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Leseprobe

Hallig-Melodie

Anni Deckner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Hamburg

 

 

Enna Jakobi absolvierte die letzte Trainingseinheit vor dem abschließenden Konzert der Saison. Ihr Coach Sam reichte ihr wortlos ein Handtuch. Sie nickte ihm zu, tupfte sich nachdenklich die Schweißtropfen von der Stirn und bewegte sich in Richtung Duschraum. Dabei spürte sie Sams Blick im Nacken. Er war erst seit fünf Monaten ihr Trainer, wusste aber inzwischen genau, wie er Enna motivieren konnte, und unterstützte sie unnachgiebig dabei, ihren Körper fit zu halten. Ihre Mutter mutmaßte zwar, er wäre in sie verliebt, doch Enna war da anderer Ansicht, denn sie hatte ihn vor Beginn der Tour mit einer freundlichen blonden Frau gesehen, die laut Sam aus Polen stammte. Die beiden schienen außerordentlich glücklich miteinander.

»Enna?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Ja?«

»Ich wünsche dir viel Erfolg für heute Abend.«

Sie lächelte. Dabei leuchteten ihre leicht schräg gestellten grünen Augen. Verlegen spitzte sie die Lippen.

»Danke schön, ich wünsche dir einen erholsamen Urlaub. Wenn du willst, sichere ich dir einen Platz für die Aufführung heute Abend.« Sie grinste. Sams Vorliebe für klassische Musik hielt sich in Grenzen, und er heuchelte Enna diesbezüglich nichts vor.

»Nicht nötig, aber danke«, sagte er freundlich.

»Schöne Grüße an deine Freundin, auch wenn ich sie nicht persönlich kenne.«

Sam lächelte nur selten, doch bei der Erwähnung seiner Liebsten entdeckte Enna ein angedeutetes Lächeln auf seinen Lippen.

»Gibst du mir Bescheid, wann du dein Training nach dem Urlaub wieder aufnehmen willst?«

»Auf jeden Fall, vielen Dank!«, rief Enna, während sie schon weiterging. Die Zeit wurde knapp, sie musste sich beeilen.

Sie überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, den Sport heute ausfallen zu lassen und stattdessen einen lockeren Spaziergang um die Alster zu machen. Vor dem Konzert dieses stramme Sportprogramm durchzuziehen war gewagt. Sie benötigte all ihre Kräfte für den Abend. Ihre Arme fühlten sich nun wie Pudding an. Dabei brauchte sie ihre Fingerfertigkeit und die Geschmeidigkeit ihrer Gliedmaßen für das Cellospiel.

Hamburg war ihr letzter Auftritt vor dem wohlverdienten Urlaub. Nach der mehrere Wochen langen Deutschlandtournee benötigte sie dringend eine Pause. Für die nächste Saison waren Konzerte im Ausland geplant. Die Tour würde in Paris anfangen, im Anschluss daran sollte die Reise nach London gehen. Auf ihren Besuch in der Schweiz freute sie sich am meisten. Nicht nur wegen der beliebten Schokolade, sondern auch weil eine ihrer Freundinnen dorthin gezogen war. Sie war vor einigen Jahren ihrem Herzen gefolgt und lebte nun mit ihrem Mann in Zürich. Auf dieses Wiedersehen war Enna gespannt, denn sie hatte den Partner von Klara bislang nicht kennengelernt. Die beiden hatten heimlich und nur in Begleitung der Eltern geheiratet. Anfangs war Enna enttäuscht gewesen, dass sie von dem Vorhaben nichts geahnt hatte. Aber letztendlich freute sie sich für die beiden.

Wie die Tournee danach weitergehen würde, wusste Enna nicht, aber ihre Mutter hatte alles im Blick. Seit ihrem Debüt auf einem Benefizkonzert in Berlin vor fünf Jahren konnte sich Enna vor Anfragen nicht retten. Sie hatte das große Glück, in ihrer Mutter eine vertrauenswürdige Managerin an ihrer Seite zu wissen. Sie plante all ihre Termine mit größter Sorgfalt. Enna wäre ohne ihr Organisationstalent schon längst in Chaos versunken. Sie arbeiteten gut zusammen und verstanden sich bestens. Nur schwieg ihre Mutter leider, sobald Enna nach ihrem Vater fragte. Regelmäßig gab es deswegen Krach im Hause Jakobi.

Enna begab sich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über ihren schlanken Körper fließen. Die Haare band sie zu einem lockeren Knoten. Es würde zu lange dauern, sie zu trocknen, wenn sie nass würden. Die dicke Mähne war ein Erbe ihrer Mutter.

Obwohl Enna ihr voll und ganz vertraute, beschlich sie doch ein ungutes Gefühl, wenn sie daran dachte, dass ihre Mutter ihr bislang so gut wie nichts über das Ziel ihres geplanten Urlaubs erzählt hatte. Sie hatte Enna nur verraten, dass es sich um einen überaus faszinierenden Ort handelte.

Für gewöhnlich organisierten sie ihre Sommerpause gemeinsam. Hilke Jakobi hatte in diesem Jahr jedoch ganz allein die Planung übernommen. Sie hatte vor vier Wochen die Unterkünfte gebucht, es sollte eine Überraschung für Enna werden. Eine Reise ins Ungewisse. Doch Enna kannte ihre Mutter, daher war ihre Vorfreude eher gedämpft. Sie befürchtete, dass Hilke sie an einen Urlaubsort entführen wollte, von dem sie ahnte, dass er bei ihrer Tochter auf Unmut stoßen würde. Enna achtete zwar darauf, dass ihre Mutter in ihrer Beziehung nie völlig die Oberhand behielt, dennoch fiel es Hilke schwer, Enna eigene Entscheidungen treffen zu lassen. Zugegeben, als Ennas Managerin war sie dafür verantwortlich, alles Unnötige von ihr fernzuhalten. Da musste Enna darauf aufpassen, dass ihre Mutter die Aufgaben als Managerin der Starcellistin Enna Jakobi nicht mit ihrem Verhältnis zu ihrer Tochter Enna vermischte, die im Frühjahr ihren fünfunddreißigsten Geburtstag feiern würde. Enna lächelte unter der Dusche. Ihre Mutter war am Ende jeder Tournee mindestens ebenso urlaubsreif wie sie selbst.

Es war ungewöhnlich still im Sportzentrum. Waren denn alle schon fertig? Oder hatte Sam die Räumlichkeiten nur für Enna gebucht? Das würde ihm ähnlichsehen. Wenn es darum ging, sich um Enna zu kümmern, stand er ihrer Mutter in nichts nach.

Ein Türenklappen ließ sie aufhorchen. War doch noch jemand da? Nur in ein Handtuch gewickelt, ging sie barfuß zur Umkleidekabine, in der ihre Kleider lagen. Dann stutzte sie und lauschte. Drüben aus der Herrenumkleide vernahm sie Schritte. Sie nickte, erleichtert, dass sie doch nicht allein im Gebäude war.

Aber hatte sie ihre Kleider nicht sorgfältig zu einem Bündel zusammengelegt? T-Shirt und Jeans lagen nun unachtsam durcheinander. Enna war sich sicher, dass sie vor dem Sport alles ordentlich gefaltet hatte. Es war natürlich möglich, dass sie sich irrte. Dennoch beschlich sie beim Verlassen des Gebäudes ein eigenartiges Gefühl. Vor einigen Jahren war sie Opfer eines Überfalls geworden, seither kam es immer wieder vor, dass sie unter Ängsten litt und an jeder Ecke Gefahr vermutete. Enna schüttelte den Kopf und verwarf die düsteren Ahnungen. Stattdessen versuchte sie sich auf das Konzert vorzubereiten, indem sie ihr Programm in Gedanken noch mal durchging.

Beim Hinaustreten auf die Straße verzog sie das Gesicht. Hamburg überrollte sie mit Lärm und Hektik, reflexartig verkrampften sich ihre Schultern. Enna konnte den Großstädten dieser Welt nichts abgewinnen. Sie mochte die beschaulichen kleinen Orte an der Nordseeküste. Am Himmel zogen die Wolken schnell vorbei, als ob auch sie es eilig hätten, Hamburg zu verlassen, um ihre Schleusen über Schleswig-Holstein zu öffnen. Es gab selten Wettergarantien für das Land zwischen den Meeren. Daher reiste Enna bevorzugt in südliche Regionen. Sie liebte Italien und verbrachte dort regelmäßig ihre Urlaube. Im vergangenen Jahr hatte Deutschland zwar eine Hitzewelle erfasst, die selbst den Norden im Griff gehabt hatte. Dennoch wollte sie bei ihren wenigen freien Tagen kein Risiko eingehen. Urlaub bedeutete nun mal Sonne, Strand und Meer. Regen war in dieser Zeit nicht erwünscht.

Ein Taxi wartete vor dem Eingang des Sportzentrums auf sie. Sie ließ sich auf den Rücksitz fallen und lehnte sich gegen die weichen Polster. Zeitlich wäre es besser, nicht erst ins Hotel zu fahren, sondern gleich in die Elbphilharmonie. Doch sie hatte sich eigens für dieses Konzert in Hamburg einen Hosenanzug aus Seide und Chiffon liefern lassen und freute sich darauf, die Anprobe zu zelebrieren. Enna hatte nur selten Gelegenheit, ausgiebig zu shoppen. Nicht dass sie dazu oft große Lust verspürte, aber hin und wieder schlenderte sie gern durch kleine Boutiquen. Außerdem vertraute sie grundsätzlich niemandem ihr Cello an, daher blieb nichts anderes übrig, als erst die Fahrt zum Hotel anzutreten.

Der Taxifahrer fädelte den Wagen in den dichten Verkehr ein. Daran, dass er keine Fragen stellte, erkannte Enna etwas verärgert, dass ihre Mutter ihn geschickt hatte. Dem Fahrer war das Ziel offensichtlich bekannt. Enna zwang sich, ruhig zu bleiben. Aufregung vor einem Konzert vermied sie nach Möglichkeit.

Statt sich weiter zu ärgern, sah sie auf die Leuchtreklamen der Stadt. An vielen Ecken entdeckte sie ihr eigenes Konterfei.

Gedanklich beschäftigte sie sich wieder mit dem Ablauf des Abends. Sie prägte sich noch mal die Reihenfolge der Titel ein. Undenkbar, wenn sie und Tareck nicht dieselben Stücke anstimmten. Sie lachte laut auf, der Fahrer sah sie über den Rückspiegel fragend an.

»Entschuldigung«, sagte sie freundlich, »ich habe nur an etwas Lustiges gedacht.«

Sie hatte für das Ende ihres Konzertes einen musikalischen Leckerbissen einstudiert, von dem ihre Mutter keine Ahnung hatte. Es sollte eine Überraschung für ihr treues Publikum werden. Sie war gespannt, wie die Zuschauer darauf reagieren würden. Enna wollte ihre treuen Fans auf einen Ausflug in Richtung Pop und Schlager mitnehmen. Ohne Zweifel ein Experiment mit unklarem Ausgang. Das missbilligende Gesicht ihrer Mutter sah sie förmlich vor sich. Sie hatte nur ihren Pianisten und langjährigen Freund Tareck Larsen in ihren Plan eingeweiht, ohne ihn hätte das Ganze nicht funktioniert. Heimlich hatten sie das Stück so lange geprobt, bis es für den Auftritt reif war. Auf Tareck konnte sie sich verlassen. Es war lange her, dass Enna und er ein Paar gewesen waren. Seither verband die beiden nur die Musik. Hin und wieder kam es vor, dass ihr Partner mit ihr flirtete, doch darauf ließ sie sich nicht ein. Auf musikalischer Ebene waren sie aber weiterhin ein Herz und eine Seele.

Enna presste die vollen Lippen aufeinander. Der Fahrer hielt nicht vor ihrem Hotel. Dies bedeutete, dass ihre Mutter ihr Cello schon in das Konzerthaus gebracht hatte. Enna rang mit sich. Wenn sie ihrer Mutter ihre Meinung an den Kopf knallen würde, würde sie das Konzert unter Umständen mit Wut im Bauch beginnen. Eine schlechte Voraussetzung für einen unterhaltsamen Abend. Aber Hilke war diesmal definitiv zu weit gegangen. Das Cello war aus dem achtzehnten Jahrhundert und von unschätzbarem Wert. Ihre Mutter hatte es irgendwo aufgetan und Enna zum zweijährigen Bühnenjubiläum überreicht.

Das Taxi hielt, und Enna stieg aus. Sie sah an der Elbphilharmonie empor und staunte wie immer über die Architektur und die Eleganz des Gebäudes. Und darüber, wie lange die Verwirklichung dieser Vision gedauert hatte. Die Bauzeit hatte Jahre betragen und begonnen, lange bevor Enna auch nur davon geträumt hatte, vor einem großen Publikum zu spielen.

Sie war vier Jahre alt gewesen, als sie zum ersten Mal ein Cello in den Händen gehalten und mit roten Wangen versucht hatte, der klassischen Musik näherzukommen. Ihre Mutter hatte gemeint, sie solle es doch erst mit einer Geige probieren, da das Größenverhältnis besser passen würde, doch dies hatte Enna störrisch abgelehnt. Von Anfang an galt ihre Leidenschaft ausschließlich dem Cello. Enna beherrschte viele Instrumente, aber nur das Cellospiel mit seinen dunklen, warmen Tönen berührte ihr Herz.

Sie schirmte die Augen mit der linken Hand ab. Dort oben war vermutlich das Fenster ihrer Garderobe. Sie rechnete jeden Moment damit, ihre Mutter hinter der Scheibe zu entdecken. Das personifizierte schlechte Gewissen, weil sie das Cello hatte holen lassen, obwohl sie wusste, dass es Enna wütend machen würde. Hilke selbst vermied es, das Instrument ihrer Tochter zu transportieren, damit beauftragte sie die Roadies, die für die Bühnentechnik und den reibungslosen Ablauf der Auftritte zuständig waren. Enna schnaubte – das bedeutete, dass jetzt jeder der Bühnenhelden gesehen hatte, wie unordentlich sie das Hotelzimmer hinterlassen hatte. Gern hätte sie ihrer Mutter schon mal einen verärgerten Blick zugeworfen. Doch Hilke Jakobi zeigte sich nicht am Fenster.

»Ungewöhnlich«, murmelte Enna, während sie die Treppe hinaufstieg, indem sie gleich zwei Stufen auf einmal nahm. Als sie die im Barockstil nachgebaute Treppe im Innenbereich betrat, vernahm sie leise Klänge. Die weichen Folgen der Tastentöne des Klaviers trugen unverkennbar die Handschrift ihres Partners, Enna hörte deutlich seine sanft einsetzenden Akkorde heraus. Niemand anderes vermochte derart gefühlvoll zu spielen. Tareck befand sich also längst bei der Vorbereitung. Wie sie ihn einschätzte, plagte ihn das Lampenfieber. Sie schmunzelte. Es war sicher wie das Amen in der Kirche, dass Enna fünf Minuten vor dem Auftritt zittern würde wie Espenlaub. Tareck würde dann seine Gelassenheit zurückgewonnen haben und Enna mit gespielt koketten Wimpernschlägen aufmuntern. Vor jedem Konzert waren diese gewohnten Abläufe tröstlich für sie beide. Sie würden am heutigen Abend wieder ihre Zuhörer begeistern, da war sich Enna sicher.

Die Stimme ihrer Mutter holte sie aus ihrer Gedankenwelt.

»Hallo, mein Schatz, du bist spät dran, ich habe –«

»Ich weiß«, unterbrach sie sie. »Sonst hätte das Taxi mich wohl kaum direkt hierhergebracht.« Enna gab sich erst gar keine Mühe, den vorwurfsvollen Ton zu vermeiden. Hilke nickte ihrer Tochter nur kurz zu. Weitere Worte waren überflüssig, um nicht noch einen handfesten Streit heraufzubeschwören.

»Deine Garderobe ist hier.« Hilke zeigte auf eine Tür zu ihrer Linken. Enna trat hindurch, wohlwollend inspizierte sie die behagliche, dezente Einrichtung. Genau nach ihrem Geschmack. Der Raum strahlte Ruhe aus, das war Enna vor einem Konzert wichtig. Sie sah prüfend auf ihr Cello, um sich zu vergewissern, dass damit alles in Ordnung war. Hilke folgte ihrem Blick.

»Du übertreibst, Enna. Glaubst du allen Ernstes, ich würde dein Cello beschädigen? Außerdem habe ich es dir geschenkt, mir ist sein Wert durchaus bekannt.«

»Mama, es ist nicht nötig, mir das jedes Mal unter die Nase zu reiben.«

Mutter und Tochter sahen sich an. Ihnen war die Anspannung, die vor einem Konzert zwangsläufig herrschte, deutlich anzumerken. Sie warfen sich gegenseitig ärgerliche Blicke zu, Enna musste schmunzeln, Hilke kicherte nervös, doch dann fielen sie sich lachend in die Arme. Letztendlich siegte ihr Humor immer über die kleinen Streitigkeiten, die genau genommen keine waren. Mutter und Tochter waren ein unschlagbares Team. Es war unnötig, ihrer Mutter klarzumachen, dass Enna mit ihrem Handeln nicht einverstanden war, Hilke hingegen musste nicht erst sagen, wie leid ihr die Sache tat. Enna sah ihrer Mutter an der Nasenspitze an, wie unwohl sie sich fühlte. Zeitweise war es eben erforderlich, dass Hilke handelte, ohne vorher mit Enna darüber zu sprechen. Enna war dies bewusst, trotzdem gefielen ihr die spontanen Aktionen ihrer Mutter nicht immer.

»Ich freue mich wahnsinnig auf unseren Urlaub«, meinte Hilke. Sogleich verfiel sie ins Schwärmen, ohne preiszugeben, wo die Reise hinging. Enna schaute von dem Brief auf, der auf dem Tischchen gelegen und ihr Interesse geweckt hatte. Hilke kicherte, da sie ihren Blick ohne Worte verstand.

»Wird noch nicht verraten. Morgen nach dem Frühstück erfährst du, wohin wir fahren .« Enna legte die Fanpost zurück auf den Tisch. Sie würde sie später lesen. »Soll ich dir beim Make-up behilflich sein?«, fragte Hilke.

»Danke, aber nein, ich komme zurecht.« Sobald ihre Mutter mit Pinsel und Puder anrückte, überfiel Enna eine Nervosität, die sie kaum zu unterdrücken vermochte. Sich selbst um das Make-up zu kümmern war dagegen eine beruhigende Ablenkung vor dem Konzert. Enna rieb ihre Stupsnase, eine Angewohnheit, die immer dann zutage trat, wenn sie nervös war. Sie beschlich der Verdacht, dass sich ihre Mutter etwas sehr Ungewöhnliches für den Urlaub hatte einfallen lassen. Ennas Ahnungen täuschten sie selten. Daher beschloss sie, vor ihrem Auftritt nicht mehr darüber nachzudenken.

 

2

Das Konzert

 

 

Enna verbarg sich hinter dem roten Samtvorhang. Das Haus war ausverkauft. Der Lautstärkepegel im Zuschauerraum stieg stetig an, Unruhe entstand. Nicht nur sie, auch das Publikum war angespannt. Tareck stellte sich neben sie. Als sie ihn bemerkte, küsste sie ihn auf die Wange. Er wiederum gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Seine Nähe zu spüren, wirkte auf Enna beruhigend. Tareck war vorbereitet, er strahlte die gewohnte Gelassenheit aus.

»Wie geht’s dir?«, erkundigte er sich fürsorglich.

Obwohl sie schon lange kein Liebespaar mehr waren, hatte Enna zu niemandem ein innigeres, vertrauteres Verhältnis als zu Tareck, von ihrer Mutter mal abgesehen. Er benutzte das gleiche Aftershave wie früher. In seinem glänzenden Sakko sah er eindrucksvoll aus. Hilke war der Meinung, dass ihm ein Smoking besser stehen würde, aber Tareck hatte zum Glück seinen eigenen Geschmack. Seine warmen braunen Augen ruhten auf Enna. Fast könnte man Liebe in seinem Blick vermuten. Der sinnlich sensible Mund deutete ein Lächeln an. Ennas linke Hand hielt das Griffbrett ihres Cellos, mit der rechten umklammerte sie seine Finger. Beide schlossen für einen Moment die Augen. Eine Art gemeinsame Meditation vor dem Auftritt. Einer der Mitarbeiter der Elbphilharmonie positionierte das Stachelbrett vor Ennas Stuhl auf der Bühne. Es sorgte dafür, dass der Cellostachel beim Spielen nicht verrutschte. Er gab Enna ein Zeichen.

Alles perfekt, es kann losgehen.

Enna atmete tief durch, drückte die Hand ihres Partners, ohne ihn anzusehen, dann schritt sie auf die Bühne. Ihre Nervosität hatte ihren Höhepunkt erreicht. Sie trug ihren neuen schwarzen Hosenanzug aus Seide, den Hilke zusammen mit dem Cello holen lassen. Der tiefe Ausschnitt des Oberteils reichte fast bis zum Bauchnabel, ohne einen Blick auf ihre Brüste freizugeben. Der Stoff schmeichelte ihrer Haut und war herrlich kühl. Dazu trug sie silberne Sandalen mit mörderischen Absätzen. Ihre leuchtend grünen Augen gehörten ab sofort dem Publikum, das sich schnell beruhigte, als Enna sich zur Mitte der Bühne bewegte. Die Zuschauer klatschten Beifall, und Enna verbeugte sich leicht. Bevor sie sich setzte, wandte sie sich zu den Balkonen, die hinter ihr lagen. Tareck saß inzwischen am Klavier und lächelte seiner Partnerin zu. In diesem Augenblick war Ennas Lampenfieber verflogen. Sie gehörte ihren Zuschauern.

Sie nahm auf ihren Hocker Platz, brachte das Cello in Position zwischen ihren Oberschenkeln und strahlte das Publikum an. Einige Sekunden lang sah sie in den Zuschauerraum. Jedem einzelnen der Anwesenden vermittelte sie den Eindruck, persönlich begrüßt zu werden. Das Stimmengewirr verstummte in diesem Augenblick vollständig.

Enna entdeckte ihre Mutter, die wie immer in der ersten Reihe die gesamte Bühne überblickte. Mit erhobenem Kinn wirkte ihr Hals noch länger als sonst. Enna hatte die grünen Augen von ihr geerbt, ebenso die hohen Wangenknochen und den vollen Mund. Hilke sah für ihre fünfundfünfzig Jahre blendend aus. Ihr schmaler Körper saß aufrecht, und ihrem wachsamen Blick entging nichts. Offenbar war sie mit der Bühnenaufstellung zufrieden. Enna nahm ihr leichtes, wohlwollendes Nicken wahr.

Weiter rechts entdeckte Enna den älteren Herrn, der kein Konzert während der gesamten Tournee ausgelassen hatte. Später würde er weiße Rosen in ihre Garderobe schicken lassen, um dann wie vom Erdboden verschluckt zu verschwinden. Enna hatte sich inzwischen daran gewöhnt, anfangs war ihr sein Verhalten unheimlich vorgekommen. Das Alter des Mannes war schwer einzuschätzen, aber wenn er sie durch ganz Deutschland begleitete, musste er entweder vermögend oder verrentet sein. Er trug stets einen dunklen Anzug und dazu eine farbenfrohe Krawatte. Manchmal schloss er während ihres Vortrags genießerisch die Augen, aber meistens hatte er den Blick auf Enna gerichtet. Er schien ihr Spiel zu lieben, aber das war es nicht, was ihr ungewöhnlich vorkam. Vielmehr erregten das missbilligende Naserümpfen ihrer Mutter ihre Aufmerksamkeit, sobald Hilke seine Gegenwart bemerkte.

Enna strich mit dem Bogen die Saiten an. Es störte sie nicht, dass sie noch nicht perfekt gestimmt waren. Verschmitzt schmunzelte sie ihren Konzertbesuchern zu.

»Hoppla, die Wärme hier im Raum macht nicht nur uns zu schaffen. Auch mein Cello leidet, auf seine Art«, scherzte sie. Sie drehte an den Wirbeln des Instruments und probierte es erneut, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.

»Tareck, bei dir ist aber alles gestimmt? Legen wir los?«

Ihr Partner hob die Hände zum Zeichen, dass er bereit war. Hilke Jakobi hielt sichtlich den Atem an. Pannen waren für sie ein Graus und nur schwer zu ertragen. Aber dann siegte das Lächeln, das ihren Stolz auf Enna widerspiegelte.

Ennas Körper verschmolz zu einer Einheit mit ihrem Cello. Sie lebte die Musik mit völliger Hingabe. Die Vollblutmusikerin beherrschte spielerisch ihr Instrument und begeisterte das Publikum durch ihren warmen, äußerst differenzierten Celloton. Es war zu spüren, dass Tareck und Enna eine Partnerschaft verband, wenn auch nur eine musikalische. Das neue Programm des Duos fesselte die Zuhörer vor allem durch die mitreißende Musizierfreude und gegenwärtige Frische. Beide waren zu einem Team gewachsen, das mit blühenden Tönen beeindruckte: unglaublich flexibel das Cello, leicht unterstützend, darauf folgte demonstrativ das Klavier. Enna flirtete mit Tareck, dann wieder lächelte sie das Publikum an. Sie bewegte sich mal anmutig, mal fordernd, um im flüssigen Übergang die Zuhörer die Poesie der Stücke spüren zu lassen. Sie liebte ihr Cello, sie liebte die Musik mit uneingeschränkter Hingabe.

Das erste Stück, eines von Renzo Rossellini, gehörte zu ihren Favoriten. Ihre Hände gehorchten Enna problemlos, trotz des Trainings so kurz vor ihrem Auftritt. Sie versprühte ihren Charme und ließ jeden der Anwesenden ihre Energie, ihre Liebe zur Musik und die echte Zuneigung zu ihren Fans spüren. Durch ihre Lebendigkeit wirkten die altbekannten Werke frisch und jung. Niemand bemerkte, wie urlaubsreif sie war. Fast schien es, als ob Enna mit der Musik verschmolzen war und vor Euphorie nur so strotzte.

Nach Bach, Wagner und einem weiteren Mal Rossellini ertönte der Pausengong. Enna verneigte sich und verschwand, gefolgt von Tareck, mit ihrem Cello in der Garderobe.

»Du hast dich selbst übertroffen, Enna. Ein exzellentes Spiel«, meinte er anerkennend. Sie grinste.

»Du hast mich mit dem Klavier mitgerissen, manchmal warst du etwas zu schnell«, sagte sie belustigt, aber keineswegs entrüstet.

»Stimmt, ich musste die überschüssige Kraft in mir einfach loslassen.« Beide fielen sich lachend in die Arme.

»Ich habe ein gutes Gefühl, ich bin sicher, die Zuhörer haben das Konzert bisher in vollen Zügen genossen. Inklusive meiner Mutter.« Enna lachte. »Nach der Pause lassen wir die Katze aus dem Sack. Atemlos wird hoffentlich gut ankommen.«

Beide sahen sich verschwörerisch an. Bis zum Schluss war nichts von ihrer Absicht, einen modernen Schlager zu spielen, zu ihrer Mutter vorgedrungen.

Tareck lümmelte auf einem Sessel. Lässig ließ er die Beine über die Lehne baumeln, dabei schlürfte er einen Whisky. Er nahm nur wenige, kleine Schlucke. Das gönnte er sich meistens während der Pause. Hilke wusste, dass beide gemeinsam in Ennas Garderobe gingen, daher hatte sie Tareck das Getränk dort bereitstellen lassen. Enna blieb stehen, in der Hand hielt sie ein Sektglas, aus dem sie ebenso kleine Schlucke nahm. Alkohol verursachte bei ihr Schweißausbrüche, die momentan ungünstig für ihr Make-up wären.

»Lisa und du, habt ihr euren Urlaub schon verplant?« Enna schaute zu Tareck hinüber. Er wich ihrem Blick aus. Auf einmal wirkte er wie ein Schuljunge, der sich vor der Rektorin zu rechtfertigen hatte.

»Tareck? Was ist los?«

»Es ist aus, ich habe es wieder mal vergeigt«, murmelte er, dabei mied er weiterhin Blickkontakt mit Enna.

»Das tut mir leid. Was hast du angestellt?«

»Lisa hat es nicht ertragen, dass wir beide«, er zeigte von Enna zu sich, »uns so gut verstehen.«

»Hä? Wir verstehen uns? Sind wir nicht wie Hund und Katz?« Ennas Scherz kam bei Tareck nicht an. Er trank in einem Zug sein Glas leer.

»Das ist nicht witzig, Enna. Unsere musikalische Partnerschaft stand mir schon oft im Weg einer langfristigen Beziehung. Nicht jede Frau macht das mit.«

Betroffen starrte Enna ihren Freund an.

»Aber das ist doch Mist«, erwiderte sie. Sofort legte sie die Fingerspitzen auf ihre Lippen, als ob sie das Gesagte dadurch zurücknehmen könnte. Tareck schwang die Beine von der Lehne auf den goldfarbenen Teppich der Garderobe, dann stand er mühevoll auf. Mit gesenktem Kopf schielte er zu Enna herüber.

»Stimmt, aber leider nicht unbegründet.« Während er verlegen sein Kinn kratzte, bewegte er sich langsam auf Enna zu. Sanft nahm er ihr Gesicht in beide Hände. Seine braunen Augen waren dunkler als sonst, regelrecht unergründlich. Seine Lippen zitterten unübersehbar. Ennas Blick haftete verwirrt an ihnen. Sie waren so vertraut und doch so fremd. Sie öffnete leicht ihren Mund, um etwas zu sagen. Tareck verschloss ihn mit einem sinnlichen Kuss.

Enna empfand es wie damals. Sie spürte ihre Beine kaum, denn sie schienen vom weichen Teppichboden abzuheben. Mit jeder Faser ihres Seins floss sie dahin, als ob Wolken ihren Körper umspielten. Für einen Augenblick schloss sie ihre flackernden Lider. Dann war der Zauber vorbei. Die Realität holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie waren kein Paar mehr, und das nicht ohne Grund. Dessen musste sie sich erst wieder bewusstwerden, ehe sie ihn sanft, aber entschlossen von sich schob.

»Das war nicht fair«, wisperte sie. Mit dem Handrücken wischte sie den Kuss von ihren Lippen. Doch spüren würde sie ihn noch lange. Genau wie die früheren innigen Küsse in ihrem Gedächtnis eingebrannt waren.

Sie sah Tareck eindringlich an. Seine dunkelblonden, akkurat geschnittenen Haare, seine markanten Lippen und die etwas herben Gesichtszüge. Tareck war vertraut, aber in einer Beziehung nicht vertrauenswürdig. Sie hatten einmal geplant, gemeinsam Kinder in die Welt zu setzen. Kinder, denen sie ihre volle Liebe und Aufmerksamkeit schenken wollten. Alles Vergangenheit, die nie mehr einzuholen war. Tareck war damals der Erfolg zu Kopf gestiegen. Er hatte Enna mit der entzückenden Maskenbildnerin betrogen, die inzwischen eine andere Stelle angenommen hatte. Nicht dass Tareck ihr seine Untreue gestanden hätte, nein, Enna hatte die beiden erwischt. Nach dem anfänglichen Schock hatte sie sogar Verständnis für ihn aufgebracht. Zu dem Zeitpunkt hatte ihre Beziehung auf der Kippe gestanden. Der Erfolg, die zahllosen Termine und nicht zuletzt die Fans hatten enorm viel Aufmerksamkeit gefordert. Dabei hatten sie ihre Liebe vernachlässigt.

Enna hatte diese Enttäuschung nie verwunden. Seither hatte es keinen neuen Mann an ihrer Seite gegeben, der sie auch nur halbwegs fasziniert hatte. Trotzdem änderte der spontane Kuss nichts an ihrem Entschluss, sich nicht wieder auf Tareck einzulassen. Schuldbewusst blinzelte er sie an.

»Verzeihung, ich musste es versuchen.«

»Warum ausgerechnet vor dem zweiten Akt unseres Konzertes? Wir brauchen gleich unsere höchste Konzentration.« Enna klang vorwurfsvoll.

Tareck grinste verschmitzt. »Habe ich dich also doch noch aus dem Konzept gebracht? Irgendwie freue ich mich darüber.«

Enna kochte vor Wut. »Wenn du nicht so ein verdammt guter Pianist wärst … Müsste ich mir einen neuen Partner suchen.«

Ein Schatten huschte über Tarecks Gesicht. »Ich weiß, ich habe hoch gepokert. Mehr als mich entschuldigen kann ich nicht.«

»Doch!«, zischte Enna. »Lass das in Zukunft bleiben.«

Tareck nickte. Sicher hatte er nicht vorgehabt, Enna zu verletzen, aber er hatte es trotzdem getan.

Der erste Gong zum Pausenende ertönte. Es würden gleich zwei weitere folgen, dann musste Enna zurück zu ihrer Mitte gefunden haben, um die zweite Hälfte zu überstehen. Es war ihr gerade egal, wohin ihre Urlaubsreise ging, Hauptsache, weit weg von Tareck. Die Atemlos-Nummer von Helene Fischer passte Enna nun gar nicht mehr. Es würde sie große Überwindung kosten. Aber sie war Profi genug, um zu wissen, dass da draußen auf der Bühne kein Raum für privaten Kummer war. Sonst würde sie der Presse nur ein gefundenes Fressen liefern.

 

Hilke Jakobi lief in der Garderobe ihrer Tochter im Stechschritt auf und ab. Dem Blumenjungen, der wie gewohnt die weißen Rosen ablieferte, riss sie den kostbaren Strauß wortlos aus den Händen, dann warf sie die Tür geräuschvoll ins Schloss, ohne ein Trinkgeld herauszugeben. Enna hockte geduldig auf dem Sessel, den Tareck in der Pause für sich beansprucht hatte, und wartete ab, bis ihre Mutter genügend Dampf abgelassen hatte. Es war damit zu rechnen gewesen, dass Hilke mit einer Standpauke durch die Garderobe toben würde. Enna störte es nicht im Geringsten.

Hilke hatte ihre Haare kunstvoll zu einem Knoten gebunden, aus dem jetzt einzelne Strähnen herausgerutscht waren. Dadurch wirkte sie ein wenig gestört. Fehlte nur noch ein abgebrochener Absatz, damit sie gänzlich aus der Bahn geriet. Auch das war nicht neu für Enna. Ihre Mundwinkel zuckten belustigt, aber ihre Mutter war nicht bereit einzulenken, darum war es ratsamer, sich unter Kontrolle zu halten. Hilke verabscheute es, wenn Enna sie auslachte.

»Was habt ihr euch dabei nur gedacht!«, rief Hilke, ohne ihr Herumtigern einzustellen.

»Wir wollten dem Publikum etwas Neues präsentieren«, antwortete Enna tonlos. Sie erwähnte nicht, dass die Abweichung vom Klassikprogramm ungeheuer gut angekommen war. Das Publikum hatte Enna und Tareck mit Standing Ovations gefeiert und sich vor Begeisterung gar nicht mehr beruhigen wollen.

»Wo ist Tareck überhaupt?« Hilke hielt in ihrer Bewegung inne. »Hat er Schiss bekommen?« Sie blieb vor Enna stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihre Tochter prüfend an.

»Meine Garderobe ist vorläufig für ihn tabu«, murmelte Enna. Dabei strich sie mit dem Finger über den Rand des Sektglases und wippte nervös mit einem Fuß. »Außerdem muss er sich vor dir nicht fürchten«, fügte sie hinzu und konnte ein Schmunzeln nicht verhindern.

Ihre Mutter wirkte schlagartig wie ausgewechselt. Sie zwang sich zur Ruhe und sah Enna besorgt an. Streitigkeiten zwischen den Musikern, deren Managerin sie war, bedeuteten größere Probleme als ein nicht abgesprochenes Musikstück während eines Konzertes.

»Verrätst du mir, was zwischen euch vorgefallen ist? Beim Konzert habe ich nichts Auffälliges bemerkt.« Hilke streckte vorsichtig ihre Fühler aus. Jetzt war sie die besorgte, einfühlsame Mutter, die ihre Tochter beschützen wollte.

»Lass mal, wir bekommen das schon wieder hin«, versicherte Enna halbherzig. Hilke sah sie weiterhin erwartungsvoll an. Enna zögerte. Es wäre ihr lieber, ihrer Mutter zu erzählen, was geschehen war. Zumal sie tatsächlich daran dachte, sich einen neuen Partner zu suchen.

»Ach Mama, Tareck hat mich geküsst.« Ihre flirrenden Gefühle dabei erwähnte sie nicht. »Er hat mich völlig überrumpelt.«

Hilkes Gesichtszüge wurden weich. »So, so, überrumpelt. Will er dich zurück?«

Enna erkannte einen Hoffnungsschimmer in den Augen ihrer Mutter. Sie verehrte Tareck, er war ihrer Meinung nach der perfekte Schwiegersohn. Damals war Hilke Jakobi bestürzt gewesen über die Bekanntgabe ihrer Trennung.

Ihre Mutter hatte selbst die Erfahrung machen müssen, wie es sich anfühlte, betrogen zu werden. Sie behandelte Männer, die sie liebten, nicht gerade zimperlich. Ihre spitze Zunge feuerte genug Beleidigungen ab, um sie allesamt in die Flucht zu schlagen. Aber Enna riet sie dennoch regelmäßig, Tareck zu verzeihen. Heute jedoch nicht. Vielleicht sah sie, wie sehr der Vorfall Enna mitnahm, und lenkte deswegen ein.

»Komm, Schatz, lass uns ins Hotel fahren, wir sind fertig hier. Der Urlaub wird uns beide auf andere Gedanken bringen.« Sie schloss ihre Tochter in die Arme. Ennas fragenden Blick ignorierte sie. Mit einem abfälligen Augenrollen schaute Hilke auf die Rosen.

»Die Blumen bleiben am besten hier stehen. Wir sind eh nicht mehr lange zu Hause.«

»Kommt nicht infrage, sicher hat Laila Freude daran.« Laila war die Reinigungskraft in ihrer Lüneburger Wohnung. Hilke widersprach nicht, schien aber auch nicht glücklich über Ennas Entscheidung. Enna nahm die Blumen aus der Vase und steckte den Fanbrief ein.

Enna fand Hilkes Reaktion mehr als verdächtig. Warum war sie von einem Augenblick auf den anderen derart verschlossen? Hatte es mit ihrem Urlaub zu tun? Oder hatte sie Laila etwa hinter ihrem Rücken die Kündigung ausgesprochen? Laila war für Ennas und Hilkes Wohnungen zuständig, die in einiger Entfernung voneinander lagen. Enna verbrachte schon genug Zeit mit ihrer Mutter, da mussten sie nicht auch noch in einem Haushalt leben. Hilke hatte es anfangs nicht verstanden, doch bald hatte sie sich damit abgefunden. Enna liebte ihre Mutter, aber ein gewisser Abstand war für sie wichtig.

Je näher der Urlaub rückte, desto mehr beschlich Enna das mulmige Gefühl, was das geheimnisvolle Reiseziel betraf.

 

3

Die Überraschung

 

 

Enna sah in ihrer Wohnung nach dem Rechten, ihre Koffer waren bereits gepackt. Jetzt kamen Zweifel auf, ob sie die richtige Auswahl bei der Kleidung getroffen hatte, da sie ja keine Ahnung hatte, wo die Reise hinging. Ungeduldig wartete sie auf ihre Mutter, die sie in einer Viertelstunde abholen sollte. Enna betätigte den Startknopf des Kaffeeautomaten in ihrer modern eingerichteten Küche. Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte, würde sie die Spülmaschine laufen lassen. Laila würde sie dann später ausräumen. Im Hintergrund lief ein Mitschnitt ihres vorletzten Konzertes.

Tareck hatte sich am Morgen per WhatsApp bei ihr entschuldigt. In Anbetracht ihrer zukünftigen Tourneen hatte sie ihm geschrieben, dass sie ihm verzieh, doch es war ihr schwergefallen. Sie sinnierte über den Kuss, der sie mehr berührt hatte, als sie es hatte zulassen wollen. Wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie ihn genauso liebte wie früher. Der Kuss hatte ihre Gefühle für ihn herausgekitzelt, die sie ständig verdrängte. Trotzdem gab es für Tareck und sie kein Zurück. Vorbei, Ende und Schluss.

Ihre Mutter klingelte ungeduldig. Enna betätigte den Türsummer, um sie hereinzulassen.

Hilke Jakobi sah blendend aus. Sie trug eine enge Jeans, eine Bluse und dazu einen rosa Blazer. Das perfekte Make-up ließ sie mindestens fünf Jahre jünger erscheinen. Dazu hatte sie sportliche Turnschuhe an, deren Farbe zur Jacke passte. Hilke, die Powerfrau. Jedem Betrachter fiel sofort ihre Lebensfreude auf. Ihr üppig aufgetragenes Parfüm erfüllte sekundenschnell die Wohnung. Enna überlegte, wann sie zuletzt diesen Duft bei ihrer Mutter gerochen hatte. Es musste Jahre her sein. Aber immer noch war er ihr sehr vertraut. Die Frauen umarmten sich zur Begrüßung, dabei inhalierte Enna das unvergessene Veilchenaroma.

»Darf ich jetzt bitte wissen, wohin wir fahren?«, fragte Enna ungehalten.

»Darum bin ich hier, mein Schatz«, meinte Hilke, doch dann schwieg sie erst mal verlegen.

»Mama!«

»Schatz, stell dir vor, ich habe auf Hooge Opas ehemaliges Pastorat angemietet. Ich freue mich wahnsinnig. Erinnerst du dich, wie gemütlich die Ferien bei Opa waren? Ich hätte im Traum nicht gedacht, mal auf Hooge den Sommerurlaub verbringen zu können.« Hilke nestelte an ihrem Blusenkragen, obwohl alles perfekt saß. Sie kicherte beklommen und wich Ennas Blick aus.

Die schnaufte auf.

»Sag mir, dass das ein Witz ist.« Ungläubig starrte sie ihre Mutter an. Die kleine Hallig in der Nordsee war Ennas zweite Heimat gewesen. Ihre Mutter und sie waren dort über die Sommerferien stets herzlich aufgenommen worden. Bei ihrem Opa, der bis zu seinem Tod Pastor der Halliggemeinde gewesen war. Aber die Zeiten waren längst vorbei. Enna hatte Hooge, seit sie mit dem Besuch der Musikschule begonnen hatte, nie wieder betreten. Dazu hatte es keine Veranlassung gegeben. Der Vater ihrer Mutter, ihr geliebter Opa, lebte nicht mehr. Seither war die Kirche vakant. Es hatte sich kein Pastor gefunden, der bereit gewesen wäre, die kleine Gemeinde Hooge geistlich zu begleiten. Einmal im Monat kam ein Prediger vom Festland auf die Hallig und hielt dort den Gottesdienst ab.

»Nein, ich meine es durchaus ernst.« Hilke Jakobi wirkte beleidigt.

»Aber das alte Pastorat ist unbewohnt. Weißt du, wie viel Staub sich da über die Jahre angesammelt hat? Ich habe nicht vor, meinen Urlaub damit zu beginnen, das Haus zu putzen.«

Hilkes verschlossenes Gesicht hellte sich augenblicklich auf.

»Liebes, meinst du wirklich, ich würde nicht an so was denken? Selbstverständlich habe ich Laila vorgeschickt, um das Haus in Ordnung zu bringen. Wenn das deine einzige Sorge ist … Die kann ich dir nehmen.« Hilke setzte ein zufriedenes Lächeln auf. Sie hob das Kinn und straffte den Rücken. »Können wir nun endlich los?«

Enna war den Tränen nahe. Sie fühlte sich von ihrer Mutter hintergangen. Betrogen um einen Urlaub im Süden. Dort, wo sie die Sonne von morgens bis abends genießen konnte, ohne sich zu fragen, ob sie einen Regenschirm brauchen würde. Ihre Haut sehnte sich nach Sonne, sonst glich Enna im Winter einer gekalkten Wand. So viel Make-up konnte sie gar nicht auftragen, um im Scheinwerferlicht der Bühnen nicht auszusehen, als ob sie geradewegs aus dem Sanatorium geflüchtet wäre.

Nun war es nicht wie am Vorabend Hilke, die hektisch auf und ab marschierte, sondern Enna. Die Frauen waren sich unheimlich ähnlich, in ihren Gesten, ihrem Temperament, ganz zu schweigen von ihrem Aussehen. Enna hätte ein Klon Hilkes sein können, nur jünger. Hilke beobachtete sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Es zuckte um ihre Mundwinkel, sie hatte Mühe, die Tränen der Enttäuschung herunterzuschlucken. In ihren Augen lag deutlich die Liebe zu ihrer Tochter, gemischt mit einer ordentlichen Portion Ratlosigkeit.

»Nein, Mama, da musst du dir etwas anderes einfallen lassen. Hooge kommt definitiv nicht infrage.« Enna blieb stehen. Standen dort Tränen in den Augen ihrer Mutter? Enna hatte noch nie ertragen können, wenn ihre Mutter weinte. Bestürzt musterte sie Hilke nun. »Wie konntest du nur, Mama.« Ennas Stimme brach. Hilke schluchzte auf. Ob dies einem Erpressungsversuch gleichkam?

»Bitte, Enna, es wäre mein größter Wunsch. Ich vermisse Hooge so sehr. Erinnerst du dich an früher, als du noch klein warst? Wir hatten unbeschreiblich schöne Sommer auf der Hallig.«

»Ja, natürlich, aber da war Opa noch am Leben. Ich wüsste wirklich nicht, was ich vier Wochen lang auf dem kleinen Flecken Erde anfangen sollte.«

Hilke nickte stumm.

»Okay, ich habe alternativ die Malediven anzubieten, wenn du dich nicht dazu durchringen kannst, mir eine Freude zu bereiten.« Hilke sprach eine Spur theatralischer, doch ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ennas grüne Augen weiteten sich. Dabei sah sie sehr kindlich aus.

»Du hast mich gar nicht vor vollendete Tatsachen gestellt? Du hast einen Plan B?«, fragte sie überrascht.

Hilke schluckte, dabei zupfte sie unablässig an ihrer Bluse, deren Knöpfe nachzugeben drohten.

»Was dachtest du denn? Ich weiß doch, wie hart die Tournee war und dass du deine Erholung dringend brauchst. Was wäre ich denn für eine Mutter, wenn ich keine Rücksicht darauf nehmen würde?«

Hilke blinzelte schnell. Kämpfte sie mit den Tränen oder verbarg sie damit, dass sie gerade flunkerte? Ennas Entschlossenheit wankte. Ihre Mutter hatte in der zurückliegenden Saison nicht weniger hart gearbeitet als sie selbst. Enna hatte ihr viel zu verdanken.

Sie trat an das Fenster zum Hinterhof. Der war zu einer grünen Oase geworden. Laila hatte auch hier ihre Finger im Spiel gehabt. In jeder freien Stunde hatte sie aufopfernd den Rasen gepflegt, üppige Blumenbeete gepflanzt und einen kleinen Gartenteich angelegt.

Enna dachte an die Hallig in der Nordsee. An ihre Bewohner, die stets füreinander da waren. Sie dachte an ihre braun gebrannte Kinderhaut. Oder daran, wie sie barfuß durch das Watt gewandert und mit dem Pferdegespann an Warften vorbeigefahren war, deren Bewohner für Enna immer ein Eis oder ein Kaltgetränk parat gehabt hatten. Damals war es oft vorgekommen, dass sie die Zeit vergessen hatte und durstig die Warft zum Königspesel hinaufgekraxelt war.

Plötzlich schmeckte sie die salzige Luft, hörte das Kreischen der Möwen und den Glockenturm der Hooger Kirche auf der Kirchwarft. War das nicht immer die pure Freiheit gewesen? Wie gern hatte sie ihrem Opa an den Sonntagen beim Predigen zugehört. Seine warme Stimme, die von der Kanzel erklungen war, als ob ein Adler sie auf seine Schwingen genommen hätte, um jedem die Seele zu öffnen. Enna schloss die Augen. Da vernahm sie es ganz deutlich: die Glocken der Kirche von Hooge.

Ihre Mutter redete währenddessen weiter. Enna hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne, die Bedeutung der Worte prallte an ihr ab. Mit Schwung wandte sie sich ihr zu. Ennas Augen leuchteten wie Sterne.

»Mama, du hast immer die besten Ideen. Wir fahren nach Hause!«, rief sie. »Wenn es mir nicht gefällt, packe ich eben meine Koffer und suche das Weite.«

Hilke öffnete vor Erstaunen den Mund. Ohne einen Laut von sich zu geben, schloss sie ihn wieder. Sie jubelte und wirbelte ihre Tochter übermütig herum.

»Das wird der beste Urlaub, den wir je hatten«, versprach sie, dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Danke«, wisperte sie, kaum in der Lage, zu sprechen.

Enna hatte da ihre Zweifel, ob der Urlaub wirklich der beste ihres Lebens werden würde. Aber ihre Mutter freute sich so sehr, dass sie ihr die Freude nicht nehmen wollte. Sie löste sich aus der Umarmung und eilte in ihr Schlafzimmer, öffnete den fertig gepackten Koffer und beförderte einen Teil der leichten Sommerbekleidung hinaus. Als dies erledigt war, inspizierte sie ihren Kleiderschrank auf der Suche nach wärmeren Klamotten. Ihre gelbe Regenjacke zerrte sie aus dem untersten Regal. Die hatte sie seit ihrem letzten Aufenthalt auf Hooge nicht mehr getragen. Wenn sie in diesem gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstück auf der Hallig ihre Spaziergänge unternahm, erkannte sie sicher kein Mensch. Enna stand zu häufig im Rampenlicht, als dass sie im Urlaub erkannt werden wollte. Sie wollte sich ungezwungen bewegen, Enna sein, nicht die Starcellistin.

Sie überlegte kurz. Irgendwo hatte sie die passenden Gummistiefel verstaut. Sie fand sie in der hintersten Ecke des Abstellraumes. Enna gluckste. Wenn Tareck sie so sehen würde. Ob er an ihr vorbeiginge, ohne sie zu erkennen?

Tareck. Schmerzliche Erinnerungen drängten in ihr Bewusstsein, wie Tauben, die nach langer Reise in ihren Schlag zurückgefunden hatten. Warum nur hatte der unerwartete Kuss diese Gefühle in ihr geweckt? Es war doch gut gewesen, so wie es war. Sie waren leidenschaftliche Musiker, ein perfekt eingespieltes Team und beliebt bei ihren Fans. Und wie würde es nun mit ihnen weitergehen?

Beinahe wütend stopfte Enna die Dinge in ihren Koffer, von denen sie glaubte, sie wären unverzichtbar für den Nordseeurlaub. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Mutter am Türrahmen lehnen. Auf die Frage hin, was mit ihr los sei, schüttelte Enna aussagekräftig ihren Kopf. Nichts, sollte das bedeuten. Hilke verstand sie richtig: Keine Fragen bitte, ich möchte nicht darüber reden.

Mit hochrotem Kopf verschloss Enna ihren Koffer. Fertig. Hilke sah ihre Tochter sorgenvoll an.

»Sicher? Wir können auch …«

»Sicher«, meinte Enna fest. »Ich freue mich.« Auch wenn Hilke sich vermutlich denken konnte, dass dies eine Notlüge war, lächelte sie ihrer Tochter doch aufmunternd zu. Sie strahlte förmlich. Offensichtlich war die Reise nach Hooge für ihre Mutter wirklich wie ein Geschenk.

»Ich habe meine Garderobe den Witterungsverhältnissen der Nordsee angepasst«, meinte Enna und grinste. Sie trug wie ihre Mutter Jeans. Dazu hatte sie ein T-Shirt angezogen, das ihre schmale Taille betonte. Auf Make-up hatte sie verzichtet.

Hilke nickte heftig. »Wir machen es uns schön.«

Enna beobachtete die aufkommende Energie ihrer Mutter mit gewissem Amüsement. Sie wirkte fast kindlich.

»Wir fahren bis Nordstrand, dann geht es mit dem Highspeed-Boot zur Hallig«, klärte Hilke sie auf.

Enna prustete los. »Du wirst doch immer seekrank.«

Hilke spitzte die Lippen.

»Das überlebe ich schon. Mit Highspeed durchs Wattenmeer. Das geht ganz schnell«, sagte sie wenig überzeugend.

»Wir nehmen kein Auto mit?«

Hilke fuhr mit der Hand durch die Luft, als ob sie die Idee, mit dem Auto auf die Hallig zu fahren, wegwischen wollte. »Wir leihen uns Fahrräder, früher sind wir auch so klargekommen.«

Enna schmunzelte. Normalerweise war es ihre Mutter, die laut protestierte, sobald ein längerer Fußmarsch geplant war. Mit dem Fahrrad stand sie schon immer auf Kriegsfuß.

»Ist mir recht.« Enna kicherte. Sie war gespannt, wie sich ihre Mutter auf dem Rad anstellen würde. Wahrscheinlich würde man sie nur im Strandkorb mit einem Getränk in der Hand sehen. Vorausgesetzt, das Wetter spielte mit.

 

4

Heimat

 

 

Hilke Jakobis blasses Gesicht wirkte angespannt. Sie tupfte unentwegt mit einem weißen Spitzentaschentuch über ihre Lippen. Ein deutliches Zeichen für die Übelkeit, die sie

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Anni Deckner
Bildmaterialien: © karandaev, haveseen, YAYImages, maxym, resulmuslu, mail.hebstreit.com, yura_fx, just2shutter, jonson, tiler84 /depositphotos.com
Cover: Annadel Hogen
Lektorat: Martha Wilhelm – www.textwinkel.de
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2021
ISBN: 978-3-96714-116-0

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