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Prolog

Einst lebten alle Völker zusammen in einer riesigen Stadt namens Fiore. Jeder hatte eine Aufgabe zu erledigen und alle waren einander friedlich gesinnt. Wölfe, Affen, Hirsche und Falken spielten als Kinder miteinander und waren auch als Erwachsene noch befreundet. Wir lebten in Frieden, hatten ausreichend zu essen und mussten nichts fürchten. Das alles verdankten wir unserem König, dem goldenen Löwen Tantrus. Die Familie des Löwen herrschte schon seit vielen Jahren über den Westen. Der Legende nach entsprang unser König der ehrwürdigen Familie. Der goldene Löwe hatte noch drei weitere Brüder: der weiße Tiger und Herrscher des Nordens Ikar, der schwarze Panther und Anführer des Ostens Siron und der rote Wüstenfuchs Laros, welcher den Süden regiert.

Nachdem das Land in die vier Gebiete eingeteilt wurde, verfeindeten sich die Brüder immer mehr. Nach unzähligen Kriegen und Hinterhalten einigte man sich auf einen Waffenstillstand. Es wurde vereinbart, dass niemand mehr einen Fuß auf fremden Boden setzen darf. Falls einer der Ehrwürdigen gegen diese Abmachung verstoßen sollte, würden sich die anderen drei gegen diesen verbinden. Dank des Paktes herrschte für viele Jahre Frieden und die Städte konnten erblühen. Das böse Blut zwischen den Brüdern pochte jedoch ununterbrochen in ihren Adern. Besonders der weiße Tiger verachtete unseren König. Er war neidisch auf die gigantische Stadt, die sein Bruder errichtet hat.

Während in den anderen drei Himmelsrichtungen viele Stämme allein und zurückgezogen lebten, verband Tantrus alle Clans des Westens in Fiore. Dies gelang ihm, indem er jedem Stamm eine Aufgabe zukommen ließ. Die Affen, welche von Natur aus sehr kräftig waren, bildeten das Militär und die Stadtwache. Für genügend Nahrung sorgten die Falken, welche aufgrund ihrer Sehkraft und Schnelligkeit perfekt für die Jagd geeignet waren. Den Wölfen, welchen Tantrus viel Vertrauen schenkte, erteilte er die Aufgabe der Königsgarde. Aufgrund ihrer mystischen Fähigkeiten wurde das friedliebende Volk der Hirsche als Heiler sehr geschätzt. So wurde jeder Stamm mit seinen verschiedenen Fähigkeiten unterschiedlich eingesetzt.

Eines Tages sollte sich das jedoch ändern. Der Anführer des Wolfsrudels bekam einen Sohn, welcher als Nachfolger zunächst gefeiert wurde. Im Gegensatz zu den anderen Wölfen hatte dieser ein polarweißes Fell, welches dem des weißen Tigers sehr ähnelte. Diese Tatsache löste Verwirrung in der ganzen Stadt aus. Aus diesem Grund nahm der König den jungen Wolf unter seine Obhut und veranstaltete ein Fest für diesen, um seinem Volk zu zeigen, dass keine Gefahr von dem Kind ausgehe. Alle tranken, aßen und tanzten bis tief in die Nacht und vergaßen jegliche Befürchtungen. Am nächsten Morgen suchte der Anführer der Stadtwache Tantrus auf, um ihm Bericht zu erstatten. Als er die Tür zu den Gemächern des Königs öffnete, raubte ihm der Anblick den Atem. Hektisch rannte er zum königlichen Bett und schrie wie wild umher. Schnell kamen andere in das Zimmer und sahen den regungslosen König in den Armen des weinenden Gorillas. Sofort holte man die Hirsche, welche stundenlang versuchten, den Löwen zu heilen. Doch es war zu spät. Tantrus war bereits tot. Verzweiflung, Wut und Trauer stiegen empor.

Tagelang herrschte Chaos in Fiore. Einige waren damit beschäftigt zu trauern, andere fürchteten die Zukunft. Es dauerte nicht lange, bis ein Mitglied der Stadtwache den Verdacht äußerte, der neugeborene Wolf könne etwas damit zu tun haben. Wie ein Feuer verbreitete sich das Gerücht, der Wolf sei vom weißen Tiger geschickt worden, wodurch die Fellfarbe des Wolfes sich ebenfalls polarweiß färbte. Blitzschnell entstand ein Kampf zwischen den Wölfen und den restlichen Stämmen. Trotz ihrer Stärke verloren die Wölfe, welche sich klar in der Unterzahl befanden, den Kampf. Dem Tod gerade noch entkommen schafften sie es, aus Fiore zu fliehen.

Seither befindet sich das Wolfsrudel auf der Flucht. Da überall Feinde lauern, kämpfen sie Tag für Tag ums Überleben und das nun schon seit mehreren Jahren. Inzwischen hat der Anführer der Affen die Position des Königs übernommen. Fiore ist seitdem allerdings enorm geschrumpft, da viele Völker mit dem Affenkönig nicht einverstanden waren. Diese Enttäuschung entfachte viel Wut im Herzen des Affenkönig, was diesen dazu brachte, eine Schreckensherrschaft im Westen zu führen.

Die neue Generation

 

Das junge Reh senkte seinen Kopf, um etwas Wasser aus dem fließenden Bach zu trinken. Es genoss die Stille und die warmen Sonnenstrahlen in der friedlichen Waldlichtung. Die beiden Jungen nutzten den unaufmerksamen Moment und pirschten sich näher an ihr nichts ahnendes Opfer heran. Nur noch wenige Meter entfernt, griffen die beiden Jäger zu ihren Messern. „John, Trey, wo seid ihr?“, hallte es plötzlich durch den Wald. Das Reh schreckte auf und lief binnen weniger Sekunden davon. Enttäuscht kamen die beiden aus ihrem Versteck. „Wir sind hier, Dean“, rief Trey. Kurz darauf eilte ein junger Mann mit braunem Haar, durchtrainierten Körper und lederner Rüstung heran. „Ihr wisst genau, dass ihr nicht alleine in den Wald gehen dürft“, schimpfte er die Jungen aus. „Aber wir müssen so schnell wie möglich lernen, wie man jagt. In wenigen Wochen findet unsere Prüfung statt“, antwortete John. „Der Wald ist gefährlich und wenn ihr das unterschätzt, werdet ihr noch vor der Prüfung sterben. Außerdem will dein Vater euch sprechen, also kommt mit und zwar schnell!“ Mürrisch folgten sie ihm. Im Dorf angekommen, wartete John´s Vater bereits ungeduldig mit einigen Kindern. Mit einem strafenden Blick zu seinem Sohn begann er die Rede: „Liebe Kinder, als Anführer des Wolfsclans ist es meine Aufgabe, euch auf die Prüfung vorzubereiten. In wenigen Wochen wird der rote Planet den Mond verdecken. Es ist Tradition, dass alle jungen Wölfe, die bis zu dieser Nacht ihr elftes Lebensjahr erreicht haben, gemeinsam mit uns auf die Jagd gehen. Ihr werdet sieben Stunden Zeit haben, um ein Tier auf eigene Faust zu erlegen. Je nachdem wie ihr euch bei der Jagd anstellt und welche Fähigkeiten ihr entwickelt, entscheidet sich, welche Aufgabe ihr zukünftig im Dorf übernehmen werdet. Manche von euch werden im blutroten Licht eine Kraft spüren, die ihr bis dahin noch nicht kanntet. Ihr alle kennt die Vergangenheit unseres Landes. Laut der Legende konnte sich früher jeder vollständig verwandeln. Doch als der goldene Löwe starb, verschwand diese mystische Kraft Stück für Stück. Heute können wir nur noch teilweise die Kräfte unseres Patrons entfalten. Manche sind gar nicht mehr dazu in der Lage, diese zu nutzen. Da der Wald außerhalb des Dorfes sehr gefährlich ist, darf nicht jeder den Jägern beitreten. Jeder Jäger hat mindestens eine Fähigkeit, die da draußen dringend gebraucht wird.“ „Was sind das für Fähigkeiten?“, fragte Ron, der Sohn des Waffenschmieds. „Die Fähigkeit, Teile eures Körpers mit der Kraft des Wolfes zu stärken“, antwortet der Anführer. „Manche können ihre Hände zu Krallen verwandeln, andere verändern ihr Gebiss zu den Fängen eines Wolfes. Außerdem ist es möglich, dass sich euer Gehör, euer Geruchssinn oder eure Sehkraft verbessert. In Ausnahmefällen besitzen die Krieger sogar mehrere Fähigkeiten. Ich werde euch nun zeigen, wie diese Verwandlung aussieht.“ John´s Vater ging einen Schritt zurück, legte seinen Fellumhang ab und konzentrierte sich. Plötzlich begannen seine Muskeln zu zittern und pumpten das Blut sichtbar schneller durch seine Adern. Innerhalb weniger Sekunden veränderten sich seine Gesichtszüge. Sein Gesicht wirkte finster, angsteinflößend und animalisch. Aus seinem Mund ragten die scharfen Zähne eines Wolfs. Seine Hände waren ausgestattet mit langen, scharfen Krallen. Beeindruckt strahlten die Augen der Kinder. John´s Stolz war ihm in die Augen geschrieben. Im Bruchteil einer Sekunde verschwand dieser Stolz jedoch und er wandte seinen Blick betrübt auf den Boden. Nachdem die Show des Anführers vorbei war, kehrten die Kinder zurück zu ihren Eltern. Trey´s besorgter Blick wanderte zu John, welcher nachdenklich da stand. „Was ist los?“, fragte er ihn. „Nichts“, lautete die Antwort. Ohne ein weiteres Wort zu sagen ließ John seinen besten Freund allein. Als dieser ihm hinterherlaufen wollte, packte ihn jemand von hinten an die Schulter. „Er braucht einen Moment für sich allein“, erklärte der Anführer. Resigniert nickte Trey.

John schlenderte durch das Dorf. Er beobachtete den Waffenschmied, welcher mit dem Hammer auf das heiße Eisen schlug und sich dabei die Geschichte seines begeisterten Sohnes anhörte, den Fleischer, welcher mit einem Hackbeil ein Tier zerlegte, einige Frauen, welche den Mädchen zeigten, wie man aus einem Fell einen Umhang macht. Alle Dorfbewohner freuten sich, wenn sie den jungen Wolf sahen. Doch dieser ignorierte ihr Lächeln. Vertieft in seine Gedanken nahm er die Außenwelt gar nicht richtig wahr. Nach kurzer Zeit führte der Weg ihn zur Höhle des Dorfältesten. Dieser saß auf einem Holzstuhl und las ein Buch über die ehrwürdige Familie. Er hatte langes, weißes Haar, trug einen grauen Mantel und umklammerte einen merkwürdig geformten Holzstock, auf welchem er sich beim Gehen abstützte. Als John die Höhle betrat, durchbohrten ihn die Blicke des Dorfältesten. „Ein junger Wolf leidet“, musterte er ihn. John trat näher an ihn heran. „Mein Vater hat unglaubliche Kräfte. Er kann unser Dorf vor jedem Feind beschützen. Der gesamte Clan verehrt ihn“, murmelte er. „Ein Anführer ist stark, doch niemand ist unbesiegbar, wenn er alleine kämpft. Ein Anführer ist sich dessen bewusst. Warum leidet ein junger Wolf?“ „Ich bin der Sohn des Anführer. Wenn mein Vater stirbt, werde ich der nächste Anführer. Aber was ist, wenn ich nicht stark genug sein werde? Mein Vater sagte, manche von uns haben gar keine Fähigkeiten. Wie soll ich mein Dorf beschützen, wenn ich schwach bin?“ Ein kleines, kaum merkbares Lächeln machte sich im Gesicht des Dorfältesten breit. „Ein junger Wolf fürchtet die Schwäche, weil er seine eigene Stärke nicht erkennt. Macht ist denen vorbehalten, die wissen damit richtig umzugehen. Ein junger Wolf besitzt ein reines Herz. Ein Patron schätzt reine Herzen.“ John dachte einen Moment über die Worte nach. Mit einem Mal waren seine Zweifel verschwunden. Er lächelte, verneigte sich vor dem Oberältesten und verließ die Höhle.

Wenige Wochen später war es soweit. Die Nacht, in welcher der rote Planet den Mond verdeckte, war gekommen. Euphorisch versammelten sich die Jungen vor dem Tor. „Ich bringe dir ein großes Reh mit“, verabschiedete sich John von seiner Mutter. „Pass gut auf dich auf, mein Schatz!“, rief sie ihm hinterher. Der Anführer gab die letzten Instruktionen und führte die Schar von Jägern und Elfjährigen in den Wald. Als sie eine riesige Hängebrücke überquerten, erklärte er: „Diese Brücke verbindet das Gebiet der Wölfe mit der Wildnis. Ab jetzt müsst ihr der Umgebung höchste Aufmerksamkeit schenken. Unterschätzt niemals die Gefahren, welche die Wälder mit sich bringen.“ Nach zwei weiteren Stunden Fußmarsch erreichten sie eine große Lichtung. "Hier schlagen wir unser Lager auf“, erklärte John´s Vater. Sofort begannen die Männer Feuerholz zu sammeln und ihre Zelte aufzuschlagen, denn die Sonne wurde schon vom Horizont verschlungen. Anschließend versammelten sich alle am Lagerfeuer. Die älteren Jäger teilten ihre Erfahrungen mit den begeisterten Anwärtern. Während der letzte Sonnenstrahl vom Himmel verschwand, bereitete der Anführer die Jungen auf die Jagd vor: „In wenigen Minuten wird die Nacht mit blutrotem Licht getränkt sein. In sieben Stunden geht die Sonne wieder auf. Im Wald seid ihr völlig auf euch allein gestellt. Ihr müsst zu jeder Zeit wachsam sein. Solltet ihr euch verletzt haben, könnt ihr jederzeit zu dieser Lichtung zurückkehren. Nun geht und versucht, das größtmögliche Tier zu fangen. Der Schutzgeist des Wolfes möge über euch wachen!“ Unverzüglich rannten die ambitionierten Kinder in die verschiedenen Himmelsrichtungen. Von nun war jeder auf sich allein gestellt.

Mit leisen Schritten schlich John durch den Wald. „Versuche eins mit der Natur zu sein, damit die Tiere dich nicht bemerken“, hatte ihm sein Vater immer geraten. Er versuchte sich auf seine Nase und seine Ohren zu verlassen, denn seine Augen waren das rote Licht nicht gewohnt, weshalb es ihm schwer fiel, sich zu orientieren. Kleinere Tiere ignorierend durchforstete er den Wald nach einem Reh. Zwei Stunden konzentrierte er sich nun schon auf seine Umgebung stets darum bemüht, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Plötzlich durchbrach ein lauter Schrei die Stille der Nacht. Es war eine Stimme, die John kannte. Sofort rannte er in die Richtung, aus welcher der Schrei kam. Nach kurzer Zeit erreichte er einen kleinen Platz. Zitternd kauerte Ron an einem großen Baum. Tränen schossen ihm durchs Gesicht. Nicht weit von ihm entfernt fixierte ihn ein riesiger Schwarzbär mit seinen blutroten Augen. John zuckte kurz zusammen als er die gefährliche Bestie sah. „Ron!“, ertönte es auf einmal von der anderen Seite. Auch Trey hatte Ron´s Schrei gehört und war ihm zur Hilfe geeilt. Plötzlich lief der schwarze Bär auf Ron los. Blitzschnell reagierte Trey. Ohne zu zögern rannte er los. Mit einem kräftigen Sprung stoß er sich vom Boden ab. Im Licht des roten Planeten veränderte sich sein Blick. Innerhalb eines Wimpernschlags war es nicht mehr Trey, der auf den Bären zuflog. Es war ein dunkelbrauner Wolf, dessen scharfe Krallen sich in das Fell des Schwarzbären bohrten, tiefe Wunden hinterließen und dafür sorgten, dass dieser kurz die Orientierung verlor. John glaubte seinen Augen nicht. Sein bester Freund hatte sich gerade in einen furchteinflößenden Wolf verwandelt und Ron damit das Leben gerettet. Unterschiedliche Gefühle kamen in ihm hoch. Neid. Bewunderung. Stolz. Zweifel. Doch das sollte sich wenige Sekunden später ändern. Der Schwarzbär tobte vor Wut und holte zu einem Schlag aus. Seine mächtige Pranke schleuderte den Wolf mehrere Meter durch die Luft. Als John sah, wie sein bester Freund gegen einen Baum krachte und regungslos liegen blieb, empfand er puren Zorn. Alle anderen Gefühle waren verschwunden. Jeder Zweifel wie weggeblasen. Er wollte nur noch Rache nehmen. Mit einem Tunnelblick eilte er auf seinen Feind zu. Noch während des Laufs verfinsterte sich auch seine Miene. Plötzlich begann sein Körper zu wachsen. Weiße Haare schmückten seinen Körper. Reißzähne ragten aus seinem Maul. Seine Fingernägel wurden zu langen, spitzen Krallen. Ron zitterte am ganzen Körper als er den Kampf der Giganten beobachtete. Der schneeweiße Wolf machte einen langen Satz, rammte seine Krallen in seinen Gegner und verpasste ihm damit eine zweite tiefe Wunde. Der Bär schrie vor Schmerzen auf. Rasend vor Wut schlug das wilde Tier um sich, doch sein wendiger Gegner konnte den Schlägen problemlos ausweichen. Der Bär füllte den gesamten Wald mit bedrohlichen Schreien. Der weißte Wolf ließ sich davon nicht beeindrucken und sprang um seinen Feind herum. Aufgrund seines Gewichts fiel es dem unbeweglichen Bär schwer, den Bewegungen zu folgen. John nutzte den Moment und brachte das schwarze Ungeheuer mit einem platzierten Hieb zu Fall. Sofort machte er einen weiteren Satz und landete auf dem brüllenden Biest, biss in den Hals des Bären und fauchte ihn an. Blut überströmte das pechschwarze Fell. Bedrückt trabte der weiße Wolf zu seinem bewusstlosen Freund und leckte ihm das Fell. Im selben Moment eilte John´s Vater mit drei weiteren Jägern heran. Auch sie hatten den Hilfeschrei gehört. Der Anführer glaubte seinen Augen nicht, als er die beiden Wölfe, den toten Schwarzbären und den angsterfüllten Jungen sah.

„Der wird schon wieder“, versuchte der Anführer seinen Sohn zu trösten. John sah niedergeschlagen ins Lagerfeuer. Während sie noch auf die restlichen Jungs warteten, kümmerten sich zwei ältere Jäger um den verletzten Trey. Die Lichtung wurde mit einer Mischung aus dem warmen Licht des Feuers und dem allmählich schwindenden Strahlen des roten Planeten erleuchtet. Die meisten Anwärter waren bereits zurückgekehrt. Viele hatten die Prüfung bestanden, manche prahlten mit ihren neuen Kräften. Einige mussten sich eingestehen, dass sie nicht für die Jagd geeignet waren. Trotz der Euphorie, der Enttäuschung und der allgemeinen Müdigkeit hatten viele nur einen Gedanken im Kopf. Hatten Trey und John es wirklich geschafft, sich vollständig in Wölfe zu verwandeln? John hatte diese Tatsache für den Moment vergessen. Seine Gedanken waren nur bei seinem besten Freund. „Danke“, riss Ron ihn aus seinen Überlegungen. John zögerte einen Moment. „Nicht der Rede wert“, antwortete er schließlich. Er blickte in das Lächeln des Jungen, erkannte aber den enttäuschten Gesichtsausdruck dahinter. „Was ist los?“, fragte er den Sohn des Waffenschmieds. Ron schaute beschämt zu Boden. „Ich ..“, murmelte er. „Ich hatte Angst. Als ich in die Augen des Bären sah, zitterte mein ganzer Körper. Ich konnte mich noch nicht einmal bewegen. Ich bin ein Feigling. In Zukunft werde ich wohl auch nur ein Waffenschmied sein, genau wie mein Vater.“ Plötzlich erhob sich John´s Vater. Er räusperte sich kurz, damit jeder ihm volle Aufmerksamkeit schenkte und begann seine Ansprache. „Die Prüfung ist nun vorbei. Ihr habt euch sehr gut geschlagen. Viele konnten ein Tier fangen. Einige haben neue Kräfte freigesetzt. Als Anführer des Wolfsclans bin ich sehr stolz auf euch. Auf jeden von euch. Es braucht viel Mut, um alleine in den dunklen Wald zu gehen. Ich freue mich, beim nächsten Mal mit vielen neuen Jägern Essen für das Dorf zu besorgen. Aber bitte vergesst eines nicht. Im Dorf gibt es viele unterschiedliche Aufgaben zu erledigen. Wie sollten die Jäger Tiere töten ohne die Waffen des Schmieds? Wie sollten wir den kalten Winter überleben ohne die Umhänge, welche die Frauen uns fertigen? Wer sollte über unser Dorf wachen, wenn die Späher nicht auf der Mauer stehen würden? Jede Aufgabe ist wichtig und jede Aufgabe ist ehrenwert. Schämt euch nicht, kein Jäger zu sein. Seid stolz darauf, ein Wolf zu sein!“ Begeisterung und Applaus hallte durch den Wald. Ein kleines, stolzes Lächeln machte sich in John´s Gesicht breit. Wenig später fanden die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg über die großen Berge am Horizont. Der rote Planet würde sich erst in einem Jahr wieder zeigen. Nachdem die letzten Jungs ins Lager zurückgekehrt waren, brach die Gruppe auf. Im Dorf angekommen empfingen die glücklichen Eltern ihre strahlenden Kindern.

„Ein weißer Wolf?“, fragte John´s Mutter überrascht. „Schneeweiß und gigantisch“, prahlte John. Zufrieden saß die Familie in ihrer Höhle und genoss das Fleisch des Schwarzbären. „John, ich muss dir ein paar Fragen stellen und ich will, dass du mir ehrlich darauf antwortest, verstanden?“, begann sein Vater. „Ja..“, antwortete er. „Du weißt, dass du der nächste Anführer wirst, wenn ich mal sterben sollte. Fühlst du dich dieser Aufgabe gewachsen?“ „Ja“, schoss es selbstbewusst aus ihm heraus. „Was willst du als Anführer erreichen?“ „Ich will meine Freunde beschützen und immer dafür sorgen, dass es jedem aus dem Dorf gut geht.“ Der Vater lächelte, wurde jedoch sofort wieder ernst. „Du bist seit langem der erste, der sich vollständig in einen gefährlich Wolf verwandelt hat. Hattest du dich zu jeder Zeit unter Kontrolle und konntest Freund und Feind unterscheiden?“ John zögerte. Bedrückt sah er auf den Boden. „Als ich sah, dass Trey regungslos am Boden lag, dachte ich, der Bär hätte ihn getötet. Ich habe nicht mehr nachgedacht. Da war diese Wut in mir. Ich wollte nur noch Rache nehmen..“, gab er zu. Er atmete tief ein und fuhr fort: „..aber ich würde niemals einem meiner Freunde etwas antun. Das weiß ich genau!“ Sein Vater blickte ihn nachdenklich an. „Du wirst ein toller Anführer, mein Sohn!“, sagte er schließlich. Lächelnd gab er ihm einen Kuss auf die Stirn. „Darf ich jetzt Trey besuchen?“, fragte John enthusiastisch. „Aber klar“, grinste seine Mutter. John gab ihr einen Kuss und lief hinaus. Er passierte die vielen Menschen im Dorf, welche ihn alle begeistert anguckten. Dass er sich in einen Wolf verwandeln konnte, hatte sich wie ein Fegefeuer verbreitet. Die Leute sahen in ihm einen Helden, der sie in Zukunft beschützen würde. Bald erreichte John die Höhle von Trey´s Familie. Dean saß neben dem bandagierten Trey, welcher in einem Bett aus mehreren Fellen lag. Als Dean den eintretenden John sah, lächelte er. „Kannst du für ein paar Minuten auf meinen kleinen Bruder aufpassen, John?“, fragte er. „Klar!“, antwortete John, woraufhin Dean die Höhle verließ. „Wie geht´s dir?“, fragte John besorgt. „Ist halb so wild“, antwortete sein bester Freund grinsend. „Du hast einen Schwarzbären getötet“, fuhr er fort. „Wir haben einen Schwarzbären getötet.“, erwiderte er. „Schade, dass ich nicht zusehen konnte, wie du dich verwandelt hast.“ „Du wirst es in Zukunft öfter sehen, wenn wir zusammen jagen gehen.“ „Ich freue mich darauf, dir zu folgen, Anführer“, grinste Trey. Glücklich, dass es seinem besten Freund wieder besser ging, lachte John und verbrachte den ganzen Nachmittag am Bett des Kranken.

Blutbad

 

5 Jahre später.

„Stellt euch auf!“, ordnete Trey die Gruppe an. Er stand vor einer Schar aus ein paar Jägern und den begeisterten Anwärtern, welche sich gedanklich schon auf die Prüfung vorbereiteten. „Bring neue Wölfe mit“, verabschiedete sich der Anführer von seinem Sohn. John nahm seine Eltern in die Arme und führte die Gruppe, welche bereits auf ihn wartete, nach draußen. Als sie die lange Brücke passierten gab er die Worte, welche sein Vater fünf Jahre zuvor sprach, wieder. Nach wenigen Stunden erreichten sie die Waldlichtung, in der sie ihr Lager aufschlugen. Kurz bevor die Sonne im Horizont verschwand, gab John die letzten Instruktionen: „Vor genau fünf Jahren stand ich hier an eurer Stelle. Ich war sehr nervös. Gleichzeitig freute ich mich darauf, endlich ein Jäger zu werden. In dieser Nacht schafften Trey und ich es, uns vollständig in Wölfe zu verwandeln und so einen schwarzen Bären zu töten. Diese Nacht führte unserem Clan wieder einmal vor Augen, wie gefährlich die Welt außerhalb des Dorfes ist. Vor diesem Ereignis galt die Verwandlung als Legende, da für eine sehr lange Zeit niemand mehr zu einem Wolf wurde. Man glaubte, diese Kraft würde allmählich verschwinden. Seither haben es acht weitere von uns geschafft. Somit gibt es mittlerweile zehn Wölfe in unserem Clan und ich bin mir sicher, dass es in den nächsten Jahren noch mehr werden. Diese zehn Wölfe haben euch heute hierhin begleitet. Nun geht da raus und zeigt dem Wald, wer das gefährlichste Raubtier ist!“ Euphorisch rannten die Jungen hinaus. „Imposante Rede“, neckte Trey. „Ich hoffe, es war eines Anführers würdig“, lachte John. Die übriggebliebenen Jäger setzten sich ans Lagerfeuer, scherzten untereinander und spekulierten darüber, welcher der Jungen es wohl schaffen würden. Zara, die erste Jägerin in der Geschichte der Wölfe, versicherte, dass ihr kleiner Bruder Zack als erster wiederkehren würde. Während sie sprach, wurde sie von Trey mit bewundernden Blicken durchlöchert. Zara war ein Jahr jünger als John und Trey. Es war das erste Mal, dass ein Mädchen mit zur Jägerprüfung wollte. Dennoch schaffte sie die Verwandlung zu einem hellgrauem Wolf als einzige ihres Jahrgangs. Bei dem Anblick seines verträumten Freundes konnte John sich das Lachen nicht verkneifen. Als Trey dies bemerkte, blickte er beschämt zur Seite.

Vier Stunden waren bereits vergangen. Noch niemand war zurückgekehrt. John beruhigte einige Jäger, welche sich langsam Sorgen machten. Für gewöhnlich dauerte es keine zwei Stunden bis der erste Junge mit einem Eichhörnchen oder einem Dachs in der Hand zurückkehrte. „Zara!“, schallte es auf einmal aus westlicher Richtung. Mit angsterfülltem Gesicht und einer blutenden Wunde am Arm rannte Zack zum Lagerfeuer. Zara sprang sofort auf und eilte ihm entgegen. Bereit ihn zu umarmen und zu fragen, was passiert sei, schaute sie ihrem nur noch wenige Meter entfernten Bruder in die Augen. Plötzlich durchbohrte die Spitze eines Speeres Zack´s Hinterkopf und ragte in der Mitte seiner Stirn aus ihm heraus. Das Blut ihres kleinen Bruders spritzte Zara ins Gesicht. Der tote Körper des kleinen Jungen krachte auf den Boden. Vor dem Leichnam kniend stieß Zara einen schrecklichen Schrei der Verzweiflung aus. In der Ferne wurde eine finstere Gestalt sichtbar. Ein großer, kräftiger Mann mit ausreichend Körperbehaarung jubelte über seinen Treffer. „Die Affen greifen uns an!“, rief John. Blitzschnell nahmen die Jäger ihre Positionen ein. Der jubelnde Mann zog sich zurück. Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte Zara sich in einen nach Rache dürstenden Wolf. „Warte, Zara!“, versuchte Trey sie vergebens aufzuhalten. Zara rannte in den dunklen Wald hinein. Ohne zu zögern verwandelten sich John und Trey und folgten ihr. „Ihr haltet die Stellung hier. Wir suchen die Jungen“, wies John die Jäger an. In Wolfsgestalt fiel es den beiden nicht sonderlich schwer Zara´s Fährte aufzunehmen. Wenig später erreichten sie einen kleinen Platz. Der hellgraue Wolf stand einer Horde lachender Männer gegenüber. Vor ihnen lag der blutüberschwemmten Leichnam eines der Kinder. Bei diesem Anblick kochte die Wut auch in John und Trey. Mit einen gewaltigen Satz sprangen die beiden zwei der Gegner an und bissen ihnen in den Hals. Zara tat es ihnen gleich und überwältigte ihren mit einem Speer umherwirbelnden Gegner. Im Augenwinkel bemerkte sie, wie plötzlich eine Axt auf sie fiel. In letzter Sekunde biss Trey dem Angreifer in den Arm, was diesen dazu zwang, seine Waffen loszulassen. Danach rammte der Wolf ihm seine Krallen direkt ins Herz. Die Zahl der Affen minimierte sich im Nu. Obwohl die Männer für Menschen sehr groß und kräftig waren, hatten sie keine Chance gegen die drei tobenden Wölfe. Nachdem sie niedergestreckt wurden, gab John den anderen beiden das Zeichen, den Wal nach den Jungen zu durchforsten. Als sie wieder am Lager ankamen, ordnete John seine Truppe an: „Wir müssen so schnell wie möglich zum Dorf zurückkehren!“ „Und die Kinder?“, fragte einer der Jäger. Bedrückt blickten die drei Wölfe zu Boden. „Dafür werden sie büßen“, knurrte Zara noch immer brennend vor Zorn. Die übrigen Jäger verwandelten sich ihre Wolfsgestalt und folgten John zum Dorf.

Nicht weit von ihrem Ziel entfernt, entdeckte John schwarzen Rauch am Himmel. „Wir müssen uns beeilen“, rief er. Vor der Mauer war bereits das Chaos ausgebrochen. Die Männer des Wolfsclans versuchten ihr Dorf vor den Affen zu beschützen. Doch die Angreifer waren klar in der Überzahl. Eisen prallte gegeneinander, Schreie schallten durch die Luft und Männer fielen beinahe im Sekundentakt. Der Anführer der Wölfe wurde von drei Feinden in die Ecke gedrückt. Wie ein Pfeil kam John aus dem Wald geschossen und schlug einen der dreien mit seiner gewaltigen Pranke den Kopf vom Körper. Sein Vater nutzte die Verwirrung und stieß sein Schwert in die anderen beiden Affen. Im selben Moment stürmten auch die übrigen Wölfe herbei und befriedigten ihr Rachebedürfnis. „Geht zum Sammelplatz und beschützt die anderen. Wir halten hier die Stellung“, befahl der Anführer. John, Trey und Zara nickten und eilten durch das Tor der Stadtmauer. Das Dorf war nicht mehr wiederzuerkennen. Literweise Blut färbte den Boden, Rauch strömte aus den Höhlen des Berges und Affen rissen die Holzhütten ein. In einer Ecke stand Dean mehreren Feinden gegenüber. Die Tatsache, dass er der beste Schwertkämpfer des Clans war, konnte die Überzahl der Affen nicht ausgleichen. Einer der Affen schwang seine riesige Axt gegen Dean, welche dieser jedoch parieren konnte. Im selben Moment stach ein anderer Affe seinen Speer in das linke Auge des Wolfes. Schreiend ging er zu Boden. „Dean!“, brüllte Trey und eilte seinem großen Bruder zur Hilfe. An der Spitze des Berges erkannte John einige Affen welche sich der Höhle des Oberältesten näherten. Mit einer Kopfbewegung wies er Zara an, dorthin zu gehen. Nun war John der einzige, der zum Sammelplatz eilte, so wie sein Vater es ihm befohlen hatte. Der Sammelplatz war eine versteckte, große Höhle, welche die Wolfe in der Vergangenheit errichtet hatten, damit sich die Frauen, Kinder, Alten und Kranken im Falle eines Angriffs dort verstecken konnten. Nachdem er mehrere Feinde, welche sich ihm in den Weg gestellt hatten, ausgeschaltet hatte, erreichte John den versteckten Eingang. Beim Anblick der beiden toten Wachen, machte sich ein ungutes Gefühl in ihm breit. An der ersten Abzweigung fand er die nächsten Leichen. Es waren Ron und sein Vater, der Waffenschmied. Sie mussten versucht haben, sich den Angreifern in den Weg zu stellen. Unwillkürlich erinnerte John sich daran, wie Ron ihm nach der Prüfung gebeichtet hatte, dass er sich beim Anblick des Schwarzbären vor Angst nicht bewegen konnte. Die Gedanken verdrängend raste der schneeweiße Wolf weiter durch die dunkle Höhle. Kurz darauf erreichte er den riesigen Sammelplatz. Bei der Betrachtung des Raumes setzte sein Herzschlag kurz aus. Im Licht der Kerzen, welche an den Seiten befestigt waren, wurden Berge von Leichen sichtbar. Auf der einen Seite lagen die jungen Kinder, Alten und Kranken. Massakriert und blutüberschwemmt fiel es John schwer, überhaupt ihre Gesichter zu erkennen. Auf der anderen Seite erblickte er unzählige misshandelte Frauen. Blutergusse und andere Wunden schmückten ihre nackten Körper. In der Mitte der Höhle spielte sich jedoch das schlimmste Schauspiel ab. Von diesem schockierenden Anblick hätte John nicht einmal zu träumen gewagt. Eine Horde von Affen stand in einem Kreis um eine Frau und feierte. Angefeuert von seinen Untergebenen vergewaltigte ihr Kommandant gerade die Frau des Anführers der Wölfe. „Mutter!“, grölte John mit einer zerberstenden Lautstärke. Erschrocken drehten sich die Barbaren um. John schaute seiner mit blauen Flecken übersäten Mutter ins Gesicht. Vom Schmerz betäubt schien sie nicht mehr wirklich wahrzunehmen, was um sie herum passierte. Grinsend packte der Kommandant sie mit der einen Hand an den Haaren. In der anderen Hand hielt er ein Messer. Langsam führte er die Waffe an ihrem Hals vorbei und schnitt ihr dabei die Kehle auf. Sofort strömte eine gewaltige Menge Blut über ihre Haut. Lachend warf er den toten Körper zur Seite. Während John reglos da stand, jubelten die Affen. Die Verzweiflung lähmte seine Glieder. Allmählich wurde dieses Gefühl jedoch von einem anderen abgelöst. Zorn füllte seine Adern. Er fletschte seine Zähne und griff die Gruppe an. Noch immer böse lachend befahl der Kommandant: „Kümmert euch um den Schoßhund!“ Daraufhin verließ er die Höhle. John versuchte ihm zu folgen, doch die Affen stellten sich ihm in den Weg. Vor Wut tobend machte er sich über seine Feinde her. Es dauerte nicht lange bis der letzte Mann fiel. Sofort hastete er wieder nach draußen. Der Kommandant gab gerade den Befehl zum Rückzug und seine triumphierende Armee folge ihm. John sah, wie sein bester Freund einem Affen den Kopf abbiss und Anstalten machte, den Feinden in den Wald zu folgen. Auf der Stelle versperrte er ihm den Weg. Trey blickte ihn finster an, doch John schüttelte den Kopf.

Wieder in einen Menschen verwandelt schaute John umher. Das Dorf glich einem Scheiterhaufen. Von Waffen durchbohrte Körper lagen auf dem Boden, Hütten brannten und die niedergeschlagenen Wölfe trauerten um ihre Familien und Freunde. „Helft den Verwundeten und löscht die Flammen!“, rief er. Seine Freunde folgten seinem Befehl. John durchsuchte das Schlachtfeld nach Überlebenden. Zwischen all den Leichen fiel ihm das vertraute Gesicht seines Vaters in die Augen. Sofort hetzte er dorthin. Ein langer Speer steckte tief in seiner Schulter. John versuchte seinem Vater aufzuhelfen. „Lass gut sein, mein Junge“, murmelte dieser. „Aber ..“, wisperte John. „Ich schaffe es nicht, John. Ich werde hier sterben.“ „Nein!“, stieß sein Sohn hervor. Tränen schossen ihm in die Augen. „John, du musst stark. Du musst stark für die anderen sein. Du bist jetzt ihr Anführer.“ Er schloss kurz die Augen, denn das Sprechen fiel ihm sichtbar schwer. „Du musst mir etwas versprechen, mein Sohn. Sei ein guter Anführer und führe unseren Clan in eine friedliche Zukunft. Beschütze sie so gut du kannst und handle immer zu ihren Gunsten. Das macht einen guten Anführer aus. Versprich es mir John.“ Seinen sterbenden Vater in den Händen haltend war John nicht in der Lage zu sprechen. Die Trauer überwältigte ihn. „Und wenn der Tag gekommen ist …“, fuhr sein Vater fort. „.. Lass sie bluten für das, was sie uns angetan haben. Zeig ihnen, wer das gefährlichste Raubtier ist.“ Nach diesen Worten schloss er die Augen und John merkte, wie sein Atem schwächer wurde. Er lag seinen Kopf auf die Brust seines Vaters und stieß einen Trauerschrei aus. Nach einigen Minuten, in denen er sich nicht bewegte, wiederholte er die Worte seines Vaters im Geiste. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und kehrte zurück zur Dorfmitte. Dort warteten bereits seine Freunde. Trey, Zara, die anderen Acht, die sich in einen Wolf verwandeln konnten, Dean und neun weitere Jäger blickten ihm ratlos ins Gesicht. Man sah ihnen die Erschöpfung deutlich an. „Ich habe doch gesagt, ihr sollt euch um die Verletzten kümmern“, schrie John sie empört an. Trey trat vor, legte seine Hand auf die Schulter seines besten Freundes und schüttelte den Kopf. John realisierte, dass es keine weiteren Verletzten gab. Die einzigen Überlebenden waren er und die 20 Jäger, die vor ihm standen. Schockiert dachte er nach. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Viele Jahre haben wir hier gelebt. Wir waren mehr als ein paar Leute, die zusammen in einem Dorf lebten. Wir waren mehr als Freunde, die sich gut verstanden haben. Wir waren eine Familie, in der jeder für den anderen sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Die Affen wussten von diesem Bund und haben uns gefürchtet. Deshalb griffen sie uns in der Hoffnung unsere Familie zu zerstören an. Doch unsere Familie kann man nicht vernichten. Sie lebt weiter in unseren Herzen und gibt uns Kraft. Wir werden diese Kraft nutzen, um den Affen klar zu machen, mit wem sie sich angelegt haben. Möge die Mutter der Wölfe ihre verlorenen Kinder wieder in ihre Obhut nehmen“, beendete John seine Rede. Er nahm die Fackel in die Hand und zündete damit das Holz an. Sie hatten ein riesiges Grab gebaut und die Toten dort bestattet. Die übrigen Wolfe schauten in die Flammen und wiederholten John´s letzten Satz. Einige Stunden lang standen sie vollkommen still und regungslos um das Feuer herum. Nachdem das Feuer ausgebrannt war, ging Dean auf John zu. Sein linkes Auge wurden von einer großen Narbe bedeckt. „Was werden wir nun machen, Anführer?“, fragte er. John blickte in die fragenden Gesichter seiner Kameraden. „Wir gehen nach Süden“, antwortete er. „Du willst unser Dorf verlassen?“, fragte Trey empört. „Wenn wir hier bleiben, werden sie eines Tages wiederkommen und uns vollkommen auslöschen. Sie sind deutlich in der Überzahl. Alleine haben wir nicht die geringste Chance gegen sie. Im Süden gibt es viele Clans, welche die Herrschaft des Affenkönigs anfechten. Wir werden uns mit ihnen verbünden und gemeinsam Rache nehmen.“ Dieser Vorschlag fand viel Zustimmung. Umgehend packten die Wölfe ihre Sachen zusammen und brachen auf. Mit einem letzten vielsagendem Blick auf ihr Dorf begannen sie ihre Reise.

Reyki

„An welche Verbündeten hast du eigentlich gedacht?“, fragte Trey seinen besten Freund. Sie waren nun schon einige Tage unterwegs. Da jeder von ihnen ein Jäger war, war es nicht schwer gewesen, sich im Wald zu ernähren. Obwohl sie mittlerweile schon tief in die Wildnis vorgedrungen waren, wurden sie bisher nicht von einem gefährlichen Tier angegriffen. Es war, als würde die Natur ihre Stärke und ihre Entschlossenheit spüren. „Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Es gibt viele potentielle Clans mit starken Truppen. Allerdings sind viele von ihnen Fremden gegenüber feindlich gesinnt. Wir müssen also sehr vorsichtig sein. Was hältst du von den Hirschen und den Adlern?“ Trey war deutlich überrascht von dieser Frage. „Die Hirsche sollen uns im Kampf unterstützen? Jeder weiß doch, dass ihre Kampfkraft extrem gering ist. Und du glaubst wirklich, dass sich die Adler mit uns verbinden würden?“ „Die Hirsche sollen nicht kämpfen. Ich will mir ihre Heilkraft zunutze machen. Und ich weiß, dass die Adler einen Ruf als Alleingänger genießen, aber ich hoffe, sie umstimmen zu können.“ „Heilkraft? Du weißt, dass das nur eine Legende ist, oder John?“, entgegnete Trey überrascht. „Die Verwandlung in einen Wolf galt auch als Legende“, grinste John. So zog die Truppe weiter in Richtung Süden. Ihre ledernen Rüstungen machten es ihnen einfach, sich zu bewegen. Sie schützten zwar nicht vor allen Waffen, waren dafür aber sehr leicht. In kalten Nächten reichten ihre Fellumhänge aus, um sich warm zu halten. Eines Tages erreichten sie eine Kreuzung, an der eine große Steinplatte stand. Dean las die Inschrift: „Dieses Gebiet steht unter dem Schutz von Reyki. Eindringlinge bezahlen mit ihrem Leben.“ „Ich denke, hier sind wir richtig“, schmunzelte John und ging voran. „Wer ist Reyki?“, fragte Zara Trey. Sprachlos zuckte dieser mit den Schultern. Wie so oft erwischte John seinen Kumpel dabei, wie er Zara´s Körper betrachtete. Sie hatte eine schlanke Figur, langes blondes Haar und ozeanblaue Augen. Als Trey bemerkte, wie John sich über ihn amüsierte, stieg ihm die Röte ins Gesicht. „Ein Dämon“, mischte Dean plötzlich ein. Verwundert schauten sie ihn an. „Ein kinderfressender Dämon“, ergänzte er. Schockiertes Schweigen machte sich breit. Dean´s Gelächter durchbrach die Stille. „Das ist nur ein Märchen, das man bösen Kindern erzählt“, erklärte er.

„Hier übernachten wir. Ihr baut die Zelte auf. Zara und ich holen Wasser“, ordnete John an. Mit Wasserkübeln bepackt verließen die beiden die Gruppe. Dank ihrer guten Ohren, konnten sie einen kleinen Wasserfall in der Nähe ausmachen. Kurze Zeit später kamen sie zu einem idyllischen Ort. Ein kleiner Fluss strömte über einen Felsen und bildete am Fuß des Hügels einen kleinen See. Die Tropfen des Wasserfalls reflektierten das Licht der Sonnenstrahlen, wodurch ein kleiner Regenbogen entstand. Das erstaunlich klare Wasser des Sees lockte viele friedliche Tiere an. „Was für ein schöner Ort“, staunte Zara. John stimmte ihr zu, schloss die Augen und genoss die warme Sonne auf seiner Haut. „Ich würde gerne baden“, unterbrach Zara seine Ruhe. „Ich werde mich etwas umsehen“, entgegnete er. Während Zara ihre Kleider auszog und in den See sprang, erkundete John die Umgebung. Er folgte einem kleinen Pfad zur gegenüberliegen Seite des Felsen. Plötzlich entdeckte er in der Ferne eine junge Frau, welche auf einem Baumstamm saß. Sie hatte lange hellblonde Haare, violette Augen und einen Körper, welche viele Phantasien in John´s Gedanken entstehen ließ. Verzaubert beobachtete er, wie das Mädchen mit ein paar Schmetterlingen spielte, die auf ihrer Hand landeten. Lächelnd schaute sie den Insekten hinterher, als sie wegflogen. Auf einmal bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde. Erschrocken hastete sie tief in den Wald. „Nicht ..“, wollte John sie aufhalten und lief ihr nach. Doch er konnte sie nicht einholen. Nach einigen Minuten des Suchens gab er auf und kehrte zu Zara zurück. Als er am See ankam, war jedoch keine Spur von seiner Freundin. Verwundert ging er zurück zum Lager. „Wo ist Zara?“, fragte Trey. „Ist sie nicht hier?“, gab John erstaunt zurück. Er erklärte, was passiert war, und sagte: „Ich dachte, sie wär schon wieder zurück gegangen, weil ich so lange gebraucht habt.“ „Du hast sie im Wald allein gelassen?!“, schrie sein bester Freund ihn an. „Ich..“, begann John, doch Trey unterbrach ihn. „Du lässt Zara zurück, nur um irgendeinem hübschen Mädchen hinterherzurennen?“ Aufgebracht packte Trey ihn am Kragen. „Beruhige dich, Trey. Wir können sie anhand ihres Geruchs ausmachen.“, hielt Dean seinen Bruder zurück. „Trey und ich suchen Zara. Dean hat das Kommando“, befahl John. Die beiden folgten schweigsam der Fährte, die der Wolfsgeruch ihrer Freundin verursachte. „Tut mir Leid“, sagte John schließlich. „Ich ...“ „Nein.“, unterbrach Trey ihn. „Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen. Du bist der Anführer.“ „Trey, du bist mein bester Freund. Du darfst mich anschreien so oft du willst, wenn ich es verdient habe.“ „Es war nicht deine Schuld, dass Zara verschwunden ist. Ich bin froh, dass du nicht bei ihr geblieben bist und zusammen mit ihr …“, seine Stimme versagte bei den letzten Worten. John schmunzelte und legte seinen Arm über Trey´s Schulter.

Schritt für Schritt drangen sie immer tiefer in den Wald ein. Die Sonne war schon längst untergegangen und die Sicht wurde immer schlechter. Schließlich erreichten die beiden ihr Ziel. Sie versteckten sich in einem Busch und erkundeten ihr Umfeld. Auf einem großen Platz versammelte sich eine Menschenmasse vor einem pyramidenähnlichen Altar, auf dessen Spitze eine furchteinflößende Bestie saß: ein riesiger Schwarzbär, der dem Tier glich, welches John und Trey bei ihrer Prüfung erledigt hatten. Dieser war allerdings deutlich größer. Seine roten Augen funkelten wie Rubine. Die Frauen zu seinen Füßen tanzten beinahe hypnotisierend, was John an ein Ritual erinnerte. Nachdem der Tanz vorbei war, kamen vier weitere Schwarzbären angestapft. Sie waren jedoch nur zwei Meter groß und schienen die Kinder der Bestie zu sein. Als sich die gewaltigen Tiere näherten, sprangen die Tänzerinnen ängstlich zur Seite, wodurch ein großer Baumstamm sichtbar wurde, an dem jemand mit Seilen festgebunden wurde. Zara! Trey wollte gerade aufschreien, doch John hielt ihm den Mund zu und machte ihm klar, dass sie nicht entdeckt werden durften. „Meine geliebten Kinder“, begann die Bestie mit kräftiger Stimme. „Uns ist mal wieder ein Fisch ins Netz gegangen. Ein kleines Mädchen dachte wirklich, sie könnte sich ungestört in unserem Reich baden.“ Die vier Bären lachten finster. Mitleidig betrachteten die Menschen Zara. „Ihr widerlichen Käfer!“, schrie das Ungeheuer zornig. „Habt ihr etwa Mitleid mit unserer Beute? Undankbares Pack! Ihr solltet euch freuen, dass wir so freundlich sind, euch vor Feinden zu schützen. Und ihr solltet euch freuen, dass heute keines eurer Kinder geopfert wird. Ihr widert mich an!“ Hilflos schauten die Menschen zum Boden. Grinsend fuhr die Bestie fort: „Also meine Lieblinge, lassen wir uns das Festmahl schmecken!“ Gierig gingen die schwarzen Bären auf Zara zu. Plötzlich sprang Trey zu einem Wolf verwandelt aus dem Busch und knurrte so laut er konnte. Erschrocken traten seine Feinde zurück. „Schnappt ihn euch!“, befahl ihre Mutter. Ohne zu zögern folgten die Kinder ihrem Befehl und hetzten auf den Wolf zu. Dieser flüchtete in den dunklen Wald. Im Augenwinkel erkannte die Mutter auf einmal, wie John seine Freundin befreite und davon lief. Rasend vor Wut schrie sie die Menschen an, ihn aufzuhalten. Zitternd ignorierten sie den Befehl der Bestie. John rannte mit der bewusstlosen Zara auf dem Arm so schnell er konnte zurück ins Lager. Nach einer Stunde erreichte er erschöpft sein Ziel. „Was ist passiert?“, fragte Dean. „Östlich von hier befindet sich ein Dorf. Es wird von einem riesigen Schwarzbären und dessen Kindern beschützt. Sie hatten Zara entführt und wollten sie fressen.“, antwortete der junge Anführer. „Und Trey?“ „Er hat die Bären abgelenkt und weggelockt, während ich Zara befreit habe ..“, murmelte John und schaute in die besorgten Augen seines Kameraden. Auch die anderen Wölfe schauten Dean hilflos an. „Ihr glaubt doch nicht, dass ich mich von ein paar langsamen Bären fangen lasse.“, beendete Trey plötzlich die Stille. Erleichtert nahmen sie ihn die Arme.

Blinzelnd öffnete Zara ihre Augen. Verwirrt blickte sie in die lächelnden Gesichter ihrer Freunde. Es war mitten in der Nacht. Nur das Lagerfeuer brannte hell und strahlte Wärme aus. Die Wölfen waren alle wach geblieben um auf ihre Freundin aufzupassen. „Was ist passiert?“, fragte Zara noch immer benommen. „Schwarzbären haben dich entführt und wollten dich fressen, aber John und ich haben dich gerettet“, erklärte Trey heldenhaft, was seinen Bruder zum Grinsen brachte. Zara versuchte aufzustehen, doch Trey legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte: „Du solltest dich ausruhen.“ Ein verlegenes Strahlen machte sich in ihrem Gesicht breit. „Danke“, flüsterte sie. „Trey hat Recht.“, begann John. „Wir sollten uns alle ausruhen. Morgen wird ein anstrengender Tag. Dean und ich übernehmen die erste Wache. Die anderen legen sich schlafen.“ „Warum wird morgen ein anstrengender Tag?“, fragte Dean verblüfft. „Wir gehen morgen auf Bärenjagd“, grinste John. „Du willst dich mit dieser Bestie anlegen?“, fragte Trey empört. „Die Schwarzbären haben ein Mitglied unserer Familie gefangen genommen und wollten es töten. Es scheint, als müssten wir ihnen deutlich machen, wer das gefährlichste Raubtier ist. Außerdem ..“ John machte eine kurze Pause und atmete tief aus. „Außerdem können wir die Menschen dort nicht im Stich lassen.“ „Du meinst, so wie sie Zara im Stich ließen, als die Bären sie fressen wollten? Ich werde für solche Leute nicht mein Leben riskieren!“, erwiderte Trey. „Ich kann deine Wut verstehen, Trey, aber du hast sie doch gesehen. Sie waren schwach und hatten Angst. Ich bin mir sicher, sie leiden sehr unter dem angeblichen Schutz dieser Ungeheuer. Hast du nicht gehört, was die Mutter sagte? Die Bären fressen die Kinder der Dorfbewohner“, konterte John. Erschrocken schwiegen sich die Wölfe an. „Reyki ..“, presste Dean hervor. „Er hat Recht, Trey“, sagte Zara schließlich. Trey nickte. „Also dann, legt euch schlafen.“

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. In kleinen Gruppen durchforsteten sie den Wald streng darauf bedacht, keinem Feind in die Arme zu laufen. John hatte ihnen aufgetragen, so viele Informationen wie möglich über ihr Umfeld und das Dorf zu sammeln. Am Nachmittag kamen sie wieder zusammen, um auszutauschen, was sie herausgefunden hatten. Das Dorf lag versteckt hinter einem Wall aus spitzen Holzstämmen. Die ca. 200 Dorfbewohner schienen nicht gerade kampferprobt. Der Platz mit dem Altar lag außerhalb des Dorfes und diente als Zuhause der Schwarzbären. Während die Kinder den ganzen Tag auf Streife gingen und ihr Gebiet verteidigten, bevorzugte die Mutter es zu schlafen oder die Menschen zu tyrannisieren. Enttäuscht mussten sich die Wölfe eingestehen, dass sie der gigantischen Bestie im Zweikampf deutlich unterliegen würden. Deshalb beschlossen sie zu warten, um die Bären dann im Schlaf zu töten. Vorsichtig verteilten sie sich um das Dorf herum und suchten sich ein sicheres Versteck. Als der Tag sich dem Ende neigte, versammelten sich die Dorfbewohner erneut vor dem Altar. „Ihr jämmerlichen Insekten!“, keifte die Bärenmutter sie an. „Ihr habt mich gestern sehr enttäuscht. Ist das der Dank dafür, dass wir euch seit vielen Jahren beschützen. Ohne uns würdet ihr in dieser Wildnis keinen Tag überleben. Glaubt ja nicht, dass ihr mir ungestraft davonkommt. Wegen euch ist uns gestern ein Festmahl durch die Lappen gegangen. Meine armen Kinder haben sich so gefreut, doch wegen euch mussten sie die ganze Nacht hungern. Das werdet ihr bereuen. Bringt sie her!“, befahl sie. Kurz darauf tauchten drei gefesselte junge Frauen in der Mitte der Menschenmenge auf. John´s Herz begann schneller zu schlagen, als er das Mädchen vom Vortag unter den dreien erkannte. „Wartet!“, rief er und sprang aus seinem Versteck. Mit einem Mal hatte er seinen eigenen Plan über den Haufen geworfen. Die verwirrten Wölfe wussten nicht, was sie nun machen sollten. Dean gab ihnen das Zeichen, zunächst in ihrem Versteck zu bleiben. John ging auf die überraschten Dorfbewohner zu. Sein Blick war stets auf das junge Mädchen gerichtet. „Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr Bären zu dumm seid, um auf eure Beute aufzupassen“, provozierte er. Die Mutter fletschte ihre Zähne. Im Nu stand John den vier Kindern gegenüber. Diese ignorierend wandte er sich an die Bestie: „Wieso seid ihr Schwarzbären so weit im Süden?“ Noch immer zornig antwortete sie: „Das geht einer nutzlosen Kakerlake wie dich gar nichts an. Allerdings macht es keinen Unterschied ob, ich dir antworte oder nicht, bevor dich meine Kinder in Stücke reißen werden. Vor fünf Jahren hat sich eines meiner geliebten Babys verlaufen. Seitdem durchsuchen wir die Wälder nach ihm.“ John grinste, was den Zorn der Mutter noch stärker entfachte. „Das habe ich mir gedacht“, sagt er schließlich. Überrascht fixierte ihn die Bestie mit ihren funkelnden roten Augen. „Ich habe dein Kind gesehen“, fuhr John fort. „Es kam in den Wald im Norden. Den Wald der Wölfe“, betonte er. Die Spannung in der Luft wurde erdrückend. Absichtlich machte John eine lange Pause, bevor er seinen letzten Satz aussprach. „Ich habe ihm seinen Kopf abgebissen.“ Ein zerberstendes Grölen hallte durch den Wald. Die Bestie sprang vor Wut tobend vom Altar und landete direkt vor John. Durch das gewaltige Beben hatte John beinahe das Gleichgewicht verloren. Der riesige Bär setzte mit seiner Pranke zum Schlag an. Plötzlich glitt von der Seite ein Speer durch die Luft und landete im Auge des Ungeheuers. Dem darauf folgenden Aufschrei der Mutter folgten die besorgten Rufe ihrer Kinder. Sofort sprangen die Wölfe aus ihrem Versteck und griffen die Bärenkinder an. Auch John verwandelte sich in einen Wolf und rammte seine Krallen in das Bein der abgelenkten Mutter, was diese auf die Knie zwang. Wild fuchtelte sie umher. Verängstigt brachten sich die Dorfbewohner in Sicherheit. Die beiden Raubtiere prallten aufeinander. John setzte zum Sprung an verpasste seinem gigantischen Gegner eine weitere Wunde. Die Bärenmutter stapfte brüllend auf dem Boden, wodurch John seinen Halt verlor. Dean warf erneut einen Speer, welcher sein Ziel jedoch um Haaresbreite verpasste. Durch diesen Wurf machte er die Bestie auf sich aufmerksam. Sie drang ihn zurück bis er mit dem Rücken am Wall des Dorfes stand. Er konnte nirgendwo hin. Die Bärenmutter holte aus. Die mächtige Pranke peitschte durch die Luft. In letzter Sekunde machte John einen gewaltigen Satz und stieß Dean zur Seite. Der kräftige Schlag erwischte den Anführer der Wölfe mit voller Geschwindigkeit und wirbelte ihn meterlang durch die Luft bis er schließlich gegen einen Baumstamm krachte. Trey und Zara nutzten den Moment, sprangen die Mutter an und vergruben ihre Zähne in ihrem Hals. Grölend ging der Schwarzbär zu Boden. Dean raffte sich auf und steckte sein Schwert mitten ins Herz des Ungeheuers. Trey schaute sich um. Sie hatten es geschafft. Die Schwarzbären waren tot. Keiner seiner Kameraden schien sich ernsthaft verletzt zu haben. Dann erblickte er seinen besten Freund, welcher regungslos vor einem Baum lag. Sofort eilte er zu ihm. Eine große Platzwunde am Kopf färbte sein polarweißes Fell mit rotem Blut. Ratlos versuchte er seinem Freund zu helfen. Die anderen rannten herbei. Doch keiner wusste, was zu tun war. „John!“, schrie Trey mit tränenden Augen. Er merkte wie sein Atem immer schwächer wurde. „Bitte helft ihm“,schrie er Richtung die Dorfbewohner an. „Es ist zu spät, Trey“, wollte Dean seinem kleinen Bruder zu erklären. „Niemand kann ihm mehr helfen.“ Ein lauter Schrei der Traurigkeit brach aus Trey heraus. Auf einmal kämpfte sich ein Mädchen durch die Menschenmenge und lief herbei. „Nicht, Lia“, versuchte ein Mann sie aufzuhalten. Die Wölfe blickten sie verblüfft an. Plötzlich verwandelte sie sich in einen anmutigen Hirsch. Sie hatte hellbraunes Fell und ein glänzendes Geweih. Perplex machte Trey ihr Platz. Sie beugte ihren Kopf über den sterbenden John und leckte an dessen Wunde. Entgeistert beobachteten die Jäger des Wolfsclans das Geschehen. Binnen von Sekunden schien die Wunde zu heilen. Kurz darauf öffnete John die Augen und starrte in die fassungslosen Gesichter seiner Verbündeten.

„Was ist los?“, fragte John überrascht. „John!“, schrie Trey. Mit Freudentränen in den Augen fiel er seinem besten in die Arme. „Du tust mir weh, Trey“, lachte John. „Ich dachte du würdest sterben.“ Die Tränen schossen wie ein Wasserfall aus seinen Augen. „Was ist den passiert?“, wollte John wissen. „Du hast mich gerettet“, erklärte Dean. „Der Schwarzbär hätte mich erwischt, aber du hast mich zur Seite geschubst und deswegen den Schlag abbekommen. Nachdem du durch die Luft geflogen bist, bist du gegen diesen Baum geprallt. Du hattest eine Platzwunde an der Stirn. Das Mädchen hat sich in einen Hirsch verwandelt und dich geheilt.“ Fasziniert betrachtete John das Gesicht seiner Retterin. Sofort erkannte er die violetten Augen des Mädchens, welches er am Tag zuvor beobachtet hatte. „Danke“, sagt er lächelnd. Sie erwiderte sein Lächeln und meinte: „Ich muss dir danken. Euch allen.“ Allmählich näherten sich auch die anderen Dorfbewohner. „Sei vorsichtig, Lia!“, rief einer von ihnen. „Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Wir können ihnen vertrauen. Immerhin haben sie uns von diesem abscheulichen Biest befreit“, gab sie zurück. John fragte die Menschen, wie es dazu gekommen war, dass die Schwarzbären sie tyrannisierten. Die Dorfbewohner erklärten, dass sie schon seit vielen Jahren in diesem Wald lebten. Da sie noch nie gute Krieger waren, versteckten sie sich so gut es ging. Eines Tages reisten die Schwarzbären durch das Land und entdeckten das Dorf zufällig. Sie beschlossen, sich dort niederzulassen. Seither verlangten sie jeden Monat die Opferung eines Kindes der Dorfbewohner als Dank dafür, dass sie sie beschützten. „Also seid ihr der Hirschclan?“, fragte Trey mit einem Blick zu Lia. „Nein“, antwortete einer der Männer. „Wir fanden Lia vor vielen Jahren als Baby im Wald. Da wir sie dort nicht alleine lassen wollten, haben wir sie mitgenommen und aufgezogen. Erst vor kurzem haben wir herausgefunden, welche Kräfte in ihr schlummern.“ Die Wölfe schauten Lia verdutzt an. John durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick, woraufhin ihr die Röte ins Gesicht schoss. „Es tut uns Leid, dass wir euch misstraut haben“, fuhr der Mann fort. „Wir waren es schon immer gewohnt, misstrauisch gegenüber Fremden zu sein.“ „Es gibt keinen Grund, euch dafür zu entschuldigen. In dieser Welt ist es klug, vorsichtig zu sein“, entgegnete John. „Ich weiß, wir stehen schon in eurer Schuld, aber wir müssen euch um noch einen Gefallen bitten … Könnt ihr Lia mit auf eure Reise nehmen?“, fragte der Mann plötzlich „Aber ..“, unterbrach Lia ihn. Er blickte sie traurig an und sagte: „Wir können dich hier nicht beschützen, Kleines. Sollte jemand von deinen Kräften erfahren, wärst du hier in großer Gefahr. Diese Leute sind stark und haben ein reines Herz. Ich bin mir sicher, sie werden sich gut um dich kümmern.“ „Es wäre uns eine Freude“, antwortete John. Die Wölfe erholten sich noch eine Weile von dem anstrengenden Kampf, während Lia sich von ihren Freunden verabschiedete. Bei Anbruch des nächsten Tage brachen sie mit ihrer neuen Weggefährtin auf. 

Die goldene Stadt

 

Drei Tagesmärsche hatten sie bereits hinter sich gebracht. Seit dem Vorfall mit den Schwarzbären hatten sie sich dazu entschieden, immer mindestens zu fünft zu sein. Obwohl die Sonne im Zenit stand, war es aufgrund des starken Windes nicht sehr warm. „Wo genau gehen wir eigentlich hin?“, fragte Lia nach einiger Zeit. „Nach Arkadia“, antwortete John. „Arkadia?“, wiederholte sie verwirrt. „Das Schloss im Himmel“, erläuterte John. „Dort lebt das Volk der Adler, mit denen wir uns verbünden wollen. Es ist eine riesige Festung am südlichsten Rand unseres Landes. Man sagt, Arkadia sei uneinnehmbar.“ Interessiert folge Lia seiner Erklärung. „Ich weiß allerdings nicht, ob die Lage oder ihr Kampfstil der Grund dafür ist“, fügte John grinsend hinzu. Nach einigen Stunden erreichten sie endlich das Ende des Waldes. Sie standen an einer riesigen Klippe und blickten hinunter in den tiefen Abgrund. Außer dem kräftigen Blau des Meeres war dort unten weit und breit nichts zu sehen. Schließlich entdeckten sie eine Hängebrücke. Sie führte so weit in die Ferne, dass man nicht erkennen konnte, wo sie endete. Vor ihr war eine Steintafel befestigt. „Arkadia. Maximal zwei Fremde können die Brücke betreten“, las Zara vor. „Das ist doch lächerlich“, meinte Trey und lachte. Plötzlich schoss wie aus dem Nichts ein brennender Pfeil durch die Luft und landete nur wenige Zentimeter vor seinen Füßen. Erschrocken sprang er zur Seite. Sofort rückten die Wölfe zusammen und blickten sich um. Doch weit und breit war nichts zu sehen. „Ihr bleibt hier!“, befahl John nach einiger Zeit. „Das kann nicht dein Ernst sein“, widersprach sein bester Freund. „Du kannst doch nicht alleine gehen. Wir wissen noch nicht einmal, was sich am Ende dieser Brücke befindet.“ Empört blickte er in die Augen seines Anführers. „Ich gehe nicht alleine. Lia begleitet mich“, entgegnete er. Lia schaute ihm überrascht in die Augen. „Das ist ihr Gebiet“, fuhr John fort. „Wir wollen uns mit ihnen verbünden. Also halten wir uns an ihre Regeln.“ „Und wir sollen hier warten und Däumchen drehen?“, fragte Trey wütend. „Ihr geht zur Schlamminsel“, antwortete John ruhig. „Schlamminsel?“, murmelte sein Freund ahnungslos. „Eine Bucht nicht weit von hier entfernt“, klärte Dean ihn auf. „Früher war es eine prachtvolle Gegend, in der viel Handel getrieben wurde. Eines Tages haben sich die Zwerge mit dem Affenkönig verbündet. Sie haben die Bucht eingenommen und treiben dort nun ihr Unwesen.“ „Wie konnten Zwerge es schaffen, eine große Stadt zu erobern?“, mischte Zara sich ein. „Die Menschen unterschätzen ihre Kraft aufgrund ihrer Körpergröße. Außerdem reiten sie auf Wildschweinen“, erklärte Lia. Sprachlos durchbohrten die anderen sie mit ihren Blicken. „Also sollen wir inzwischen gegen auf Wildschweinen reitende Zwerge kämpfen?“, beendete Trey das Schweigen. „Ihr werdet euch nicht in Gefahr begeben!“, gab John ernst zurück. „Ihr sollt nur das Gebiet erkunden und die Feinde beobachten. Wir werden die Zwerge angreifen, wenn wir die Unterstützung der Adler haben.“ Zögernd symbolisierten die anderen ihre Zustimmung mit einem kaum merklichen Nicken. John schaute ihnen noch einmal in die Augen, und fixierte dann Lia mit seinem Blick. Als sie lächelte, zogen sich auch seine Mundwinkel nach oben und die beiden betraten die Brücke. Nach kurzer Zeit verschwanden die beiden in der Ferne.

„Gehen wir“, ordnete Dean an. Für die anderen war es mittlerweile selbstverständlich, dass er die Führung übernahm, wenn John nicht da war. Er konnte sich zwar nicht vollständig in einen Wolf verwandeln, jedoch war er der beste Schwertkämpfer und er behielt immer einen ruhigen Kopf. Auch sein kleiner Bruder erkannte dies an und folgte ihm ohne Widerworte. Der Weg von der Klippe zur Küste war sehr behaglich. Die natürlichen Gegebenheiten zwangen sie dazu, nur zu zweit nebeneinander laufen zu können und ausreichend Abstand zu halten. Plötzlich vernahmen sie den Gesang einer rauen Männerstimme. Sofort gab Dean ihnen das Zeichen, in die Deckung zu gehen. Unterhalb von ihnen erblickten sie eine kleine Gruppe von angetrunkenen Zwergen. Sie schienen über die Küste zu patrouillieren, tranken Bier und sangen Lieder über Frauen. Die Wölfe versteckten sich hinter den Steinen und warteten, bis die kleinwüchsigen Männer vorbeizogen. In ihrer derzeitigen Positionen blieb ihnen nichts anderes übrig. Hätten die Zwerge sie gesehen, wären sie an der Bucht angekommen, bevor die Wölfe sie eingeholt hätten. Dann wurden sie ihrer gesamten Streitkraft gegenüberstehen. Es war also das sinnvollste, sich versteckt zu halten. Darum rückten Zara und Trey enger hinter dem Stein zusammen. Trey fiel plötzlich ein, dass die beiden sich zuvor noch nie so nah waren. Er genoss das Gefühl und schmiegte seinen Körper noch enger an ihren, zuckte dann aber schnell wieder zurück. Nervös schaute er von ihrem Körper auf zu ihrem Gesicht. Er machte sich auf einen strafenden Blick gefasst und wusste, dass er es bereuen würde. Überraschenderweise machte sich ein Lächeln in Zara´s Gesicht breit. Sie verringerte erneut den Abstand zwischen ihren Körpern und strich mit der Hand sanft über seine Brust. Die Röte schoss Trey ins Gesicht. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und vergaß die Situation, in der sie sich eigentlich befanden. Er öffnete seine Augen wieder und beugte seinen Kopf vorsichtig in ihre Richtung. Nun war sie es, die ihre Augen schloss. Ihre Hände wanderten von seiner Brust behutsam über seine Wangen. Ihre Lippen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Plötzlich rutschte Zara mit einem Fuß von dem Stein ab, verlor den Halt und fiel in die Tiefe. Vergeblich versuchte Trey ihren Arm zu greifen. Zara fiel wie ein Stein nach unten. Hilflos fuchtelte sie mit den Armen und versuchte irgendwo Halt zu finden, doch der steile Abhang bot ihr keine Gelegenheit. Immer schneller werdend krachte sie schließlich auf den Sandboden der Küste. Unverzüglich wurden die Zwerge auf sie aufmerksam. Sie eilten herbei und wunderten sich über das bewusstlose Mädchen zu ihren Füßen. Schelmisch grinsend guckten sie sich an, stemmten den jungen Körper auf das Wildschwein, welches sie mit sich führten, und torkelten in Richtung Schlamminsel. Trey wollte ihnen hinterherrufen und sie verfolgen, doch sein großer Bruder hielt ihn zurück. Er zappelte heftig mit den Armen und biss ihm in die Hand, die Dean vor seinen Mund hielt, doch dieser ließ nicht nach. „Beruhige dich“, sagte er mit sanfter Stimme. Erst als die Zwerge außer Sichtweite waren, lockerte er seinen Griff. Trey schubste ihn zur Seite, griff ihn kräftig am Kragen und ballte seine Faust. Zähne fletschend sah er ihm zornig an. „Wir werden sie zurückholen“, versuchte Dean seinen Bruder zu beruhigen. Nach einiger Zeit ließ dieser ihn los und stapfte wütend den Pfad hinab.

„Warum wolltest du, dass ich dich begleite?“, fragte Lia etwas unsicher. Ihre Sicht war stark eingeschränkt. Vor und hinter ihnen war nichts außer Wolken zu sehen. Die unendlich lange Brücke wackelte wegen des heftigen Windes, sodass es schwer war, sein Gleichgewicht zu halten. Unter befand sich nur der weitentfernte Ozean. John überlegte einen Moment lang. „Weil ich dich besser beschützen kann, wenn du an meiner Seite bist“, antwortete er dann mit einem zögerlichen Lächeln. Mit dieser Antwort hatte Lia nicht gerechnet. Sie wurde leicht rot und schaute verlegen zur Seite. Den Rest des Weges legten die beiden schweigend zurück. Allmählich lichtete sich das Wolkengebilde um sie herum. Lia war froh darüber, die Brücke hinter sich zu lassen und wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Neugierig betrachteten sie die Landschaft. Direkt vor ihnen lag ein dichter Wald aus blühenden, grünen Bäumen in dessen Mitte ein schmaler Weg lag. Links und rechts von ihnen standen zwei hohe Wachtürme auf dessen Spitzen zwei Bogenschützen saßen und in die Ferne blickten. John erinnerte sich an den Pfeil, welcher Trey zuvor nur knapp verfehlte. Er staunte über die Präzision der Scharfschützen. Kaum hatten sie das fremde Land betreten, stellte sich ihnen eine Gruppe Soldaten in den Weg. „Warum seid ihr nach Arkadia gekommen?“, fragte ihr Kommandant mit tiefer Stimme. Er war gut gebaut, trug eine goldene Rüstung und griff mit einer Hand zu dem Langschwert, welches auf seinem Rücken befestigt war. Seine dunkelgrünen Augen fixierten die beiden Fremden. „Mein Name ist John, Anführer des Wolfsclans. Wir sind gekommen, um uns mit euch zu verbünden und die Herrschaft der Affen zu beenden. Bitte lasst mich mit eurem König sprechen“, erläuterte John. Der Kommandant nickte den anderen Soldaten zu und gab dem Wolf ein Zeichen ihm zu folgen. John spürte Lia´s Behagen, nahm ihre Hand und ging hinter den Soldaten her. Der schmale Weg führte sie zu einer gewaltigen Stadtmauer aus dicken Steinen. Der Kommandant hob seinen rechten Arm, woraufhin sich das schwere Tor öffnete. Eine gigantische wohlhabende Stadt kam zum Vorschein. Goldene Statuen, meterhohe Brunnen und tropische Gewächse schmückten den wunderschönen Marktplatz. John und Lia konnten ihr Staunen nicht verbergen. Nachdem sie die Stadtmitte passierten, steuerten sie geradewegs auf ein monumentales Schloss zu. Eine ellenlange Treppe deren Seiten Wasserfälle zierten führte zum Eingang des Kunstwerks. Zwei Diener öffneten die goldene Tür. Die Gäste kniffen ihre Augen zusammen, weil sie das gleißende Licht aus dem Inneren des Gebäudes blendete. Nachdem sich die Augen langsam an die hellen Farben gewöhnt hatten, betrachten die beiden den eindrucksvollen Innenraum. Ein hochwertiger, roter Teppich bedeckte den Boden, künstlerische Verzierungen schmückten die Säulen an den Seiten und Wachen mit goldenen Rüstungen lauerten in jeder Ecke. In der Mitte des Raumes stand ein goldener Thron auf dem ein gut genährter, älterer Mann saß. Er trug eine goldene Krone mit grünen Smaragden und einen langen roten Umhang. „Seid willkommen, verehrte Gäste“, begrüßte er die beiden mit freundlicher Stimme. John und Lia traten vor und verneigten sich. „Vielen Dank, dass Sie uns empfangen“, begann John. „Ich …“ „Ich weiß, wer Ihr seid, junger Wolf. Meine Soldaten haben mir bereits von eurem Vorhaben erzählt. Wieso wollt Ihr gegen die Affen rebellieren?“, unterbrach ihn der König. „Unser Land war einst vereint. Die Clans waren befreundet und halfen einander. Wir möchten diese Harmonie wiederherstellen und den Tyrannen, welcher den Frieden stört, vom Thron schmeißen“, antwortete John. „Und wie gedenkt ihr, dies zu schaffen?“, hakte der dicke Mann nach. „Wir werden uns mit anderen Clans verbinden. Die Affen sind in der Überzahl und sehr stark, aber wenn wir Seite an Seite kämpfen und unsere unterschiedlichen Fähigkeiten miteinander kombinieren, werden wir sie überwältigen können.“ „Und warum sollten wir euch helfen? Mein Volk lebt hier in Sicherheit. Es mangelt uns an nichts. Wir haben reichlich zu essen und zu trinken. Den Reichtum unserer prachtvollen Stadt habt ihr vorhin mit eigenen Augen gesehen. Niemand wird es je schaffen, Arkadia einzunehmen. Warum sollten wir also unsere Leben in Gefahr bringen und uns mit den Affen anlegen?“ John stockte einen Moment. Mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er wurde kurz wütend, unterdrückte dann aber seinen Zorn und erklärte sachlich: „Wir sind alle Bürger des Westens. Wenn wir nicht bald wieder zueinander finden, wird der Westen eines Tages zugrunde gerichtet. Außerdem scheint Ihr mir ein guter König zu sein. Eure Stadt blüht und ist in Sicherheit. Vielleicht seid ihr ein geeigneter König des Westens.“ Lia blickte John ungläubig an. Der König grinste leicht finster, wie John zunächst empfand. Dann flüsterte er einer seiner Wachen etwas ins Ohr. Dieser nickte kaum merklich. Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich das düstere Grinsen ein herzliches Lächeln. „Ihr habt Recht, junger Wolf. Die Schreckensherrschaft der Affen muss beendet werden. Wir werden uns den Westen zurückholen. Aber zunächst solltet Ihr euch ausruhen. Bringt unsere Gäste in ihre Gemächer!“, befahl er seinen Wachen. In John´s Gesicht macht sich ein Lächeln breit. „Ich danke euch“, sagt er und verneigte sich. Lia tat es ihm gleich und die beiden folgten den Wachen. Sie gingen eine lange Wendeltreppe aus alten Steinen hinunter. Als der Kommandant der Wachen John´s Gesichtsausdruck sah, erklärte er: „Im Obergeschoss ist es zu dieser Jahreszeit extrem heiß. Deshalb haben wir die Gemächer im Keller gebaut.“ Der Anführer der Wölfe nickte verständnisvoll. Unten angekommen öffnete der Kommandant eine schwere Stahltür und bat die Gäste herein. Zögerlich betraten die beiden den schlecht beleuchteten Raum. Es dauerte eine Weile bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnte. John blickte sich um und suchte nach einem Bett. Als er einige Ketten an den Wänden sah, erkannte er, was das für ein Raum war. Blitzschnell zückte er sein Messer und drehte sich um. Doch er war nicht schnell genug. Der Kommandant schloss die Stahltür mit einem kräftigen Ruck. John´s Fäuste hämmerten dagegen. „Lasst uns hier raus!“, schrie und rammte seinen Körper gegen die schwere Konstruktion. Lia fixierte ihn verwirrt mit ihren Augen. Erst jetzt schien sie zu begreifen, was passiert war. Erneut schlug John wutentbrannt gegen die Tür. „Das hat keinen Sinn“, ertönte plötzlich eine unbekannte Stimme, welche John und Lia zusammenzucken ließen.

Intrige

 John schaute sich in dem dunklen Kerker behutsam um. Es war ein kleiner Raum mit nur einem Fenster, welches mit Gitterstäben versehen war. An den steinernen Wänden hingen verrostete Ketten mit Befestigung für Hände und Füße. Wasser tropfte in einem ungleichmäßigen Rhythmus von einer undichten Stelle in der Decke. Der junge Wolf ging einen Schritt in die Ecke, aus welcher die unbekannte Stimme kam. Lia versteckte sich hinter seinem Rücken. „Wer ist da?“, fragte John bestimmt. Langsam wurden die Umrisse einer dunklen Gestalt sichtbar. Der Fremde stand beschwerlich auf und trat in das schwache Licht des Fensters. John musterte den abgemagerten, heruntergekommenen, jungen Mann, welcher zum Vorschein kam. Er hatte lange blonde Haare, einen ungepflegten Bart und zerrissene Kleidung. John zuckte kurz zusammen, als er die tiefgrünen Augen sah. „Du bist ein Adler“, stellte er ungläubig fest. Der Fremde atmete schwerfällig. Auch er betrachtete die beiden Unbekannten ausführlich. Er schien jedoch nicht mehr viel Kraft zu haben. Da seine wackligen Beine ihm keinen sicheren Stand gewährten, setzte er sich wieder auf den Boden. „Wer seid ihr?“, fragte er mit heiserer Stimme. John schenkte ihm einen misstrauischen Blick. „Mein Name ist John, Anführer des Wolfsclans, und das ist Lia. Warum ist ein Adler in seinem eigenen Königreich eingesperrt?“ „Das ist eine lange Geschichte“, winkte der Fremde ihn ab. „Sieht so aus, als hätten wir etwas Zeit“, erwiderte John grinsend. Auch der Fremde grinste und begann, seine Geschichte zu erzählen: „Mein Name ist Edward, rechtmäßiger Anführer des Adlerclans. Früher herrschte mein Vater über Arkadia. Er war gütiger König. Die Menschen liebten ihn und lebten glücklich in unserer bescheidenen Stadt. Wir brauchten nie viel Reichtum. Die Sicherheit, die uns die Himmelsbrücke gewährte, reichte vollkommen aus. Ich wuchs zusammen mit meiner Schwester Katlyn auf. Sie war einer der gutherzigsten Menschen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, und dazu noch von unglaublicher Schönheit. Sie verhielt sich nie wie eine Prinzessin. Lieber spielte sie mit Tieren und kümmerte sich um verletzte Tiere. Auch als sie älter wurde veränderten sich ihre Interessen nicht. Sie lernte von unseren Gelehrten und verbrachte ihre Zeit damit, mit ihrem erworbenen Wissen unsere Kranken und Alten zu pflegen. Jeder vergötterte sie. Währenddessen brachte mir mein Vater bei, was es heißt, ein guter König zu sein. Ich wollte nie etwas anderes, als für die Sicherheit meiner Freunde und Familie zu sorgen. Obwohl im Westen viele Schlachten tobten, bekamen wir davon nichts mit. Wir lebten in Sicherheit und waren glücklich. Eines Tages sollte sich das jedoch ändern. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fiel unsere Ernte aus. Die Menschen von Arkadia mussten hungern. Zunächst für Tage, dann für Wochen und irgendwann wurden es Monate. Viele Kinder, Alte und Kranke starben zu dieser Zeit. Verzweiflung machte sich breit. Sie beteten meinen Vater an, ihren Hunger zu beenden, doch er hatte keine Lösung. Voller Trauer versuchte er alles Mögliche, um dem Leiden ein Ende zu verschaffen. Er wand sich an die Gelehrten, an Freunde aus anderen Königreichen und an Gott. Doch niemand konnte ihm helfen. Der Hunger macht allen sehr zu schaffen, doch am meisten litt mein Vater. Eines Tages kam ein wohlhabender Händler nach Arkadia. Er bot uns ausreichen Nahrung an und half uns, neue Samen zu pflanzen. Mein Vater war ihm unendlich dankbar und versprach ihm, alles in seiner Macht stehende zu tun, um sich zu revanchieren. Der Händler sagte, er habe genug Reichtum. Das einzige was ihm fehle sei eine Frau an seiner Seite. So hielt er um die Hand meiner Schwester an. Mein Vater zögerte zunächst. Er liebte seine Tochter genauso wie alle anderen und hatte eigentlich beabsichtig, dass sie sich selbst einen Mann aussuchen könne. Andererseits konnte er dem Fremden, welcher seinen Clan vor dem Tod bewahrt hat, seinen Wunsch nicht abschlagen. Also heiratete der Händler meine Schwester. Kurze Zeit später starb mein Vater. Die Gelehrten sagten, er sei erstickt, aber ich bin mir sicher dass er vergiftet wurde. Als sein Nachfolger nahm ich seinen Platz ein und versuchte, ein ähnlich gutherziger König wie er zu sein. Vor etwa einem Jahr war es dann soweit. Der Händler stürmte zusammen mit dem Kommandanten der Wachen in meine Gemächer, fesselte mich und sperrte mich hier ein. Den Menschen erzählten sie, ich sei verschwunden. Als Mann meiner Schwester wurde der Händler schließlich zum König von Arkadia. Nach einigen Monaten stellte er fest, dass Katlyn nicht dazu in der Lage war, ihm einem Sohn zu schenken, und so sperrte er auch sie hier ein.“ Edward stockte kurz und presste seine Zähne aufeinander, bevor er fortfuhr. „Vor einigen Wochen starb meine geliebte Schwester vor Hunger in meinen Armen.“ Als er den letzten Satz aussprach, kullerten ihm Tränen über seine Wangen. „Er hat seine Frau einfach hier unten sterben lassen?“, platzte es aus der geschockten Lia heraus. „Er ist ein schrecklicher Mensch, der meine Schwester nie geliebt hat. Ich glaube, er hat das alles von Anfang an geplant.“ „Versteh mich nicht falsch, aber..“, begann John zögerlich. „.. die Stadt wirkte nicht gerade so, als wurde der Fettsack sie zugrunde richten.“ Edward atmete tief. „Das ist alles nicht echt“, sagte er schweren Herzens. „Ich weiß, wie prachtvoll die Stadt aussieht, aber dort wohnt niemand. Ich wette, ihr habt keine Bürger dort gesehen.“ John und Lia dachten kurz nach. Er hatte Recht. Sie fanden es merkwürdig, dass ihnen selbst diese Tatsache nicht aufgefallen ist. „Meine Freunde leben in einem kleinen Dorf im Schatten des riesigen Schlosses. All das nutzlose Gold in der Stadt und sie leben in kleinen Hütte..“ Edward ballte seine Faust. „Und ich sitze hier rum und kann ihnen nicht helfen“, schrie er und vergrub seine Hände in seinem Gesicht. John und Lia schauten sich an. „Du wirst ihnen bald helfen können. Wir werden hier rauskommen und dem König in den Arsch treten.“, tröstete John ihn schließlich. „Es gibt kein Entkommen aus diesem Kerker“, entgegnet der dürre Mann. „Wenn die Wachen mal vorbeischauen, sind sie zu mindestens zu viert und schwer bewaffnet. Mit deinem kleinen Messer wirst du da nicht weit kommen.“ Man hörte die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme deutlich heraus. „Ich kämpfe nicht mit meinem Messer“, erwiderte John mit seinem schelmischen Grinsen.

Die Schlamminsel

 

„Lauf nicht so schnell, Trey!“, befahl Dean seinem wütenden Bruder. Dieser ignorierte ihn und stapfte weiter den matschigen Weg an der Küste entlang. Auf der einen Seite der steile Berg, den sie zuvor noch hinuntergeklettert waren, auf der anderen Seite das unendlich weite, blaue Meer. In der Ferne lag die riesige Burg, zu der die Zwerge Zara gebracht haben. „Trey!“, schrie Dean nun etwas lauter. Zornig drehte Trey sich um, packte seinen Bruder mit der rechten Hand am Kragen und fauchte ihn an: „Ich soll langsamer laufen? Zara ist in Gefahr und du willst dir hier Zeit lassen? Mir ist egal, was ihr machen wollt, aber ich werde sie retten!“ Nun stieg die Wut auch in Dean auf. Er packte seinen kleinen Bruder mit beiden Händen und wies ihn in die Schranken: „Du glaubst, ich will hier herumtrödeln, während unsere Freundin in Gefahr ist? Du bist nicht der einzige, der ihr helfen will. Das wollen wir alle. Es bringt aber nichts, einfach in die Festung reinzumarschieren. Wir brauchen einen Plan und wir dürfen nicht auffallen. Wir sind deutlich in der Unterzahl und wenn sie uns finden, bevor wir Zara befreien konnten, dann sind wir geliefert. Hast du das kapiert? Wir können sie in einem offen Kampf nicht besiegen.“ Obwohl Trey seinem Bruder nur mit einem Ohr zugehört hatte, schien er erkannt zu haben, dass dieser Recht hatte. Trotzig ließ er ihn los und schaute zu Boden. Mit einem demütigen Blick murmelte er: „Ich muss sie da rausholen, Dean.“ „Das werden wir“, versprach dieser ihm und nahm ihn in den Arm.

Bald erreichten sie ihr Ziel. Das große Tor der Schlamminsel war nicht so stark bewacht, wie sie gedacht hätten. Tausende Händler passierten diese Festung täglich, also gaben sich die Wölfe auch als solche aus. Im Inneren angekommen staunten sie über die Größe der Festung, welche eigentlich eine riesige Stadt war. Die Zwerge lebten in dem gigantischen Bergfried, welcher sich deutlich vom Rest der Schlamminsel absetzte. Obwohl die Zwerge nicht gerade für ihre Ordnung und Sauberkeit bekannt waren, war dieser Bergfried sehr eindrucksvoll. Verglichen mit den Gassen, auf die er herabblickte, glich er beinahe einem Kunstwerk. Diese Straßen jedoch wurden dem Ruf der Schlamminsel mehr als gerecht. Heruntergekommene Häuser, tote Tiere am Straßenrand und Bettler, welche die verabscheuenden Blicke der wohlhabenden Händler ertragen mussten. Angewidert von diesen Händlern, fiel es den Wölfen nicht leicht, sich als welche von ihnen auszugeben. „Gehen wir zum Hafen“, schlug Dean vor. „Vielleicht finden wir dort etwas darüber heraus, was die Zwerge mit ihren Geiseln machen.“ Die anderen nickten und folgten ihm. Der Hafen wimmelte von Pendlern, die mit jedem nur erdenklichen Gut handelten. In der einen Ecke hörte man einen Fischer seinen Fang anpreisen, in der anderen Ecke verkaufte eine orientalische Frau ihre edlen Teppiche und direkt nebenan schmiedete ein alter Mann individuelle Schwerter aus hochwertigem Stahl. Das Wolfsrudel war sichtbar eingeschüchtert von dieser unbekannten Welt. Nicht weit von ihnen entfernt sahen sie, wie ein junges Mädchen um Geld bettelte. Ihr Gesicht war schmutzig und die Fetzen, die sie trug, bedeckten kaum ihren Körper. „Eine Spende bitte, ehrenwerter Mann“, murmelte sie kaum hörbar und kniete sich erniedrigend vor einen Händler, welcher gerade einen Kunden in ein Gespräch verwickelt hatte. Die Worte des Mädchens brachten ihn durcheinander und er wusste nicht mehr, wo er stehen geblieben war. „Verschwinde, du Abschaum!“, schrie er wütend und trat sie so fest, dass sie gegen eine Hauswand krachte. Rasend vor Wut machte Trey Anstalten, dem Mann eine Lektion zu erteilen, doch sein Bruder hielt ihn zurück. Fassungslos wollte Trey ihn erneut anschreien, doch er erkannte schnell, dass es auch Dean schwer fiel, sich zusammenzureißen. Mit dem Wissen, dass ihre Tarnung auffliegen würde, versuchte Trey das Gesehene zu vergessen und konzentrierte sich stattdessen auf Zara.

In kleine Gruppen aufgeteilt schlenderten sie über den großen Hafen. Sie hatten ausgemacht, sich unauffällig zu verhalten und Informationen zu sammeln. Trey, Dean und Ian, das jüngste Mitglied des Wolfsclans, kamen zu einer Ansammlung von Menschen, welche vor einer kleinen Bühne standen. Interessiert wollten sie sich das näher anschauen. Auf der Bühne stand ein gut gekleideter Mann, welcher die Menschenmenge mit ein paar Witzen zum Lachen brachte. Hinter ihm knieten drei halbnackte Frauen, welche mit Tauen gefesselt wurden. Abseits des Geschehens erkannte Trey plötzlich die Zwerge, welche Zara entführt hatten. Sie hatten ein paar mit Münzen gefüllte Säcke in der Hand und tranken munter Wein. Trey stoß seinen Bruder an und zeigte in ihre Richtung. Als Dean die Kleinwüchsigen sah, ging er auf einen der Händler zu und fragte ihn, was hier vor sich gehe. „Eine Auktion“, antwortete er. Seine Stimme hatte einen fiesen Unterton. Außerdem sprach er mit einem merkwürdigen Akzent. „Die Zwerge verkaufen die Sklaven, welche sie gefangengenommen haben.“, ergänzte er schelmisch grinsend. Die beiden Wölfe unterdrückten ihre Wut. „Wurden heute schon Sklaven verkauft oder hat die Auktion gerade erst angefangen?“, wollte Dean wissen. „Es wurden schon ein paar Huren versteigert.“, erklärte der Händler. „Das waren echte Prachtexemplare. Eine von ihnen hatte feuerrote Haare. Allerdings war sie etwas zu gut genährt für meinen Geschmack.“, erzählte er lachend. „Eine andere hatte langes, blondes Haar, eine umwerfende Figur und ozeanblaue Augen.“, fuhr er fort. Trey stockte der Atem. „Wer hat sie gekauft?“, platzte es aus ihm heraus. Der Händler war sichtlich überrascht über die Reaktion des Fremden. Er zeigte auf einen dunkelhäutigen Mann, welcher gerade ein großes, prachtvolles Schiff betrat. „Lord Tristan“, sagte er. „Er ist einer der reichsten Männer des Westens und lebt auf den Inseln von Shreyn. Er kommt einmal im Monat hierher, um uns die besten Güter vor den Augen wegzuschnappen. Beide Schiffe sind gefüllt mit dem Besten, was dieser Hafen zu bieten hat.“ Verwundert schauten die Wölfe erneut in die Richtung des reichen Mannes und erblickten ein zweites, nicht weniger eindrucksvolles Schiff. „Kein Wunder, dass er jeden Monat hierher kommt. Gerüchten zufolge, begehen die meisten Huren nach ein paar Wochen Selbstmord, weil er sie so hart ran nimmt.“, ergänzte der Händler laut lachend. Blitzschnell verwandelten sich Trey´s Augen in die eines Raubtiers. Länger konnte er seinen Zorn nicht unterdrücken. Der Händler zitterte bei diesem furchteinflößenden Blick. Trey wollte dem widerwärtigen Mann seine Wut spüren lassen, wurde jedoch von einem Geräusch abgelenkt. Die beiden Schiffe von Lord Tristan waren gerade dabei den Hafen zu verlassen. Ohne zu zögern rannte er in ihre Richtung. „Nicht, Trey!“, wollte sein Bruder ihn aufhalten. Doch Trey konnte ihn bereits nicht mehr hören. Er setzte zum Sprung an, landete auf einem der Schiffe und versteckte sich zwischen all dem Zeug, welches der wohlhabende Mann erworben hatte. Abgelenkt von der Auktion hatte niemand etwas mitbekommen. Niemand, außer dem Händler, mit dem sie sich unterhielten. Mit misstrauischem Blick versuchte dieser, sich davon zu schleichen. „Folge ihm! Niemand darf etwas mitbekommen und seine Leiche muss verschwinden.“, ordnete Dean Ian an. Der junge Wolf lief dem Händler, welcher durch die engen Gassen in Richtung des Bergfrieds flüchtete, nach.

Der Adler erwacht

 

„Zeit für ein Festmahl!“, sagte der Kommandant der Wachen lachend. Gefolgt von drei Kameraden öffnete er die schwere Tür. Sie betraten den dunklen Raum und sahen sich um. Edward saß zusammengekrümmt unter dem kleinen Fenster und hielt John´s Messer in der Hand. Neben ihm lag Lia reglos auf dem Bauch. „Er hat sie umgebracht!“, stellte einer der Wachmänner erschrocken fest und ließ die kleine Schüssel voll Suppe fallen. Die vier Adler traten vorsichtig in den Kerker ein. „Lass das Messer fallen!“, befahl der Kommandant. Mit zittrigen Beinen stand Edward auf, die Waffe auf seine Gegner gerichtet. „Du kannst dich kaum auf den Beinen halten und willst vier Soldaten gleichzeitig mit einem Messer bekämpfen?“, fragte der Kommandant spöttisch. „Nicht ich werde gegen euch kämpfen“, entgegnete Edward grinsend. Im selben Moment fiel die schwere Stahltür in ihr Schloss. Die Wachen erschraken und drehten sich fast gleichzeitig um. Ihr Herz rutschte ihnen in die Hose als sie den Zähne fletschenden, weißen Wolf sahen. Zitternd traten sie einen Schritt zurück. „Habt ihr etwa Angst, ihr Feiglinge?“, rief der Kommandant wütend. „Wir sind 4 Wachen der Königsgarde und er ist alleine. Tötet ihn!“ Zögerlich gingen sie auf John zu. Ein tiefes Raunen entsprang dessen Kehle, woraufhin die drei sich hektisch hinter dem Kommandanten versteckten. Er schenkte ihnen einen abwertenden Blick, zog sein Langschwert und richtete es auf John. Die beiden liefen im Kreis und fixierten den jeweils anderen mit ihren Augen. Der Kommandant holte zum Schlag aus, doch John wich blitzschnell aus und sprang auf seinen Gegner zu. Dieser konnte in letzter Sekunde den Krallen des Wolfes entkommen und taumelte in eine Ecke des Kerkers. John wollte erneut zu einem Sprung ansetzen, musste jedoch einem Angriff von einer der anderen Wachen, welche sich ihm in seinem Rücken genähert hatte, ausweichen. Eine weitere Wache nutzte die Chance und warf sein eisernes Schwert in Richtung des Wolfes. John stieß sich erneut vom Boden ab, rutschte jedoch auf nassen Grund aus und landete direkt vor den Füßen des vierten Soldaten. Dieser schwang seine Waffe, um dem hilflosen Tier den Rest zu geben. Zentimeter vom weißen Fell entfernt, stoppte seine Bewegung plötzlich. Seine Augen weiteten sich, Blut strömte aus seiner Brust und er rang nach Luft. Edward hatte ihm das Messer direkt in den Rücken gerammt. John rappelte sich wieder auf, wich dem Langschwert des Kommandanten aus und biss ihm in den Arm. Schreiend ließ dieser seine Waffe fallen und sank zu Boden. Sofort machte sich John bereit, die übrigen Gegner auszuschalten, doch als er sich umdrehte, stellte er fest, dass diese bereits auf dem Boden knieten und um Vergebung bettelten. „Und ihr nennt euch Soldaten!“, schrie der Kommandant mit schmerzverzerrtem Gesicht. Wieder in Menschengestalt nahm John ihnen die Waffen ab, verließ den Kerker zusammen mit seinen Freunden und verschloss die Tür.

„Dort wohnt mein Volk“, erklärte Edward und zeigte auf ein Dorf nicht weit vom Palast entfernt. Die drei hatten sich auf einen Balkon geschlichen und planten das weitere Vorgehen. „Der König wird zu jeder Zeit von mehreren Wachen beschützt. Ich weiß, du bist stark, aber wenn wir uns ihm einfach zeigen, werden sie uns besiegen.“ John blickte nachdenklich in die Ferne. Der große Palast bot einen einzigartigen Ausblick. In einer anderen Situation hätte der junge Wolf das sehr genossen. „Ich will dich nicht verärgern, Edward, aber …“, begann Lia vorsichtig. „… aber warum erkennt dein Clan dich nicht. Ich dachte, sie haben deine Familie sehr geliebt. Und warum stellen sich deine Soldaten gegen dich?“ John starrte Lia an. Er hatte sich das gleiche auch schon gefragt, kam bisher aber nicht dazu, diesen Gedanken auszusprechen. Edward´s Blick wurde sehr traurig, weshalb es Lia sofort Leid tat und sie sich entschuldigen wollte, doch Edward kam ihr zuvor. „Sie denken, ich sei tot. Seit über einem Jahr hockte ich in diesem Kerker. Mein Aussehen hat sich vermutlich extrem verändert.“, murmelte er. „Aber ich bin mir sicher, meine Freunde würden mich wiedererkennen. Ich weiß allerdings nicht, wie wir zum Dorf kommen sollen ohne erwischt zu werden. Und was die Wachen angeht. In der Königsgarde leistet jeder Soldat einen Eid, dass er seinem König bedingungslos und bis an sein Lebensende vollkommenen Gehorsam schenkt. Im Moment ist er der rechtmäßige König. Sie würden ihren Eid brechen, wenn sie mich erkennen würden und mir helfen wollten. Das kann ich nicht von ihnen verlangen.“ „Aber der Kommandant wusste doch, wer du bist“, entgegnete Lia. „Ich denke, er steckt mit dem König unter einer Decke. Sie müssen das alles so geplant haben.“, erläuterte Edward. Ein siegessicheres Grinsen zierte John´s Gesicht, was die anderen beiden sehr wunderte. „Na dann ist ja alles klar“, sagte er erfreut und erntete dafür entgeisterte Blicke. „Du gehst zu deinem Dorf und erklärst ihnen, was passiert ist. Ich bleibe hier und nehme mir diesen Halunken vor.“ „Aber …“, erwiderte Edward etwas perplex. „Ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich nicht zum Dorf kommen würde ohne gefangen genommen zu werden und dass du keine Chance gegen unsere ganze Armee hast.“ „Du wirst fliegen. Ich werde nur den König stürzen und bevor mir deine Soldaten die Kehle aufschlitzen kommst du zusammen mit den Dorfbewohnern und rettest mich. Wenn der Fettsack tot ist, bist du der einzig wahre König und die Soldaten brechen ihren Eid nicht“, erzählte John triumphierend. Lia und Edward verzogen keine Mine. „Fliegen?“, wiederholten sie fast gleichzeitig. „Du bist doch ein Adler, oder etwa nicht?“, fragte der Anführer des Wolfsclans spöttisch. „Aber ich kann mich nicht verwandeln.“ „Hab Vertrauen!“ „Glaubst du, ich würde ein Jahr in einem Kerker versauern, wenn ich mich in einen Raubvogel verwandeln könnte?“ Edward schien etwas empört von John´s provozierendem Kommentar. Dieser stöhnte jedoch nur, grinste noch mehr als zuvor und sagte: „Tut mir Leid, aber du lässt mir keine andere Wahl.“ Er schaute in die verwirrten Augen seines neuen Freundes, streckte seinen Arm aus du stieß ihn über das Geländer des Balkons. „John!“, schrie Lia fassungslos. Edward fiel kreischend den hohen Turm hinunter. Hilflos fuchtelten seine Arme in der Luft. Verzweifelt versuchte er sich irgendwo festzuhalten, doch seine Hände fanden keinen Halt. „Hab Vertrauen!“, rief John den Abgrund hinunter. Mit jeder Sekunde näherte Edward sich dem harten Boden, auf welchen er jeden Moment aufschlagen würde. Seine Glieder schienen mittlerweile aufgegeben zu haben, denn er schoss reglos wie ein Stein durch die Luft. Langsam schlossen sich seine Augen. Er machte den Eindruck, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. Im Geiste erinnerte sich der betrogene König an seine schöne Kindheit. Er dachte zurück an seine liebevolle Schwester, seinen Vater, zu dem er immer hinaufsah, die Dorfbewohner, welche ihm so sehr ans Herz gewachsen waren. Bald würde er seine Familie wiedersehen. Er sah sie deutlich vor seinem inneren Auge. „Eines Tages wirst du sie beschützen, mein Sohn. Pass gut auf sie auf. Ich weiß, du wirst ein toller Anführer sein.“, hörte er seinen Vater deutlich sagen. Plötzlich pochte sein Herz. Das Blut pumpte durch seine Adern, sein Körper verkrampfte. Mit einem Mal öffneten sich seine Augen – wie grüne Edelsteine funkelten sie aus ihren Höhlen. Lia konnte nicht glauben, was sie da sah. Der abgemagerte, verwahrloste Mann verwandelte sich binnen Sekunden in einen majestätischen Adler. Mit einer Flügelspannweite von über zwei Metern segelte er anmutig durch die Luft. Verdutzt schaute sie zu John, dessen Grinsen nun noch breiter war als zuvor. Träumend betrachtete sie das Bild des erhabenen Vogels, welcher im Licht der untergehenden Sonne in Richtung des Dorfes flog. „Jetzt sind wir an der Reihe“, holte John sie in die Realität zurück. „Bist du bereit?“, fragte er und hielt ihr die Hand hin. Lächelnd nickte sie und griff seine Hand.

„Noch eins!“, rief der König, während er sich eine Lammkeule in den Mund steckte. Hastig eilte einer der Diener zum Tisch und reichte ihm das leckere Fleisch. „Hier, euer Gnaden“, sagte er mit zittriger Stimme und verneigte sich. Gierig schlang der dicke Mann es herunter und kippte sich den mit Wein gefüllten Kelch in den Rachen. Bemüht darum, ihre Abneigung nicht zu offenbaren, schauten die Bediensteten ihrem Herrscher beim Essen zu. Dieser rülpste laut und wischte sich den Mund mit seinem Ärmel ab. „Ich begebe mich nun in meine Gemächer. Schickt mir die schönste Hure, die ihr finden könnt!“, krächzte er und verließ den Saal. Mit vollem Magen zog er seinen Umhang aus, schlüpfte in ein Nachtgewand und schüttete sich Wein aus einer Karaffe ein. Langsam öffnete sich die hölzerne Tür. Überrascht drehte sich der König um. So schnell hatte er nicht mit seinem Besuch gerechnet. Eine hellblonde, leicht bekleidete Schönheit trat ein. Ihre violetten Augen hypnotisierten den König im Nu. Gefesselt von dem atemberaubenden Anblick stand er regungslos vor seinem Bett. Mit verführerischen Schritten kam sie ihm langsam näher. Ihr perfekt geformter Körper wurde nur von ein paar dünnen Tüchern bedeckt, welche soeben die verführerischsten Stellen versteckten. Mit kreisenden Bewegungen schmiegte sie ihre Hüfte erotisch an seinen Körper. Immer noch bewegungsunfähig leckte sich der König unbewusst die Lippen und schloss die Augen. Die junge Frau reichte ihm den Kelch und der verzauberte Mann ließ den süßen Nektar seinen Hals hinunterwandern. Knopf für Knopf öffnete sie das Nachthemd, wobei sie immer mal wieder sanft über seine Brust streichelte. Der König öffnete wieder seine Augen und sah tief in das Gesicht der jungen Schönheit. Diese fixierte ihn ebenso mit ihrem unglaublichen Blick. Während tausende Fantasien durch seinen Kopf schossen, merkte er, wie die violetten Augen langsam verschleierten. Er hielt sich schmerzverzerrt an den Kopf und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Als er begriff, wie ihm geschah, versuchte er die Fremde am Arm zu packen, doch er verlor bereits sein Bewusstsein und sein schwerer Körper sank tief in das weiche Bett.

Freiheit

„Zu den Waffen!“, schrie eine Wache mit lauter Stimme. Sofort läuteten die goldenen Glocken des Palastes. Eine wilde Aufruhr machte sich breit. Das gesamte Gebäude wurde hell erleuchtet. Die Bediensteten versteckten sich im Thronsaal und sahen aus dem Fenster. Die vielen Soldaten des Adlerclans rannen wild umher und versammelten sich vor dem Schloss. Hunderte kampfbereite Krieger standen John gegenüber. In seinem Rücken hing der König gefesselt an einem Holzstamm. Der junge Wolf schaute die Armee nachdenklich an. In seiner Hand hielt er das Messer. Langsam ging er von der einen Seite zur anderen und überlegte, wie er Edward mehr Zeit verschaffen konnte. „Lass die Waffe fallen und ergib dich!“, befahl einer der Soldaten. John blieb stehen, atmete tief ein und begann seine Rede. „Mein Name ist John, Anführer der Wölfe. Ich bin zu euch gekommen als ein Freund, der an eurer Seite die Schreckensherrschaft der Affen beendet, doch ihr habt mich belogen. Ihr habt mich belogen und in einen Kerker gesteckt. Doch das hier ist nicht, was ihr denkt. Ich will mich nicht rächen. Ich bin nicht einmal wütend. Im Gegenteil, Ich will euch helfen, denn ihr lebt eine Lüge. Dieser Mann hat euch betrogen!“, mit entschlossener Stimme beendete er den Satz und zeigte auf den falschen König. Die Soldaten schauten einander verwirrt an. Unruhig flüsterten sie miteinander. „Lügner! Lass unseren König frei!“, entgegneten sie schließlich. John blieb gelassen und fuhr unbeeindruckt fort. „Fragt ihr euch denn nicht, wie euer König so plötzlich gestorben ist. Ein Mann, der euch geliebt hat wie seine Familie, der immer nur das Beste für euch wollte und der jedem von euch blind vertraut hat. So einen König habt ihr ausgetauscht gegen diesen Tyrannen. Aber euer König ist nicht tot. Dieser Mann hat ihn in einen Kerker gesteckt und ihr habt zugelassen, dass er dort ein Jahr lang leiden musste. Ist das die Art, wie ihr mit den Menschen umgeht, die euch ihre ganze Liebe schenken?“ John schaute die Soldaten missbilligend an. Diese bewegten sich keinen Zentimeter. Geschockt von den Worten des Fremden wussten sie nicht, was sie tun sollten. Die einen sehnten sich nach der Zeit, in der alle glücklich und zufrieden waren. Die anderen dachten an all die Schandtaten, die sie das letzte Jahr über ertragen mussten. „Hört nicht auf ihn!“, schrie der König plötzlich. Er hat sich schneller von dem Gift erholt, als John gedacht hätte. „Er will euch nur verwirren, damit er die Krone an sich reißen kann. Helft eurem König gefälligst! Ihr habt einen Eid ge…“, auf einmal verstummte der dicke Mann. Die Soldaten, welche demütig zu Boden geblickt hatten, schauten nun zu ihrem Herrscher. Dieser hang mit gesenktem Kopf und aufgeschlitzter Kehle leblos an dem Stamm. John leckte das Blut von seinem Messer und steckte es wieder in seine Tasche. Ein fürchterliches Geschrei ertönte und die Soldaten gingen langsam auf ihren Feind zu. Der Anführer der Wölfe wusste, dass er damit sein Todesurteil unterschrieben hat, doch er hatte es nicht mehr ausgehalten, diesem Dreckskerl länger zuzuhören. Er ließ sich auf die Knie fallen und schloss seine Augen. Bereit zu sterben wollte er nicht dagegen ankämpfen, denn er wollte keinen der unschuldigen Soldaten verletzen. Lia, die das Geschehen aus der Ferne beobachtete, hielt sich die Hand vor ihren Mund. Tränen flossen über ihr Gesicht. Schließlich schossen die ersten Speere durch die Luft. Die meisten verfehlten ihr Ziel, doch einer flog direkt auf John zu. Plötzlich stürzte der riesige Adler herab, packte den Speer mit seinen Fängen und landete unmittelbar vor John. Mit ungläubigen Augen betrachteten die Soldaten regungslos den anmutigen Greifvogel. Als der junge Wolf den Schatten des riesigen Tieres spürte, öffnete er seine Augen und lächelte. Kurz darauf stützte er Edward, welcher sie wieder in einen Menschen verwandelt hatte, ab. Sofort kniete die Armee nieder. „Steht auf, meine Freunde!“, ergriff Edward das Wort. Im Hintergrund erschienen allmählich die Dorfbewohner, welche sich umgehend neben die Soldaten knieten. Auch Lia kam herbei und stützte Edward, welcher noch immer wacklig auf seinen Beinen war, ab. Diesem stiegen die Tränen in die Augen. „Es tut mir Leid ..“, murmelte er. „Es tut mir Leid, dass ich euch allein gelassen habe. Es tut mir leid, dass ihr diesen Tyrannen ertragen musstet. Aber am meisten tut es mir Leid, dass dieser Kerl unseren Clan spalten konnte. Denn Adlern ist es bestimmt, friedlich zusammen zu leben. Eine Gemeinschaft, in der jeder glücklich und zufrieden ist. Wir brauchen keine goldenen Statuen, Brunnen oder einen einschüchternden Palast. Was wir brauchen, ist die Gewissheit, dass jeder für jeden durchs Feuer gehen würde.“ Die Adler jubelten, fielen sich gegenseitig in die Arme und feierten ihren zurückgekehrten Anführer. „Es ist die Zeit gekommen, in der der Adler sich aus seinem Nest erhebt. Diese beiden haben uns geholfen, diesen Betrüger loszuwerden. Lasst es uns ihnen zurückzahlen, indem wir ihnen helfen. Sie träumen von einer Welt, in der die vielen Clans wieder zusammenleben. Wir werden uns nicht länger verstecken. Lasst uns den Affen zeigen, was mit denen passiert, die den Frieden stören.“ Die Meute brach in einen schallenden Applaus aus.

Aufgeflogen

„Wir haben ein Problem!“, stürmte Ian in das Gasthaus herein. Alle Augen richteten sich auf ihn. „Ist er entkommen?“, fragte Dean sofort. Ian nickte bloß und schaute betrübt auf den Boden. Dean presste seine Zähne zusammen. „Wir werden dieses Gebäude erstmal nicht verlassen. Wir müssen darauf vertrauen, dass John uns hier rausholt. Die Stadt ist riesig. Selbst wenn die Zwerge wissen, dass wir hier sind, werden sie uns nicht so schnell finden. Also verhaltet euch unauffällig.“, ordnete er an. Die anderen Wölfe nickten kurz und wendeten sich dann wieder ihren Getränken und Begleitungen zu. Das Wirtshaus, in dem sie sich versteckten, war klein, rustikal eingerichtet und der Besitzer verabscheute die Zwergen, welche seine Stadt regierten. Außerdem hatten sie genug Essen und Trinken und die Damen, die dort arbeiteten, waren eine nette Abwechslung. Dean konnte sich daran jedoch nicht erfreuen. Seine Gedanken waren bei seinem kleinen Bruder. Ging es ihm gut? Wurde er entdeckt und musste nun als Sklave für den Lord arbeiten? Oder war er vielleicht schon tot? Er versuchte seinen Kummer in Alkohol zu ertränken und legte sich ins Bett.

Dean wurde langsam wach. Er hat schon lange nicht mehr so angenehm geschlafen, obwohl sein Kopf von dem Alkohol noch etwas brummte. Warme Sonnenstrahlen schienen ihm ins Gesicht. Nachdem er sich noch einmal gestreckt hatte, versuchte er, vorsichtig seine Augen zu offen. Blinzelnd gewöhnten sie sich allmählich an das helle Licht. Plötzlich zuckte er zusammen, als er geradewegs in die finsteren Augen dreier Zwerge schauten. Mit einem schelmischen Grinsen hielten sie ihm ihren Waffen ins Gesicht. „Mitkommen!“, befahlen sie lachend. Sie fesselten Dean und brachten ihn runter, wo schon die anderen Geiseln warteten. „Wie habt ihr uns gefunden?“, wollte Dean wissen. „Wie naiv ihr Wölfe doch seid. Ihr vertraut Frauen, die für Geld alles machen?“, spottete einer der Zwerge. Die anderen Kleinwüchsigen schloss sich seinem Gelächter an. Dean vergewisserte sich, dass es seinen Freunden gut ging, bevor sie raus auf die Straßen und zum Bergfried geführt wurden. Die Zwerge genossen es, ihre Beute herum zuschubsen und dabei lauthals ein Lied zu grölen. Während sich die reichen Händler an dem Spektakel erfreuten, schenkten die armen Einwohner der Schlamminsel den gefesselten Männern mitfühlende Blicke.

Die Wölfe trauten ihren Augen nicht, als sie den Bergfried betraten. Die imposante Fassade war das genaue Gegenteil von dem Inneren des Gebäudes. Heruntergekommene Möbel, haufenweise Müll und ein unerträglicher Gestank begrüßte die Gäste. Eine große Horde von Zwergen hatte sich bereits im Saal versammelt. Sie machten Witze über ihre Gefangen, tranken Wein und aßen von einem Buffet, welches von leicht bekleideten, sichtbar leidenden Frauen angerichtet wurde. „Ihr denkt also, ihr könnt einfach so in unser Reich hereinspazieren?“, fragte schließlich einer der Zwerge. Er schien ihr Anführer zu sein, denn die anderen verstummten sofort. „Die Schlamminsel ist der wichtigste Handelsort für den gesamten Westen. Was habt ihr geglaubt? Dass ihr euch hier nach eurem Belangen ausbreiten könnt?“ Seine Gefolgsleute antworten mit einem tiefen Grölen. „Dass der Affenkönig euch dulden würde?“ Es folge ein erneutes Grölen. Der Anführer holte tief Luft und schrie mit wütender Stimme: „Dass ihr unseren Clan einfach so vertreiben könnt?“ Die Zwerge hielten sich nicht mehr zurück, schrien wild umher und beschimpften die Wölfe. „Wer hat bei euch das Sagen?“, wollte der Anführer wissen. Dean trat vor. „Donny, was machen wir mit Eindringlingen?“, fragte der Zwerg. Alle Augen richteten sich auf einen kräftigen, scheinbar geistig zurückgebliebenen, abseits stehenden Mann, der offensichtlich nicht zu ihrem Clan gehört. „Töten?“, antwortete dieser verdutzt. Eine Sekunde lang war es ruhig im Saal, weshalb Donny noch hilfloser wirkte. Dann brachen die Zwerge in Jubel aus und der große, unbeholfene Mann war sichtlich erleichtert. „Nicht so voreilig, Jungs“, beruhigte sie ihr Anführer. „Ich habe eine bessere Idee. Ihr seht ja, welche Unordnung hier herrscht. Wie wäre es, wenn ihr für uns arbeiten dürft und wir im Gegenzug euer jämmerliches Leben verschonen?“, richtete sich an Dean. Dieser stand noch immer angewidert vor ihm, verzog aber keine Miene. Die Zwerge blickten ihn fragend an. „Ihr denkt, ihr könnt einen Wolf in Ketten legen?“, fragte Dean. Langsam wurden seine Gesichtszüge wütender, verwandelten sich dann aber in ein Grinsen. „Ein Raubtier kann man nicht einsperren“, ergänzte er und spuckte dem Anführer vor die Füße. Sofort bekam er dafür einen Tritt in die Kniekehle, was ihn zu Fall brachte. Der Zwerg tobte innerlich vor Wut. „Hängt sie!“, schrie er. „Macht es öffentlich, damit jeder sieht, was mit denen passiert, die sich gegen uns stellen!“ Ein triumphierendes Jubeln füllte die Hallen des Bergfrieds.

Die Wolken verdüsterten allmählich den Himmel. Die Gassen der Schlamminsel war wie leergeräumt. Auf dem gigantischen Hafen war es ungewöhnlich still. Die Zwerge hatten eine große Bühne mit entsprechenden Galgenkonstruktionen bauen lassen. Sie legten den mit Ketten gefesselten Männern die Taue um die Hälse und freuten sich darauf, ihnen beim Sterben zuzusehen. Den Pendlern wurde angeordnet, ihren Handel zu unterbrechen und sich die Vorstellung anzuschauen. Den Bewohnern der Stadt wurde gedroht, dass ihnen dasselbe Schicksal widerfährt, wenn sie sich weigern, dabei zuzusehen. Der Anführer der Zwerge ergriff das Wort: „Dieser Abschaum hat es tatsächlich gewagt, in unsere schöne Stadt einzudringen. Zum Glück haben wir es geschafft, sie gefangen zu nehmen, bevor sie euch etwas antun konnten. Wer weiß, was sie geplant hatten? Obwohl dieses Vergehen die Todesstrafe fordert, waren wir gütig genug, ihr lächerliches Dasein zu verschonen. Doch wie haben sie uns das gedankt? Sie haben unsere Güte mit Füßen getreten.“ Wieder antworteten die Zwerge mit einem tiefen grölen. „Es ist an der Zeit, ihnen Respekt beizubringen. Ihr werdet nun sehen, was mit denen passiert, die sich gegen uns stellen.“ Während die Händler mit einem süffisanten Grinsen applaudierten, knieten sich die Bewohner der Stadt auf den Boden und beteten für die dem Tod geweihten Männer. Diese Tatsache machte den Anführer vor Wut. „Tötet sie alle!“, befahl er. Einer der Zwerge kappte ein Seil mit seiner Axt, woraufhin der Boden der Bühne nach unten klappte. Die Wölfe zappelten in der Luft, ihre Köpfe liefen rot an und die Augen pressten aus ihren Höhlen hervor. Das Gebet der Menschen wurde immer lauter. Wie ein Chor übertönten sie das Geschrei der Barbaren. Plötzlich schossen einige Pfeile durch die Luft. Sie trafen die Taue der Galgen und zerschnitten diese. Die Wölfe fielen zu Boden. Verwirrt schaute die Menschenmenge sich um. Auf einmal wurde in der Ferne eine Armee von Soldaten sichtbar, angeführt von einem weißen Wolf. „Schließt das Tor!“, rief der Anführer. Ein Zwerg auf der Burgmauer wollte gerade seinem Befehl folgen, jedoch wurde er von einem riesigen Adler am Rücken gepackt und in den Graben geworfen. „Zu den Waffen!“, ordnete der Anführer nun an. Sofort griffen die Zwerge zu ihren Äxten und setzten sich auf die riesigen Wildschweine. Die Händler flüchteten blitzschnell auf ihre Boote und segelten davon. Die Einwohner versteckten sich in ihren Häusern. Mit großen Schritten eilte John auf seine Feinde zu, machte einen riesigen Satz und streckte eines der Wildschweine nieder, woraufhin der Reiter zu Boden fiel. Edward machte es ihm gleich, flog im Sturzflug auf die Gegner zu und verpasste ihnen tiefe Wunden. Die kleinen Männer waren deutlich überfordert mit den riesigen Raubtieren. Kurz darauf trafen die übrigen Soldaten ein. Ihre langen Schwerter trafen auf die schweren Äxte der Feinde. Im Pfeilregen, welcher auf sie einprasselte, fiel ein Zwerg nach dem anderen. Die Schlacht war nach wenigen Minuten entschieden. Das Blut der Leichen färbte den Marktplatz rot. John rannte zu seinen Freunden. Die Taue haben schlimme Wunden hinterlassen. Einige waren ohnmächtig, aber jeder von ihnen war am Leben. Lia eilte herbei und kümmerte sich um die Verletzten. Langsam trauten sich die ersten Menschen aus ihren Häusern.

John und Dean tauschten sich über das Geschehene aus. Als er von Trey und Zara hörte, wurden seine Gesichtszüge sehr traurig. Anschließend ging er zu Edward und beriet sich mit ihm. Sie nickten beide lächelnd und Edward betrat die Bühne. „Liebe Bewohner der Schlamminsel“, begann er. „Ich bin Edward, rechtmäßiger König von Arkadia und Anführer des Adlerclans. Es tut mir leid, was euch diese Barbaren angetan haben. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können eine bessere Zukunft erschaffen. Diese tapferen Männer sind vom Wolfsclan. Ihre Familien und Freunde wurden von den Affen getötet. Jetzt wollen sie sich rächen und die Schreckensherrschaft des Affenkönigs beenden. Wir haben uns dazu entschlossen, ihnen dabei zu helfen, damit die Menschen des Westens eines Tages wieder friedlich miteinander zusammenleben können. Die Schlamminsel ist ein wichtiger Standort für die Affen, da hier der Handel für den gesamten Westen geregelt wird. Sie werden hierherkommen und diese Stadt wieder einnehmen wollen. Mit eurer Erlaubnis bleiben wir hier und verteidigen diese Burg.“ Die Bewohner schauten einander verwundert an. Dann machte sich ein erleichtertes Lächeln in ihren Gesichtern breit, was schließlich in schallenden Jubel ausbrach.

„Vielen Dank“, sagt John und streckte seinen Arm aus. „Ich muss euch danken“, entgegnete Edward und schüttelte die Hand. „Ohne euch wäre ich immer noch in dem Kerker eingesperrt und mein Volk müsste leiden. Ich bin mir sicher, dass es deinen beiden Freunden gut geht. Ihr werdet sie befreien und dann werden wir eine neue Ära einläuten.“ „Das werden wir“, sagte John und verabschiedete sich von seinem neuen Freund. Sie räumten gemeinsam die Stadt auf, schnappten sich eines der vielen Schiffe und segelten in Richtung der Inseln von Shreyn.

Mann über Bord!

 

„Was sind die Inseln von Shreyn?“, fragte Ian etwas kleinlaut. Alle hatten sich an Deck des Schiffes versammelt, um gemeinsam zu essen. Die See war ruhig und bisher gab es keine Komplikationen. Obwohl sie das erste Mal mit einem Schiff segelten, kamen sie schnell voran. Fraglos schauten sich die Wölfe an. Keiner von ihnen hatte jemals etwas von den Inseln gehört. „Es ist eine Inselgruppe, die an der Grenze zum Osten liegt.“, erklärte Lia. Alle Blicke richteten sich auf sie. Während sie erzählte, schien die Sonne ihr ins Gesicht, was ihre hellblonden Haare noch mehr zum Leuchten brachte als sonst. John lächelte bei diesem Anblick. „Genauer gesagt sind es 4 Inseln, von denen aber nur eine bewohnbar ist. Die anderen 3 bestehen aus hohen Bergen und sind im Dreieck um die mittlere Insel angeordnet. Deshalb kann man die Insel nur von einer Richtung aus betreten. Außerdem sind die Inseln bekannt für ihre fruchtbaren Böden. Die Menschen dort pflanzen die unterschiedlichsten Lebensmittel und verkaufen diese teuer in alle Welt. Darum gehören die Bewohner von Shreyn zu den wohlhabendsten Menschen im Westen.“ Die Männer des Wolfsclans staunten nicht schlecht. „Weißt du auch etwas über ihre Sklaven, Lia?“, wollte Dean wissen. Die Miene der blonden Schönheit verfinsterte sich. „Naja ..“, antwortete sie leise. „Wie der Händler euch bereits erzählt, begehen die meisten von ihnen innerhalb eines Monats Selbstmord. Man sagt, die Bewohner von Shreyn erkennen Sklaven nicht als Menschen an. Oder anders gesagt, sie sehen sich selbst nicht als Menschen.“ Die Wölfe schauten sie verwirrt an. „Wie meinst du das?“, fragte John. Lia schwieg einen kurzen Moment. „Sie glauben, die Inseln seien ein heiliger Ort und dass es Schicksal sei, dass ausgerechnet sie dort leben dürfen. Deshalb denken sie, dass sie so etwas wie Götter sind. Dementsprechend behandeln sie auch die Menschen, die unter ihnen stehen.“ Ihre Worte verschlugen den anderen die Sprache. John spürte, wie die Wut – vor allem in Dean – aufstieg. „Unser einziges Ziel ist es, Trey und Zara zu befreien. Um andere Probleme können wir uns im Moment nicht kümmern. Dieses Mal sind wir auf uns alleingestellt. Wir haben keine Armee in unserem Rücken. Vergesst das nicht!“, sagte er streng.

„Wacht auf!“, schrie Ian, der die erste Nachtschicht übernahm. „Was ist los?“, fragte John leicht verschlafen. „Die Wellen“, rief Ian. Blitzschnell eilten die die Wölfe aus ihren Kajüten. Das Schiff schaukelte heftig und füllte sich mit jeder Welle, die dagegen krachte, immer mehr mit Wasser. Der heftige Wind machte es nahezu unmöglich, auf einer Stelle stehenzubleiben. Sofort schnappte jeder sich einen Eimer, um das Wasser wieder ins Meer zu schütten. Dunkle Gewitterwolken machten sich am Nachthimmel breit. Blitze schlugen im Sekundentakt neben ihnen ein. Der Donner schallte über den Ozean. „Das hat keinen Sinn!“, schrie John. „Greift zu den Rudern!“, befahl der Anführer, während er das Steuer in die Hand nahm. Die kräftigen Männer ruderten so schnell sie konnten. Dennoch kamen sie aufgrund des Wetters kaum voran. Lia stand hilflos in der Mitte des Decks. Sie wollte helfen, wusste aber nicht wie. Die grellen Blitze machten ihr Angst. Auf einmal krachte eine riesige Welle gegen das Schiff. Lia verlor ihr Gleichgewicht und fiel über die Reling. Ohne zu zögern sprang Dean ihr hinterher, packte ihre Hand und hielt sich mit der anderen an der Reling fest. „Seid ihr ok?“, fragte der heranhastende John. „Lia ist ohnmächtig. Ich glaube, sie hat sich den Kopf gestoßen.“, schrie Dean gegen all den Lärm an. „Wirf sie hoch. Ich fange sie und ziehe dich danach hoch.“ Dean nickte. Er schwang den bewusstlosen Körper durch die Luft und warf ihn zum Deck. Die John fing sie behutsam auf und ließ sie in ihre Koje bringen. „Jetzt gib mir deine Hand, Dean“, rief er. Dean streckte sich so weit er konnte und berührte die Finger seines Freundes. „Nur noch ein bisschen“, schrie John. Plötzlich schepperte eine weitere Welle heftig gegen das Schiff. Dean rutschte von der Metallstange ab und fiel in die Tiefe. „Dean!“, schrie John verzweifelt. Doch der Körper seines Freunde wurde bereits von den dunkelblauen Wellen verschlungen.

Langsam öffnete Lia ihre Augen. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde jemand permanent gegen ihn hämmern. Das Bett, in dem sie lag, war weich und angenehm warm. Allmählich erinnerte sie sich daran, wie sie von Bord gefallen ist. Da das Schiff kaum schaukelte, schlussfolgerte sie, dass der Sturm vorbei sein musste. Sie fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatte. Blinzelnd sah sie sich in der Kabine um. John saß neben ihr. Sein Gesicht vergrub er in seinen Händen. Sofort ahnte Lia, dass etwas nicht stimmte. „Was ist passiert?“, fragte sie mit schwacher Stimmte. John schrak auf. Sein Gesicht sah schrecklich aus. „Wie geht es dir?“, fragte er, wobei er versuchte, ein Lächeln hervorzubringen, was ihm aber eindeutig nicht gelang. „Was ist los, John?“, sagte Lia jetzt ernster. „Du bist über die Reling gefallen“, erklärte John zögerlich. „Dean ist dir hinterhergesprungen, um dich zu retten. Aber …“, seine Stimme versagte. „Aber was?“, wollte Lia wissen. John vergrub sein Gesicht erneut in seinen Händen. „Er ist ins Meer gefallen“, murmelte er. Innerhalb einer Sekunde verschwand das ganze Blut aus Lia’s Gesicht. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Dann brach sie in Tränen aus. „Es tut mir so leid“, wisperte sie. John nahm sie in den Arm, doch er fand keine tröstenden Worte. Die eigenen Tränen konnte er kaum zurückhalten.

Himmelsdrachen

 

„Land in Sicht!“, durchdrang eine Stimme dir Stille in der Kabine. John und Lia sahen sich tief in die Augen, bevor sie zusammen an Deck gingen. Von dem Unwetter war keine Spur mehr. Die beiden mussten sich erst an das helle Licht der Sonne gewöhnen. Das warme Wetter mit den angenehmen Windbrisen ließ sie das Vergangene für einen Moment vergessen. Vor ihnen lagen die Inseln von Shreyn. Wie ihnen erzählt wurde schienen die zwei steinernen Inseln die Hauptinsel zu beschützen und ließen nur einen schmalen Pfad zu. „Kein Wunder, dass niemand die Inseln je einnehmen konnte“, dachte Ian laut. Wenig später legte das Schiff in der kleinen Bucht an. „Was glaubst du, wie Trey reagieren wird, wenn er erfährt, dass…“, fragte einer der Wölfe seinen Anführer. John schaute betrübt zu Boden. Auch er hatte schon darüber nachgedacht. Als Anführer und Trey´s bester Freund ist es seine Pflicht, es ihm zu sagen. „Wir sollten uns erstmal darauf konzentrieren, Trey und Zara zu finden und hier wegzubringen. Also versucht, nicht aufzufallen!“, lenkte er vom Thema ab. Von der Bucht aus führten zwei Wege in unterschiedliche Richtungen. „Sollen wir uns aufteilen?“, fragte Lia. „Nein“, antwortete John. „Wir wissen nichts über diese Insel. Wir bleiben erstmal zusammen und passen aufeinander auf.“

Sie entschieden sich für den rechten Weg und schon nach wenigen Minuten erreichten sie ein kleines, heruntergekommenes Dorf. Überrascht schauten sich die Wölfe um. „Ich dachte, die Leute hier wären steinreich“, wunderte sich einer der Männer. Sie gingen weiter in das Dorf herein und stellten fest, dass die Bewohner sofort verschwanden, sobald sie die Fremden bemerkten. Plötzlich hörten sie die Schreie einer Frau aus einer der Gassen. Sofort eilten sie dorthin. Schockiert sahen sie, wie drei Ritter in teuren Rüstungen dabei waren eine Frau zu vergewaltigen. Ihr Mann kniete neben ihnen und bettelte sie an aufzuhören. Doch die Ritter lachten nur und stießen den Mann zur Seite. Die übrigen Dorfbewohner ignorierten einfach, was sich dort abspielte, und taten, als hätten sie nichts gesehen. Sogar ein paar spielende Kinder schienen den Anblick gewohnt zu sein. Erst bei genauem Hinsehen erkannte John einen kleinen Jungen, der sich hinter dem verzweifelten Mann versteckte. Plötzlich sah John rot. „Hört sofort auf!“, schrie er die Ritter mit einer vor Wut bebenden Stimme an. Diese zuckten zusammen und drehten sich ungläubig um. Mit großen Schritten kam John auf sie zu. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Venen stachen deutlich hervor. „Das wirst du bereuen, Abschaum!“, sagte einer der Ritter bevor die drei zu ihren Waffen griffen. Entschlossen gingen die drei auf ihren Feind zu, schreckten dann aber kurz zurück. Die scharfen Fangzähne ragten aus John´s Mund heraus und seine Fäuste wurden zu riesigen Pranken. Merkwürdigerweise blieb der Rest seines Körper normal. Er rannte auf seine Gegner zu, parierte einen Schwerthieb mit seinen Krallen und biss einem Ritter den Kopf ab. Lia und die anderen Wölfe blieben regungslos am Ende der Gasse stehen und auch die Familie der vergewaltigten Frau betrachtete geschockt das Geschehen. Als der Kopf ihres Freundes vor ihren Füßen lag, bekamen die anderen beiden Ritter es mit der Angst zu tun und wollten weglaufen. Doch John versperrte ihnen den Weg und rammte seine Krallen mehrmals in ihre Körper. Das viele Blut strömte bereits über den sandigen Boden der Gasse, doch John schlug unaufhörlich zu. Erst als Lia ihn von hinten umarmte, stoppte er seine Bewegung. Er verwandelte sich wieder zurück und schaute in die angsterfüllten Augen der toten Männer. Langsam erhob er sich, wandte sich zu der zitternden Familie und sagte demütig: „Es tut mir Leid .. Ich wollte euch keine Angst machen.“ Lia nahm seinen Arm und führte ihn zurück zu den anderen Wölfen. „Wartet!“, rief der Mann. Überrascht drehten sie sich um. „Ihr kommt nicht von hier, oder?“, fragte er. „Nein, wir sind auf der Durchreise.“, antwortete Lia. „Dürfen wir euch zum Essen einladen?“ Perplex sah Lia zu John. „Gern“, antwortete dieser.

„Wer waren diese Männer?“, fragte Lia. Die Familie wohnte in einer kleinen, heruntergekommenen Hütte. Sie hatten kaum Wertsachen, schliefen auf dem Boden und trugen zerrissene Kleider. Trotzdem hatten sie eine große Portion Suppe für ihre Gäste gekocht. „Die Himmelsdrachen“, antwortete der Mann. Als er die fragenden Blicke der anderen sah, fuhr er fort: „So nennen sich die Bewohner dieser Insel. Sie sehen sich selbst als Kinder der Götter, die in diesem Paradies leben dürfen. Die Insel ist mit vielen Bodenschätzen gesegnet und die Menschen die hier leben sind alle sehr wohlhaben. Deshalb denken sie, sie wären etwas Besseres. Das ist auch der Grund dafür, dass sie uns so behandeln.“ „Aber ihr lebt doch auch auf dieser Insel“, entgegnete Ian. „Die Leute, die in diesem Dorf leben, stammen ursprünglich aus einer anderen Gegend. Die meisten segelten als Händler hierher, erlitten Schiffbruch und hatten nicht genug Geld, um sich ein neues Boot zu leisten. Deshalb mussten wir hier bleiben.“, erklärte der Mann. Die Wölfe tranken die Suppe und hörten dem Mann aufmerksam zu. „Warum hat euch eben niemand geholfen?“, wollten sie wissen. Der Mann schaute nachdenklich aus dem Fenster. „Sie hatten Angst. Es ist für uns zum Alltag geworden, dass ab und zu einige Soldaten von ihnen hierherkommen und unsere Frauen vergewaltigen. Am Anfang haben wir uns natürlich gewehrt, aber dann kamen sie am nächsten Tag mit mehr Männern und haben uns bestraft. Deswegen tut jetzt jeder so, als würde er nichts mitbekommen.“, antwortete er. Die Wölfe sahen ihn sprachlos an. Plötzlich sprang John, der seit dem Vorfall nichts gesagt hatte, auf und stürmte aus der Tür hinaus. „Ich werde mal nach ihm sehen“, sagte Lia und folgte ihm. Nachdem sie die wenigen Gassen durchkämmt hatte, fand sie John auf einem kleinen Hügel. Er saß einfach nur regungslos da und schaute in die Ferne. „Willst du mir erzählen, was los ist?“, fragte Lia und setzte sich neben ihn. „Ich habe die Kontrolle verloren“, murmelte er ohne sie anzugucken. „Als ich sah, wie der kleine Junge hilflos zusehen musste, wie seine Mutter vergewaltigt wurde, erinnerte mich das an den Tag, als die Affen…“, seine Stimme versagte. Lia legte ihren Kopf auf seine Schulter und streichelte ihm fürsorglich über den Rücken. „Die Ritter sahen plötzlich aus wie der Kommandant der Affen und da bin ich ausgerastet“, fuhr er fort. „Sie hatten es verdient“, versuchte Lia ihn zu trösten. „Es sind zu viele“, entgegnete John. „Es gibt zu viele schlechte Menschen auf dieser Welt. Wir können es nicht mit allen aufnehmen. Wir schaffen es noch nicht einmal, den Leuten auf dieser Insel zu helfen.“ Lia dachte über seine Worte nach. Er hatte Recht. Wenn sie sich gegen die Himmelsdrachen stellen würden, dann würden sie einer nach dem anderen abgeschlachtet werden. Das einzige, was sie tun konnten, war Trey und Zara zu befreien und von dieser Insel zu verschwinden. „Wir kommen wieder“, sagte sie schließlich. „Wenn die Affen erst einmal besiegt wurden, werden wir jede einzelne Region durchforsten. Irgendwann wird Fiore wieder existieren und dort werden alle guten Menschen zusammenleben. Dann muss niemand mehr hungern oder mit ansehen, wie jemand vergewaltigt wird.“ John sah Lia tief in die Augen. Ihre Worte beeindruckten ihn. Er strich ihr mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht und küsste sie.

„Vielen Dank für das leckere Essen!“, sagte John und betrat gefolgt von Lia das Haus. Alle Augen richteten sich auf ihn. Seine Freunde spürten sofort, dass mit ihm wieder alles in Ordnung war, und lächelten. „Das ist das Mindeste, was wir für euch tun konnten“, entgegnete der Mann freundlich. „Bitte habt Geduld. Im Moment können wir euch nicht helfen. Aber ihr habt mein Wort, dass wir wiederkommen werden. Eines Tages werden die Himmelsdrachen Geschichte sein.“, versprach John. Die Wölfe bedankten sich bei der Familie und verließen das Dorf. „Wie sieht dein Plan aus?“, fragte Ian enthusiastisch. „Es bleibt alles wie geplant.“, antwortete John grinsend. „Wir befreien unsere Freunde, verschwinden unbemerkt von der Insel und treten den Affen in den Arsch.“

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Tag der Veröffentlichung: 09.08.2016

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