau schlecht ging. Außer natürlich, es war eine hübsche Maid in Not und sie durften den Helden spielen. Gregory, ihr wundervoller Ehemann, der Beste, den sie sich vorstellen konnte, litt ebenfalls an dieser speziellen Blindheit. Seine Mutter war ein Drache, die keine Gelegenheit ausließ, Wassilisa das Leben schwer zu machen. Um Gregorys willen ertrug sie es, doch manchmal konnte sie das Lächeln nicht mehr beibehalten. Gregory sah es nie. Außerdem gab es Tage, an denen verfolgte er sie mit seiner Eifersucht. Seiner unbegründeten Eifersucht. Seine Eifersuchtsanfälle waren selten, doch wenn, dann endete der Streit nie, bevor sie in Tränen ausbrach und er türenknallend das Haus
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2016
ISBN: 978-3-7396-5019-7
Alle Rechte vorbehalten