Vier Monde
Dirk Morenweiser
“Nouró, der Herrscher über Iluntasuna, hat die vier Schwerter, die Waffen der mächtigsten Götter der Vorzeit, vereinen können. Die Wut, der Zorn, mit dem sie sich bekämpft hatten, wohnen diesen Waffen inne. Diese dunkelsten Kräfte hat Nouró sich zu eigen gemacht und damit vier Monde freigesetzt, die sich vor die Sonne schieben werden und bis an das Ende der Zeit dort verbleiben. Haben sie die Sonne verdunkelt, sind wir im Inneren kalt. Macht, Unterdrückung und Gier werden herrschen. Alles Herrliche wandelt sich in Leere. Wärme, Liebe und Freude wird es nicht einmal mehr in der Erinnerung geben. Sinn wird zu Unsinn. Du hast es in deinen Händen, nur du kannst es verhindern.”
“Ich bin dieser Anforderung nicht gewachsen! Ich habe keine waghalsigen Pläne, keine kühnen Ideen, ich will die Welt weder erobern noch retten. Ich weiβ nicht einmal, was sie ist. Ich will nur irgendein Mensch sein, ohne besondere Bedeutung!”
„Vier Monde“ ist eine Geschichte über zwei junge Menschen, die sich unerwartet kennen lernen und sich gezwungen sehen, gegen eine sich über alles legende, bedrohliche Macht zu kämpfen. Auf ihrem Weg nach Iluntasuna, dem Reich der Dunkelheit, müssen sie nicht nur gegen Feinde bestehen, sondern sie stehen sich in ihrer Unerfahrenheit auch selbst im Weg. Es ist eine Geschichte über die Ausweglosigkeit, über die eigenen Zweifel, über Grenzerfahrungen, über Menschlichkeit und Liebe.
Vielen Dank an:
Amalia Ormaetxea (Umschlag)
Ulrike Panknin (Korrektorat)
Julen Agirre (Formatierung)
Copyright © 2018 Dirk Morenweiser
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9781729288009
Für Hanna und Max
Vorwort
In ferner Vergangenheit, lange Zeit vor dem Anfang dieser Geschichte, versammelten sich dreihundertsiebenundfünfzig Götter auf der einzigen Lichtung eines sonst dicht wachsenden Waldes. Sie sprachen stolz über die Zeit, in der die Welt noch keine Gestalt hatte, in der es nichts als Wasser gab, aus dem sie Erde heraufholten, um Kontinente zu formen. Sie dachten an die Freude zurück, die sie empfanden, als sie wilde Küsten zeichneten, Bergketten entwarfen und Länder mit Wäldern, Seen, Flüssen und Wüsten füllten. Aus fruchtbarer Erde ließen sie Samen ihre Keime ans Licht treiben. Sie übertrafen sich darin, eigenartigste Tiere zu entsinnen, sie berauschten sich an Farben und Formen und wiesen ihnen die sonderbarsten Plätze zu. Sie erinnerten sich besonders gern an den Moment, als sie den Himmel vom Meer trennten und dem einsamen Mond eine feurige Sonne zur Seite stellten. Seitdem spendeten Tag und Nacht Helligkeit und Finsternis. Sie vereinten ihre Kräfte, um ihren unzähligen Sternen, die sie in den Nachthimmel warfen, Halt zu geben. Aber der Mensch sollte das einzige aller Wesen sein, das die Allmächtigkeit und ihr Werk, das Werk der Götter, wahrhaftig verstehen durfte. So lautete ihr Schwur, während sie die vielfältigste aller Welten erschufen.
Seit dem Morgengrauen ihrer Welt aber waren sie enttäuscht von den Menschen, die sie zwar achteten und ihnen Opfer brachten, aber dennoch glaubten, dass selbst sie, die Götter, der Weite des Universums unterworfen sein mussten. Es entbrannte ein Streit darüber, ob sie die Menschen bestrafen oder sie einfach ihrem Schicksal überlassen sollten. Die Götter des Feuers, des Windes, der Erde und des Wassers waren sich einig darin, dass ihre vereinten Kräfte dem Universum trotzen könnten, doch war keiner von ihnen bereit, auf seine Macht zu verzichten. Sie zürnten über die Größe ihrer Stärken, über die Unersetzlichkeit ihrer Macht. Diese ausweglose Situation führte dazu, dass sie mit Schwertern aufeinander einschlugen. Es war ein unerbittlicher Kampf um die Oberherrschaft. Die untergeordneten Götter formten eine Kette mit vier Steinchen und versuchten den Streitenden damit zu verdeutlichen, dass sie sehr wohl Platz nebeneinander hätten, ihre Kräfte ein Ganzes bilden könnten, in ihrer Einheit die wahre Stärke liege. Weil sie aber nicht angehört wurden, verließen sie beschämt den Platz. Es schien ihnen nicht würdig, Zeuge einer solchen Sinnlosigkeit zu sein.
Keiner der Götter konnte den Kampf für sich entscheiden. Im Zorn trennten sich ihre Wege. Das Reich der Götter zerfiel ebenso wie der Glaube der Menschen daran. Zurück blieben vier Steinchen und vier Schwerter.
Einer Überlieferung zufolge wurden die Steinchen in den Bach eines schönen Gartens gelegt und die Schwerter in den entferntesten Teilen des Landes Gorbeia vergraben. Zerstört werden konnten sie nicht. Bei nachfolgenden Generationen der Hirten und Bauern gerieten sie langsam in Vergessenheit. Sie verhießen nichts Gutes und das Leben ihrer Familien und Herden lag ihnen mehr am Herzen als etwas, dessen Herkunft sie nicht kannten und an dessen Existenz sie zweifelten. Schließlich lebten die Mythen um die geschmiedeten Waffen nur noch in Liedern, die kaum noch gesungen wurden, und in den Köpfen wirrer Greise weiter, denen man nicht glaubte, sie aber respektierte.
Die furchtlosen Reiter des Herrschers Nouró suchten nach den vier Schwertern der einst zornigen, wütenden Götter. Sie zu vereinen bedeutete, die dunkelsten Kräfte der Herrschaft auf alle Ewigkeit innezuhaben und den Lauf der Welt bestimmen zu können.
Gorbeia wurde vom Hass und der Gier nach Macht heimgesucht. Die bescheidenen Bauern, die über keine Kampferfahrung verfügten, konnten sich nicht zur Wehr setzen. Sie verscharrten die letzten Lebensmittel und trieben ihre Tiere weg, damit sie nicht in die Hände der Angreifer fielen und versteckten sich vor den Kriegern im Wald. Ganze Scharen furioser Reiter bestraften sie, indem sie das Land verwüsteten. Der Rauch von in Brand gesetzten Feldern verdunkelte viele Tage die Sonne. Die Horden Nourós plünderten die Gehöfte, verschleppten und knechteten die friedliebenden Einwohner. Gnadenlos verfolgten die Reiter die Menschen, die wandernd über Felder und Wiesen zogen und die Geschichten und Lieder der Vorzeit, die von Schwertern und Steinchen sprachen, vortrugen, um einen Platz an einem wärmenden Feuer und eine Mahlzeit in einer schlichten Hütte zu erhalten. Die Krieger zwangen sie unter Misshandlungen, die Worte so lange zu wiederholen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen und ihr Leben aushauchten. Die Menschen, in deren Augen eine Sehnsucht nach Freiheit zu erkennen war, wurden gnadenlos getötet. Nur wenige junge Frauen, Männer und Kinder lieβen sie am Leben. Ihnen wurden die härtesten Lasten aufgezwungen. Lasten, die nicht einmal Vieh hätte ertragen können. Nur wenigen Menschen gelang die Flucht in die zerklüftete Bergwelt ihrer Heimat.
Die Krieger wurden den Schwertern habhaft und kehrten auf ihren ausdauernden Pferden nach Iluntasuna, dem Reich der Dunkelheit, dem Reich Nourós, zurück.
Dunkle, schwere Wolken zogen sich über der endlos erscheinenden Hochebene von Iluntasuna zusammen. Die Gerippe einst prachtvoller Eichen standen leblos herum. Vertrocknete Äste schwankten knarrend im Wind. Die Erde bebte unter den Hufen der herangaloppierenden Pferde der Krieger und füllte die stickige Luft mit ohrenbetäubendem Lärm. Dichter Staub stieg auf. Der Boden war steinig und verdörrt. Schon lange fiel kein Regen mehr in Iluntasuna. Die Reiter wirkten wie Schatten. Dunkle Felle, in denen Knochen erbeuteter Tiere eingeflochten waren, hingen von ihren Schultern. Manche Häupter waren bedeckt von einer schwarzen, kantigen Maske. Aus den kaum wahrnehmbaren Augen stieß bloße Kälte hervor. Die Körper der Reiter richteten sich zu einem Felsplateau, das hoch über ihnen ragte. Aus einem Felsspalt trat Nouró, die starken Arme vor der Brust kreuzend, heraus und zeigte sich seinen Untertanen, die ihre Waffen in die Höhe rissen. Iluntasuna schien zu klein für das Heer, das Nouró hier zusammengezogen hatte.
Blitze zuckten am Himmel, Pferde bäumten sich auf. Ehrfurcht und Begeisterung machten sich breit. Vier Krieger stiegen ab und näherten sich langsam ihrem Herrscher, der bewegungslos dastand. In beiden Händen trugen sie die Schwerter zu ihm heran, legten sie vor seinen Füßen ab und zogen sich langsam zurück.
Nouró streckte seine Arme in die Höhe. Seine Felle fielen auf den staubigen Boden. Die hühnenhafte Gestalt zeichnete sich im Gegenlicht der untergehenden Sonne ab. Sein schwerer Helm reflektierte das letzte Licht des Tages.
“Krieger von Iluntasuna”, schallte es über die Köpfe seiner Krieger hinweg, “eine neue Epoche wird anbrechen. Die Macht wird unsere, alle Völker werden uns untertan sein. Die elenden Menschen verehren Götter, ängstigen sich aber vor Geistern und Dämonen. Sie glauben, Antworten gefunden zu haben und doch beschwören sie eigenartige Pflanzen und Tiere. Sie sind voller Zweifel. Krieger von Iluntasuna, schon bald werden wir ihnen Gewissheit geben. Fesseln der Angst werden sie tragen, das Sprechen wird ihnen schnell vergehen. Nur noch flehen werden sie. Die Kraft, die heute in Iluntasuna geboren wird, wird sie leiten. Die Menschen werden aufhören, Menschen zu sein, nur noch Untertanen sein oder nicht sein. Unsere Macht, unsere Herrlichkeit wird blühen, greller scheinen als die hellste aller Sonnen. Durch diese vier Schwerter lasse ich vier Monde aufgehen, die aus den Himmelsrichtungen kommend ihre Sonne, das ewige Licht ihrer Schöpfer, die sie anbeten, für immer verdunkeln werden. Bis auf einen Lichtkranz kein Licht mehr, nie mehr!”
Er trat an eine Felswand heran, an der die Umrisse eines rätselhaften Reliefs zu erkennen waren, nicht größer als eine Menschenhand. Darüber befand sich ein Loch. Er hob die Schwerter empor und stieß sie hinein. Tiefer Donner zerriss die Stille. Die Sonne verschwand am Horizont.
“Krieger von Iluntasuna”, beschwor er seine Reiter, “die Monde werden aufgehen, unaufhaltsam. Nur ein Mensch kann die ewige Dunkelheit verhindern. Dieses Geschöpf kann das zunichte machen, was heute begonnen hat, nur mit seinen Händen. Schwärmt aus, vernichtet dieses Unwesen und Iluntasuna, das Reich der Dunkelheit, wird überall, wird ewig sein!”
Die Krieger brachen aus sich heraus und schworen lautstark, das Werk zu vollenden. Dann stoben sie in alle Richtungen auseinander.
Dhima war nervös. Heute war sein Tag. Der letzte Tag vor dem Beginn seiner Wanderschaft, die ihm helfen sollte, einen festen Platz unter den Erwachsenen seines Stammes zu finden. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die tagelangen Vorbereitungen waren abgeschlossen. Die Sonne stand friedlich über der weiten, sanft geschwungenen Bucht. Die seichten Wellen spielten mit dem Licht, das auf dem Wasser tanzte. Das Fest konnte beginnen.
Aus alten Hölzern angefertigte Tische und Hocker waren bereits aufgestellt. Mannshohe Eichenfässer standen am Strand. Das Fett über dem Feuer bratender Hühnchen tropfte in die Glut und zischte. Kinder tollten im Sand. Einige warfen Steinchen nahe an einen Pfahl heran. Die festlich gekleideten Bewohner schwatzten und lachten miteinander. Eine Gruppe Heranwachsender ging rhythmisch durch die Menge. Mit jedem Schritt ließen sie ihre Oberkörper nach vorne fallen und drückten ihre Becken nach hinten. An ihren Ziegenfällen, die sie auf dem Rücken trugen, hing ein halbes Dutzend unterschiedlich großer Glocken, deren Läuten den sanften Klang rundlicher, steinernener Pfeifen, auf denen eine Gruppe junger Mädchen blies, übertönte. Sie trugen lange, kegelförmige Hüte, an deren Spitzen farbige Blätter herabhingen. Alt und jung klatschten begleitend.
“Txotx!”, rief ein dickbäuchiger Mann und stach mit einem kleinen, hölzernen Stäbchen in den Harz, der das Loch eines Eichenfasses verstopfte. Apfelwein spritzte mit einer Fontäne heraus. Die Leute eilten herbei und füllten ihre Krüge. Luftgetrockneter Schinken, Käse und Nüsse wurden gereicht, frische Brotleiber und Kartoffelpasteten angeschnitten.
“Dhima”, sagte seine Mutter.
Er drehte sich herum und nahm sie in den Arm.
“Pass auf dich auf, mein lieber Sohn. Auf den Wanderungen findest du auch Dinge, die du nicht gesucht hast.”
“Ja, Mutter. Ich werde aufpassen. Hab keine Angst! Ich werde doch nur auf Wanderschaft gehen, wie Vater, Großvater und alle anderen vor mir. Ich werde lernen und sicher in unsere Heimat zurückkehren. Mutter, das ist ein Festtag, lass uns jetzt feiern und Spaß haben!”
Er lächelte und nahm sie erneut in den Arm.
“Ja, ich bitte dich nur, pass auf dich auf!”
Sie zog ihn leicht zur Seite. Sie flüsterte ihm ins Ohr.
“Mein lieber Sohn, es heißt, dass nicht alle wirklich in die Ferne gegangen sind. Manche haben sich nicht weit unserer Heimat einen Platz gesucht, wo sie sicher bis zur Rückkehr abwarteten. Es ist doch nur eine Tradition, die du nicht mehr so ernstzunehmen brauchst. Und Geschichten kannst du später genug erzählen, das ist dir nie schwer gefallen. Deine lebhafte Vorstellungskraft wird dir sicher dabei helfen.”
Dhima küsste seine Mutter auf die Stirn. Eine leichte Kopfbewegung reichte, dass sie sich Hoffnung machte.
“Ich möchte doch nur, dass der Klang der Steine deine Rückkehr an den Ort ankündigt, der dir Schutz und Geborgenheit gibt, wo eine Gemeinschaft lebt, die froh ist, dich in ihrer Mitte zu haben. Ich wünschte, ich könnte diesen Klang schon morgen vernehmen.”
Er drückte ihre Hände.
“Es gibt einen Anfang und ein Ende jeder Wanderschaft. Für mich ist Ħērria das Land, in dem ich leben möchte. Hierher werde ich sicher zurückkehren. Bald werde ich wieder bei dir, unter euch, sein.”
Freunde tanzten Dhima zu Ehren um ihn herum. Sie setzten ihre Füße so geschickt und flink, als berührten sie nicht den Boden. Die Beine schleuderten sie bis auf Kopfhöhe nach oben, mit den ausgestreckten Händen schnippten sie im Takt weicher Töne. Als ein warmes Lüftchen die letzten Klänge der Musik mit sich führte, verneigten sich die Tänzer vor Dhima und warfen ihm einen bunt zusammengesteckten Kranz aus Feldblumen zu. Er fing ihn dankend auf. Dhima verabschiedete sich langsam von der Gemeinschaft und trat an ein Fass heran.
“Txotx!”, rief er.
Er stach das Fass an, die Leute kamen auf ihn zu. Beim Füllen der Krüge sahen sie Dhima tief in die Augen und gingen an die Tische zurück. Viele aus der kleinen Gemeinschaft wünschten ihm eine sichere Wiederkehr, indem sie ihm in die Arme fielen oder neckisch an den Ohren zogen. Nur seine Mutter zeigte sich ihm nicht mehr. Um Trost zu finden, zog sie es vor, mit sich allein zu sein. Während der Tag sich dem Ende neigte, packte Dhima ein Bündel, rief seinen Hund und ging unter Bäumen hindurch an den Rand des Dorfes.
Noch einmal sah er auf den Ort, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Die Leute sangen und tanzten. Der Schimmer der ersten Sterne hüpfte auf den Wellen. Dhima schnalzte mit der Zunge. Sein Hund schnellte nach vorne, Dhima lief zügig hinterher. Er war ein guter, ausdauernder Läufer.
Nach einer kurzen Nacht folgte er dem halbverwachsenen Pfad, der am Meer entlang führte. Der Wind nagte an der kargen, von der Brandung gepeitschten Küste. Über die Höhlen, die sie dort hineingefressen hatte, wurden in Ħērria die seltsamsten Geschichten erzählt. Dort also lebten die Wesen, die den Kindern den Atem raubten, sie ängstigten und ermutigten, sie erfreuten und zum Fragen aufforderten. Dhima überlegte das Verbot, sie zu betreten, zu missachten. Als er mit dem Abstieg begann, sprang sein Hund unruhig umher. Er knurrte, wie er es selten gemacht hatte.
“Ћxakurra, du hast ja Recht. Warum sollte ich in diese Höhlen? Weil ich es jetzt kann, weil mich niemand zurückhalten kann? Wenn ich da etwas erfahren sollte, so hätte das ja nur zur Folge, dass die Kinder nicht mehr die alten Geschichten hören mögen. So weit will ich es aber nicht kommen lassen. Aufregendere könnte ich hier nie erfahren.”
Zufrieden mit seinem Entschluss sprang er über von der Sonne gebleichte Steinbrocken und tollte mit seinem Hund durch eine hohe Wiese. Zügig gehend zogen sie westwärts. Als die Strahlen der Sonne länger wurden, ruhten sie zwischen Felsplatten, die ihnen Schutz vor der nächtlichen Brise boten.
Am nächsten Tag durchquerten sie eine enge Schlucht. Dhima erinnerte sich kaum noch daran, als er sie zusammen mit Gleichaltrigen das erste Mal erkundete. Jetzt ärgerte er sich darüber, die riesigen Bäume, mit ihren in Grün gehüllten Kronen, die zarten Farben von Flechten, die von ineinander verschlungenen Ästen herabhingen, das plätschernde Geräusch der ruhigen Bäche und das aufgeregte Geschrei sich im Spiel verfolgender Jungvögel fast vergessen zu haben.
“Ћxakurra, ist das nicht ein Ort, unmögliche Wünsche zu träumen? Genau hier, wo die Welt unversehrt ruht?”
Als er nach seinem Hund suchte, sah er ihn unbekümmert an einen knorrigen Stamm pinkeln. Er musste laut lachen.
Voller Erwartungen stürzte er sich ohne Ziel in die Tage. Er hörte keine Worte, musste sich keine Gedanken machen, seine Gefühle gehörten nur ihm. Diese Ruhe genoss Dhima, wenn er einen Fuβ vor den anderen setzte. Er ging, wann er wollte und wohin er wollte. Er tat Dinge, ohne auf andere hören zu müssen. Er schlief gut, aβ mit Appetit und war fern jeder Sorgen. Er fragte sich, ob dieses Gefühl etwas mit Freiheit zu tun hatte.
Die nächsten Tage verbrachten sie in tiefen Wäldern, liefen an Flüssen entlang, wo sie tranken und fischten. Kein gestürzter Baumriese sorgte
ihn, kein Unterholz war ihm zu dicht. Schweigend, aber nicht einsam, suchte er sich seinen Weg. Er genoss die Zeit mit sich und wunderte sich manchmal darüber, wie selten er an sein Zuhause dachte, obwohl er sich noch nie so fern seiner Heimat befunden hatte. Die Sonne wies ihm den Weg. Ihr sollte er so lange folgen, bis er das Gefühl hatte, dass seine Wanderschaft beendet war.
Er hatte Spaβ daran, sich den schönsten aller Bäume zu suchen, in dessen Schatten er ausruhen konnte. Er mochte Bäume mit zerfurchter Rinde, an denen sich Pflanzen emporschlängelten, Bäume mit dichter Krone, die nicht müde wurden in den Himmel zu wachsen, Bäume mit starkem Wurzelwerk. Dann legte sich Dhima ins Gras und betrachtete lange die am Himmel vorüberziehenden Wolken. Dann sah er von Baum zu Baum flatternden Vögeln zu. Später lauschte er dem Wind, bis er sich schlafen legte und in einen traumlosen Schlaf fiel.
Sie liefen durch offene Waldgebiete, Lichtungen waren übersät von sich öffnenden Knospen. Flach auf dem Boden liegend trank er aus einer Quelle. Dabei sah er wilden Schweinen zu, die sich vergnügt im Schlamm wälzten, oder er erfreute sich an einem Rudel Hirsche, das sich aus den Waldungen traute und nicht aufgeschreckt davonlief. Er hatte Freude daran, Fische zu beobachten, wenn sie in ihren Luftsprüngen nach Mücken schnappten. Er genoss den Geruch süβlicher Pflanzen. Er konzentrierte sich auf die Rufe verschiedener Vögel, oder auf das Summen herumschwirrender Insekten. Mit geschlossen Augen versuchte er dann, diese Geräusche den jeweiligen Tieren zuzuordnen. Während die Sonnenstrahlen des Morgens seine Haut erwärmten, sammelte er Früchte und manchmal erlegte er einen Hasen oder fing eine Wildtaube. Die Wurfsteine handhabte er wie kein anderer und auch mit Pfeil und Bogen verfehlte er selten sein Ziel.
In vielen Nächten starrte er in die Dunkelheit des Himmels. Während in seiner Heimat die wenigen Sterne unendlich weit schienen, so waren sie hier zahlreich und zum Greifen nah. Er wunderte sich über vier schwache Lichtkränze am Himmel, die er nie gesehen hatte. Dhima fragte sich, ob Sterne wachsen können. Dann wandte er sich an seinen Hund.
“Ћxakurra, es muss mehr als einen Himmel geben.”
Unbeeindruckt leckte sich sein Hund das Fell. Gern saβ Dhima auf einer leichten Erhebung, ohne etwas zu erwarten. Und je weniger er hörte, desto freudiger war sein inneres Lächeln. Gern blickte er in die vor ihm liegende Weite, ohne etwas zu suchen. Gern war er gedankenlos, statt nachdenken zu müssen. Dhima konnte sich schon nicht einmal mehr daran erinnern, wie lange er schon unterwegs war.
Einmal wachte er noch vor Sonnenaufgang auf. Etwas hatte sich ihm genähert oder war sogar in ihn gedrungen. Irgendwie war er sich fremd geworden. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Sinne schärften. Er glaubte, Wasser riechen, die Farbe der Luft, den Geschmack des Feuers, den Klang der Erde, die Weichheit des Lichts spüren zu können.
“Ich werde doch nicht etwa verrückt, oder?”
Der Wald lichtete sich, am Horizont ragte ein bedrohlich in den Himmel gewachsenes Bergmassiv empor. Es war ihm nicht hoch genug.
“Ћxakurra, diese Berge liegen zwar im Norden, ich denke aber, dass wir sie überqueren sollten. Wir wollen doch nicht den Weg einschlagen, den alle anderen vor uns gegangen sind. Der Sonne folgen wir dann später.”
Kraftvoll lief Dhima voran, sein Hund sprang ihm hinterher. Niedrige Sträucher, deren gelblichweiße Blüten einen mandelartigen Geruch verströmten, bedeckten herumliegendes Gestein. Aus felsigen Wänden wuchsen knochige Stämme heraus. Eine Herde kräftiger Mufflons weidete friedlich am Hang. Manche Jungtiere übten sich verspielt an steilen Wänden. Kein Fels schien ihnen zu steil, kein Grat zu schmal. Nackte Bergketten umringten karge Hochebenen, auf denen sie Rinder mit gewaltigen Hörnern grasen sahen. Er eilte einen schmalen, steilen Hang hinauf. Obwohl sein Atem immer schneller und kürzer wurde, er zu keuchen begann, gönnte er sich keine Ruhe. Sein Körper schien sich seinem Willen unterworfen zu haben. Irgendeine innere Kraft zwang Dhima nach oben. Dieser vor ihm liegende bedrohliche Bergkamm war ihm nicht hoch genug. Dhima, unnachgiebig gegen sich selbst, trieb es Richtung Himmel. Unter ihm lagen kahle Hänge, die in der Sonne schimmerten, er blickte auf schattige Täler. Nur wenige Wolken hingen an den kalten, hohen Bergrücken. Zwischen Felsen sprudelte klares, kaltes Quellwaser. Dhima genoss die Weite und bewunderte das Licht. Er erkannte seine Schwäche gegenüber der Endlosigkeit, die um ihn war. Doch die Unbedeutsamkeit seines eigenen Lebens drückte ihn nicht nieder, er war zufrieden in dieser Welt. Es wurde kühl.
“Ћxakurra, wir werden in der Nacht gehen müssen. Es ist zu kalt, um uns ausruhen zu können. Vielleicht haben wir Glück und finden eine Höhle oder einen Felsspalt. Wir werden am Tage schlafen.”
Dhima begann schneller zu gehen, um die Wärme in seinen Adern zu halten. Die tiefen Schluchten unter ihnen füllten sich mit ihren eigenen Schatten. Er sah auf den vor ihnen liegenden Gipfel. Er kämpfte sich eine steile Wand hinauf, unbedingt wollte er den Berg erreichen, ihn bezwingen. Es kam ihm nicht in den Sinn, diese Herausforderung aufzugeben. Ihn trieb ein Gefühl an, ein Gefühl, das ihm etwas Prachtvolles versprach, sobald er den Gipfel erreichen, sich dort stolz aufrichten und in eine nie erblickte Ferne sehen würde. Er erkletterte eine Felsmauer, während Ћxakurra einfachere Wege wählte. Doch mit jedem erkämpften Schritt rückte der Gipfel weiter nach oben.
Das Licht des vollen Mondes erschien ihm heller als das des Tages. Es bestand keine Gefahr, durch Fehltritte sein Leben aufs Spiel zu setzen, aber sie fanden keinen Platz, wo sie die Nacht verbringen konnten. Die vom Wind über die Berge gepeitschten Wolken warfen unheimliche Schatten in die Landschaft. Immer vorsichtiger führte er seinen Hund über Brüche und Spalten im Gestein hinweg. Der Aufstieg war anstrengend. Immer häufiger musste er keuchen, nach Kräften ringen. Dhima war erschöpft, er hatte sich überschätzt, Ratlosigkeit überkam ihn. Die Höhe raubte ihm den Atem. Seine Kräfte schwanden. Die Wege, die er sich weiterschleppte, wurden kürzer. Immer häufiger knickte er ein. Seine Beine trugen ihn nicht weiter. Als ihm zudem auf dem engen Pfad schwindelig wurde, wusste er um die Gefahr, stürzen zu können. Loses Gestein polterte bei jedem Schritt in die Tiefe. Das Blut pochte in seinem Kopf, seine Lungen schmerzten. Er büßte endgültig die letzte ihm verbleibende Kraft ein. Auch Ћxakurra japste unentwegt. Dhima klammerte sich mit einer Hand in eine Felskante. Angespannt stemmte er seine Beine auf leicht vereisten Boden. Er wusste nicht weiter. Die Kälte umschloss ihn, sein Körper zitterte. Er hatte Angst zu fallen. Die sich ankündigende Nacht legte sich über den Abgrund. Leise fielen Schneeflocken auf ihn herab. Die Angst vor dem Tod wurde immer stärker. Er blickte in den Abgrund, der sie vom gegenüberliegenden Berghang, der so nah war, trennte, aber doch zu weit, um ihn durch einen rettenden Sprung erreichen zu können.
“Ich kann nicht mehr. Nicht einen Schritt. Wir werden genau hier auf den Morgen warten.”
Dhima ließ sich in seiner Ratlosigkeit fallen. In einer engen Felsspalte kauerte er sich verzweifelt an seinen Hund. Sie spendeten sich etwas Körperwärme und fanden etwas Schutz vor dem erbarmungslos kalten Wind. Er gab Ћxakurra einen Fisch, er selbst fühlte sich zum Essen zu schwach. Er erkannte, dass die größte Gefahr weder von Tieren noch anderen Menschen ausging, sondern von der Kälte und seiner Unbesonnenheit. In der Nacht, die quälend langsam verging, hatte Dhima das Gefühl, der Atem gefriere in seinem Gesicht. Schneetreiben setzte ein. Die Kälte kroch ihm langsam in die Knochen und biss sich in seinen Gliedern fest. Seine Muskeln verhärteten sich. Jeder Windstoß drang ihm bis ins Mark. Er begann zu weinen, die Aussichtslosigkeit ließ ihn verzweifeln. Keine Stimme machte ihm in der schwersten Nacht seines Lebens Mut.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als die Wand, an der er lehnte, sich deutlich zu bewegen begann. Es grollte im Inneren des Berges. Ћxakurra winselte unruhig. Dhima hörte das Poltern fallender Felsbrocken, die aufschlugen, zerplatzten und weitere Steine mit sich rissen. Ein überhängender Fels schützte sie vor dem Steinschlag. Plötzlich brach ein Teil des Berges weg und stürzte in die unter ihnen gähnende Tiefe. Zitternd hielt er sich in der Ritze eines durch die Kälte geborstenen Felsens fest. Er konnte keinen Schritt mehr machen, es gab kein Vor und kein Zurück. Nur der Abgrund war unter ihm, der sichere Tod.
“Wenn ich mich doch nur bewegen könnte! Wie kann ich mich hier dagegen wehren zu sterben?”
Verzweifelt schrie er um Hilfe. Niemand konnte ihn hören. So sehr Dhima auch versuchte, seine Gedanken zu ordnen, er sah keinen Ausweg. Auf einmal spalteten Risse die unerreichbare Felswand des gegenüberliegenden Berges. Dhima blickte erschrocken nach oben. Ein ganzer Gipfel stürzte auf ihn zu. Schreiend kniff er die Augen zusammen. Felsbrocken barsten, Splitter sausten dicht an ihm vorbei. Der Berg erzitterte. Dhima hatte Angst, die Augen zu öffnen, bis er das aufgeregte Bellen seines Hundes hörte. Er schlug seine Lider auf. Ћxakurra war bereits über den Felsgipfel gehetzt, der sich über dem Abgrund zwischen den Berghängen verkeilt hatte. Dhima kroch langsam hinterher. Er traute sich nicht, nach unten zu blicken. Gestein rutschte nach. Der Felsblock, an dem er sich klammerte, begann zu kippen. Ћxakurra sprang wild kläffend umher. Dhima raffte sich auf und machte den rettenden Sprung, bevor das Gestein in das Nichts gerissen wurde.
“Ћxakurra, es reicht. Wir müssen doch nicht wissen, was über dem Himmel ist, oder? Ich habe genug. Wir suchen einen Weg, der uns nach unten führt.”
Er streichelte seinen Hund mit zittriger Hand, der ihm seinen Dank zeigte, indem er ihm die Finger leckte und mit der Rute wedelte. Sich langsam aufrichtend ließ Dhima seinen Blick über die von schwindelerregenden Hängen und Schluchten durchzogene wilde Bergwelt schweifen. Am Horizont schraubte sie sich noch weiter in die Höhe. Von ewigem Schnee bedeckt ruhten dort erloschene Feuerberge.
“Ћxakurra, das wird wohl die Krone der Welt sein. Nun gut, so sei es denn.”
Zum ersten Mal hatte er die Sterblichkeit, die auch in ihm schlummerte, gespürt. Dhima sah seine Mutter vor sich, wie sie aus einem Brunnen Wasser schöpfte. Gern würde er jetzt in ihren Armen liegen und den Liedern lauschen, die von seiner Heimat erzählten. Seit dem Beginn der Wanderschaft hatte er kein so großes Verlangen nach seinem Dorf, nach dem Feuer in seiner Hütte verspürt. Dann begannen sie mit dem Abstieg.
Aus zerklüfteten Felswänden rieselte erfrischendes Schmelzwasser. Dhima fand einen bequemen Weg, der sie aus den Bergen führte. In einem ruhigen Tal kam er wieder zu Kräften, obwohl die Angst um sein Leben, die er an jener Felswand gespürt hatte, ihn immer wieder schaudern lieβ.
An einem friedlich liegenden, in tiefem Blau glitzernden See, fischte Dhima mit Pfeil und Bogen. Er briet den Fisch und trocknete ihn. Dort ruhten sie sich aus, um wieder zu Kräften zu kommen. Für die nächsten Tage brauchte er sich um die Nahrung keine Sorgen zu machen. Über dem See rührte sich kein Lüftchen. Über ihm leuchteten die vom Schnee bedeckten Gipfel in der Abendsonne. Das vom Schnee zurückgeworfene Licht war so grell, als wollte es die Dunkelheit für immer vertreiben. Er liebte dieses stehende Gewässer, das so still war, dass sich alles in ihm widerspiegelte. Nur er hatte die Macht, diese Ruhe zu stören. Aber sein tiefer Respekt vor dieser Stille zwang ihn, sie so zu belassen, wie er sie vorfand.
“Wäre dieser Ort nicht noch ruhiger, friedvoller, wenn wir hier nie angekommen wären? An so einen Platz dachte Mutter bestimmt. Hier könnten wir eine schöne Zeit haben, wir kümmern uns nur um uns selbst, essen so viel wir können und schlafen um die Wette. Was meinst du?”, fragte er seinen Hund.
Ћxakurra kläffte und sprang erfreut um ihn herum.
“Vielleicht wird der Berg uns dann mit der Zeit lieb gewinnen, uns von seinem Frieden erzählen und sogar seine Weisheit mit uns teilen, oder einfach nur sagen, worauf er am liebsten blickt.”
Plötzlich überkam ihn eine unerklärliche Unruhe. Obwohl er sich nicht bedroht fühlte, drehte er sich, nach etwas suchend, um.
“Nichts”, dachte er laut.
Aber das war falsch. Da waren Bäume, Gräser und Steine. Dhima sprach mit sich selbst.
“Wie kann ich Bäume, Gräser und Steine für Nichts halten?”
Ihm gefiel die Frage.
“Ein Nichts kann es nur geben, wenn es vorher mal etwas gab. Aber muss dann alles vergänglich sein, damit es zum Nichts wird? Damit etwas enden kann, muss Zeit vergehen. Wie der Tag oder die Nacht nach Ablauf einer gewissen Zeit enden. Zeit.”
Er war überrascht von seinen eigenen Gedanken. Nie hatte er über Zeit nachgedacht. Zeit war Tag und Nacht, Zeit war, wenn sie säen und ernten mussten, wenn sie im warmen Meer spielen konnten, wenn die Tiere ihre Jungen bekamen, wenn sich Fischschwärme in ihrer Bucht versammelten oder die Älteren sie losschickten, um für den bevorstehenden Winter Feuerholz zu suchen. Aber das wechselte sich ab, hörte auf, machte Platz für andere Momente.
“Die Zeit bleibt. Selbst, wenn es vor der Geburt nichts gab, es nach dem Tod nichts geben wird, so ist doch die Zeit immer gegenwärtig. Man kann die Zeit nicht sehen, sie hat keine Tiefe, kein Gewicht, keine Richtung. Man kann sie nicht berühren. Sie lebt nicht und doch ist sie ewig. Ist es nicht so, Ћxakurra? Wenn Zeit fühlen könnte, wäre sie bestimmt ein einsames Wesen. Was meinst du Ћxakurra?”
Sein Hund kratzte sich gelangweilt am Ohr.
Während sie gemächlich weiterzogen, bemerkte Dhima erst einen Steinhaufen und danach noch viele weitere. Die Steine waren so sorgfältig aufeinandergelegt, dass es nur Menschen hätten tun können. Diese Gebilde wurden nun immer häufiger und er erkannte, dass sie einen Pfad kennzeichneten, der sich an einer Bergflanke entlang in die Höhe schraubte. Auf dem felsigen Untergrund wuchsen nur wenige Gräser und anspruchslose Blumen. Die Steinhaufen hatten unterschiedliche Größen, einige waren höher als er selbst. Auf jeder Spitze ruhte ein runder, sorgfältig ausgesuchter Stein. Dhima wunderte sich, dass ein starker Wind sie nicht zu Fall gebracht hatte. Auf einer Säule fehlte allerdings der letzte Stein. Dhima sah sich um. Ihm war danach, den Stein suchen und finden zu müssen, um ihn erneut dahinzulegen, wo man ihm bereits einen Platz zugewiesen hatte. Nach kurzem Suchen fand er ihn. Es konnte nur dieser Stein sein, glatt geschliffen, ja sanft fühlte er sich an. Dhima konnte sich seine Nervosität nicht erklären. Wollte er doch nur einen Stein auf andere legen. Seine Hand zitterte leicht. Ehrfurcht vermittelte der vor ihm aufgeschichtete Turm aus Steinen. Ћxakurra winselte, als wollte er ihn davor warnen. Vorsichtig, den Atem anhaltend, legte er den Stein an seinen Platz. Dhima trat einen Schritt zurück und betrachtete stolz sein Werk.
“So ist es gut”, sagte er laut, als auf einmal die Steinsäule zusammenbrach.
Dhima erschrak, immer wieder entschuldigte er sich und als er fühlte, dass ihm sogar einige Tränen die Wangen herunterliefen, merkte er, dass diese Steinhaufen eine Bedeutung hatten, die er nicht verstand, aber doch deutlich fühlte. Er hatte Angst, großes Unheil angerichtet oder eine heilige Stätte entweiht zu haben. Vielleicht würde sich ein junges Paar nicht mehr finden können. Möglicherweise würde er die Schuld an einer Hungersnot tragen, die ein ganzes Volk treffen könnte. Er fühlte, dass die Wanderschaft Ereignisse für ihn bereithielt, auf die er nicht im Entferntesten vorbereitet war. Niedergeschlagen setzte er seinen Weg fort. Nichts bewegte sich, nicht einmal der Wind spielte mit den Zweigen niedriger Büsche. Nur der gleichmäßige Klang plätschernden Wassers ließ ihn langsam seine Sorge vergessen. Mit einsetzender Dämmerung zog sich die Sonne bedächtig hinter die Bergkämme zurück.
Dhima machte eine Pause, als er plötzlich am Himmel ein ihm unbekanntes Tier bemerkte. Die Flügel schienen ungeheure Ausmaße zu haben, größer, als er selbst. Die gefingerten Schwingen liefen spitz zu und auf dem Kopf war ein auffälliger, fleischiger Auswuchs zu erkennen. Das Wesen flog direkt auf ihn zu. Dhima legte seinen Bogen und den Köcher neben sich und umklammerte einen Wurfstein. Ћxakurra knurrte und richtete die Rückenhaare auf. Das Biest schoss herunter und ihm blieb nur die Zeit, schützend die Arme hochzureißen. Die Krallen zerrissen das weiche Leder seiner Jacke, er blutete leicht.
“Was war das?”, dachte Dhima laut, “eine Fledermaus?”
Das konnte der Größe wegen nicht sein, doch war die Ähnlichkeit unverkennbar. Er fühlte sich nicht wohl. Dhima rief nach seinem Hund. Sie liefen kurze Zeit, als das Ungeheuer wie aus dem Nichts erneut angriff. Die spitzen Krallen bohrten sich in seine Schulter, er fiel aufschreiend zu Boden. Blut lief an seinem Rücken herunter. Sein vierbeiniger Begleiter sprang unruhig umher. Dhima erhob sich, sammelte Gräser und drückte sie auf die Wunde.
“Bleib, wo du bist! Beweg dich ja nicht!”
Dhima zuckte zusammen, die entschlossene Stimme war nicht zu überhören. Eine junge Frau trat aus dem Schatten eines Felsens hervor. Ihr folgte ein Pferd, dessen Flanken mit Symbolen bemalt waren. Sie hielt in jeder Hand ein Messer und trat nahe an ihn heran. Ћxakurra machte einen Satz. Die Frau wehrte ihn mit einem Arm ab und versetzte ihm mit dem anderen einen Stoß. Er fiel leblos zu Boden.
“Ћxakurra!”
Dhima war entsetzt und bückte sich über seinen treuen Begleiter. Der Hund begann zu winseln. Dhima blickte die junge Frau an, die unverändert ihre Waffen gegen ihn hielt.
”Wer bist du? Wir tun niemandem Unrecht an.”
Sie zögerte einen Moment und steckte die Messer in den Schaft. Dhima sah hinter ihr das Ungeheuer auf sie zukommen. Er wollte auf sie springen und sie schützend zu Boden reißen, doch trat sie ihm wuchtig gegen die Brust. Beide fielen um. Dicht schnellte es an ihnen vorbei. Ћxakurra biss dem Mädchen in die Wade. Sie schrie auf und hielt im selben Moment wieder die Messer in den Händen.
“Nein!”, Dhima stand auf.
“Tu uns nichts, bitte. Dieses Tier scheint uns zu verfolgen, es hat mich angegriffen und verletzt.”
“Mir ist soeben dasselbe passiert, mit deinem Hund.”
Sie stand entschlossen vor ihm. Doch hatte Dhíma das Gefühl, dass sie nicht so war, wie sie auf ihn wirken wollte. Sie sahen sich wortlos an. Dhima begann sich unwohl zu fühlen. Ihre nicht endenden Blicke drangen so tief in ihn hinein, dass er sich nicht vorstellen konnte, wonach sie in seinem Inneren suchten oder was sie zu finden fürchteten. Sie fixierte seinen sehnigen, schlanken Körper mit ihren schwarzen, runden Augen. Dhima hatte das Gefühl, sie blickte durch ihn hindurch, als wollte sie durch seinen Leib, durch seine Knochen bis zu seiner Seele vordringen. Sie hatte braungebrannte Haut, war, wie er, großgewachsen und hatte kurzes, lockiges, schwarzes Haar, das ihr nicht einmal bis zu den Ohren reichte. Ein fein geschnitztes Holz steckte in ihrem rechten Ohr. Ihre feine Nase nahm ihren dunklen Augen etwas von der Bedrohlichkeit, die in ihnen lag. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht. Sie trug eine weite Hose aus dünnem Stoff und ein dunkles Oberteil. Ihr Blick verweilte auf seinen leicht lächelnden, frohen Augen. Sie mochte seinen neugierigen und unruhigen Blick. Ihr gefiel sein Gesicht, das eine ausgesprochene Lebhaftigkeit zeigte. Sie war sich sicher, dass Unaufrichtigkeit, Rohheit oder gar Grausamkeit seinem Wesen fremd sein mussten. Sie hatte einen Menschen vor sich, der trotz seines jungen Alters dem Leben aufrichtig entgegentreten wollte. Sie sahen sich gerne an. Sie legte ihre Hände zusammen und führte sie an den Mund. Ein schriller Pfiff, zwei oder drei Töne, und am Himmel erschien das Ungeheuer.
“Hab keine Angst. Das ist Ўagu, sie gehört zu mir. Ich bin Nâi Aahra.”
“Mein Name ist Dhima. Was machst du hier, bist du allein?”
“Ja”, antwortete sie knapp.
Ўagu setze sich nicht weit von ihnen auf die Spitze eines Felsens. Sie breitete die zähen Flügel aus und schien mit dem Wind zu spielen.
“So ein Tier habe ich noch nie gesehen”, bemerkte er.
“Ich habe sie gefunden und großgezogen. Zuerst dachte ich, es sei ein aus einem Nest gefallener Vogel und sie wuchs und wuchs. Heute ist sie mir unentbehrlich.”
“Sie scheint niemanden in deine Nähe zu lassen.”
Dhima fühlte den Schmerz und tastete nach der Wunde.
“Du blutest ja. Lass mich mal sehen!”
Sie setzten sich ins Gras. Nâi Aahra sammelte einige Kräuter, die sie mit Steinen zerrieb und die Paste auf die Wunde schmierte.
“Ich mache uns ein Feuer und suche etwas zu essen.”
Sie sammelte ein wenig Reisig und Brennholz und entzündete mit Hilfe von Feuersteinen ein Feuer. Dann verschwand sie. Dhima streichelte seinen Hund. Beide starrten auf Ўagu, die sich nicht rührte. Nach einer Weile kam Nâi Aahra mit einem Hasen zurück. Sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0851-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
"Vier Monde" ist eine Geschichte über zwei junge Menschen, die sich unerwartet kennen lernen und sich gezwungen sehen, gegen eine sich über alles legende, bedrohliche Macht zu kämpfen. Auf ihrem Weg nach Iluntasuna, dem Reich der Dunkelheit, müssen sie nicht nur gegen Feinde bestehen, sondern sie stehen sich in ihrer Unerfahrenheit auch selbst im Weg.
Es ist eine Geschichte, über die Ausweglosigkeit, über die eigenen Zweifel, über Grenzerfahrungen, über Verzweiflung und Hoffnung, über Macht, Menschlichkeit und Liebe.