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Im Zeichen der Kastanien

 

Dein Atem geht ruhig und gleichmässig, doch das leicht Schwerfällige darin ist dennoch nicht zu überhören. Das hast du schon seit einiger Zeit. Für mich hört es sich an, als würde dein Herzschlag gegen deine Luftrühre trommeln, dich dazu antreibt, zu atmen. Ich sitze an deinem Bett, streiche über deine braunen Haare, die langsam von graumelierten Strähnen erfasst werden. Er würde dir gut stehen, das weiss ich und der Gedanke macht mich traurig. Ganz ergraut werde ich dich wohl nie sehen, denn so lange hast du nicht mehr...

Du stirbst.

Und ich kann nichts dagegen tun.

AIDS.

Das sind die gefürchteten vier Buchstaben, die dein Leben zu beherrschen drohten. Doch das hast du nicht zugelassen.

Schon als du noch klein warst und wir uns im Kinderheim kennenlernten. Du hattest es von deiner Mutter.

Tragischer Weise, das Einzige was sie dir je gegeben hat. Sie gab dich ab.

Anfangs hat es nicht gut um dich ausgesehen. Die Leiter des Kinderheims, haben alles versucht um dir zu helfen.

Ich habe dich wohl in einer deiner schlechtesten Zeiten deines Lebens kennengelernt. Ich bin in dein Zimmer gelaufen. Du hast schrecklich ausgesehen. Zuerst hatte ich Angst vor dir. Deine Haut war weiss, fast bläulich, deine Augen so leer und du so furchtbar schwach. Eine der Pflegerinnen, hat mich an der Hand genommen und gesagt, dass du sehr, sehr krank seist. In meiner Unwissenheit, riss ich mich von ihr los, ging zu deinem Bett und strahlte dich mit meiner Zahnlücke an.

„Ich bin Mica und ich bin jetzt dein Freund“, sagte ich bestimmt und hielt dir meinen geliebten Teddy hin. Du warst sogar zu schwach, um nach ihm zu greifen. Also legte ich dir Teddy hin und hopste aufs Bett.

„Wie heisst du?“

„Mael“, flüstertest du leise. Ich streckte dir die Hand hin.

„Hallo Mael, bald wird’s dir besser gehen“ Zitternd schütteltest du meine Hand.

Das war unser Anfang.

Jeden Tag kam ich zu dir, erzählte dir von den Dingen, die ich mit den anderen Kindern erlebt hatte. Und es schien zu helfen. Dir ging es immer besser. Wenn ich mir ein Tuch um die Schultern gebunden habe und mit gestrecktem Arm durchs Zimmer sauste, musstest du lachen.

Immer wenn ich heute daran denke, wird mir ganz warm. Es war so ein unschuldiges Kichern.

Irgendwann durftest du in ein normales Zimmer. Natürlich in meins. Wir waren unzertrennlich. Es wurde langsam Herbst und so blieben wir die meiste Zeit drinnen. Spielten Schiffe versenken. Du warst so furchtbar gut darin. Oft wurde ich sauer, wenn ich mal wieder tausendmal nacheinander verlor. Nach einigen Jahren hast du mir dann gestanden, dass sich die Positionen meiner Schiffe in meiner Brille spiegelten.

Mein kleiner Schummelkönig.

Als könntest du hören was ich denke, beginnst du im Schlaf zu lächeln. Deine Lippen sind spröde, also greife ich nach dem Lippenbalsam, auf dem Nachttisch und creme deine Lippen ein. Danach stelle ich ihn wieder zurück, wobei mein Blick auf das eingerahmte Foto von uns beiden fällt. Darauf sind wir noch Kinder. Ich trage darauf eine grosse Hornbrille und dir fehlt ein Eckzahn. Trotzdem strahlen wir um die Wette und strecken beide voller Stolz unsere gesammelten Kastanien in die Linse.

Das hast du immer geliebt…

In den Wald zu gehen. Den leisen Rufen der Vögel zu lauschen und das Knistern der, vom Herbst gelblich verfärbten Blätter, unter unseren Schuhen zu hören.

Wenn wir mutig sein wollten, nahmen wir eine Kastanie mit ihrer stacheligen Ummantelung und warfen sie uns gegenseitig zu. Wer sie zuerst fallen liess, oder sich pickte, hatte verloren.

Ich muss schmunzeln. Einmal hattest du eine mitgenommen und sie mir ins Bett gelegt, trotz des Wissens wie gerne ich mich auf mein Bett plumpsen liess! Ich war danach lange auf dich sauer…

Vielleicht zehn Minuten? Möglicherweise auch nur neun, oder gar nicht. Denn du hast so fest angefangen zu lachen, dass du Schluckauf bekamst.

„Strafe folgt auf dem Fusse!“, hatte ich dir gesagt und zu lachen begonnen.

Wir waren unzertrennlich. Sind es noch.

Wann immer wir es schafften, gingen wir in den Wald. Dort hatte ich auch meinen ersten Kuss erhalten. Von dir.

Du hast mich danach etwas verlegen angesehen und bist dann lachend davon gerannt.

Nie werde ich das vergessen.

Wann ich mich in dich verliebt habe, weiss ich nicht mehr. Manchmal denke ich, es ist schon passiert, als ich dich das erste Mal gesehen habe.

Immer wenn es dir schlecht ging, legte ich mich zu dir, im kindlichen Glauben, dich gesund machen zu können.

Noch immer wünsche ich es mir.

Doch auch all die Medikamente, die du nimmst sind nur lebensverlängernd und nicht zur Heilung.

„Die Krankheit bringt mir den Tod, doch sie hat mir auch dich gebracht. Mein Leben“, hauchst du plötzlich in die Stille und siehst mich mit deinen blauen Augen an. Ich nicke und küsse dich sanft.

„Komm her“

Sofort folge ich und lege mich zu dir. Einen Arm schlinge ich um deine Schultern, wie ich es schon seit wir klein waren, tue. Deinen Kopf bettest du an meiner Halsbeuge und greifst nach meinen Händen. Unsere Finger verflechten wir ineinander.

„Ich liebe dich“

„Ich liebe dich auch, mein Leben…“, murmelst du kaum mehr hörbar…

 

Ein halbes Jahr ist seit deinem Tod nun durchs Land gezogen…

Es ist Herbst.

Ich gehe durch den Wald, schliesse die Augen und atme tief ein. Ich kann dich spüren. Du bist da.

„Ich liebe dich“, ich übergebe dem Wind meine Worte und lasse sie von ihm zu dir tragen. Die Blätter an den Bäumen beginnen leise zu rascheln und zu tanzen. So friedlich und schön.

Eine Kastanie fällt hinunter, direkt vor meine Füsse, die grünen Stacheln stehen empor, wie die, welche du mir damals ins Bett gelegt hattest.

Sie erinnert mich an dich…

Ja, du bist hier…

Mael…

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.09.2014

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