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Paranoia

Und Tränen fließen von der Wange nieder,

Und Blut entquillt der alten Herzenswunde,

Und wie in Zauberspiegels Grunde

Seh ich das Bildnis meiner Liebsten wieder;

(Heinrich Heine, „Die schönste aller Locken“ Verse 3-6)

 

„Die Lehrer übertreiben es doch immer!“, sagte ich meinem Kumpel, was mir einen bösen Blick von meiner Mutter eintrug. Sie mochte ihn nicht. Früher ging das noch, aber in letzter Zeit ignoriert sie ihn vollkommen. Eigentlich lachhaft, da sie einen normalerweise die ganze Zeit über Höflichkeit belehrt.

Irgendwie schien ihn keiner meiner Bekannten zu mögen. Sie starrten mich jedes mal, wenn ich mit ihm redete, seltsam an und sagten ich solle damit aufhören.

Ich lachte.

„Wir sind beste Freunde, egal was sie sagen. Du hast selbst versprochen immer für mich da zu sein...“

Meine Mutter unterbrach mich:“Zieh dich um, wir fahren gleich zum Arzt...“ Sie guckte mich bei diesen Worten nicht an und kniff ihren Mund leicht zusammen, als wäre ihr etwas unangenehm. So redete sie meistens mit mir in letzter Zeit. Ich mochte es nicht, und den Arzt mochte ich genauso wenig. Er sprach in einem verständnisvollen Ton und sehr vorsichtig, als wäre ich psychisch labil, und außerdem sagte er ich solle unsere Freundschaft aufgeben, weil es „nicht gut“ für mich wäre daran festzuhalten. Wieso konnte niemand verstehen, dass wir beste Freunde sind und bleiben, ganz egal was passiert?

Offensichtlich habe ich diese Frage laut gestellt, denn der Arzt guckte mich genau an, schien etwas zu überdenken, und fing schließlich zu reden an:

„Auch nach dem Autounfall?“

Diese Frage empörte mich und ich antwortete ziemlich wütend: „Da erst recht, schließlich sind alle dabei gestorben!“

„Eben. Ihr Freund auch, wie leid es mir auch tut es Ihnen so direkt zu sagen, aber Sie müssen das akzeptieren und lernen weiter zu leben. Sie werden noch viele Freunde haben und...“, redete der Arzt mit seiner gewöhnlich ruhigen Stimme. Ich konnte es aber nicht länger anhören und rief :

„Nein! Das stimmt nicht! Er ist doch auch jetzt da! Sehen Sie er ist direkt neben mir!“

Der Arzt schüttelte nur den grauen Kopf und ich drehte den meinen, um meinen Freund zu sagen er solle mir doch helfen und irgendetwas sagen. Aber dort war niemand. Panisch drehte ich den Kopf hin und her, konnte ihn aber nirgends entdecken. Ein Tränenkloß stieg in der Kehle hoch und meine Sicht verschwamm. Ich stand auf und suchte händeringend weiter, in der Hoffnung ihn doch noch zu finden.

Dann glaubte ich ihn endlich gefunden zu haben und kam näher, aber es war nur meine eigene Spieglung im Fenster. Nur langsam realisierte ich die Wahrheit und mir war nach Heulen zu Mute. Aber ich tat es nicht, ich nickte dem Arzt zu.

„Sie haben recht...“ Ein schwaches Lächeln und das selbe zur Antwort.

Ich ging nach Hause, ich musste über vieles nachdenken.

Für den Rest des Tages kam ich nicht aus meinem Zimmer.

 

Friedhof, einige Tage später... 

„Eigentlich wusste ich die ganze Zeit, dass du nicht wirklich da sein konntest, aber ich habe es mir so gewünscht. Wir hatten uns versprochen immer die besten Freunde zu sein und uns immer gegenseitig zu unterstützen und jetzt, da es mir so schlecht geht bist du nicht da. Und das, obwohl es deine Schuld ist. Spast...“

Ich nahm einen Schluck von dem Bier, das wir immer getrunken hatten, und stellte die fast volle Flasche auf sein Grabstein. Mit der Hand strich ich über seinen Namen.

„Ich hoffe du wartest wenigstens dort auf mich, bis ich nachkommen, sonst bin ich richtig sauer“

Umdrehen, weggehen, und versuchen in glasigen Oberflächen nicht mehr sein Bild zu erkennen. Wenn ich das nicht schaffe, werden wir uns schneller wiedersehen, als ich mir vorgenommen hatte...

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Tag der Veröffentlichung: 18.06.2013

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