„Bitte, Mary“
„Jamie es sind fast vier Stunden Flug und ich kenne doch niemanden“, die Art wie die junge Frau seinen Namen in die Länge zog, verriet ihm, dass er sie fast so weit hatte. Er ging zu ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie schien ihre hoffnungslose Situation selbst zu bemerken, denn ihre blauen Augen glitzerten hilflos.
„Na gut, ich komme mit, aber du schuldest mir wirklich was, Jamie Donovan“
„Danke!“ Grinsend riss er seine Mitbewohnerin in die Arme und wirbelte sie herum. Er war froh nicht allein nach Hause fliegen zu müssen. An den Ort, der ihm so viele schreckliche Erinnerungen beschert hatte. Verlust über Verlust verdunkelten die Sicht auf die glücklichen Momente. Wann immer er sich zu den strahlend schönen Erinnerungen vorgraben konnte, flammte sofort Hass in ihm auf. Auch nach sieben Jahren noch...
Genau das war der Grund warum Jamie es vermied in seine Heimat zu reisen. Covent Hill. Was hatte er sich nur dabei gedacht, die Schulbauprojekte mit zu finanzieren? Eigentlich hätte er sich doch denken können, dass ihn das einmal zwingen würde, dorthin zurück zu kehren! Aber er wollte trotz allem, diese Schule, auf der er gewesen war, am Leben erhalten. Es kam Jamie vor, als würde er so Vergangenes weiter leben lassen. Nun gut, er würde es schon hinter sich bringen. Was sollte schon gross passieren…?
Gut, das Jamie die Antwort darauf nicht kannte…
Covent Hill war noch genau dieselbe verschlafene Kleinstadt, als welche er sie in Erinnerung hatte. Nachdem Jamie und Mary angekommen waren, fühlte er sich kurzzeitig wie in einem Traum. Der frühsommerliche Morgentau liess die weiten Weiden märchenhaft glitzern, als sich die ersten Sonnenstrahlen darin brachen. Doch all das Schöne hinderte Jamie nicht daran, die hässlichen Narben zu erkennen, die all das Schlechte in seinen Erinnerungen hinterlassen hatte.
Mary aber, war völlig begeistert von seiner früheren Heimat. Aufgeregt hatte sie ihn an der Hand genommen und ihn gebeten ihr alles zu zeigen. Diese jugendliche Freude schätzte er an seiner Mitbewohnerin schon seit er sie auf der Uni kennengelernt hatte. Sie konnte ihn ablenken. Auch deshalb war sie hier. Mary musste dafür sorgen, dass er vergass sich zu erinnern.
Statt sie herum zu führen sassen sie nun aber hier. In der ersten Reihe von Stühlen, die vor einem Podest aufgereiht worden waren. Im Hintergrund der Bühne, auf der der Bürgermeister von Covent Hill gerade beschwingt zu erzählen begann, ragte die neue Schule in die Höhe. Augenscheinlich waren alle Bürger seines Heimatorts hier erschienen, um die neue Stätte des Wissens gebührend einzuweihen. Mehr als einen kurzen Blick über seine Schulter erlaubte sich Jamie allerdings nicht, denn gerade bat Bürgermeister Markus Blaire um einen kräftigen Applaus: „Liebe Freunde, bitte begrüsst mit mir unseren ehrenvollen Spender und früheren Schüler der Covent High, Dr. Jamie Donovan“
Langsam erhob er sich, strich sein schwarzes Jackett glatt, wischte sich eine der widerspenstigen kurzen blonden Locken aus der Stirn und betrat die Bühne. Bei Markus angekommen griff er nach dessen ihm dargebotenen Hand und schüttelte sie mit einem freundlichen Lächeln.
„Es ist so schön dich mal wieder bei uns zu haben, Junge“, meinte Markus und tätschelte ihm väterlich den Oberarm. Die Altersflecken und das schüttere weisse Haar von Markus, verdeutlichten Jamie erneut, wie viel Zeit vergangen war.
„Danke, ich freue mich auch wieder hier zu sein“ Jamie war selbst von seinen Worten und vor allem der Wahrheit darin überrascht. Vielleicht hätte er wirklich nicht so lange weg sein sollen. Womöglich konnte er nun endlich den Schmerz hinter sich lassen und stattdessen nur noch die familiäre Heimat in Covent Hill sehen.
„Doch nicht nur Jamie hat uns tatkräftig an der Realisierung des Neubaus unterstützt. Noch ein weiterer ehemaliger Convent Highler hat sich als Sponsor gemeldet. Ihr alle kennt ihn sicher noch – ob ihr ihn in guter oder schlechter Erinnerung habt, ist euch überlassen“, begann Markus und grinste wissend in die Runde. Einige Bewohner lachten, andere stimmten ihm nickend zu. Jamie stutzte nur ahnungslos.
„Früher war er ein kleiner Junge mit jede Menge – nun, nennen wir es Ideen – im Kopf. Und heute ist er so erfolgreich wie noch nie. Begrüsst mit mir den Geschäftsführer von EleTec Mister Anthony Leaks“
Getragen von den freudigen Klatschern der Leute, kam ein Mann im eleganten schwarzen Anzug auf die Bühne. Er schloss, wie es sich gehörte, den Knopf seines Jacketts, zog kurz die Umschläge der Ärmel seines weissen Hemds zu Recht und fuhr sich schliesslich durch die leicht gegelten braunen Haare. Er schüttelte flüchtig Markus Hand, wandte sich dann seinem Publikum zu und liess sich königlich feiern. All die Aufmerksamkeit wurde von Anthony aufgesogen. Er liebte es. Und die Leute liebten ihn.
„Dankeschön. Danke. Wirklich freundlich“, verkündete er in seiner melodischen Stimme. Alle klatschten verzückt weiter, nur Jamie stand da und blickte zu dem Mann, der ihn vor sieben Jahren fast umgebracht hätte…
Anthony Dawson Leaks… Sein Ex…
Der Grund, wieso sich Covent Hill von Heute auf Morgen nicht mehr wie seine Heimat angefühlt hatte…
Es kam Jamie vor, als wären Jahre vergangen, während er hier stand und Anthony anstarrte. Allein sein Anblick liess ich fast vor Schmerz zusammen brechen. Wie eine unsichtbare Faust traf es ihn in den Magen, bevor die Finger sich langsam um sein Herz legten und es bis zum Zerbersten zusammen pressten.
Scheisse! Wut und Panik brachen über ihm zusammen und rissen ihn mit wie ein unaufhaltsamer Hurrikan. Seine intuitiven Reaktionen waren das pure Gegenteil voneinander. Wegrennen oder Angriff. Beides war verdammt verlockend, aber noch ehe sein überfordertes Hirn ihn zu irgendetwas davon befehligen konnte, lief ihm die Zeit ab.
„Hallo Jamie“
Unvermittelt starrte er in seine eigenen blauen Augen, die sich in der dunklen Sonnenbrille von Anthony spiegelten. Dennoch konnte er die honigbraunen Augen dahinter erkennen. Vielleicht fantasierte er bereits, oder aber er kannte diese Augen einfach zu gut, als dass er sie vergessen könnte.
Verwirrung, Überforderung und jedes nur mögliche Gefühl brachten sein sonst so gut funktionierendes Köpfchen zum Überhitzen. Wie ein debiler Affe blickte er auf Leaks Hand und wusste nicht einmal mehr, ob er ebenfalls solche Gliedmassen wie Hände besass.
„T- Tony“, stammelte er schliesslich fassungslos und beobachtete wie sich auf dessen Gesicht sein typisches Tony Grinsen bildete. Überheblich, selbstverliebt und Arrogant. Kurz gesagt: Anthony Dawson Leaks.
Jamies Herz dröhnte in seinen Ohren wie die Motoren eines versifften Wagens. Ihm war heiss und sein Kiefer knackte schmerzhaft unter dem starken Druck seiner zusammengebissenen Zähne.
Scheisse!
Sein Zeit und Raumgefühl ging flöten, die Schwerkraft liess ihn plötzlich zitternd in der Luft hängen – verdammt wo war Newtons scheiss Apfel, wenn man ihn mal brauchte? – und stattdessen verabschiedete sich einfach alles und liess ihn im Unklaren, wie lange er regungslos vor seinem Ex stand. Natürlich hatte er Tony des Öfteren in den Medien gesehen, seit dessen steile Karriere begonnen hatte und er als führender Techniker und Erfinder gerühmt wurde, aber das hier? Das war etwas anderes! Keinen Meter von ihm entfernt zu stehen und das seit sieben Jahren?! Seit damals?! Was tat man, wenn plötzlich derjenige vor einem steht, den man so abgöttisch geliebt hatte und der einfach eines Tages wortlos verschwand? Was gab es da zu sagen?
Du verficktes Arschloch, wie konntest du mir das antun? Vermutlich eher nicht.
Dafür wirst du bezahlen. Ich werde dir so in den Arsch treten, dass sie ihn dir wieder zusammen nähen müssen? Ebenso wenig salontauglich…
Ich will dir in die Eier treten! Davor würde Jamie ihn wohl kaum vorwarnen…
Nichts Passendes wollte ihm einfallen. Vieles was äusserst befriedigend gewesen wäre, aber… nein, er war kein gewaltsamer Mensch… Oder vielleicht noch nicht…
„Und nun würde ich sagen, gehen wir rein und stossen auf dieses tolle Bauwerk an!“, damit entliess Markus alle, aber Jamie und Tony blieben einfach stehen, während die Einwohner langsam im Gebäude verschwanden.
„Du bist noch genauso verboten heiss, wie damals“, raunte Tony mit leicht heruntergezogener Sonnenbrille. Seine braunen Augen brannten sich in Jamies hinein, bevor er zwinkernd zum Eingang schlenderte. Wie einbetoniert und zur Salzsäule erstarrt blieb Jamie zurück. Was zum Teufel - ?!
Sieben Jahre und elf Monate zuvor…
Er rannte so schnell er nur konnte und obwohl seine Beine kaum mehr den Boden berührten, war er zu langsam. Verdammt, er hatte es gleich geschafft. Panisch blickte Jamie auf seine Uhr.
18:00 Uhr. Scheisse!
Unmöglicher weise legte er noch einen Zahn zu und raste um die Ecke. Vor ihm erschien das Postamt. Gleich hatte er es geschafft. Siegessicher rannte er zur Glastür und wollte sie öffnen, doch sie gab nicht nach. Nein! Verzweifelt rüttelte er daran. Doch sie blieb verschlossen. Nein! Nein! Nein! Drinnen sah er noch Licht, Mister Jankins musste da sein! Laut gegen die Tür polternd wartete er auf ein Zeichen, auf das erlösende Öffnen der Tür… welches ausblieb.
„Shit!“ Wütend krallten sich seine Finger in den Umschlag in seiner Linken. Wäre er doch nur etwas schneller gewesen! Dann würde sein Brief nun noch rausgehen, statt erst Montags! Geschlagen von seiner fehlenden Schnelligkeit, wollte er sich abwenden und schlurfenden Schrittes nach Hause gehen, als er unvermittelt gegen etwas Hartes prallte. Ungebremst ging er zu Boden. Seine Handgelenke wurden vom spröden Asphalt aufgeschürft. Murrend sass er auf allen vieren und blickte nach oben. Geradewegs in ein paar whiskeyfarbene Augen.
Na toll, der hatte ihm noch gefehlt. Mister selbstverliebt. Anthony Leaks, der Playboy von Covent Hill. Die Weiber küssten jeden Stein über den er ging und auch bei den Jungs liess er nichts anbrennen.
„Wow, ich hab ja schon viele Anmachen erlebt, aber vor die Füsse geworfen hat sich mir noch keiner“, lachte Tony amüsiert.
„Arsch“, murmelte Jamie mürrisch.
„Wie bitte?“ Tony hatte es garantiert verstanden, doch sein Grinsen schmälerte das kein Stück.
„Warte, ich helfe dir“
Soweit würde es Jamie garantiert nicht kommen lassen. Er ignorierte Tonys zur Hilfe gereichte Hand geflissentlich und rappelte sich wenig grazil auf. Ihm war es scheiss egal, was die anderen von Anthony halten mochten, wie sie ihn vergötterten und – ja das gab Jamie zu – wie heiss Leaks aussah. Er konnte nichts mit dessen aufgeblasener Art anfangen. Dieses übersteigerte Ego brauchte er nun wirklich nicht.
„Na gut, dann eben nicht. Ich wollte nur höflich sein“ Schulterzuckend lies Tony seine Hand an seine Seite sinken.
„Nicht nötig, danke“, erwiderte Jamie matt. Schliesslich war er gut erzogen worden. Seine Mutter würde es wohl kaum dulden, wenn er seine Manieren vergass, auf die sie stets pochte.
„Tschüss Tony“
„Hey warte!“, rief ihm Anthony plötzlich hinterher, als er schon um die Ecke des Postamts gegangen war. Seufzend und wenig erfreut wandte sich Jamie um. „Was ist?“
„Du hast was vergessen“ Tony streckte ihm den Umschlag hin, weswegen er überhaupt erst hergekommen war.
„Oh! Ähm… Danke… echt“ Jamie war wirklich froh, den Brief wieder zu haben, er hatte lange an seiner Bewerbung gefeilt und nachdem er sich hatte dazu durchringen können, sie tatsächlich einzusenden, wollte er sie jetzt nicht noch einmal zusammenstellen müssen.
„Bitte. Gern geschehen“ Leaks Lächeln war feiner, sanfter und ehrlicher als zuvor, was Jamie durchaus verwirrte. Er konnte es nicht verleugnen. Dieses untypische Tony Lächeln mochte er…
Gegenwart…
Was er vor wenigen Minuten miterlebt hatte, schwirrte in Jamies Kopf herum, wie eine lästige Schmeissfliege. Immer wenn es sich gerade in seinen Gedanken festsetzen wollte und Jamie darauf lauerte seine Wut daran auszulassen, flog es wieder weg und liess Jamie in dieser irreal wirkenden Szene zurück.
Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Fast acht Jahre hatte er keinen Ton von Tony gehört, seit dieser ihn wortlos verlassen hatte und jetzt stand er plötzlich unangekündigt vor ihm und hatte nichts Besseres zu tun, als ihn mit seiner üblich arroganten Art anzumachen.
Herr Gott noch eins, dass musste doch ein Alptraum sein!
Aber Jamies Anspannung und der Schock sassen so fest in seinen Knochen, dass es keinerlei Zweifel zuliess. Das hier war echt. Er würde nicht schweissgebadet in seinem Bett aufschrecken und Tony begänne sich nicht plötzlich vor seinen Augen aufzulösen. Der Hass in ihm realisierte dies nun auch. Jamies Füsse trugen ihn eigenmächtig ins Gebäude hinein. Überall standen Einwohner mit Champagnergläsern in den Händen und unterhielten sich angeregt. Dennoch dauerte es keine Sekunde bis Jamie seinen Ex erblickte. Anthonys Ausstrahlung war genauso enorm wie damals, nur dass sich nun noch diese kühle, machtvolle Chefseite hinzugemischt hatte. Er sprach momentan mit Markus, der mit dem Rücken zu Jamie stand. Zielsicher schritt Donovan auf Anthony zu, der es sofort bemerkte ihn mit seinen Blicken fixierte.
„Es ist wirklich ganz erstaunlich, wie du-“
„Ich muss mit dir sprechen“, grätschte Jamie dem Bürgermeister äusserst rüde dazwischen und packte Tony am Arm. Wortlos zog er ihn in einen verlassenen Gang, der vermutlich zu einer der Turnhallen führte. Egal, hauptsache allein. Denn wer wusste schon, was noch passieren würde...
„Was machst du hier?“, knurrte Jamie schwer bemüht seine Wut hinunter zu schlucken.
„Unsere Schule brauchte Geld und ich –“
„Verarsch mich nicht Tony! Die Schule ist dir schon immer scheissegal gewesen! Sie interessiert dich nicht, also warum bist du hier?“
Warnend schritt er auf seinen Ex zu, so nah, dass sich ihr Atem vermischen konnte. „Willst du mal wieder deine Show abziehen? Musst du dein Ego noch mehr aufpol-“
„Ich wollte dich sehen“
Bevor irgendein Gedanke in Jamies Kopf entstehen konnte, prallte seine Hand hart gegen Tonys Wange. Es fühlte sich an wie eine Explosion. All die unterdrückten Gefühle und die jahrelang gewachsene Enttäuschung brachen hervor. Jamies Herz pulsierte schmerzhaft und übertönte jegliche Vernunft.
„Wag es nicht! Wag es ja nicht, so anzufangen!“ Jamies Stimme klang schrill, wutverzerrt und zwischen den zusammengepressten Zähnen hindurch geknurrt. Er konnte es nicht fassen, was hier gerade passierte. Genauso wenig, wie er kapierte warum Anthony ihn so ausdruckslos ansah. Diese ruhige Seite hatte Jamie früher so sehr geliebt, doch nun wollte er sie Leaks aus dem Leib prügeln. Er hatte verdammt noch mal kein Recht hier den armen Unschuldigen zu markieren! Anthony hatte ihn wortlos von heut auf morgen verlassen, nicht umgekehrt!
„Tony du bist ein verficktes Arschloch!“ Jamie wollte ein weiteres Mal zuschlagen, doch Anthony war schneller und erwischte dessen Handgelenk kurz bevor Haut auf Haut traf.
„Jamie bitte, lass… lass mich dir erklären… wegen damals…“
„Den Teufel werde ich tun!“ Wild entschlossen, Tony nicht die Genugtuung zu beschaffen in dem er ihm seinen Schmerz noch offener darlegte, ging er auf ihn los. Sie rissen und stiessen sich hin und her, jeder mit seinem eigenen Ziel, bis sie ineinander verkeilt zu Boden gingen. Im wilden Gerangel schaffte es Jamie auf Tony sitzend die Oberhand zu gewinnen. Sein Ex wehrte sich nicht, lag nur ergeben mit den Händen links und rechts am Kopf unter ihm. Seine dunklen Augen fixierten ihn mit dieser altbekannten Intensität. Ihre Anziehung hatten sie nicht verloren. Jamie konnte es deutlich spüren, wie die dieses Honigbraun jeden verschlingen konnte. Doch momentan löste es nur eins in ihm aus. Verbitterung. Über Tony, der ihn stillschweigend und ohne Grund einfach verlassen hatte und über sich selbst, dass er nach all den Jahren noch immer daran fest hing. Zitternd erhob er die Faust. Die Knöchel ragten weisslich hervor und die Fingergelenke knackten. Er wollte ihm eine reindonnern. Er musste.
„Jamie“, flüsterte Tony so quälend zart.
Nein. Tu es. Mit zusammengekniffenen Augen erhob er seine Hand. Jetzt!
„Jamie!“ Sofort riss er die Augen auf. Mary kam zu ihm gelaufen. „Jamie, nicht!“, ihre Stimme bettelte, ebenso wie ihr Blick. Erschrocken über sich selbst erhob Jamie sich ruckartig und blickte wie erstarrt auf Tony nieder. Er war überfordert. Mit allem. Mit Tony. Mit sich selbst.
„Komm, wir gehen“, sagte Mary leise und zog ihn sanft aber fordernd mit sich. Weg von Tony.
Sieben Jahre und neun Monate zuvor…
„Geh mit mir aus“
Teils ungläubig und teils amüsiert sah Jamie von seinem Buch auf, direkt in die schönen braunen Augen, wie so häufig in den letzten Wochen.
„Wieso fragst du mich das immer noch? Waren es etwa noch nicht genug “Neins“?“ Irgendwie war Jamie von Tonys Hartnäckigkeit fasziniert und er konnte nicht leugnen, dass ihm Tonys Begierde schmeichelte. Trotzdem wollte er nicht die nächste Kerbe in Anthonys Bettpfosten sein und so liess er sich nicht auf ein Date ein.
„Ach, was sind denn schon diese zehn Körbe“
„Es waren elf“, korrigierte ihn Jamie und erkannte im nächsten Moment, dass es ein Fehler gewesen war. Anthonys Grinsen auf seinen vollen Lippen verriet es ihm. Das Glitzern eines Räubers trat in seine Augen.
„Dafür, dass ich dir völlig egal bin und dir nur auf die Nerven gehe, weisst du das aber ziemlich genau“, schmunzelte Tony siegreich und stützte sich auf dem Tisch ab.
Jamie fuhr sich unbeholfen durch die hellen Locken. „Ich kann mir Zahlen sehr gut merken“, versuchte er zu retten. Er gab es ja zu, alles was mit Tony zu tun hatte, brannte sich unweigerlich in sein Gedächtnis. Ob er es nun wollte, oder nicht. Es passierte einfach…
„Wie viele Aufgaben haben wir heute in Physik gelöst?“, wollte Tony scheinbar ohne Grund wissen.
Scheisse. Jamie hatte keine Ahnung. So viel zu seiner Ausrede…
„Sieben“ Mit verschränkten Armen und vorgerecktem Kinn versuchte er seine Ahnungslosigkeit zu überspielen. Tony würde es doch sowieso nicht wissen…
„Falsch, es waren drei“
„Upps, da hab ich’s wohl mit Mathe verwechselt“
„Dann aber sicher nicht mit der Stunde heute. Da waren’s nämlich zehn“
Jamie klappte ungläubig der Kiefer nach unten. Das… ja also das gabs doch nun wirklich nicht!
„Geh mit mir aus“, raunte Tony erneut. Da war es wieder. Dieser bittende, ruhige und sanftmütige Wesenszug, den man sich an Anthony fast nicht vorstellen konnte und bei dem Jamie ernsthaft zu kämpfen hatte, um nicht einzuknicken.
„Wieso?“ Seine Stimme klang atemlos und eine Note zu hoch. Tonys Anziehung begann ihn spürbar einzuwickeln. Völlig gegen seinen Willen. Sein Puls schlug schneller und härter. Einfach so.
„Weil du der eigenwilligste, sturste und klügste Mensch bist, der mir je begegnet ist“
„Und das ist Grund genug, dass du mich zwölfmal um ein Date bittest?“ Es wollte Jamie einfach nicht in den Kopf. Er hatte noch nie gehört, dass Tony so viel Aufwand betrieb, damit er jemanden ins Bett bekam.
„Ich weiss es nicht. Ich habe darüber nie wirklich nachgedacht. Aber jedes Mal wenn du nein gesagt hast, hab ich gespürt, dass es falsch ist“
„Und ein ja würde sich dann besser anfühlen?“ Donovan spürte die Neugier in sich. Und dieses absonderliche Gefühl, zu wissen was Tony da meinte. Da war irgendetwas zwischen ihnen. Tony faszinierte ihn, je mehr er versuchte diesen zu ignorieren.
„Sag ja und wir finden es gemeinsam raus“
„Ja…“
Gegenwart…
Völlig entkräftet liess sich Jamie auf eines der Hotelbetten fallen. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Sein ganzer Körper schien gebrochen zu sein, doch das lag mit Sicherheit nicht an seinem vorherigen Kampf mit Tony. Wie sollte es auch? Tony hatte nicht ein einziges Mal zugeschlagen, er hatte sich immer nur verteidigt und Jamie nie wehgetan. Wenigstens dieses Mal nicht.
„Das ist also der Typ, der dich damals einfach verlassen hat?“, fragte Mary sanft und setzte sich neben ihn. Jamie schob sich ein Kissen in den Rücken, während er seine Mitbewohnerin musterte.
„Woher weisst du das?“ Er hatte ihr nie Tonys Namen verraten, da war er sich sicher. Schliesslich war er fast zwei Jahre lang nicht in der Lage gewesen Tonys Namen überhaupt auszusprechen ohne zusammen zu brechen.
„Du siehst genauso mitgenommen und verletzt aus, wie damals auf der Uni“
„Ja das ist er. Tony Leaks“
„Was will er denn hier?“
„Ich habe keine Ahnung. Er behauptet ich sei der Grund“ Jamie unterdrückte nur mühsam ein hysterisches Lachen und fuhr sich stattdessen ruhelos durch die Haare. Mary betrachtete ihn eingehend.
„Und du glaubst ihm nicht?“
„Mary, natürlich glaube ich ihm nicht! Tony führt irgendwas im Schilde, ich weiss nur nicht was“
Jamie wollte sich erheben, doch Mary hielt ihn am Arm zurück. „Ich glaube du solltest mit ihm reden“
Er sah skeptisch zu ihr, war sich nicht sicher ob sie den Verstand verloren hatte, oder ob seine müden Ohren ihm schon Streiche spielten. „Wie bitte? Was soll ich?“ Nun riss es ihn doch auf die Füsse. Müde und rastlos tigerte er durch das Hotelzimmer. Er war schlichtweg überfordert. In den letzten Jahren, hatte er versucht Tony zu vergessen. Es war ihm nicht gelungen, stattdessen war seine Wut weiter gewachsen und wenigstens die hatte zur Folge gehabt, dass Jamie ihn irgendwie hatte ignorieren können. Anthony war fortan die verleumdete Existenz gewesen, die vermutlich jeder Mensch hatte. Eine Person, an die man nie denken wollte und wenn es doch geschah, war man verängstigt, überfordert oder wütend. In Jamies Fall gleich alles zusammen. Mary hatte ihm damals sehr geholfen, wieder auf die Füsse zu kommen, nachdem Tony wortlos gegangen war und seine Kartenhauswelt einfach hatte zusammenstürzen lassen. Kein Wunder, in den fünf Monaten in denen sie zusammen gewesen waren hatte es Tony mit Leichtigkeit geschafft das Fundament von Jamies Leben zu werden. Ihre Liebe war so schnell so unfassbar stark gewesen. Es war beängstigend gewesen und gleichzeitig hatte es Jamie eine innere Ruhe verliehen. Er hatte geglaubt alles zu schaffen, denn er hatte gespürt, dass Tony bei ihm war. Körperlich, geistig und seelisch. Von ganzem Herzen.
Bis an dem Morgen, als Jamie aufgewacht war und Tony spurlos verschwunden war. Es hatte ihn verdammt nochmal fast umgebracht. Er war wahnsinnig geworden, hatte nach Anthony gesucht, ihn angerufen, Herrgott er war schreiend durch Covent Hill gerannt um ihn zu finden! Aber Tony war da schon weg gewesen. Einfach gegangen. Und mit ihm, der Grundstein von Jamies neuem Leben.
„Jamie...? Jamie…? Jamie?!“ Erschrocken zuckte er zusammen, als Marys Stimme ihn aus der Vergangenheit riss. „Ja…?“ Sie erhob sich, nahm ihn in die Arme und strich beruhigend über seinen Rücken. „Du solltest mit ihm reden. Und wenn auch nur um endlich mit Tony abschliessen zu können“
Zitternd begann er schliesslich schwächlich zu nicken. Er konnte so nicht weiter machen. Er würde nie frei sein, solange Tony in seinem Leben existierte.
Covent Hill war ein Nest. Früher hatte Jamie es nicht gemocht. Alles war ihm zu klein, er hatte schon immer die Welt sehen wollen. Aber heute war er ausnahmsweise froh, dass seine Heimat so winzig war, denn hier gab es alles nur einmal. Eine Schule, ein Postamt und nur ein Hotel. Also nur ein Ort wo Tony sein konnte. Denn Mary hatte Recht. Er musste mit Anthony abschliessen. Zehn weitere Jahre ohne Gewissheit würden ihn nur ins Grab führen. Und genau deshalb, stand er nun vor Tonys Hotelzimmer. Schon zwanzig Minuten starrte er die dunkle Holztür an. Seine Gliedmassen waren vor Nervosität taub geworden. Klopfen wurde zur Herausforderung. Und das, obwohl die echte Hürde erst dahinter wartete.
Tu’s Jamie! Na los!
Tief durchatmend klopfte er schliesslich zaghaft an. Er fühlte sich gerade wieder wie ein alberner Teenie beim ersten Date. Nur dass das hier das letzte sein würde…
Tony öffnete die Tür und Jamie machte erschrocken einen Schritt zurück. Anthony sah furchtbar aus. Sein Gesicht war blass und unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Schatten. Zusammen mit dem Bartschatten um seine Kieferpartien war er ein Gespenst seiner Selbst.
„Jamie“, murmelte er ungläubig, seine matten Augen wurden wieder lebendiger. Donovan hatte sich fest vorgenommen entweder wütend oder distanziert zu bleiben, doch dieser Anblick erschütterte ihn. Tony sah gebrochen aus. Seine Dominanz, die normalerweise den Raum füllte war verblasst, genau wie das raubtierhafte Glitzern seiner warmen, braunen Augen.
„Ich… Wir… sollten reden… müssen reden“, stammelte Jamie durcheinander. Wieso traf ihn dieser Anblick so unerwartet stark? Und warum kümmerte es ihn überhaupt? Schliesslich war nicht er derjenige, der etwas falsch gemacht hatte.
„Sehr gerne. Gib mir einen Moment, dann bin ich bereit“ Tonys Stimme klang mehr wie das ergebene Flüstern eines verletzten Soldaten, der wusste, dass sein letzter Einsatz seinen Tod bedeuten würde.
Mehr als hilflos nicken konnte Jamie nicht. Er sah zu wie Tony ins Innere des Zimmers verschwand und fragte sich was hier passierte. Das war nicht wie es hätte laufen sollen. Er hatte doch Tony klipp und klar machen wollen, was er von ihm hielt und das er über Tony hin weg war. Aber das hier… Damit kam er nicht zurecht.
Als Tony wieder zurück war, fiel Jamie seine Kleidung auf. Es war dieselbe von gestern und so verknittert wie sie war, hatte er darin geschlafen.
„Gut, geh’n wir“
Jamie nickte, nicht wissend wie das hier laufen sollte. Er war schon immer ein sensibler Mensch gewesen, der es nicht ertragen konnte, wenn es jemandem schlecht ging. Das traf auch auf Tony zu, obgleich er es nicht wollte.
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Für sie bedurfte es keiner Worte, um zu bestimmen, wo sie reden würden. Es gab nur einen Ort, der es sein musste. Sie waren immer dort gewesen. Sie hatten es dort geliebt, genau wie sie sich dort geliebt hatten.
Der alte Waldweiher lag friedlich vor ihnen. Enten putzten in ihrer morgendlichen Routine ihr Gefieder am Ufer und vereinzelt sah man Fische an der Wasseroberfläche die ihr Frühstück jagten. Es war noch so früh, dass erst vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel schienen und die Natur belebten. Sie waren hier so unglaublich oft gewesen. Das war ihr Ort.
Wie damals setzten sie sich an den alten steinernen Tisch, auf dem – wenn man der Urgeschichte von Covent Hill glauben durfte – die Gründerväter auf ihre neue Siedlung angestossen hatten.
Tony hielt den Blick gesenkt, fuhr mit der Fingerspitze eine Kerbe im Stein nach, während Jamie ihn unablässig musterte. Er konnte einfach nicht verstehen, was passiert war. Gestern der arrogante Bastard und jetzt der traurige, ruhige Mann. Er wusste, dass Tony auch äusserst friedlich und natürlich sein konnte, schliesslich war er früher in ihrer Beziehung oft so gewesen, nachdem sie ihr gegenseitiges Vertrauen zueinander aufgebaut hatten. Tony hatte viele Fassetten und trug nur äusserlich immer diese unerschütterliche Selbstliebe. Er konnte auch anders und nachdem Jamie diese andere Seite kennengelernt hatte, war es bald um ihn geschehen gewesen. Er hatte Tony so geliebt. Und jetzt? Jetzt waren sie beide nicht mehr wie früher. Alles nur wegen Tony. Aber eins musste Jamie wissen. Er musste. Sonst würde er niemals ruhig schlafen können.
„War das alles nur ein Spiel für dich? Hast du mir alles nur vorgemacht? Oder –“
„Alles war echt! Ich habe dich nie belogen und nie getäuscht!“, rief Tony so laut, so inbrünstig aus, dass Jamie mit dem Kopf zurück zuckte.
„Und warum bist du dann einfach abgehauen, wenn du mich wirklich geliebt hast?“
Nun hob Tony den Blick, seine Augen glänzten, sie schrien vor Schmerz.
„Du weisst warum“, hauchte Anthony resigniert und von einer seltsam trauernden Ruhe erfasst. „Wir wollten beide etwas völlig anderes. Du wolltest an die Cambridge und ich ans MIT. Tausende Kilometer voneinander entfernt. Und wir waren so mit uns beschäftigt, so süchtig nach einander, dass du sogar die Uni sausen lassen wolltest, um bei mir zu sein. Das konnte ich nicht zu lassen. Das durfte ich nicht zu lassen. Du solltest nicht deine Zukunft für mich wegwerfen!“
Als hätte Tony ihn geohrfeigt erhob er sich schockiert. Das sollte der Grund sein?! Zorn flammte in Jamie auf. Deswegen liess ihn Tony einfach ohne irgendetwas im Stich?!
„Ach und da verpisst du dich lieber, als mit mir zu reden?!“, knurrte er fuchsteufelswild. Er wusste nicht mit was er gerechnet hatte. Was Tony damals dazu getrieben hatte, aber das war verdammt noch mal nicht zu akzeptieren! Anthony erhob sich nun ebenfalls und streckte hilflos die Arme aus. „Ich wollte es uns doch nur leichter machen!“
Jamie schnaubte. „Leichter machen?! Ach ja? Dann lass dir eins gesagt sein Tony Leaks, du hast komplett versagt! Wer haut einfach ab? Von heut auf morgen?! Sowas macht niemand! Das ist einfach irrsinnig!“
Tony schritt um den Tisch herum, um Jamie gegenüberstehen zu können.
„Glaubst du, das weiss ich nicht?! Nachdem ich gegangen bin, war ich kurz davor zu sterben, ohne dich! Ich dachte so wäre es einfacher für uns, aber das Leben ohne dich, war verdammt noch mal, einfach unerträglich! Jeder Tag ohne dich! Jede Nacht, in der ich nicht neben dir liegen konnte!“
Beide waren ausser sich vor Wut. Sie steigerten sich immer weiter in ihre Rage hinein.
„Und warum zum Teufel, hast du dich dann nicht bei mir gemeldet, als es dir anscheinend ja so dreckig ging?! Nein, stattdessen änderst du deine Handynummer und sagst deinen Eltern, sie sollen mir nicht sagen wo du bist?! Sieh mich nicht so an, natürlich weiss ich, dass du es ihnen gesagt hast! Tony ich bin fast wahnsinnig geworden! Ich habe deine Eltern angefleht mir zu sagen wo du bist! Ich habe heulend vor ihrer Haustür gesessen und gebettelt! Und glaub mir, du kannst froh sein, hatte ich damals schon mein ganzes Geld für meinen Flug zur Uni und mein Leben dort, meiner Mutter gegeben, damit sie es für mich aufhob! Ich war nämlich so kurz davor zum MIT zu fliegen und dir in den Hintern zu treten!“
Jamie atmete schwer, ihm war heiss, während all die angestaute Wut langsam abfloss. „Du hättest einfach anrufen können. Ich hätte dir verziehen“, murmelte er zornig durcheinander.
„Nein hättest du nicht Jay“, seufzte Tony schmerzverzerrt und wandte den Kopf ab. „Wir wissen beide, dass wenn du eine Entscheidung getroffen hast, du sie nicht mehr änderst“
„Wag es nicht, mir jetzt die Schuld in die Schuhe zu schieben! Ich bin nicht schuld, dass du einfach abgehauen bist! Und wenn du mich ja ach so gut kennst, warum hast du dann eins nicht bedacht: Ich habe mich nicht entschieden dich zu lieben, das wusste ich einfach aus tiefstem Herzen. Aber ich habe mich sehr wohl dazu entschieden mit dir zusammen zu sein, und das war – wie du so schön sagst – endgültig!“
Tony sah ihn ungläubig an. „Du hättest mir vergeben?“ Seine Augen weiteten sich vor Schock, als sich die Erkenntnis in ihm breit machte, was er all die Jahre falsch gemacht hatte. Jamie sah den tiefen Schmerz darin und spürte ihn wie einen dumpfen Nebel um sein eigenes Herz.
„Ja“, flüsterte Jamie, obwohl er nicht vor gehabt hatte ehrlich zu sein. Es kam ihm vor wie ein Geständnis, doch die Qualen in Tonys Augen liessen nur die Wahrheit zu.
Ein unsichtbares Band begann zwischen ihnen zu vibrieren, verband sie, wie es schon damals der Fall gewesen war. Sie fühlten beide die Trauer über den Verlust ihrer Liebe. Jamies Hass klang ab und gab den Platz frei für dieses dumpfe Gefühl des Bedauerns.
Intuitiv legte Jamie Tony eine Hand an die Wange und liess behutsam seinen Daumen über die raue Haut des Playboys gleiten. Fast acht Jahre waren vergangen und doch wurde er von Anthony angezogen wie ein Bär vom Honig. Diese honigfarbenen Augen... Sie waren Jamie vertrauter als irgendetwas anderes in dieser Welt. So lange hatte er sie vermisst und gleichzeitig gehasst, doch jetzt war da wieder diese Verbindung zu Tony, die ihm die rosarote Brille aufsetzen wollte.
Verdammt! Er hatte diesen Menschen so sehr geliebt! An der Trennung, wäre er beinahe zerbrochen. Er konnte nicht einfach alles verzeihen. Nicht einmal Tony.
„Du hast alles kaputt gemacht“
„Ich weiss und ich hasse mich dafür“, murmelte Anthony und legte seine Hand auf die von Jamie, welche nach wie vor auf seinem Gesicht ruhte. Ihre Nähe wärmte sie in ihrer kalten Verzweiflung.
„Ich hätte sofort zu dir zurückkommen sollen, aber ich dachte du würdest mir niemals verzeihen. All die Jahre, war ich so kurz davor, dich zu finden, aber irgendwann wurde mir klar, dass ich kein Recht mehr hatte, in deinem Leben aufzutauchen“
Tony nahm Jamies Hand und drückte sie an seine Lippen.
„Ich konnte dich nie vergessen. Nie. Ich wollte immer bei dir sein. Als ich dann von dem Tod deiner Mutter hörte, sprang ich noch am selben Tag in den Flieger und kam hier her, doch du warst bereits wieder weg“
Ihre Augen konnten sich nicht voneinander lösen und so nickte Jamie hilflos. Tony hatte Recht. Vor zwei Jahren, als seine Mutter starb, ging er an die Beerdigung und verliess sofort danach Covent Hill. Er hatte es nicht ertragen können hier zu sein. Erst verliess ihn Tony und dann seine Mutter. Seine Heimat bedeutete für ihn nichts anderes als Verluste. Schmerzen. Qualen über die er nicht hinweg kam. Er blickte in Tonys Gesicht und sah den Verlust, den er darstellte. Damals wie heute. Jamie war vor sieben Jahren fast für immer zerbrochen. Er konnte es nicht wieder riskieren. Egal wie gut und richtig sich Tonys Nähe anfühlte. Resigniert schüttelte er den Kopf und löste seine Hand aus der von Anthony.
„Ich kann das nicht, Tony“
Mit seiner letzten Kraft wandte er sich ab und ging. Über sein Gesicht liefen warme Tränen.
Mit tauben Gefühlen setzte er einen Fuss vor den anderen. Links, rechts, links, rechts… Es war das Mantra in seinem Kopf, dass ihn weiter gehen liess, bis er vor einem grossen Marmorgrabstein zum Stehen kam. Entkräftet liess er sich vor dem liebevoll gepflegten Blumenbeetchen ins Gras sinken.
Hallo Mommy… Begrüsste er sie in Gedanken, wie er es immer tat, wenn er mit ihr redete.
Sieben Jahre und 8 Monate zuvor…
„Tony! Sieh mal!“, überrascht hielt Jamie einen Brief hoch mit der MIT Signatur.
„Ach, das ist bestimmt die Zusage, dass sie mich angenommen haben“
Diesen überaus selbstsicheren und gelassenen Tonfall kannte Jamie nur zu gut und doch konnte er ihn nicht täuschen. In Anthonys Augen glitzerte für den Bruchteil einer Sekunde seine Unsicherheit auf, bevor sie wieder hinter der arroganten Fassade verborgen wurde.
„Natürlich nehmen sie dich an“
„Täten sie es nicht, wären sie Idioten. Ich bin der schlauste Kopf denn sie sich nur wünschen können“, winkte Tony ab und nahm den Brief entgegen. Seine Hand zitterte leicht. Unauffällig linste er kurz zu Jamie, bevor er den Umschlag aufriss.
„Du wurdest bestimmt aufgenommen“, flüsterte Jamie ihm versichernd zu.
Tonys Augen wanderten über die Zeilen, ehe der den Brief sinken liess. Sein Gesicht wirkte neutral, bevor sich ein Lächeln auf seine Lippen legte.
„Ich hab doch gesagt, die nehmen mich“, grinste er lässig, wobei die Erleichterung seine Augen strahlen liess.
„Du hast es geschafft!“ Überschwänglich sprang Jamie auf ihn zu und riss ihn in die Arme.
„Ohne deine Hilfe hätte ich es nicht hinbekommen“, wisperte Tony an Jamies Ohr.
„Doch natürlich hättest du das“
„Stimmt auch wieder. Nachdem ich dich erobern konnte, ist alles andere doch ein Klacks“, grinste Anthony verschmitzt und ihn unterhalb des Ohrs und begann leicht daran zu knabbern.
„Mhhmm… Und schon ist der kleinlaute Tony wieder verschwunden“, stöhnte Jamie genüsslich, während er seine Hände über Tonys Rücken wandern liess.
„Du magst den lauten Tony doch sowieso viel viel lieber“ Ruckartig riss er Jamie an sich und hob ihn hoch. Ihre Körper pressten sich aneinander. Die Blutzufuhr wurde in ihre Lenden umgeleitet.
„Du bist so…mhh… versaut“
„Nicht… reden…“, brachte Tony zwischen ihren Küssen hervor und trug Jamie langsam Richtung Couch…
Gegenwart…
Zehn Tage waren seit dem Gespräch mit Tony vergangen. Eigentlich hätte Jamie längst wieder an der Uni sein sollen, schliesslich hatte er Kurse zu geben. Ein Leben, dass es zu führen galt, doch er konnte es nicht. Als Marys und seine Abreise anstand, konnte er das Flugzeug nicht betreten. Es fühlte sich falsch an, Covent Hill schon wieder zu verlassen. Mary hatte er gebeten allein zu gehen und Jamie hatte sich beurlauben lassen. Stattdessen ging er jetzt jeden Tag zu seiner Mutter ans Grab und erzählte ihr Geschichten. Sie hatte das früher immer geliebt und Jamie hatte das Gefühl sie würde ihm tatsächlich zuhören. Er fühlte sich nicht so allein und durcheinander, wenn er bei ihr am Grab war und auch jetzt war er auf dem Weg zu ihr, aber diesmal war er nicht der einzige bei ihr. Unvermittelt blieb Jamie stehen, als er den Mann sah, der bei ihrem Grab stand. Er hielt eine langstielige weisse Rose in der Hand und legte sie ihr gerade aufs Grab. Als er sich wieder erhob, trat Jamie neben ihn. Sie sahen beide schweigend aufs Grab, bevor Tony das Wort ergriff: „Deine Mutter, war ein wunderbarer Mensch“
„Ich weiss“, murmelte Jamie und wandte sich Tony zu. Dieser sah nach wie vor von der Trauer um seinen Fehler mitgenommen aus, doch die dunklen Furchen unter seinen Augen waren verblasst.
„Ich habe sie immer sehr gemocht, denn sie hat ihren Sohn zu einem wundervollen Menschen gemacht“, gestand Tony zaghaft lächelnd. Jamie atmete bedauernd aus, mittlerweile war sein Zorn völlig nichtig geworden, er hatte keinen Platz mehr in seinem Herzen. „Tony ich kann dir nicht einfach alles vergeben“
„Ich weiss. Doch ich bitte dich, gib mir eine Chance. Mir ist klar, dass ich nicht alles ungeschehen machen kann, aber bitte lass mich versuchen meinen Fehler wieder gut zu machen. Bitte Jamie. Ich liebe dich, ich kann dich nicht noch einmal verlieren. Das habe ich bereits einmal getan und danach habe ich dich erneut verloren, weil ich nicht gekämpft habe. Diesen Fehler werde ich nie wieder machen. Bitte“ Anthony ergriff sanft Jamies Hand. Dieser sah schweigend zu, er hatte diese sanften Berührungen so sehr vermisst. Aber konnte er, denn überhaupt einen Versuch wagen? Oder würde es nur neue Schmerzen bringen? Hilflos sah er zum Grabstein seiner Mutter, fragte sie im Stillen was er tun sollte. Und plötzlich strahlte die Sonne auf ihren Grabstein und erhellte Tonys weisse Rose, die er zuvor dahin gelegt hatte…
Mommy…? Jamies Herz wurde leicht und er fühlte sich so völlig geliebt und geborgen. Sein Blick wanderte zu Tony, der denselben zarten und friedvollen Gesichtsausdruck trug. Vielleicht spürte er es auch? Jamie wusste es nicht. sein Kopf konnte ihm nicht helfen, also tat er was sein Herz ihm sagte und drückte zaghaft Tonys Hand…
Beide begannen zu lächeln und gaben sich der lieblichen und friedlichen Stimmung hin. Sie wussten nicht was die Zukunft bringen würde, aber sie fühlten sich seit langer Zeit stark und lebendig. Alles fühlte sich richtig an.
The end.
Texte: Sämtliche Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2015
Alle Rechte vorbehalten