Noch bevor die Klingel ihren schrillen Laut von sich gab, sass ich im Klassenzimmer. An meinem üblichen Tisch. Ganz hinten rechts.
Meine Bücher lagen sauber und ordentlich vor mir und mit zwei Fingern drehte ich ungeduldig den Kuli hin und her. Das erste Klingeln und die Schüler kamen gemächlich herein geschlurft. Draussen regnete es heftig und bald schon sollte ein Gewitter folgen, würde man meinem Smartphone Glauben schenken dürfen. Weshalb es mich auch nicht sonderlich verwunderte, dass Valentina mit ihrem Freund Caleb ins Zimmer kam und es anscheinend noch immer nicht geschafft hatte, ihren nassen Regenschirm zu schliessen.
Gott, wie ich die beiden hasste.
Sie schikanierten mich seit dem Kindergarten, nun gut nicht dass die anderen Schüler das nicht tun würden. Warum genau? Keine Ahnung.
Ich war schon immer ihr Opfer gewesen. Hatte dies und das falsch gemacht und war nicht wie die Anderen. Ich war nun fast achtzehn Jahre alt und vermutlich der einzige Schüler, der seine Hausaufgaben immer sorgfältig erledigt hatte. Bevor ich ins Gymnasium gekommen war, hatte ich das für einen annehmbaren Zustand gehalten. Nicht jeder wollte und konnte so fleissig sein. Ausserdem warum sollte man auch, wenn man doch so einen Trottel in der Klasse hatte, der das immer für einen erledigte. Doch auch hier hatte sich nichts geändert. Erstaunlich wie faul heutzutage sogar die ″Schlauen“ waren! Sehr zu meinem Leidwesen hatten auch Valentina und Caleb sich irgendwie durch die Aufnahmeprüfung geschmuggelt und waren, dann auch noch in meine Klasse eingeteilt worden. Das Leben hasste mich.
„Hey gib mir doch bitte mal deine Hausaufgaben“, sagte Caleb gespielt freundlich zu mir. Valentina stand neben ihrem Herzallerliebsten und kämpfte nach wie vor mit dem Schirm. Unfähige Kuh, geisterte es mir durch den Kopf.
„Hab sie nicht“, maulte ich – auch wenn das glatt gelogen war, und fand meine Tischplatte plötzlich ungemein interessant. Wow war ich mutig! Ich sah zwei Hände die sich auf dieser abstützten.
„Hey Babe hast du gehört! Der kleine Schwede hat seine Aufgaben nicht gemacht!“
Ich bin kein Schwede! Tja, das hatte ich wohl von meinem schwedischen Namen, der meiner Mutter so gut gefallen hat. Und dank meinen weissblonden Haaren, die mir gewohnt schrill vom Kopf abstanden, würde ich mir diese Schwedensache wohl bis in mein Grab anhören müssen.
„Wichser!“, wetterte sie und klappte ihren Schirm in meine Richtung so schnell zu, dass ich klitschnass wurde. Mit einem grimmigen Lachen und einem „Super Babe“, von Calebs Seite, setzten sich die zwei auf ihre Plätze.
Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tropfen vom Gesicht.
Dieses Miststück!
Mein Pult war nass und genauso meine Sachen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Wieso konnte ich mich nicht wehren?
Ach, das brachte doch alles auch nichts. Ich hasste die zwei wirklich, und ich beneidete sie irgendwie auch. Nicht wegen ihres miserablen Charakters, oder ihres Aussehens. Nein. Gut, sie sahen nicht schlecht aus, wenn man auf aufgepumpte Muskeln wie die von Caleb stand, inklusive des typischen Militärhaarschnitts, sprich super kurz. Und tonnenweise Schminke, wie die die sich in Valentinas Gesicht befand. Aber mir ging es um das was die beiden aneinander hatten. Sie liebten sich.
Naja momentan, das mit denen zwei war immer so eine Sache, mal zusammen, mal nicht, aber wenigstens hatten sie jemanden der zu ihnen passte. Ein Gegenstück.
Ich schien so was nicht zu haben. Ist sicher im kosmischen Müll untergegangen, dachte ich grimmig.
Draussen donnerte es mittlerweile. Toll! Noch dämlicher konnte dieser Tag gar nicht mehr werden!
Als alle Plätze von den Schülern eigenommen worden waren, na gut fast alle. Die ganz vorne waren nicht besetzt und natürlich war auch ein Platz neben mir leer, ehe die nächste Schülerin in der Reihe folgte. Mir war das ganz recht. Sie hiess Jaqueline, glaube ich zumindest. Sie war nicht besonders auffällig und liess mich zwar in Ruhe, aber da war sie die Einzige.
Der Lehrer kam herein. Dr. Lavie, der mich mit Französisch zur Verzweiflung bringen wollte. Diese Sprache war einfach nicht mein Ding. Zu kompliziert. Zu schnell. Aber zu meiner Überraschung setzte er sich nicht wie üblich und begrüsste uns auf Französisch, sondern auf Deutsch.
„Guten Morgen. Ich werde Ihnen nun Ihren neuen Mitstudenten vorstellen“, begann er.
Wie bitte? Mitstudent?
Ich hatte keine Ahnung, dass wir einen bekommen sollten, mitten im Semester und mitten in der Woche.
So kurz vor den Ferien?
Ich verabschiedete mich Zeit Weilens von meinen trüben Gedanken, in die ich mich gerade verkriechen wollte.
Dr. Lavie öffnete die Tür und-
„Wow“, murmelte ich und wollte mir schon die Hand vor den Latz knallen, als dieses ″Wow″ durch die ganze Klasse ging. Da stand ein Traum! Ein grosser, athletisch gebauter Junge mit schwarzen Wellen, die ihm in sein wunderbar kantig geschnittenes Gesicht fielen. Er trug schwarze Jeans, passende Sneakers und ein graues Shirt, was seine schön definierten Schultern und seine muskulösen, aber nicht aufdringlich wirkenden Oberarme zur Geltung brachte.
Mein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen. Mir wurde heiss.
„Das ist Manuel Keen“, stellte Lavie vor.
Manuel…
Dieser sah in unsere Klasse. Kein Lachen. Aber… wow! Diese Augen! Sie streiften mich kurz. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Sogar von hier hinten, konnte ich die Augenfarbe als ein starkes Grün definieren.
So tief und unergründlich. Ich hatte das Gefühl ihm ewig in die Augen zu sehen und so etwas wie Freundlichkeit zu erkennen.
Das verräterische Zucken seiner Mundwinkel liess mich aus meinem Traum fallen. Er lächelte.
Lächelte er etwa mich an? Ach quatsch Leif! Klar warum ausgerechnet dich? Wer würde dich schon anlächeln. ..
„Setzten Sie sich, auf einen der freien Plätze Mister Keen. Sie haben gleich die Ehre eine unserer Französischstunden zu geniessen“
Manuel nickte nur und sah sich noch einmal kurz um. Dann, zum grossen Überraschen aller, setzte er sich nicht in die leere Reihe sondern ging durch die Klasse. Alle Augen folgten ihm. Die der Mädchen hatten eindeutig Herzchen darin. Meine wollte ich lieber nicht sehen…
„Der ist heiss!“, hörte ich Valentina, als er an ihr vorbei ging.
„Hey Babe!“, tadelte Caleb, was mich zur Schadenfreude veranlasste. Tja, da musst du aufpassen, sonst ist die ganz schnell weg. Genau wie Manuel… Wo war er? Ach du heilige Schei- Er kam direkt auf mich zu! Ich- was…
Im letzten Moment bog er nach links und ging zum Tisch neben mir, um sich dort niederzulassen. Mir stand vermutlich der Mund offen, hoffentlich sabberte ich nicht auch noch.
Ich beobachtete ihn von der Seite.
Alle anderen Studenten taten das schliesslich auch, also was soll’s.
Meine Körpertemperatur war vermutlich gerade auf vierzig Grad gestiegen, und sein Profil anzustarren liess mein Blut weiter hochkochen. Die gerade Nase, dieses schöne Kinn, die Haare die so seidig weich aussahen und diese Lippen! Verdammt wie konnten Lippen so sinnlich geschwungen sein?
Er hatte sich geschmeidig auf den Stuhl sinken lassen und wollte gerade seine schwarze Umhängetasche auf den Tisch legen als er inne hielt. Valentinas Schirmattacke, rauschte es durch meinen Kopf. Mein Körper reagierte, ehe ich es durchdenken konnte. Aus meiner Tasche zog ich ein fein säuberlich gefaltetes Stofftaschentuch - ja ich habe Stofftaschentücher, sogar mit meinen Initialen bestickt - und reichte es ihm. Manuel sah auf das Taschentuch und dann hoch zu mir. Ein Kloss in der Grösse eines Fussballs, wuchs in meiner Kehle heran, den ich auch mit hartem Schlucken nicht loswerden konnte. Manuels grünen Augen musterten mich. Ich war gefangen. Hilflos. Ich wehrte mich nicht. Ich wollte es gar nicht. Wollte nur in diese Augen sehen und darin eines elend schönen Todes sterben.
Mein Herz wollte das offensichtlich nicht, denn es schlug verdammt heftig gegen mein Brustbein.
Manuel sah mich, in den Stunden, die nun sicherlich vergangen sein mussten, ebenfalls an und lächelte leicht. Schöne weisse Zähne, die im Kontrast zu seiner Sommerbräune standen, erschienen zwischen seinen sündhaften Lippen. Mir fiel sofort sein linker oberer Eckzahn auf an dem eine kleine Ecke zu fehlen schien. Dieser ″Makel″ machte ihn… Perfekter als er eh schon war. Für mich zumindest. Vielleicht war er der grösste Arsch auf dieser Welt, aber für mich war er in diesem Moment, das was an ″perfekt″ am nächsten kam.
„Danke“
Mein sonst so tadellos funktionierendes Hirn, registrierte die Worte nur am Rande, war ich doch immer noch damit beschäftigt, Manuel mit meinen Blicken anzuschreien. Er wischte die Tischplatte trocken und reichte mir dann mein Tuch wieder. Dass ich ihn nach wie vor anstarrte, schien er entweder nicht zu bemerken, was ich mir so gar nicht vorstellen konnte, oder es interessierte ihn schlicht weg nicht. Mit zitternder Hand, nahm ich es entgegen und streifte kurz seine feingliedrigen Finger. Seine Haut war warm… und so-
„Leif!“, hörte ich den harschen Ton von Lavie und zuckte zusammen. Mit gesenkten Schultern sah ich nach vorne. Die ganze Klasse sah mich abschätzig an während der Doktor mich ungeduldig anblickte. Er sagte etwas auf Französisch. Zu schnell und zu kompliziert für ein vernebeltes Hirn. Hilfe!
„Monsieur Lavie…“, denn Rest verstand ich nicht, starrte nur zu Manuel, der das Wort ergriffen hatte.
Seine Stimme war schön, stellte ich fest. Was er sagte, verstand ich nur bruchstückhaft. Wenn ich es richtig deutete, entschuldigte sich Manuel gerade und sagte das er mich abgelenkt hätte, oder so was… Sein Französisch war fliessend und mit schöner Melodie. Es war nicht so schnell wie das von Lavie und Manuel verschluckte auch nicht die Hälfte des Satzes, doch Lavie schien zufrieden und wandte sich nickend der Tafel zu.
Nun blickte ich zu Manuel und hatte das Gefühl, dass mir die Augäpfel gleich aus ihren Höhlen fielen. Noch nie hatte jemand für mich Partei ergriffen! Noch nie! Als ob mein Unglaube nicht schon gross genug gewesen wäre, streckte Manuel mir seine Hand hin. Ich zögerte, war immer noch unsicher, doch sein Lächeln und seine freundlichen Augen schafften es, dass sich meine Hand wie von allein in seine legte.
„Hey! Ich bin Manuel, aber das weisst du ja schon“, grinste er und fuhr sich mit seiner anderen Hand durch seinen Nacken. Kurz sah ich auf unsere Hände, nur um sicher zu gehen, dass mein Körper nicht schon davon geschmolzen war.
„Leif. Aber das weisst du ja schon“, wiederholte ich heiser.
Manu schüttelte kurz meine Hand und lachte kurz auf, ehe er mich mit einem letzten Blick bedachte und sich dann nach vorn wandte.
Okay eines stand fest. Ab jetzt würde ich in Französisch definitiv versagen. Die Stunde schlich dahin und mir war’s recht. So konnte ich, so unauffällig es ging, Manuel beobachten. Der lehnte locker im Stuhl und schien auch nicht bei Französisch zu sein. Als es klingelte wusste ich nicht ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Was Lavie uns auch immer beigebrachte, ich bekam es nicht mit, was meine Noten in den Keller treiben würde. Aber andererseits, was sollte man bei so einer grossen Verführung schon anderes machen, als hinzusehen und von Manuel zu imaginieren?
Als ich meine Sachen zusammenpackte hoffte ich inständig, dass meine Illusionen von Manuel nicht zerstört würden. Er musste ja nicht mein bester Freund werden, aber bitte, er sollte sich nicht als ein zweiter Caleb herausstellen, der auf mir herumhacken wollte.
Zügig, wie immer, verliess ich das Klassenzimmer, so entging ich Caleb, der wieder irgendwas von mir abschreiben wollte oder mir einfach nur eine reinwürgen würde. Eines seiner Lieblingshobbies.
Der Gedanke war bitter.
Auch im nächsten Zimmer, setzte ich mich nach ganz hinten rechts. Die Zimmer waren alle gleich geschnitten und die Sitzordnung identisch. Gut, Manuel konnte noch wechseln, da er neu war. Würde er sicher auch. Das er neben mir gesessen hatte, war nur ein Zufall gewesen. Glück, wenn man es von meiner Seite aus betrachtete.
„Rutsch rüber“, hörte ich Valentina, die gerade Caleb von seinem Platz aufscheuchte.
„Warum?“ Ja das hätte ich auch gerne gewusst, aber ich ahnte es ohnehin.
Wenn Caleb rutschen würde, wäre ein Platz neben seinem ″Babe″ frei… Wohl nicht lange…
Betrübt atmete ich aus und zog meine Sachen hervor, da es bereits geklingelt hatte.
Literatur. Kein Problem. Eigentlich. Wenn ich Manuel praktisch vor mir sitzen haben würde, dann wären meine Literaturnoten sicher bald dort, wo sich meine Französischnoten schon befanden.
„Manu kann schliesslich nicht ewig neben dem Blondi sitzen“, hörte ich ″Babe“.
Auch wenn ich solche Sprüche gewohnt war und sie meist mit einem Schulterzucken abtun konnte, ging das jetzt nicht. In mir wallte Wut auf. Wer hatte der Schnalle eigentlich erlaubt ihn ″Manu″ zu nennen?
Und wer hat dir erlaubt, dich in seinem Namen zu nerven?
Kopfschüttelnd bückte ich mich unter den Tisch, um einen heruntergefallenen Bleistift wieder aufzuheben.
„Sorry nochmal wegen vorhin ich-“
„Au! Verdammt!“, rief ich unterdrückt aus, als ich mir heftig den Kopf an der Tischplatte stiess. Mit einer Hand auf der pochenden Stelle, kam ich unter dem Pult hervor nur um geradewegs in ein grünes Tief zu sehen. Manuel… Sofort legte mein Körper wieder von vorne los, als ich ihn ansah. Herz, Hirn und alles andere spielten verrückt. Ich bekam feuchte Hände und meine Kopfschmerzen hörten auf einmal auf, wichtig zu sein.
„Scheisse sorry! Geht’s?“, fragte Manuel und ich hatte das Gefühl, ehrliche Sorge in seiner Stimme zu hören. Kurz rieb ich mir den Kopf und nickte dann. Abrupt hielt ich inne. Er sass neben mir… Manuel hatte sich erneut neben mich gesetzt!
Ungläubig sah ich zwischen Manuel und seinem von, Valentina vorgesehenen Platz, hin und her. Die tat es mir gleich, doch dann funkelte sie mich böse an. Ich wusste genau was sie dachte.
Wieso sitzt er neben dir! Verdammt gute Frage!
Nun sah ich wieder zu Manuel. Der kramte gerade in seiner Tasche, als wäre er nicht gerade Thema Nummer eins. Wieso tat er mir das bloss an? Dass er nett zu mir war, wäre prima gewesen, hätte er somit nicht meine leise keimende Hoffnung angefeuert. Fast wäre es mir lieber gewesen, wenn er ein Arsch gewesen wäre und meine Gefühle gleich von Beginn an erstickt hätte.
„Manu, du darfst dich gerne zu uns setzen“ Valentina dieses Miststück.
„Äh. Schon gut“
Mir fiel es unglaublich schwer, ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Ich begnügte mich mit einem unauffälligen Seitenblick.
„Aber da siehst du doch nicht gut an die Tafel und ich kann dir sicher helfen, falls du Fragen zu unserem momentanen Thema hast“, versuchte sie es erneut. Meine Nerven waren stramm gezogen. Konnte sie mir diese kleine Freude meines Lebens nicht einfach mal lassen?
„Danke, aber mir gefällt die Aussicht hier eigentlich ganz gut und Fragen bezüglich des Themas hab ich nicht“, wehrte Manuel ab und als sich Valentina geschlagen, nach vorne drehte, sah er mich grinsend an. Stockend atmete ich ein. Dieser Junge war hinreissend!
Ich war Zuhause. Endlich. Oder auch nicht. Je nach dem. Weg von Caleb, aber leider auch von Manuel. Verdammt! Dieser Typ beherrschte meine Gedankenwelt. Nichts sonst, schien mehr Platz zu haben.
Triefend nass wie ich war, ging ich in mein Zimmer und stellte mich vor den Spiegel. Meine wirren schmutzblonden Haare klebten an meinem Gesicht, genau wie meine Kleidung an meinem Körper. Ich war dünn, fast schmächtig und meine Haut war hell. Mein Blick fiel auf mein Gesicht. Schmale Wangen mit runden grossen Augen, und fahlen Lippen. Mit den Fingern hob ich meine Lippen an und sah auf meine Zähne. Wenigstens die konnten sich sehen lassen und das auch nur, dank früherer Zahnspange, die ich lange Jahre mein Eigen nennen konnte. Zum Glück nicht mehr.
Unwillkürlich tauchte Manuels Gesicht vor meinen Augen auf. Seine Augen, seine Lippen und dieses Lächeln. Wie konnte man so schön lächeln? Ich versuchte es. Keine Chance. Bei mir sah es aus, als wolle ich jemanden beissen.
Missmutig fuhr ich mir durch die Haare. Wieso zum Teufel lächelte Manu mich an? Mich! Ich war bald achtzehn Jahre alt und sah aus wie ein elfjähriger! Kein Chance dass jemand auf sowas stehen konnte, und schon gar nicht Manuel Keen!
Obwohl…
Auch in den übrigen Stunden, hatte ich ihn angesehen und er hatte meinen Blick nicht selten erwidert.
Was wenn? Nein Stopp! Ich durfte mich nicht in unsinnigen Illusionen verlieren.
Entschlossen riss ich mir meine Kleider vom Körper. Ja definitiv dünn. Musste ich leider mit einem letzten Blick feststellen. Der absolute Runterzieher war aber immer noch, die helle handflächengrosse Pigmentstörung, auf meinem linken Hüftknochen. Gott sei Dank, war der Fleck wenigstens nur zu sehen wenn ich nackt war, sonst versteckte ich ihn unter dem Bund der Unterhose.
Ich war eine kosmische Fehlproduktion, und mit diesem Gedanken ging ich duschen.
Am nächsten Tag schien schon am Morgen die Sonne, die Temperaturen waren wie für Anfangs Winter auch zu erwarten, eher frisch. Es würde trotzdem ein schöner Tag werden. Und so fühlte ich mich auch. Ich freute mich auf die Schule, keine Ahnung wann das das letzte Mal der Fall gewesen war, wenn es überhaupt schon mal vorgekommen war.
Es war noch früh und ich hätte noch nicht aus dem Haus müssen, aber meine Mum hatte Nachtdienst gehabt, und alleine rumhängen, das konnte ich definitiv auch in der Schule.
Kurzerhand schrieb ich meiner Mum, dass auf sie ein Frühstück warten würde. Warum ich es ihr schrieb? Nicht die leiseste Idee, aber ich hatte gute Laune und so schlenderte ich an den Reihenhäusern vorbei, sah kurz zu dem in das gerade neue Bewohner gezogen waren und ging dann weiter. Mein Handy summte kurz.
Danke Schatz
Das meine Mutter so fix zurück schrieb, war ich mir nicht gewohnt. Sie besass noch eines dieser alten Handys, auf dessen Taste jeweils mehrere Buchstaben waren und nicht jeder Buchstabe eine eigene Taste hatte. Ausserdem war sie ausserordentlich langsam im Tippen.
„Leif“
Kurz runzelte ich die Stirn. Hatte da jemand nach mir gerufen? Ach quatsch wer denn auch. Ohne zu stoppen ging ich weiter.
„Hey Leif, warte!“ Jetzt aber! Da war es wieder. Diesmal stoppte ich, sah mich um – und erstarrte.
Da! Da war Manuel!
Er lief grinsend auf mich zu!
Nee das konnte doch nicht sein!
Trotzdem wollte ich mich am liebsten umdrehen, um mich zu vergewissern, ob da nicht doch jemand anders gemeint war.
Halt. Er hatte meinen Namen gerufen, also meinte er wohl definitiv mich. Oder gab es hier jemanden mit dem gleichen Namen? Nein eigentlich müsste ich das doch-
„Hey! Hu du läufst ziemlich schnell weisst du das?“, sagte Manuel und stützte sich spielerisch auf seinen Knien ab, als wäre er völlig aus der Puste. Ich hingegen stand da, völlig erstarrt und sah auf ihn nieder. Man, verdammt er sah so gut aus! Seine Haare glänzten in der Sonne und wirkten wie flüssige Seide. Mich juckte es in den Fingern durch diese sanften Wellen zu streichen, die ihm in sein schönes Gesicht fielen.
Nun richtete er sich wieder auf. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere und mein Herzschlag war so stark, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte ihn auf der Zunge schmecken.
„Sag mal, woher kommst du denn so plötzlich?“, frage ich mit kratziger Stimme. Wann hatte ich denn Schleifpapier gegessen?
„Na von dahinten. Da gibt’s einen Baum, von dem kann man sich super kopfüber baumeln lassen und `ne Runde schlafen“, sagte er und zeigte hinter sich. Moment! Was?!
Er begann zu lachen.
„Leif! Guck mich nicht so an, das war doch bloss ein Scherz!“ Manu lachte weiter und etwas unsicher stimmte ich ein.
„Ich wohne dahinten“, japste er, als er sich langsam wieder beruhigt hatte.
„Was? Sag aber nicht, du wohnst jetzt in dem Reihenhaus neben der alten Jenke?“
Er sah mich kurz an und zuckte dann mit den Schultern.
„Kann sein, ich kenne die Nachbaren noch nicht, wir sind erst vor drei Tagen da eingezogen“
Da alle Häuser eine andere Farbe haben versuchte ich es erneut.
„Du wohnst in dem dunkelgrauen Haus neben dem Blauen?“
„Ja genau“, bestätigte er nun, bevor er weiter ging. Einen Moment war ich total überrumpelt. Erstens, liess er mich gerade stehen, weil ich anscheinend Wurzeln schlagen wollte und zweitens: Manuel wohnte nur einen Block von mir entfernt!
„Kommst du?“
Ungläubig schüttelte ich den Kopf und holte zu ihm auf.
„Und freust du dich schon auf Literatur?“
Klar Leif frag ihn so einen Mist!
Manu sah gerade aus, was mir erlaubte sein Profil abermals anzuschmachten. In der Morgensonne glänzte seine Unterlippe, die er gerade so verführerisch zwischen die Zähne nahm.
„Hm. Nicht wirklich. Ich bin in dem Fach nicht so gut“
„Tja da hilft dir Valentina sich gerne“, brummte ich, ehe ich es verhindern konnte. Manu sah mich von der Seite an. „Hilf mir auf die Sprünge. Wer ist Valentina nochmal?“
„Hm.. Die, die dich so gerne neben sich sitzen hätte“
„Ach so die. Weisst du Leif. Ich merke mir keine Namen, von Leuten die ich nicht mag“, mit einem strahlenden Grinsen sah er wieder nach vorn. Mein Herz hatte gerade einfach aufgehört zu schlagen. Eins stand fest, wer auch immer einmal das Glück hatte, mit diesem unglaublichen Typen zusammen zu sein, hatte kein langes Leben vor sich. Bei solch einem Lachen musste man ja einen Herzinfarkt bekommen! Ach wie gerne ich dazu bereit gewesen wäre, dieses Opfer auf mich zu nehmen, dachte ich betrübt und dackelte Manu mit hängendem Kopf hinterher.
Im Schulzimmer setzte sich Manuel wie völlig selbstverständlich neben mich, ehe er von der Lehrerin kurz nach vorne gebeten wurde. Ich kam mir vor, wie der letzte Trottel, als ich ihm nach sah und dann beschämt meine Tischplatte anstrahlte. Ich war verloren.
Auf dem ganzen Schulweg hatten wir gequatscht. Wir hatten viele gemeinsame Ansichten und verstanden uns super. Ich war durchgehend nervös und wurde bei jedem Blick von ihm rot, aber um nichts in dieser Welt hätte ich mir an diesem Morgen etwas anderes gewünscht.
„Mein Gott, warum gaffen die den Neuen denn alle so an!“, maulte Caleb zu einem seiner Kumpel. Genauso ein Dummkopf wie Caleb selbst, stellte ich fest, als ich den Blick hob. Beide sahen sich um. Viele der Mädchen hatten ihre Augen tatsächlich an Manuel kleben. Ich konnte es ihnen nicht verdenken, auch wenn ich ihnen am liebsten den Kopf abgerissen hätte.
Lasst ihn bloss in Ruhe! Ihr habt ihn nicht verdient!
Mein Blick lag auf Manuels Kehrseite. Ungebetene Stromschläge durchfuhren meinen Körper, als ich ihn so ansah und viel zu flüchtig seinen knackigen Hintern betrachtete.
„Na sieh mal einer an. Unsere Schwedin ist verknallt!“, höhnte Calebs Kumpel Tom. Beide drehten sich zu mir und ich wurde sauer. Verdammt, konnten sie mich nicht in Ruhe lassen? Dass ich bei Manuel keine Chance hatte, war doch schon mehr als genug Strafe.
„Haltet die Klappe!“, fuhr ich sie ungewöhnlich laut an. Das war wohl der Frust, der mich lebensmüde werden liess.
„Na, na wirst du etwa launisch? Bist wohl wirklich verliebt, was?“, die beiden lachten.
„Gibt es hier ein Problem?“, die Stimme war ernst und streng, fast hätte ich sie nicht erkannt. Caleb und Tom sahen zu Manuel, der sich gerade neben mich stellte. Ich sah nur seinen Rücken, doch seine Stimme verpasste mir eine Gänsehaut. Sie war tiefer, und ohne diese Leichtigkeit. Irgendwie bedrohlich… Und abgrundtief sexy…
Tom und Caleb starrten sich kurz an dann grinsten die beiden erneut.
„Nee, wir haben kein Problem, aber du wirst bald eins haben…“
„Ein ziemlich Schwedischen“, fügte Tom hinzu, ehe er sich setzte und die beiden zur Lehrerin sahen, die zu sprechen begann.
Mein Gesicht glühte vor Beschämung und ich hielt es stur nach vorn gerichtet. Nur am Rande, nahm ich war, wie Manuel sich setzte. Super, nun hatte er mitbekommen, was für ein Oberloser ich war. Hoffentlich wusste er nicht was Caleb gemeint hatte. Ja es stimmte. Ich war verliebt. Hoffnungslos.
Was auch immer unsere Lehrerin sagte, ich verstand es nicht. Ich sah ihr zwar zu und ihre Lippen bewegten sich definitiv, aber was da für Worte rauskamen? Keine Ahnung. Mir ging nur durch den Kopf, was Manuel jetzt wohl von mir dachte.
Tja ich würde es sicher bald merken. Falls er Calebs und Toms Anspielung verstanden hatte, würde er schneller weg sein, als ich gucken konnte.
Eine Berührung am Arm, riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf und erblickte ein kleines Zettelchen, neben meinem Handgelenk. Vorsichtig faltete ich es auseinander.
Sauer? Ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Sorry.
Stand da in fein säuberlicher Schrift. Verwirrt sah ich zu Manuel, der mich, wenn ich nicht völlig den Verstand verloren hatte, unsicher ansah. Ich wollte ihm schon antworten, da sah ich, dass die Lehrerin uns im Blick hatte, also wandte ich mich wieder ab, scheinbar dem Unterricht folgend und schrieb auf ein anderes Stück Papier: Keine Entschuldigung nötig. Alles gut. Sind sowieso nur Idioten.
So unauffällig wie möglich, schob ich es zu Manu, der nun auch wieder nach vorn blickte, als ich ihn am Unterarm streifte, nahm er den Zettel und ich bekam einen Stromschlag. Gott, wie sehr ich ihn berühren wollte!
Nur wenige Sekunden später tippte er mir an den Arm. Eine neue Botschaft.
Okay. Glaub ich gern! Hab ihre Namen schon vergessen :-)
Schmunzelnd sah ich zu ihm hinüber. Auch er grinste. Doch eine Frage drängte sich in mein Gehirn und liess sich nicht mehr aus meiner grauen Masse vertreiben: Warum merkst du dir meinen Namen?
„Leif! Haalloo! Erde an Leif, bitte kommen!“
„Was?“, rief ich erschreckt und riss mich aus meinen Gedanken. Manuel sass mir gegenüber und grinste.
„Wo warst du denn gerade? Die Stunde ist um. Komm, oder willst du hier etwa übernachten?“
Jetzt erhob er sich und legte sich seine Tasche um. Ich tat es ihm gleich und wir gingen zusammen aus dem Zimmer.
„Ah, doch keine Schulübernachtung?“, neckte mich Manu.
„Haha. Scherzkecks. Zum Übernachten gibt`s sicher bequemeres“, brummte ich. Manus Nähe war einfach zu viel und zu wenig zugleich. Am liebsten hätte ich geschrien, weil ich ihm niemals so nah sein konnte, wie ich es wollte, aber andererseits war das was wir hatten, eine beginnende Freundschaft, schon viel mehr, als ich sonst zustande brachte.
„Oh ja da wüsste ich auch etwas“, flüsterte Manuel so leise dass ich es beinahe nicht hören konnte.
„Wie bitte?“, fragte ich verwirrt, als wir durch die Schule wanderten.
„Ach nichts. Gehen wir“, grinste er irgendwie seltsam. Schulterzuckend folgte ich ihm.
„Endlich Wochenende“, stöhnte Manuel, als wir in unsere Strasse abbogen und streckte sich ausgiebig.
„Manu du bist doch erst seit zwei Tagen an der Schule“
„Ja, danke, das weiss ich auch. Ich bin trotzdem müde. Der ganze Umzugsstress und so weisst du“
Zögernd nickte ich. Ihn jetzt zwei Tage nicht zu sehen, war für mich auch eine Unendlichkeit. In Gedanken verpasste ich mir gerade einen kräftigen Tritt. Ich kannte ihn gerade mal achtundvierzig Stunden und war hoffnungslos verloren.
„Und zu dir oder zu mir?“, schmunzelte er und mir stieg die Hitze ins Gesicht. Für einen Moment hatte ich geglaubt etwas Anzügliches in seinen wundervollen grünen Augen funkeln zu sehen.
„Was?“
„Na du hast doch heute Morgen noch von diesem Videospiel geschwärmt! Spielen wir bei dir, oder bei mir?“ Ich blinzelte überrascht und überfordert. Meine Wangen brannten. Was hatte ich gedacht?
Da wird nie etwas in dieser Richtung, zwischen Manu und mir sein.
„Bei mir stehen noch überall Kartons rum, also gehen wir doch zu dir?“
„Äh ja klar“, stimmte ich unsicher zu.
„Ich dachte, du wärst müde?“
Manuel strahlte mich an. „Schulmüde. Sonst bin ich in Höchstform!“ Wie aufs Stichwort, musste er gähnen was mich lachen liess. Manu sah mich mit unergründlichem Blick an, was mich nervös werden liess.
„Was ist?“
„Dein Lachen gefällt mir“, stellte Manuel fest, ehe er zu lächeln begann.
„Also dann mal los!“, sagte dieser, als wäre nichts gewesen.
Manuel ging voran und ich erlaubte mir wieder zu atmen. Definitiv Herzinfarkt.
„So, das wäre mein Zimmer“, verkündete ich zittrig, als wir wenige Minuten später, eben dieses betraten. Es war nichts Spezielles. Gegenüber der Tür war ein Fenster, dessen Brett vollgestellt mit Büchern war. An der Seite der Tür standen mein Pult, ebenfalls voll mit Büchern, und mein Schrank. Mein Doppelbett nahm die andere Wand ein und gegenüber hing ein Fernseher.
Gott sei Dank, hatte ich mich gestern noch zum Aufräumen zwingen können. Lediglich die Bettdecke lag zerwühlt auf den Laken.
Meine Hände waren schweissnass.
Manuel ist bei mir zu Hause! In meinem Zimmer! Okay ich korrigiere: Er sitzt auf meinem Bett!
Gemächlich liess er seinen Blick durch mein Reich schweifen, während er seelenruhig da sass. Ich hingegen hatte Herzflattern.
„Willst du was zu trinken, bevor wir zocken?“, fragte ich mit rauer Stimme.
„Gerne“
Schnell verschwand ich auf wackeligen Beinen und kam kurze Zeit später vollbeladen mit Cola, Wasser und Apfelsaft wieder. „Ich wusste nicht was du-“
Abrupt hielt ich inne und starrte auf Manu. Der hatte sich nach hinten fallen lassen und lag nun auf meinem Bett, den Kopf auf meiner Decke, die Beine hingen am Bettrand herunter. Manuel hatte die Augen geschlossen.
„Manuel?“, flüsterte ich, während die Getränke auf dem Tisch neben meinem Bett abstellte.
„Schläfst du etwa?“
Vorsichtig ging ich zu ihm, und musterte Manuel wie er da in meinem Bett lag. Seine Brust und sein flacher Bauch hoben und senkten sich gleichmässig. Seine Gesichtszüge waren entspannt und auf seinen Lippen lag ein sanftes Lächeln. Mir wurde erneut warm ums Herz. Es fühlte sich an wie ein flauschiger Ball aus warmer Zuckerwatte, die sich in mir ausbreitete.
Einzelne schwarze Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und ich musste mir beinahe die Finger abhacken, dass ich sie ihm nicht aus dem attraktiven Gesicht strich. Dennoch ging ich mit dem Gesicht näher, betrachtete seine Lippen, die sich mir so aufreizend entgegen wölbten. Nun war mein Gesicht nur Zentimeter von dem Seinem entfernt und mir stieg ein herrlicher Duft in die Nase und vernebelte mir mein eh schon verwirrtes Gehirn. Es war ein so warmer männlicher Geruch, vermischt mit einem frischen Aftershave. Wie schön wäre es in seinen Armen zu liegen und diesen Geruch zu riechen. Von ihm eingehüllt zu werden und dann in einen sanften Schlaf zu gleiten...
Halt! Stopp! Ich durfte mich nicht gehen lassen! Abrupt machte ich einen Schritt nach hinten, weg von der Versuchung.
Ein lauter Knall durchriss die Stille. Ich hatte durch meine Bewegung eine der Flaschen zu Boden geworfen. Mist!
„Was zum-!“, schreckte Manuel aus seinem Schlaf hoch und sah sich suchend um. Als er mich erblickte, konnte ich sehen, wie ihm langsam ein Licht aufging.
„Scheisse, bin ich etwa“
„Eingeschlafen“, beendete ich den Satz für ihn.
„Ja so viel zum Thema Höchstform“, dieses Mal war es an mir ihn anzulächeln. Manuel erwiderte es ehrlich, was mich mal wieder völlig unvorbereitet traf. Erneut liess er sich nach hinten fallen und landete weich in den Laken.
„Es war einfach so verlockend. Dein Bett hat mich förmlich angeschrien meine Augen zu schliessen“
Dann wurde es ruhig. War er etwa schon wieder eingeschlafen? Ich ging zu ihm, beugte mich über ihn und berührte seine Schulter.
„Hey, nicht wieder einschlafen!“
„Mach ich nicht“, raunte Manuel plötzlich nah. Seine Stimme war etwas tiefer, dunkler geworden und jagte mir einen Schauer durch den Körper. Seine Augen sahen in meine. Die Intensität seines Blickes, liess mich erstarren. Seine Augen wirkten noch kräftiger und grüner als sonst. Langsam richtete er sich auf, kam meinem Gesicht immer näher und näher. Keine zehn Zentimeter trennten uns mehr voneinander. Mein Herz trommelte gegen meine Rippen und spielte ein mir unbekanntes Stück. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Abermals roch ich Manuels warmen Duft. Herr, wie konnte man nur so verboten gut duften? So etwas hatte ich noch nie zuvor eingeatmet.
Ich war Manu so nah. Zehn Zentimeter. Vielleicht auch nur neun. Wie schnell könnte diese Distanz überbrückt werden… Nach wie vor, sah ich in dieses wundervolle Grün, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, oder mich zu rühren. Sprechen war sowieso unmöglich geworden. Meine Kehle war zu. Jede Faser meines Körpers drängte nach vorn. Mehr! Näher! Angst!
Die Erkenntnis traf mich völlig unerwartet. Ich hatte Angst! Vor was genau, wusste ich nicht. Trotzdem schaffte ich es, mich zu bewegen und aus der unmittelbaren Nähe von Manuel zu gelangen. Ich floh! Er musterte mich still. Was war das in seinem Blick? Mitleid?
Und wieder einmal überraschte er mich, als er die Decke ans Kopfende schob, nachrutschte und mich dann ansah. Fast scheu, hatte ich das Gefühl. Mit der Hand klopfte er neben sich.
„Kommst du, oder willst du im Stehen zocken?“
Wo von redete er? Zocken? Ich war viel zu sehr mit meinen Gefühlen überfordert, als dass ich wirklich begreifen konnte. Doch das musste ich auch gar nicht. Mein Körper handelte von allein, wie so oft wenn Manuel um mich war. Ich hatte dafür keine Erklärung, brauchte ich auch nicht, denn ich konnte mich meinem Schicksal sowieso nicht entwinden.
Ungeschickt krabbelte ich neben Manuel aufs Bett, wobei sich unsere Körper berührten. Dieses kurze Streifen ging mir durch Mark und Bein und überall, wo Manuel und ich uns berührt hatten, flammte meine Haut auf, gewann an Sensibilität und gierte nach mehr. Genauso wie meine verzweifelte Seele.
Die konnte lange warten!
Tatsächlich zockten Manuel und ich über drei Stunden, ehe er nach Hause ging, und mich mit meinem Gefühlswirrwarr allein zurück liess. Ich hatte die ganze Zeit viel Aufmerksamkeit und Anstrengung aufbringen müssen, um Manuels Nähe irgendwie ausblenden zu können. Das Spiel beherrschte ich sonst wie kaum einer, kannte die Fallen, die Abkürzungen und die versteckten Hilfen, dieses Mal jedoch hatte Manu mir in den Hintern getreten. Dass er das Spiel nicht kannte konnte er mir lange beteuern. So gut wie er war, konnte man nicht sein, wenn man das Spiel nicht schon gezockt hatte!
Tief seufzend, liess ich mich aufs Bett plumpsen, die Hände unter dem Kopf verschränkt, starrte ich an die Decke. Oder vielleicht war Manu eben einfach gut. Gut im Spielen, in Französisch, im Witze reissen, in der neuen olympischen Disziplin, die beinhaltete mir den Kopf zu verdrehen…
Wieso ausgerechnet Manuel Keen?! Wieso konnte ich mein Herz nicht an jemanden verlieren, der mehr in meiner Liga spielte…? Kreisklassespieler und nicht absoluter Überheld! Nicht so gutaussehend, witzig, freundlich und intelligent wie Manuel.
Aber vielleicht war ich auch gar nicht in ihn verliebt… Vielleicht drehte mein Verstand nur so durch, weil mal jemand zu mir nett war? Woher sollte ich denn schon den Unterschied zwischen Liebe und Dankbarkeit kennen? Mein Herz verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte abfällig den Kopf. Lügner, sagte es mir.
Ich schloss meine Augen und sofort erschien Manuel vor mir.
Mit einem verruchten Lächeln auf den Lippen und glänzenden Augen. Seine Zunge befeuchtet seine Unterlippe, gleitet wie in Zeitlupe darüber. Seine Brust die sich langsam hebt und senkt und die Muskeln, die so kraftvoll unter seiner gebräunten Haut zucken.
Ich erinnerte mich an seine Rückansicht. Seine langen Beine und der wohlgeformte Hintern, der sich in seiner Hose befand. Wie würde er wohl ohne aussehen? Ohne Hose und Shirt und-!
Sämtliches Blut schoss in tiefere Regionen und die Stromschläge liessen mich aufseufzen. Missmutig stimmte ich meinem Herzen zu und schob ein Kissen auf meiner Erektion. Nein, das hatte nichts mit Dankbarkeit zutun! Auch war es nicht pure Attraktivität, welche Manu nun wirklich mehr als genug besass. Ja sein Körper war der absolute Oberhammer, aber mich zog seine Art mindestens genauso an. Sein Wesen. Die Freundlichkeit und Charakterstärke…
Leif Lancaster! Jetzt reicht es nun wirklich! Ich kann nicht ewig damit verbringen, meinem Nachbarn nach zu sabbern.
Mehr oder weniger entschlossen stand ich auf, zog mich aus und ging duschen. Eiskalt!
Nach einigen erfolglosen Versuchen, Manuel aus meinem Kopf zu verbannen, gab ich auf und liess mich bäuchlings aufs Bett fallen. Die Dunkelheit hüllte mich ein, meine Augen machten Feierabend, was meine anderen Sinne auf den Plan rief. Da war er wieder, dieser warme Geruch… Manuel…
Ich vergrub die Nase im Kopfkissen und atmete tief ein, inhalierte diesen unvergleichlichen Duft und wünschte mir nichts mehr, als davon high zu werden um so in den Himmel zu steigen, wo Träume nicht länger unmöglich waren…
Lustlos stocherte ich in meinem Frühstück rum, suchte zwischen Früchten und Müsli, ein paar Antworten. Geschlafen hatte ich miserable, nein, das stimmte nicht. Geschlafen, oder bessergesagt, geträumt hatte ich fantastisch, nur das Aufwachen, war eine Vollkatastrophe gewesen. Allein und mit dem Bewusstsein, dass alles irreal gewesen war. Reine Imagination.
Daran war nur Manuel schuld! Warum musste er sich auch auf mein Bett legen? Mit seinem Geruch in der Nase schlief ich ein, da war Träumen von ihm ja vorprogrammiert!
Frustriert schob ich meinen Teller von mir und erhob mich.
Frische Luft wird helfen, sagte ich mir selbst, also schnappte ich mir meine Jacke, schlüpfte in meine Schuhe und verschwand durch die Tür.
Draussen wehte ein bissiger Wind. Ich kuschelte mich fester in meine Jacke und ging los, obgleich die dunklen schweren Wolken am Himmel mich ahnen liessen, dass mein Spaziergang vermutlich nicht trocken enden würde. Irgendwie trugen mich meine Füsse durch die Gegend, wohin genau konnte ich nicht sagen, denn das einzige was ich sah, war der Boden. Ich fühlte mich klein und allein. Die Schultern hängend und den Kopf gesenkt, schlenderte ich eine ganze Weile durch das Nichts, ehe die ersten Regentropfen auf mich niederrieselten.
Ohne den erhofften klaren Kopf schlug ich den Heimweg ein, unwillkürlich verlangsamten sich meine Schritte, als zu meiner Linken Manuels Haus auftauchte. In einigen Fenstern brannte Licht und ich erwischte mich selbst dabei, diese abzusuchen, ob ich wohl einen Blick auf Manuel erhaschen könnte.
Verdammt Leif! Du bist doch kein Stalker!
Wütend auf mich selbst, entfernte ich mich, auch wenn meine Füsse scheinbar am Boden klebten. Jeder Schritt fühlte sich irgendwie falsch an.
Trotzdem schaffte ich es nach Hause, gerade bevor es richtig zu schütten begann.
Meine Mum war bereits wieder bei der Arbeit und somit hatte ich das Haus für mich allein. Dass sie als Ärztin oft nicht zu Hause war, damit hatte ich schon seit ich klein war umzugehen gelernt. Aus Langeweile, ging ich in die Küche um dort die Überreste des Frühstücks zu beseitigen. Ausserdem, hasste es meine Mutter, wenn das Haus nicht ordentlich war, wenn sie von der Arbeit kam. Auf einen Streit, welchen ich sowieso kläglich verlieren würde, hatte ich keine Lust, also fügte ich mich meinem Schicksal. Leider gab mir das auch die Möglichkeit nachzudenken. Obgleich das eher Folter glich.
„Dein Lachen gefällt mir… Die Aussicht hier gefällt mir eigentlich ganz gut… Mach ich nicht…“
Unwillkürlich wurde ich rot, als mir Manuels Worte erneut durch den Kopf wanderten und sich festsetzten. Ich schloss meine Augen, sah Manuels Gesicht, dass mir immer näher kam. Es hatte mich angezogen wie das Licht die Mücken. Und mir würde das Selbe blühen wie den Insekten, ich würde direkt ins Licht fliegen und dort verbrennen. Manuel würde sich von mir zurückziehen und ich hätte unsere zarte Freundschaft zerstört.
Das konnte ich nicht riskieren! Dafür war er mir bereits viel zu wichtig.
Und diese Erkenntnis machte mir mindestens genauso viel Angst, wie die Chance zu Verbrennen.
Dieselbe Angst, die mich gestern gelähmt hatte, als ich Manuel so nah gewesen war. Ihn am liebsten geküsst hätte, all meine Gefühle hatte herausbrechen lassen wollen. Ich hatte spüren wollen, wie sich diese sündigen Lippen auf meine legen, meine Haut kribbeln lassen und die Horde Schmetterlinge in meinem Bauch Salsa tanzen lassen. Ich wollte wissen wie sich seine Haare zwischen meinen Fingern anfühlen und-
Ding Dong!
Ich stutzte als das Klingeln an der Tür mich aus meinen Schwärmereien riss. Schulterzuckend ging ich zur Tür. Vermutlich hatte meine Mum der Versuchung des Onlineshoppings nicht wiederstehen können. Mal wieder.
Als ich die Tür öffnete klappte mir der Mund auf, und doch bekam ich keine Luft. Ich vergass einfach zu atmen. Meine schockgeweiteten Augen, wanderten über den triefend nassen Körper, die schwarzen Haare, die feucht im Gesicht klebten und beinahe die schönsten Augen dieser Welt verdeckten. Einzelne Tropfen fielen aus den Haarsträhnen auf die gebräunte Haut und verschwanden dann am Kragen des Shirts. Mir wurde heiss und mein Herz rannte los.
„Manuel“, stellte ich dümmlich fest und lehnte mich scheinbar lässig an den Türrahmen, obgleich ich meinen Beinen schlicht weg nicht mehr traute. Vielleicht würde ich auch einfach vergehen unter diesem strahlenden Lächeln, dass mir mein Gegenüber gerade zuwarf.
„Hey Leif! Störe ich?“
„Ähm… Nein“ Ein Grinsen erhielt ich für diese wahrhaft brillante Antwort.
„Was machst du denn hier?“
„Könnte ich vielleicht zuerst rein kommen? Es ist ziemlich nass hier draussen“ Gab Manu zu bedenken, was mich dazu veranlasste meinen Blick über ihn gleiten zu lassen. Er sah wirklich aus, als wäre er gerade in den See gefallen. Ich öffnete die Tür ganz und trat zur Seite. Als er eingetreten war, schloss ich eiligst die Tür und wandte mich dann meinem überraschenden Besuch zu. Dieser strich sich gerade die Strähnen aus dem Gesicht und entfernte mit dem Handrücken die Tropfen, welche ihm gerade über Stirn, Wangen und Lippen gleiten wollten. Wie gerne hätte ich seine Hand weggeschlagen und es selbst getan…
„Ich hatte das Gefühl, du warst gestern etwas abgelenkt“
„Ach ja findest du?“, fragte ich unsicher.
„Ja finde ich! Schliesslich hast du dich gestern im Spiel zweimal selbst umgebracht“, stellte er kopfschüttelnd fest, wobei erneut ein paar Tropfen umher flogen. Ich blieb stumm. Er hatte mir ja schliesslich keine Frage gestellt und ausserdem glaubte ich nicht, zu einer halbwegs vernünftigen Antwort fähig zu sein. Wieder einmal steckte mir etwas in der Kehle, was verdammt nach Nervosität gepaart mit Erregtheit schmeckte.
„Darum gebe ich dir noch eine Chance es zu versuchen“, hörte ich nur mit einem Ohr. Ungebetene Erinnerungen schoben sich vor meine Augen, wie Manuels und mein Gesicht sich immer näher kamen und ich so kurz davor war, ihn zu küssen. Gut, physisch gesehen zumindest. Mein Verstand hatte sich zu dieser Zeit schreiend die Augen zu gehalten. Was nur dachte ich mir dabei? Ich!
„Leif?“
„Hä? Was?“ Ich blinzelte mehrmals und musterte Manuel verwirrt, der mit einer Hand vor meinem Gesicht rumwedelte.
„Wo warst du denn gerade?“, fragte er lächelnd.
Ich? Ich war dabei, mich zu fragen, wie es wäre dich zu küssen…
„Ich hab mir überlegt, was mich gestern so abgelenkt haben könnte“, schob ich vor. Die Wahrheit hätte keinem von uns beiden geholfen…
„Naja, ist ja auch egal, wie gesagt, bin ich bereit, dir eine Revanche anzubieten. Bist du dabei?“
„Klar“ Kaum hatte ich das gesagt, war Manuel wie völlig selbstverständlich die Treppe hoch gejoggt, welche zu meinem Zimmer führte.
Los! Beweg deinen Hintern!
Eilig folgte ich ihm.
Als ich ins Zimmer eintrat, stand er mit dem Rücken zu mir, am Fenster und fuhr mit den Fingerspitzen über die Buchrücken meiner Bücher auf dem Fensterbrett.
„Du hast einen guten Geschmack“, gab er nachdenklich von sich und studierte weiter meine Sammlung. Ich versuchte krampfhaft, ihm nicht auf seine aufreizende Kehrseite zu starren, was mir nur halb gelang.
„Naja, danke. Was liest du denn so?“
„So ziemlich dasselbe wie du. Sag mal warst du da überall schon?“ Er meinte damit meine Sammlung von Reiseführern.
„Nein, leider nicht. Aber ich möchte viel von der Welt sehen, hier ist es schön aber das gilt auch für andere Plätze dieser Erde“
„Geht mir genauso. Manchmal denke ich, ich ersticke, wenn ich immer am selben Ort lebe. Ägypten, dann willst du bestimmt das Tal der Könige sehen, nicht wahr?“, fügte er nahtlos aneinander, so dass meine hormonvernebeltes Gehirn, kurz ins Stocken geriet. Seine erste Aussage hatte mich überrascht, ging es mir doch nicht selten genauso.
„Ja, ich hab viel darüber gelesen und Fotos gesehen. Die Zeit der Pharaonen war wirklich eindrücklich“
„Dann können wir da ja mal zusammen hin“ Nun drehte er sich um und sah mich unverwandt an. Grün sah Blau. Verdammt, wusste Manuel denn nicht, was er mit solchen Aussagen bei mir anrichtete?
Mehr als ein knappes Nicken brachte ich nicht zustande, doch das schien ihn nicht zu stören. Die Aussicht, mit ihm zu verreisen, Abenteuer zu erleben, nur wir zwei, durchschlug mich wie ein Blitzschlag, gefolgt von einem warmen Zittern.
Hastig setzte ich mich aufs Bett, wie Manuels es gestern getan hatte und schob mir ein Kissen in den Schoss. Sicher war sicher…
Manuel folgte mir und setzte sich nun im Schneidersitz neben mich, wobei sein Knie meinen Oberschenkel berührte, welcher sofort zu kribbeln begann.
Sogar durch den Stoff meiner Jeans, spürte ich die Kälte, die von Manuel ausging. Als ich ihn musterte fiel mir auf, dass seine Haut um die Nase herum, etwas gerötet schien. An seinen Armen bildete sich Gänsehaut und wenn ich mich nicht täuschte, zitterte er sogar.
Wortlos erhob ich mich, ging zu meinem Schrank und holte eine Jacke raus, Manuels Blick folgte mir fragend. Auffordernd streckte ich ihm das Kleidungsstück hin, was ihn wohl überraschte, zumindest wenn ich seinen Blick richtig deutete. Innerlich grinsend, machte ich einen Stich auf meine Seite der Tafel. Endlich hatte ich Manuel mal unvorbereitet getroffen und nicht, wie sonst er mich.
„Danke“ Eilig schlüpfte er hinein, während ich mich wieder aufs Bett setzte. Ich war bemüht auf den Bildschirm, den ich gerade zum Leben erweckt hatte, zu sehen, doch ich spürte Manuels Blick auf mir, so dass ich nicht anders konnte, als ihn ebenfalls zu betrachten. Sofort begann ich wieder in seinen Augen zu ertrinken, merkte mir jede Kleinigkeit, so auch die kleinen, fast nicht zu erkennenden, silbernen Sprenkel in seiner Iris. Sie gaben seiner Augenfarbe eine zusätzliche Komponente und wirkten so, als würden seine Augen noch mehr leuchten.
Dann wanderte mein Blick zu seinen Lippen, die sich nun etwas öffneten. Sie wirkten so verdammt verlockend!
Mir stieg die Hitze ins Gesicht und in andere Regionen, leicht räuspernd löste ich mich von meiner persönlichen Folter/Versuchung.
„So na dann. Bist du bereit?“
„Du glaubst gar nicht, wie sehr“
„Leif Stopp! Du bringst mich noch um!“, rief Manuel, für dessen Avatar es nicht gut aussah.
Wer sorgt denn hier ständig für Herzanfälle!
Frustriert stoppte ich meinen Angriff. Am liebsten hätte ich es laut heraus geschrien! Mein Herz war während des Zockens scheinbar immer mehr nach rechts gewandert, schlug nun direkt unter meiner Haut und wartete darauf, dass es in Manuel hinein schlüpfen konnte.
Auf dem Bildschirm, wurde Manuel gerade angegriffen und getötet, ohne dass er sich auch nur bewegt hätte. Nichts passierte. Verwirrt sah ich zu Manuel - und erstarrte!
Sein durchdringender Blick bohrte sich in mich hinein. Mein Puls beschleunigte.
„Herzanfälle?“, raunte Manuel dunkel. Mir fielen die Augäpfel raus, mein Mund klappte auf und mein Herz rutschte mir in die Kniekehlen.
Heilige Scheisse ich hatte laut gesprochen!
Wurde es mir nun schlagartig bewusst. Ich hatte das Gefühl vor Scham zu sterben und wünschte mir dass genau das passierte!
Jetzt bitte!
Manuel starrte mich nach wie vor an und hob fragend die Brauen.
Einmal Tod durch Scham bitte!
„Ich, also, nichts…“, stotterte ich verzweifelt. Manuel legte den Controller weg und wandte sich nun ganz zu mir.
„Das glaube ich aber nicht“
Was?!! Warum nicht?! Manuel bitte lass es auf sich ruhen! Flehte ich innerlich verzweifelt und biss mir auf die Lippen, nicht auszudenken wenn ich meine Gedanken erneut laut äussern würde.
„Kriegst du etwa Herzanfälle wegen mir?“, seine Mundwinkel wanderten nach oben. Toll jetzt machte er sich über mich lustig. Falls es überhaupt möglich war, wurden meine Wangen noch röter und meine Kehle noch trockner. Mir brach der kalte Schweiss aus.
„Was? Naja wenn du deinen Avatar weiter in meine Schussbahn schiebst, schon!“, versuchte ich zu retten.
Manuels Augen glitzerten, er kam mir vor wie ein Bluthund der seine Beute umkreiste, er trieb mich in die Enge.
„Wegen meines Avatars…“, gab er wenig überzeugt zurück, das konnte ich sehen. Ich hatte das Gefühl in seiner Nähe nicht mehr atmen zu können und krabbelte eilig aus dem Bett. Weg hier!
„Leif warte!“ Blitzschnell umschlossen Manuels Finger mein Handgelenk, ehe ich mich ganz erheben konnte. Schockiert sah ich zuerst auf unsere Hände und dann zu Manuel. Er beobachtete mich, liess seinen Blick wandern, als ob er nach einer Antwort suchte, deren Frage ich nicht kannte.
„Magst du mich?“, seine Frage war klar formuliert und liess keine Chance sie falsch zu verstehen. Beinahe wäre ich in hysterisches Lachen verfallen. Ja verdammt! Mehr als das!
„Ha! Manu klar mag ich dich, wir sind doch Kumpels! – Hast du auch Durst? – Ich geh mal was holen“, ratterte ich im lockersten Ton, den ich noch zu Stande brachte, runter, entzog mich Manuels Griff und verschwand hastig aus dem Zimmer, ehe er noch irgendetwas hätte erwidern können.
Verzweifelt flüchtete ich in die Küche und stützte mich, schwer atmend an der Arbeitsplatte ab. Ich hatte das Gefühl Ewigkeiten nicht mehr geatmet zu haben. Wie ein Ertrinkender, schnappte ich immer wieder nach Luft, während mir meine Spiegelung von der Kühlschranktür endgegenstarrte. Die grossen blauen Augen wirkten glasig und meine Wangen glühten, als hätte ich Fieber. Hatte ich vielleicht auch, oder eben doch einen Herzinfarkt…
„Leif“
Scheisse! Ich zuckte zusammen, als ich Manuels Stimme hinter mir hörte.
„H..m..?“, stotterte ich. Umdrehen konnte ich mich nicht, ich war wie festgefroren, hatte Angst was jetzt kommen würde und fürchtete mich vor den Auswirkungen.
„Wir müssen reden“ Manuel klang ernst, für mich waren diese Worte, wie einen Schlag in den Magen, beinahe hätte ich mich gekrümmt, so real war die Angst.
Schadensbegrenzung, das musste ich nun betreiben, vielleicht könnte ich doch noch den Kopf aus der Schlinge ziehen und unsere Freundschaft retten. Warum musste ich mich auch in Manuel verlieben? Den attraktivsten, intelligentesten und begehrenswertesten Jungen, der mir je begegnet ist?! Der sogar mein Freund sein wollte?! Wie blöd war ich denn, diese Freundschaft zu verderben?
„Nicht nötig, keine Angst, ich hätte dich nicht wirklich getötet“ Ja bezieh dich auf das Spiel möglicherweise würde Manu das dann auch tun –
„Nicht wegen des Spiels, aber das weisst du sicher“ So viel zum Thema Ablenkung…
Hilflos schloss ich die Augen, wollte nicht hören was er zu sagen hatte.
„Magst du mich?“, wiederholte er.
„Manuel das hatten wir doch schon…“, fing ich schwach an, brach dann jedoch ab, als ich ihn schwer ausatmen hörte.
„Ich denke ich sollte mal etwas klarstellen – Ich mag dich, aber-“
„Ja schon klar“, schob ich verbittert ein.
„Leif, sieh mich bitte an“, Manuels Stimme forderte mich so sanft auf. Sachte. „Bitte“
Mein Körper gehorchte, auch wenn ich ihn anschrie, weg zu rennen, oder einfach zu schmelzen.
Manu stand keine zwei Meter von mir entfernt, seine Miene undurchschaubar, wie durch eine Maske verhüllt.
„Ich stelle dir gleich eine Frage. Und ich möchte eine ehrliche Antwort“ Mir wurde schlecht, meine Handflächen waren schweissfeucht.
Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren und meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen.
„Egal wie du antwortest, es wird nichts ändern“
Ich stutzte, Lügner! Natürlich würde es etwas ändern! Alles! Ohne weiter Zeit zu vergeuden redete Manuel weiter: „Bist du in mich verliebt?“
Auch wenn ich gewusst hatte, welche Frage er mir stellen würde, erschrak ich, als er sie nun tatsächlich aussprach.
Ich wollte den Mund aufmachen und ihm voller Trotz die Wahrheit um die Ohren hauen, schliesslich hatte er sie verlangt. Soll er doch sehen wie er damit klar kommt!
Doch kein einziger Ton verliess meine Lippen, stattdessen blickte ich auf den weissen Steinboden.
Ein schweres Seufzen in der Stille. In meinem Blickfeld erschienen ein Paar schwarze Sneakers. Er musste nichts sagen, mein Kopf hob sich von allein.
„Ja, schon von Anfang an…“, gab ich kraftlos von mir. Plötzlich war ich müde und ausgelaugt, als die Wahrheit von mir abfiel. Die Antwort war mir peinlich und ich schämte mich. Manuels Augen hätte ich nicht ertragen, also fixierte ich den Reissverschluss meiner Jacke, die er trug. Ich erwartete ein Donnerwetter, doch dieses blieb aus.
„Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“
„Ha! Was spielt das denn jetzt noch für eine Rolle?“
„Die Wahrheit spielt immer eine Rolle! Ich möchte, dass du immer ehrlich bist Leif“
„Sagst du denn immer die Wahrheit?“, fragte ich mit kindlich trotziger Stimme. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem Tadel.
Manuel griff nach meinem Kinn und zwang mich ihn anzusehen.
„Ich bin es jetzt“, sagte er, liess mein Kinn nicht los und bedachte mich mit einem wunderschönen Lächeln, so sanft und zart.
„Ich bin in dich verliebt Leif“
Dann legte er seine Lippen auf meine, fast nur ein Hauch und ehe ich reagieren konnte, waren sie wieder fort.
Mein Kopf war übervoll mit tausenden Gedanken, bis jemand den Stecker zog und alles einfach aufhörte wichtig zu sein. Nur Manuel existierte.
Voller Unglauben starrte ich in sein Gesicht, welches mich mit einem liebevollen Lächeln bedachte.
Er ist verliebt in mich? In Mich?
Ich konnte es nicht fassen, andererseits gab es nichts was ich sehnlicher glauben wollte. Ehe mein Verstand sich wieder einschalten konnte, um mich mit paranoiden Hintergedanken zu bombardieren, hob ich eine Hand - ich zitterte - trotzdem schaffte ich es, Manuels Wange zu umfassen. In seine Augen zu sehen und die Wahrheit zu erkennen.
Er fühlt wie ich.
Der Glanz in seinem tiefen Grün verriet es mir. Seine Wange bewegte sich unter meinen Fingern, als er lächelte. Schüchtern erwiderte ich es. Doch auch wenn ich mich noch so sehr dagegen wehrte und wirklich versuchte einmal nicht alles analysieren zu wollen – ich scheiterte. Zu gross war die Angst angelockt worden zu sein um dann doch im Licht zu verbrennen. Ich brauchte Gewissheit, ich brauchte Beweise. Taten.
Verstand und Gefühle kämpften unerbittlich um die Kontrolle.
Plötzlich legte Manuel seine Hand auf meine und hielt sie an seiner Wange fest. Sein Daumen strich ermutigend über meine Finger.
Eins zu Null.
Gefühle schlagen Verstand.
Ich schluckte hart, sah in seine Augen, die sich mir langsam näherten. Manuel flocht unsere Finger ineinander, liess unsere Hände von seinem Gesicht sinken. Er hielt mich fest und gab mir Sicherheit.
Das tiefe Grün begann mich zu verschlucken. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, welche sofort Feuer fing, seinen Geruch der mich einhüllte, mich lockte. Komm näher...
Nach einem letzten intensiven Blick überbrückte Manuel die letzten störenden Zentimeter zwischen uns.
Seine Lippen berührten meine, ganz zart nur, liessen sie in Flammen aufgehen. Ich schloss meine Augen, gab mich dem unbeschreiblichen Gefühlen hin, kam ihm entgegen und erhöhte den Druck. Mein Herz blieb fast stehen, ehe es mit doppelter Frequenz los sprintete.
Eine Hand schob sich in meinen Nacken und zog mich näher. Manuel küsste mich leidenschaftlich, seine Zunge strich fragend über meine Unterlippe. Zitternd vor Erregung, öffnete ich meinen Mund und spürte ihn in mir, mich erforschend, mich verwöhnend. Meine Zunge kam seiner entgegen und tanzte mir ihr. Nichts sonst war mehr wichtig. Die Zeit blieb einfach stehen. Mein Herz überschlug sich, meine Augen brannten von unendlich vielen Emotionen geflutet. Manuel schmeckte fantastisch, machte mich süchtig.
Meinen freien Arm legte ich um seinen Nacken und griff mit der Hand in seine schwarzen Wellen. Wie Seide glitten sie durch meine Finger. Sanft packte Manuel mit seinen Zähnen meine Unterlippe, biss hinein und saugte sie dann. Der süsse Schmerz liess mich zergehen. Wir lösten uns voneinander, atmeten beide begierig die plötzlich knappgewordene Luft ein und sahen uns an. Seine Augen waren voller Verlangen, so dunkel und verschleiert. In meiner Brust wuchs eine Wolke voller Wärme heran, legte sich über mein rasendes Herz und liess es langsamer schlagen. Manuel zog mich noch näher, legte seine Stirn an meine und rieb sanft mit der Nasenspitze über meine glühende Haut. Auf meinem Gesicht breitete sich ein dümmliches Grinsen aus.
Ich war glücklich.
„Du bist wundervoll, Leif“, raunte Manuel an mein Ohr, ehe er sich von mir löste.
Wie kann jemand wie Manuel, das nur denken?
„Warum schüttelst du den Kopf?“ Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich es überhaupt getan hatte.
Unter seinem prüfenden Blick lief ich rot an. Seine Hände fuhren mir über den Rücken und hinterliessen unsichtbare Brandmale.
„Glaubst du mir etwa nicht?“
Ich blieb stumm, meine Selbstzweifel gierten nach mir, während ich Manuel einmal mehr musterte. Dies blieb von ihm nicht unentdeckt und als ich ihm wieder ins Gesicht sah, grinste er wissend.
Er ist so verdammt perfekt!
Dass er, aus mir unbegreiflichen Gründen, in mich verliebt war, verstand ich nicht.
„Hey!“, stiess ich überrascht aus, als mich Manuel unvermittelt auf seine Arme hob. Erschrocken atmete ich ein und zappelte, doch Manuel hielt mich fest und trug mich zum Esstisch. Auf einen der Stühle liess er sich nieder, mit mir auf seinem Schoss. Seine Hände lagen ruhig auf meinen Oberschenkeln, während er mich ansah. Schon wieder, hatte er diesen seltsamen Ausdruck in den Augen, als würde er etwas von mir erwarten, aber ich wusste nicht was es war.
„Bist du dir unsicher, was deine Gefühle für mich anbelangt?“, fragte er mich in geduldigem, ja fast schon therapeutischem Ton. Ich musste einige Male ungläubig blinzeln.
Wie kommt er denn jetzt auf sowas?
Auch wenn es mich nervös machte, über meine Gefühle zu sprechen und ich gerne geschwiegen hätte, konnte ich diese absurde Frage nicht so stehen lassen. Manuel war Ehrlichkeit und Offenheit wichtig, und mir war Manuel wichtig. Wenn er mir schon durch eine kosmische Fehlplanung so bereitwillig geschenkt wurde, dann wollte ich verdammt sein, ihn jetzt durch mein Schweigen zu verlieren!
„Ganz und gar nicht! Wie kommst du darauf?“
Manuels Mundwinkel zuckten und seine Gesichtszüge entspannten sich, ohne dass ich überhaupt gemerkt hatte, wie sie sich angespannt hatten. Manuel war unsicher?
„Du hast so zweifelnd ausgesehen. Ich will dich nicht bedrängen und-“
„Und ich will dich!“, gab ich selbstbewusst entgegen, was mir sofort danach peinlich war. Nun brach sich Manuels Lächeln einen Weg auf sein wunderschönes Gesicht.
„Ich will dich auch!“, hauchte er an mein Ohr, ehe er mich küsste. Das Gefühl seiner Lippen auf meinen, schlug durch mich hindurch und liess meinen Körper wohlig erschauern. Unser Atem vermischte sich, unsere Münder wurden eins.
Dann jedoch löste sich Manuel von mir und noch ehe ich protestieren konnte begann er zu reden:
„Was lässt dich denn dann zweifeln?“
Die Frage verwirrte mein Hirn, ich war gefangen in meine Empfindungen und meinen Glücksgefühlen.
„Ich-“, auch wenn ich die Frage ernst meinte, fürchtete ich mich vor der Antwort und schämte mich zugleich.
„Du- was?“, er strich mit seinen warmen Händen über meine Seiten und löste eine Gänsehaut aus.
„Ich – also… Ich weiss einfach nicht was du an mir findest“
Manuel legte den Kopf schräg und sah mich verwirrt an, dann jedoch schien er zu merken, dass ich die Frage ernst meinte.
Geduldig begann er: „Deine Augen sind so wunderschön, wie dieses helle Blau mich ansieht, als blickte ich direkt in den Himmel“, dafür gab er mir einen kurzen Kuss.
„Wenn du lachst, was du nebenbei bemerkt viel zu selten tust, hört sich das an, wie eine zauberhafte Melodie in meinen Ohren“
Wieder ein Kuss.
Vorsichtig legte ich meine Hände um seinen Nacken und fuhr durch die weichen Wellen.
„Deine Lippen ist so unglaublich weich“
Dieses Mal küsste er mich auf die Lippen und zog dann eine Spur von Küssen über mein Kinn, weiter zu meinem Hals.
„Und deine Haut so wunderbar zart“
Ich schob ihn ein wenig von mir. Mein Gesicht glühte mittlerweile.
„Das meinst du wirklich?“
Als Antwort beugte er sich vor und flüsterte an meine Lippen: „Es macht mich wahnsinnig, wenn sich deine Wangen so rosa färben wie jetzt und du mich so ansiehst. All das “finde“ ich an dir und noch vieles mehr!“
Ich hatte das Gefühl, meine Brust würde gleich gesprengt von all den Gefühlen und der Liebe zu Manuel. Diesmal war nicht er es, der den letzten Schritt ging, sondern ich. Seine sinnlichen Lippen fühlten sich auf meinen so verdammt gut an. Erst küsste ich ihn sachte, unsicher, dann wurde ich durch Manuels Feuer in Brand gesetzt und verstärkte den Druck. Ein tiefes Seufzen war die Antwort, die mich selbstsicherer werden liess. Manuels Hände strichen über meine Hüfte weiter nach hinten und pressten sich an mein Kreuz. Näher an ihn. Nur zu gern, folgte ich und schmiegte mich näher an Manu. Ich spürte seine Härte, die sich gegen meine eigene presste. Völlig elektrisiert, bewegte ich leicht meine Hüften, was Manuel stöhnen liess. Ich liebte dieses Geräusch jetzt schon.
„Leif!“, raunte Manuel dunkel, was mir heisse Wellen durch den Körper jagte und mein Blut zum Kochen brachte.
♪♪♪♪On the highway to hell ♪♪♪♪
Abrupt hielten wir inne. Verwirrt sah ich zu Manuel, der sichtlich genervt versuchte die Herkunft der Musik aus seiner Hosentasche zu fischen. Hastig erhob ich mich, um ihm mehr Platz zu geben. Ich musste mich am Tisch festhalten, da meine Beine aus Pudding zu bestehen schienen. Als Manuel endlich sein Handy hervorgezogen hatte blickte er zu mir auf, bedeutete mir kurz zu warten.
„JD was ist denn?“
Eigentlich wollte ich ja nicht lauschen, konnte dann der Versuchung aber nicht wiederstehen.
Wer ist JD?
Manuel hatte sich erhoben und stand nun mit dem Rücken zu mir.
„Nein. Ja ich weiss, aber mir ist etwas dazwischen gekommen. Kann das nicht noch einen Tag warten?“
Ich hörte Manuel tief durchatmen, sah ihm zu wie er sich durch die Haare fuhr. Um nicht völlig untätig zu sein, wagte ich mich in die Küche, meine Füsse trugen mich nur widerwillig. Ich nahm ein Glas aus dem Schrank und schenkte mir Cola ein, dass würde meiner trockenen Kehle sicher gut tun.
„Dann schläfst du eben in meinem Bett-“
Was? Oh Mist!
Durch eine abrupte Bewegung, hatte ich einen grossen Teil der Cola verschüttet.
„Na gut. Ich komme. Ja, ja ich dich auch“
Ich nahm wahr, wie Manuel das Gespräch beendete, während ich die Sauerei wegwischte, doch in meinem Kopf brach das Chaos los. Das kleine Wesen namens Eifersucht, regte sich sofort in mir. Eigentlich absurd, schliesslich wusste ich noch nicht einmal was das zwischen mir und Manuel werden würde. Manuel meinte er sei in mich verliebt. Und ich in ihn. Also würde meinem Traum von einer Beziehung, mit meiner persönlichen Versuchung doch nichts im Wege stehen, oder? Ach, vermutlich machte ich mir einen Kopf wegen nichts. Ja, jemand würde in Manuels Bett schlafen. Das war doch keine grosse Sache, dass machte man vermutlich unter Freunden… Woher sollte ich das schon wissen. Freundschaften waren schliesslich nicht gerade meine Stärke.
Ich versuchte meine Gedanken zu verdrängen - und scheiterte kläglich!
Würde Manuel wohl zusammen mit diesem JD im Bett schlafen? Vielleicht war das ja Manuels Vorstellung.
Mein völlig verwirrtes Gehirn schob mir ungebetene Ideen vor die Augen.
Manuel mit jemandem im Bett. Jemand anderen küssend.
Oh Gott, vielleicht hat Manuel ja so was, wie einen ganzen Harem an Verehren!
Bei seiner Attraktivität würde es mich nicht mal überraschen, aber das-
„Wo ist der Geist, ich möchte ihn auch sehen“, raunte Manuel mir so unerwartet von hinten ins Ohr, dass ich kraftvoll zusammenzuckte. Verwirrt drehte ich mich zu ihm um.
„Was?“
„Du solltest mal dein Gesicht sehen. Man könnte denken, du würdest gerade einen Geist beobachten“, meinte er, in seiner typischen gute Laune Stimme und deutete dann vor uns. Die Spiegelfront der Küche zeigte uns. Er hatte Recht, ich sah nicht gut aus, ganz im Gegensatz zu ihm. Ich konnte den Blick nicht abwenden, zu sehr gefiel es mir, Manuel so zu sehen. So nah bei mir, glücklich und wunderschön, wie er eben war. Mit Feuer in den Augen, das mich zu verzehren drohte, senkte er langsam den Kopf und küsste meinen Hals. Sofort wallte in mir wieder diese gewaltige Hitze auf. An jeder Stelle, die Manuel mit seinen verbotenen Lippen berührte, gewann meine Haut an Sensibilität, stand in Flammen und liess mir wohlige Schauer durch den Körper rauschen. Ich verging unter seinen Berührungen, als er eine besonders erogene Stelle küsste und spielerisch hinein biss, stöhnte ich heiser auf.
„Du musst gehen?“
„Ja leider“, murmelte er zwischen zwei Küssen und knabberte dann an meinem Ohr. Ich wandte meinen Kopf, sodass seine Lippen auf meinen landeten. Manuel brummte entzückt. Seine Hände strichen über meinen Rücken, wanderten hoch bis in meine Haare und hielten mich fest. Meine Kopfhaut begann angenehm zu prickeln.
„Ich dachte, du müsstest gehen?“, hauchte ich heiser. Manuel löste sich von mir, hielt mein Gesicht in seinen Händen und sah mir in die Augen.
„Ja leider, oder ich werde mein blaues Wunder erleben“
„Wie meinst du das?“
Manuel lächelte schief.
„Meine Schwester will endlich ihr eigenes Bett wieder oder sie tötet mich – ihre Worte – naja, oder so ähnlich“, fügte er grinsend hinzu.
„Wieso hat sie denn jetzt keins?- War sie es etwa die dich vorhin angerufen hat?“
„Ja. Ach weisst du, seit wir umgezogen sind, bin ich noch nicht dazu gekommen, JDs Bett aufzubauen“
„JD?“
„Jennifer Danielle, aber niemand nennt sie so“ Mir hingegen fiel ein Stein in der Grösse eines ganzen Bergs vom Herzen, gleichzeitig hätte ich mich für meine kindische Eifersucht und meine blühende Fantasie schlagen können.
„Und hast du auch eine?“, fragte Manuel.
„Was?“
„Eine Schwester?“
„Ach so. Nein. Ich bin ein Einzelkind. Und deine Schwester ist älter oder jünger als du? Oder hast du noch mehr Geschwister?“ Irgendwie freute ich mich, mehr über Manu zu erfahren. Ich wollte wissen, was er mochte und was nicht, was seine Träume waren und welche Interessen er hatte. Für mich war alles an ihm spannend.
„Nein nur JD und das reicht auch. Meine kleine Schwester kann ziemlich aufdringlich und befehlshaberisch werden und eine Sekunde später muss ich für sie in die Presche springen, weil sie ja ach so jung ist“ Manuel schüttelte abwesend den Kopf, doch mir entging das kleine, liebevolle Lächeln auf seinen Lippen nicht. Er liebte seine Schwester offensichtlich sehr.
„Wie viel jünger ist sie denn?“
Er liess mich los und fuhr sich durch die Haare.
„Schätze drei oder vier Minuten“
„Also eine Zwillingsschwester, und du sagst trotzdem kleine Schwester zu ihr? Manchen die paar Minuten denn so viel aus?“
„Auf die paar Minuten bestehe ich! Ich bin älter! Ich habe das Sagen!“, sagte er bestimmt und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Intensität mit der er sprach, brachte mich zum Lachen.
„Hey! Lachst du mich etwa aus?!“
Ich wollte gerade Luft holen, um etwas zu erwidern, als sich plötzlich Manuels Hände auf mich stützten und er mich mit geschickten Fingern durchkitzelte. Verzweifelt versuchte ich zu entkommen, gepeinigt zwischen Lachen und kribbelnden Fingern.
„Okay, hör auf! Ich geb‘ mich geschlagen! Ich hör auf zu lachen!“ Nach wie vor griff ich nach Manuel Händen um sie daran zu hindern, mich weiter zu quälen, doch er wich immer geschickt aus. Dann stoppte er jedoch und ich bekam seine Handgelenke zu fassen.
„Du musst nicht aufhören, wie schon gesagt, ich mag dein Lachen“
Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht, was ihn nur noch zufriedener drein blicken liess.
Ein komisches Geräusch, zerriss die sich aufbauende Spannung zwischen uns. Mit schräg gelegtem Kopf sah ich Manuel an, der genervt sein Handy aus der Hosentasche hervorzog. Er stiess einen tiefen Seufzer aus, ehe er mir kopfschüttelnd sein Smartphone reichte.
Eine Nachricht war geöffnet.
Wo bleibst du denn? Mein Bett wartet! Oder bessergesagt: Die Einzelteile, die DU zu einem Bett machen sollst!
Ich konnte mein aufsteigendes Lachen nicht vollkommen unterdrücken und so endete es als komisches Quietschen, das aus meiner Kehle flüchtete. So etwas Ähnliches brachte auch Manuel hervor.
„Oh je, deine Schwester macht ernst!“
Manuel grinste beinahe verlegen.
„Scheint so. Immer wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, muss es am besten schon vorgestern erledigt sein. Das kann einen in den Wahnsinn treiben“
Ich zog die Augenbrauen nach oben und legte mir, gespielt nachdenklich, zwei Finger ans Kinn.
„Ach und du bist überhaupt nicht so?“ Manuels Augen verengten sich.
„Was möchtest du damit andeuten?“, fragte er aufmerksam. Ich zuckte mit den Achseln.
„Nichts. Naja ihr seid Zwillinge…“
„Ja und?“
„Zwillinge ähneln sich meistens…“, gab ich leichthin zu bedenken, aber Manuel roch den Braten.
„Willst du mir sagen, ich nerve?“
Sofort erhob ich abwehrend die Hände.
„Nein. Niemals! Ich meine, du weisst einfach was du willst und wenn du es weisst willst du es ziemlich… Pronto“, endete ich schliesslich zögernd. Manuels stahlgrüne Augen kamen mir immer näher, durchdrangen mich.
„Also glaubst du ich bin ungeduldig“ Noch bevor ich etwas erwidern konnte, redete er weiter: „Weisst du, du hast Recht. Ich wusste, dass ich dich will und wollte nicht mehr länger warten. Vielleicht hätte ich das auch schon vorgestern erledigen sollen, gleich nachdem ich dich gesehen habe…“ Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, direkt an meine Lippen. Sein warmer Atem strich über mein Gesicht und mein Herz klopfte aufgeregt, gegen meine Rippen. Die letzten Zentimeter waren schnell überwunden und so lagen unsere Münder aufeinander. Er schmeckte so süss und verboten. Seine Zunge tauchte in mich ein und erkundete mich, doch bevor auch nur einer von uns annährend genug hatte, klingelte erneut Manuels Handy.
„Ich hasse Handys“
Zustimmend brummte Manuel.
„Ich muss wohl wirklich los“
Ich nickte verstehend und wandte mich ab, um kurz die mittlerweile warme Cola wieder in den Kühler zu stellen, und meine Enttäuschung, darüber dass Manuel jetzt gehen musste zu verbergen.
„Ich werde meine Schwester erwürgen“, hörte ich ihn ganz leise zu sich selbst sagen. Unwillkürlich musste ich schmunzeln.
„Sehe ich dich morgen?“, fragte ich etwas unsicher und beobachtete ihn wie er scheinbar gedankenversunken an die Decke starrte.
Dann fand sein Blick den meinen und ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Sag mal hast du geschickte Hände?“
„Hä?“ Ich sah ihn fragend an. Ohne auf mich einzugehen nahm er meine Hände und musterte sie.
„Oh je. Nein das geht nicht“ Manuel senkte seinen Kopf hauchte zarte Küsse auf meine Handflächen, was mich dahin schmelzen liess.
„Was geht nicht?“, fragte ich schliesslich heiser.
„Du hast viel zu weiche, wunderbare Hände um zu arbeiten“, murmelte er zwischen den Küssen.
„Aber den Plan lesen und mich dirigieren, das könntest du“, flüsterte er weiter und sah mich dann an.
„Willst du etwa, dass ich dir helfe das Bett deiner Schwester aufzubauen?“
Er nickte.
„Ist nicht gerade die interessanteste Arbeit der Welt, aber wenigstens würden wir uns dann noch sehen“ Mehr als ein komisches Kopfschütteln brachte ich nicht zu Stande. Ihm schien das mehr als genug Antwort zu sein, denn er begann zufrieden zu lächeln und eine unsichtbare Macht zog uns gegenseitig an. Doch unsere Lippen sollten dieses Mal nicht verschmelzen… Leider…
„Leif? Schatz bist du Zuhause?“, hallte die Stimme meiner Mutter durchs Haus.
Unwillkürlich zuckte ich zusammen und trat einen Schritt von Manuel weg, der das nicht zu bemerken schien, oder es stumm hinnahm.
„Ähm… Küche“, rief ich etwas ratlos, als auch schon der blonde Schopf meiner Mutter zu sehen war. Meine Mum war eine zierliche Frau, trotzdem schien sie die zwei Einkaufstüten mit links zu tragen. Ich wurde nervös, hoffentlich würde sie mich nicht gleich durchschauen und Manuel dann in ein peinliches, verhörartiges Gespräch verwickeln. Gefühle anderer Menschen zu erkennen, dafür hatte sie einen verdammt guten Riecher.
Sie kam lächelnd auf uns zu und stellte die Tüten ab.
„Hallo Schatz“, sie küsste mich auf die wirren Haare, was mir unangenehm war, zumindest vor Manuel, welchem sie sich nun zuwandte.
„Oh Hallo“, grüsste sie freundlich und ich meinte in ihren Augen ein verdächtiges Glitzern zu sehen.
Oh oh… Alarmstufe Rot…! Sie weiss alles!
„Guten Tag Mrs. Lancaster. Ich bin Manuel Keen“ stellte er sich vor und setzte ein zauberhaftes Lächeln auf, als er ihr die Hand reichte. Gott, ich schmolz beinahe an Ort und Stelle davon.
„So, ähm, Mum wir müssen los“, druckste ich rum. Manuel sprang mir zur Hilfe. Dem Himmel sei Dank. Ich wollte zuerst mit meiner Mum allein reden, aber vor allem, musste ich rausfinden, was das zwischen Manuel und mir nun genau war, denn die ganze Harems Geschichte war für mein paranoides Gehirn noch lange nicht vom Tisch.
„Ja stimmt. Leif war netterweise dazu bereit, mir bei den restlichen Umzugsarbeiten zu helfen. Wir sind gerade ins Haus 3B gezogen“
Meine Mutter nickte mir zu.
„Ah na, dann willkommen in der Nachbarschaft“
Wieso hat die Stimme meiner Mutter so einen säuselnden Ton angenommen…?
„Also gehen wir“
„Auf Wiedersehen, Mrs. Lancaster, war schön Sie kennen zu lernen“ Verdammt, Manuel hatte das perfekte Schwiegersohn Benehmen drauf.
„Ebenfalls. Tschüss Manuel, bis bald“
Wie jetzt, bis bald?
Die Fragen in meinem Kopf häuften sich langsam aber sicher und der Turm begann gefährlich zu wackeln. Hoffentlich würde ich nicht darunter begraben.
Ich war jedenfalls froh, als die Tür hinter uns ins Schloss fiel. Manuel sah mich lächelnd aber fragend an.
„Hab ich was Falsches gesagt?“ Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf und küsste ihn auf die Wange.
„Nein, du warst perfekt“ Bist perfekt, dachte ich mir.
„Was ist denn dann?“
Hmm… Gute Frage…
„Woher weisst du eigentlich, wie mein Nachname lautet?“
Manuel verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete prompt: „Naja ich wäre ein ziemlich mieser Stalker, wenn ich nicht einmal den vollständigen Namen meines Opfers kennen würde“ Sein ernstes Gesicht machte mir Angst.
„WAS?!“, rief ich schockiert aus. Doch nun war es auch vorbei mit Manuels emotionslosem Gesichtsausdruck. Lauthals brach sein tiefes schönes Lachen aus ihm heraus. Er kugelte sich, während ich mich ärgerte, mal wieder voll auf einen seiner Witze reingefallen zu sein.
„Dein Name-“ Er brach wieder ab und lachte weiter, seine Augen glänzten und auf seinen Wangen erschien eine schöne rötliche Färbung. Scheisse war er schön! Ich würde jederzeit auf einen seiner Witze eingehen, nur um ihn so bezaubernd Lachen zu sehen. Er strahlte förmlich und seine Wärme die die ihn umgab, hüllte mich in unbeschwerte Freude.
„Dein Name, steht an der Klingel Leif. Ich bin kein Stalker und auch kein Geheimagent oder sonst was“, erneut prustete er los. Na gut was er konnte, war mir auch nicht fremd. Ich zog mein Handy hervor und trat zwei gigantische Schritte von Manuel weg. Das entging ihm nicht. Konnte es auch gar nicht.
„Was machst du?“, wollte er wissen.
„Ich rufe jetzt die Polizei!“, sagte ich mit bestimmter Stimme und einem tot ernsten Gesichtsausdruck. Im Augenwinkel konnte ich sehen wie mich Manu völlig verdattert ansah.
„Was? Wieso?“ Innerlich kitzelte ein Lächeln an meinen Mundwinkeln, aber ich schaffte es, cool zu bleiben.
„Du bist ein verdammter Stalker! Das es nicht so ist, kann ja jeder sagen!“ Ich tat so, als gäbe ich eine Nummer ein, nur leider sah ich dabei Manuel an, wie er mich musterte, als wäre ich geisteskrank. Der Ausdruck in seinem Gesicht war einfach zu viel des Guten! Ich konnte nicht mehr, wollte mit aller Kraft ernsthaft bleiben, schaffte es aber nicht und so verrieten mich meine zuckenden Lippen. Manuel schaltete sofort.
„Aber vielleicht kann ich dich ja umstimmen“, raunte er verführerisch.
„Bestechung?“ Er kam auf mich zu, schob mein Shirt etwas zur Seite und strich verheissungsvoll über mein Schlüsselbein.
„Ich würde es eher als, Zeigen ehrenvoller Absichten, bezeichnen“
„So, so“, keuchte ich. Mir wurde schon wieder ganz warm. Doch plötzlich richtete er sich wieder auf und hielt mich etwas auf Abstand. Mir fehlte sofort seine Wärme.
„Was denn? Wo ist das Zeigen deiner ehrenvollen Absichten?“, neckte ich heiser.
„Bist du eigentlich offen schwul?“ Ich hatte das Gefühl meine Augäpfel würden gleich aus ihren Höhlen kullern. Mit solch intimen Fragen erwischte er mich eiskalt. Ich zuckte mit den Schultern, wobei Manuel mich weiterhin fragend ansah.
„Naja, ich – ich hab nie so drüber nachgedacht. Bisher hat es niemanden interessiert, aber ich sehe keinen Grund es zu verheimlichen“, was mal glatt gelogen war. Ich hatte schreckliche Angst, wie die Leute um mich herum reagieren würden, doch für Manuel würde ich alles in Kauf nehmen. Die Leute in der Schule hassten mich ja sowieso, und Freunde hatte ich bisher keine. Nur meine Familie bereitete mir etwas Sorgen.
„Wie sieht es denn bei dir aus?“
„Ich bin offen dazu. Wem das nicht passt oder nicht akzeptieren kann wen ich liebe, auf den kann ich verzichten“ Bei ihm klang das so leicht, aber vielleicht war es das auch. Schliesslich sollte doch das Glück der Liebe im Vordergrund stehen oder nicht?
Vermutlich sah das nicht jeder so…
Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und drückte sie leicht.
„Mach dir keinen Druck, du musst nicht sofort dein Coming- Out durchmachen, solange ich dich trotzdem haben darf, ist alles okay“ Manuel hatte nie gefragt, ob ich schon mal mit jemandem zusammen gewesen war. Trotzdem riet er richtig. Verdammt war mir meine Unerfahrenheit den mit Neonleuchtschildern ins Gesicht geschrieben?
„Wie siehst du das denn? Sind wir denn zusammen? Also so richtig?“, fragte ich etwas unsicher. Was wenn mir die Antwort nicht gefiel? Oh Gott! Sofort schob sich mir die Harems Idee wieder vor die Augen.
„Ich für meinen Teil, will unbedingt mit dir zusammen sein. Und zwar so richtig, richtig“
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, die Worte summten um mich herum und wärmten mich auf.
„Wie denkst du darüber?“
Seine grossen grünen Augen sahen mich an, standen so perfekt im Kontrast zu deiner sonnengebräunten Haut und den strahlend weissen Zähnen. Die kurzen schwarzen Haare glänzten und passten unheimlich gut zu seinem kantigen Gesicht. Mein Blick wanderte weiter. Die breiten athletischen Schultern und die schön definierten Oberarme, die sich nun zwar unter meiner Jacke verbargen, von denen ich aber dennoch wusste, wie sie aussahen, und was noch besser war, von denen ich wusste wie sie sich anfühlten! Genauso wie seine zuckenden Muskeln an seinem Bauch, den harten Rundungen seines Hinterns und seine schönen langen Beine.
Nein, die Frage wie ich über uns dachte, stellte sich überhaupt nicht! Denn es war keine bewusste Entscheidung. Es war eine überlebenswichtige Notwendigkeit, bei Manuel zu sein. Ohne ihn. Das gab es nicht mehr.
Schnell war ich bei ihm, umarmte ihn leidenschaftlich und flüsterte an sein Ohr: „Ich lasse dich nicht wieder gehen!“
Ich fühlte sein Lächeln an meiner Wange und seine Arme schlangen sich um mich.
Nun standen wir vor seinem Haus. Mir war etwas mulmig zu Mute. Gleich würde ich seine Familie kennen lernen! Und im selben Moment war ich neugierig. Vor allem auf seine Schwester. Ich fragte, mich wie sie wohl war, ob sie wirklich so störrisch sein konnte, wie Manuel mir glauben machen wollte. In welchen Dingen JD – wie ich sie auch schon nannte, und ihr Bruder sich ähnelten. Aber auch, wie die beiden miteinander umgingen. Man sagte Zwillingen immer nach, dass sie eine ganz spezielle Verbindung zu einander haben. Ob das wohl stimmte? Ich sah zu Manuel, nur um festzustellen, dass er mich beobachtete. Diesmal verstand ich allerdings seine stumm an mich gerichtete Frage und nickte.
Ja ich bin bereit!
Noch bevor Manuel die Tür ganz geöffnet hatte, welche dabei dieses typische schiebende Geräusch von sich gab, wie bei mir auch, hallte uns eine weibliche Stimme aufgeregt entgegen: „Manuel! Da bist du ja endlich! Ich dachte schon du drückst dich!“
Oh je, das klingt nicht gut.
Mein Puls ging auf zweihundert.
Als wir eingetreten waren, gingen wir den Flur hindurch und landeten im Wohnzimmer, aus welchem die Stimme gekommen war. Ich blieb einen Schritt hinter Manuel, als sich plötzlich jemand in Manuels Arme warf. Dieser schien nicht im Mindesten überrascht, fing das Mädchen und wirbelte sie einmal im Kreis herum. Dann schob er sie eine Armlänge von sich und die beiden musterten sich lächelnd.
JD erkannte ich sofort. Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Sie war wunderschön, naja für mich natürlich nicht so atemberaubend wie ihr Bruder, aber schliesslich war ich befangen.
Jennifer Danielle Keen war eine bezaubernde junge Frau, etwa so gross wie ich, also nur ein wenig kleiner als ihr “grosser“ Bruder.
Zart gebaut, mit derselben Bräune wie Manuel und schönen schwarzen Haaren, die sich bis in die Mitte ihres Rückens wellten.
„Ich liebe dich, das weisst du, und ich hatte nichts dagegen, neun Monate lang mit dir in einem viel zu engen Bauch zu leben, aber sowas muss sich nicht wiederholen. Bitte, mach mein Bett fertig. Bitte“, sagte sie liebevoll bettelnd, während Manuel sie runter liess.
„Schon klar Schwesterchen, aber wenn du mir wieder ständig die falschen Werkzeuge reichst, geht das seine Zeit“ JD erhob abwehrend die Hände und grinste.
„Keine Sorge, ich bin eh schon auf dem Sprung“, sie löste sich von ihm und griff nach ihrer Tasche.
„Na dann ist es ja gut, dass ich Verstärkung mitgebracht habe“, meinte Manuel und wandte sich nun mir zu. Verlegen verlagerte ich mein Gewicht von einem Fuss auf den Anderen. Sofort drehte sich JD zu mir.
„Das ist Leif“ Mehr schien Manuel nicht sagen zu müssen, unverzüglich kam JD auf mich zu und umarmte mich kurz.
„ Oh! Hallo Leif! Ich bin JD“
Wieso klingt sie so, als würde sie mich bereits kennen?
„Hey“, würgte ich hervor.
„Na dann, lass ich euch mal alleine. Viel Spass mit meinem Bruder“, flüsterte sie mir verschwörerisch ins Ohr, ehe sie auf der Haustür schritt. Ich wurde knallrot und starrte zu Manuel. Der kam wortlos zu mir und führte mich dann in JDs Schlafzimmer, in welchem sich die Kartons stapelten, alle nummeriert und nach einem mir unbekannten Schema geordnet.
Na dann mal los…
„So das wär‘s“ Manuel zog noch eine letzte Schraube an, stand dann auf und sah sich das Bett an. Er schien zufrieden zu sein, was er auch durfte. Man er war echt gut! Mit geschickten Handgriffen, hatte das Bett nach und nach Gestalt angenommen. Ich kam mir etwas schlecht vor, weil ich ihm, ausser den Plan zu lesen, welchen Manuel vermutlich nicht mal gebraucht hätte, nicht hatte helfen können. Naja, insgeheim wollte ich mich nicht beklagen, ich hatte für sowas zwei linke Hände und ich hatte eine verdammt gute Aussicht gehabt. Manuels Kehrseite war nicht zu verachten.
Manuel sammelte gerade alle Werkzeuge wieder ein.
„Wow, jetzt werden deine Eltern und vor allem deine Schwester aber Augen machen“, lobte ich ihn.
„Meine Schwester und meine Mutter“, gab er ruhig zurück, ohne mich anzusehen.
„Warum dein Vater nicht?“
„Wohnt nicht hier“, seine knappe Wortwahl und sein kühler Ton liessen mich wissen, dass ich da ein heikles Thema erwischt hatte. Also ging ich zu ihm hin. „Ich finde du hast das klasse gemacht!“
Das entlockte ihm ein leichtes Lächeln. Gemeinsam hoben wir die Matratze an ihren Platz und liessen uns dann darauf nieder sinken.
Nebeneinander liegend, starrten wir an die Decke und schwiegen einen Moment.
„Danke“, hauchte Manuel dann, seine Stimme hatte einen undefinierbaren Unterton, welcher mich glauben liess, dass es hier um mehr als nur um das Lesen des Plans ging. Aber irgendetwas in mir, war dagegen weiter nachzuhaken.
„Gerne“
Wieder verfielen wir ins Schweigen, was mich daran erinnerte, dass ich heute noch mit meiner Mutter sprechen musste. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits nach vier war. Bald müsste meine Mum wieder ihre Schicht im Krankenhaus antreten. Viel Zeit bei Manuel konnte ich mir also nicht mehr lassen, vielleicht sollte ich jetzt am besten gehen. Doch noch als ich das dachte, richtete sich Manuel auf, beugte sich zu mir und küsste mich. Sofort begann die Luft um uns zu sirren.
Der Kuss war liebevoll und sanft, doch bald schon wurde er fordernder, gieriger.
Mehr.
Meine Hände glitten über seinen Rücken, zerwühlten seine Haare und pressten ihn näher an mich. Manuel kletterte über mich, stützte sich links und rechts von meinem Kopf ab und zog eine Spur heisser Küsse über mein Kinn zum Hals und dann bis zum Schlüsselbein. Eine unbeschreibliche Hitze breitete sich in mir aus, die mein Blut zum Kochen brachte. Für einen Moment war ich gefangen von dem Schauer, den Manuel durch meinen Körper jagte, während seine Hände sich unter mein Shirt schoben, über meinen Bauch strichen und seine Lippen meine Haut in Brand steckten, ehe ich meine Fingerspitzen ebenfalls auf Erkundungstour schickte. Vorsichtig schon ich sie unter Manuels Shirt, fühlte die warme Haut seines Rückens, die zuckenden Muskeln darunter und die feinen Erhebungen seiner Wirbelsäule, als ich meine Hände langsam hoch wandern liess.
Ich hätte gehen sollen… Mit meiner Mutter das Gespräch suchen…
Aber niemals hätte ich jetzt verschwinden können, jetzt wo Manuel sich noch etwas tiefer zu mir herunter beugte und ich seinen herrlichen Duft in die Nase bekam. Ich glaubte eine schwache Note Schweiss zu riechen, was mich nur noch mehr in den Wahnsinn trieb. Dieses leicht herbe. Der Gedanke an seiner Haut zu knabbern und Salz zu schmecken.
Herrje, ja!
Manuels Finger strichen meinem Rippenbogen entlang, weiter nach unten, bis fast zu meinem Hüftknochen.
Stopp!
Abrupt setzte ich mich auf, beinahe hätten Manuel und ich die Köpfe zusammen geschlagen. Ebendieser sah mich fragend an.
Mist!
Ich brauchte einen Moment, bis mein Blut wieder aus den tieferen Regionen in mein Hirn wanderte.
„Es tut mir leid. Ich kann das jetzt gerade nicht“, entschuldigte ich mich ehrlich betroffen und zog mein Shirt wieder nach unten.
„Das musst du auch nicht“ Seine Stimme klang heiser, genau wie meine. Müssen tat ich nicht aber…
„Ich sollte jetzt wirklich nach Hause, mit meiner Mutter sprechen“
Er nickte nur. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, legte ich Manuel eine Hand an die Wange und küsste ihn. Nicht mit so viel Feuer, welches immer noch schwach zwischen uns loderte, sondern mit Zärtlichkeit. Sachte und ehrlich. Als wir uns wieder voneinander lösten, seufzte Manuel zufrieden.
In seinem Gesicht lag ein Lächeln, in seinen Augen so viel Wärme, das mir beinahe die Tränen kamen.
„Wir sehen uns morgen“
„Auf jeden Fall!“, bestätigte ich ihm, bevor wir uns erhoben und ich mich wappnete auf mein bevorstehendes Verhör.
Nach einem letzten Kuss, trat ich in die Kälte und machte mich auf den Weg.
Obgleich ich nur wenige Minuten nach Hause brauchte, hatte ich das Gefühl, Manuel bereits seit Stunden verlassen zu haben. Auf dem Heimweg, war ich gedanklich tausend Mal umgedreht und wieder zu ihm gegangen. So verlockend das auch war, mein Kopf hatte dieses Mal die Führung behalten, und der sagte nun mal, ich müsste mit meiner Mutter sprechen. Allein die Vorstellung liess mich zittern. Ich hatte keine Ahnung wie sie reagieren würde.
„Mum?“
„Ja?“, hörte ich ihre Stimme gedämpft aus dem oberen Stock kommen.
„Kann ich mit dir reden?“
„Natürlich, ich komme gleich“
Derweil ging ich in die Küche. Dann ins Wohnzimmer und wieder in die Küche. Verdammt, ich war nervös! Ich versuchte mich selbst zu beruhigen – und scheiterte.
Mums Schritte ertönten, als ich mich gerade gegen die Küchenzeile lehnte.
„Was möchtest du denn mit mir bereden, mein Schatz?“ Sie kam ebenfalls zu mir, und sah mich an.
Mein Puls raste. Zweihundert, wenn nicht mehr. Schweiss brach mir aus und mein Herz krampfte immer wieder.
„Ja also ich – “ Meine Kehle ging zu und fühlte sich rau an. Wann zum Teufel hatte ich Schleifpapier gegessen?
„Geht es um den netten Besuch von vorhin?“ Ihre Stimme war freundlich und ruhig. Sie wusste, dass mich etwas belastete und bot mir eine Hilfestellung an.
„Manuel?“
Blöde Frage, wer denn sonst? Ich bekomme sonst ja nie Besuch.
Als ich seinen Namen aussprach, löste sich der Knoten in meiner Luftröhre und liess mich etwas freier atmen. Manu war gerade nicht da, trotzdem half er mir.
„Er scheint, sehr nett zu sein“
Ja das ist er. So unglaublich viel mehr als nur das!
„Ja sehr“
Ich sah ihn vor mir wie er lächelte, wie er sich bewegte, so geschmeidig wie eine Raubkatze. Wie er auf mich zu kam, mich hoch hob, mich küsste –
„Na da, hat es euch aber erwischt“, drang die Stimme meiner Mutter durch meine Erinnerungen.
Erst ein paar Sekunden später registrierte mein Hirn was sie da gesagt hatte! Es fühlte sich an, als würde mein Körper in tausend Einzelteile zerfallen, welche dann alle schreiend in eine andere Richtung davon rannten.
Hilfe!
Schockiert sah ich zu meiner Mutter, die – lächelte?
„Leif, sieh mich doch nicht so an. Es stimmt doch, nicht wahr?“ Verzweifelt rang ich mit den Händen, bis der Groschen fiel. Sie lächelte!
Hätte sie etwas dagegen, würde sie mich bestimmt nicht so liebevoll lächelnd ansehen, wie sie es jetzt gerade tut…?
„Ja, aber es ist noch ganz frisch. Wir kennen uns noch nicht lange“
Was aber nichts an der Intensität meiner Gefühle für ihn ändert.
„Das freut mich für euch! Egal, Liebe braucht nicht immer Jahre um zu entstehen, manchmal passiert es auch von der einen Sekunde zur anderen“
Schneller als meine graue Masse es erfassen konnte, kam meine Mutter zu mir und umarmte mich. Etwas hilflos stand ich da. Wie erstarrt und gleichzeitig legte mein Herz los und trommelte gegen meine Rippen.
Ein Lied der Erleichterung, definitiv!
„Aber woher weisst du es?“, fragte ich schliesslich, als sie sich von mir löste, die Hände auf meinen Schultern liegend. Sie war genauso klein wie ich, weswegen ich ihr genau in die braunen Augen sehen konnte.
„Weil ich merke, wie ihr euch anseht“
Mir stieg dir Röte ins Gesicht. Dass ich Manuel ansah, und dabei nur schwer verhindern konnte zu sabbern, okay dass das nicht unbemerkt blieb, verstand ich. Aber wie sah mich Manuel denn an?
Als hätte meine Mutter meine Gedanken gelesen, sagte sie: „Er sieht dich an. Mit diesem Lächeln im Gesicht und diesem ganz besonderen Ausdruck in den Augen. Diesem glücklichen, friedvollen Glanz. Als hätte man seine fehlende Hälfte gefunden. Man strahlt aus dem Herzen heraus“
Sie hatte Recht, ich fühlte mich so leicht und unbeschwert in seiner Nähe. Ich konnte fühlen wie sich dieses Gefühl in mir ausbreitete und meine Mundwinkel nach oben wanderten.
„Aber du – es ist dir egal, dass Manuel nun ja –“
„Keine Manuela ist?“
Manchmal hatte ich wirklich die Befürchtung, meine Mutter hätte irgendwo in meinem Kopf einen Sender versteckt, die ihr immer sagte was ich dachte. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht hin.
„Schatz ich sehe wie glücklich du bist. Liebe ist Liebe! Aber eins muss du gleich von Anfang an wissen!“
Ich schluckte hart und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
„Manuel muss bald mal hier essen, damit ich ihn besser kennen lernen kann. Der erste Eindruck von ihm war mehr als erfreulich, sollte ich allerdings feststellen, dass er dich nicht zu schätzen weiss, fliegt er sofort!“
Das brachte mich unwillkürlich zum Lachen. Manuel würde mit Bravour bestehen, das wusste ich mit tausendprozentiger Sicherheit!
„Ich wünschte, dein Vater könnte dich so glücklich sehen…“
Sofort hielt ich inne und sah meiner Mutter in die Augen. Tränen glänzten darin und der altbekannte Schmerz stürzte auch über mir wieder zusammen. Ich nahm ihre Hand zwischen meine und strich ihr in beruhigenden Kreisen über die Handfläche. Mein Vater hatte das bei mir immer gemacht, wenn ich krank, traurig oder verletzt gewesen war. Schon als Kind und auch auf seinem Sterbebett…
Verdammt es tat so unglaublich weh!
„Du bist ihm so ähnlich, Leif!“, schluchzte sie und berührte meine Wange. Hilflos stand ich da, gefangen in der Vergangenheit.
Er fehlt mir so!
Manchmal hatte ich das Gefühl, erst gestern zugesehen zu haben, wie sich seine Augen ins Licht richteten und dann für immer so verharrten. Einen friedlichen Ausdruck im Gesicht und einer einzelnen Träne, die seine Wange benetzte.
„Du hast dieselben Augen wie er“ Das wusste ich. Ich konnte mich nur zu gut an die Seinen erinnern, doch Mum sagte das nicht weil sie dachte, ich wüsste es nicht. Sie erinnerte sich an ihre grosse Liebe.
Meinen Vater.
Sie zitterte mittlerweile am ganzen Leib, oder war ich das? Vermutlich, wir beide. Vorsichtig führte ich sie ins Wohnzimmer zur Couch und nahm sie dann in den Arm. Vereinzelt entfloh ihr ein Schluchzen, dann immer mehr, bis sie hemmungslos weinte. Sie hatte das nur selten, oder sie verbarg es oft einfach nur vor mir, aber sie war noch lange nicht über seinen Tod hinweg, genauso wenig wie ich.
Dad…
Nach einer Weile, in der die Tränen vergossen worden waren, schlief meine Mutter auf der Couch ein.
Ich rief im Krankenhaus an, konnte ihre Schicht tauschen, breitete eine Decke über ihr aus und setzte mich dann wieder neben sie.
Mit geschlossenen Augen dachte ich an ihn. Sein tiefes Lachen, wenn er mal wieder einen seiner Witze erzählt hatte, welchen meine Mutter und ich nur selten verstanden hatten. Wie er mit mir geduldig an einem kleinen Flugzeug gebaut hatte, dass ich dann so scheusslich bemalt hatte – da war ich etwa sieben Jahre alt gewesen, nicht dass ich es jetzt besser könnte – und mein Vater danach so furchtbar stolz auf mich gewesen war.
Mein Vater hätte Manuel bestimmt geliebt. Der Gedanke kam unerwartet. Er stimmte, machte mich glücklich und traurig zu gleich. Manuel besass viele Eigenschaften, die mein Vater geschätzt hatte. Ehrlichkeit, Humor – ich musste schmunzeln, ja die beiden hätten sich blendend verstanden! Intelligenz und Bildung. Ich erinnerte mich genau wie mein Vater und ich hier immer diese Quizsendung angesehen haben und wie sehr wir uns gefreut haben, wenn der Kandidat etwas nicht wusste, wir aber schon.
Das Summen meines Handys riss mich aus meinen Erinnerungen.
Absender: Manuel
An: Leif
Denke an dich
Einen Moment, starrte ich einfach nur auf die SMS, presste die Lippen zusammen und wischte mir mit dem Handrücken über die feuchten Wangen. Kurz sah ich zu meiner Mutter, ihr rannen auch jetzt im Schlaf noch Tränen über ihr Gesicht. Sie wirkte müde und zerbrechlich.
Leise erhob ich mich und ging in mein Zimmer. Dort setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schaute die Fotos darauf an. Auf einem war mein Vater zu sehen, wie er ein kleines Wesen in den Armen hielt. Er strahlte, während von mir nur ein paar winzige Füsse zu sehen waren.
Ich nahm das Foto und strich über den bereits abgewetzten Holzrahmen. Vorsichtig stellte ich es wieder hin und zog mein Handy hervor.
Absender: Leif
An: Manuel
Hättest du eventuell Lust, morgen Abend bei uns zu essen? Du musst natürlich nicht wenn du nicht willst. War nur so eine Idee…
Ich hatte ihm aus einem Impuls heraus eingeladen. Vielleicht wollte ich aber auch, dass meine Mutter ihn besser kennen lernte, wenn es meinem Vater schon verwehrt blieb. Genau konnte ich das nicht sagen. Eins aber war sicher, ich hätte Manuel jetzt gerne bei mir gehabt. Die Trauer um meinen Vater umschlang meinen Hals und drückte zu. Viele hatten gesagt, die Trauer würde weniger. Der Schmerz würde schwinden.
Falsch!
Irgendwann lernst du lediglich damit zu leben. Dich mit dem Leben zu beschäftigen und die Momente der Trauer werden weniger, aber nicht weniger schmerzhaft. Und vielleicht, wenn du verdammtes Glück hast, kannst du dich eines Tages an die schönen Zeiten erinnern, ohne jedes Mal vom Schmerz des Verlusts verschluckt zu werden, aber da bin ich noch lange nicht angekommen.
Erneut erhielt ich eine SMS.
Absender: Manuel
An: Leif
Ich komme sehr gerne! Bis morgen ;-)
Dümmlich lächelnd, legte ich mich aufs Bett. Ich kannte Manuel erst solch kurze Zeit, oder war es schon eine Ewigkeit? Beinahe fühlte es sich so an. Was für ein verdammt perfektes Gefühl!
Aus der Küche wehte ein köstlicher Geruch, als ich die Treppen hinunter kam. Meine Mutter wuselte in der Küche umher, hatte Pfannen, Messer und vor allem ihre Finger im Griff, die der scharfen Klinge beim Gemüseschneiden, immer nur haarscharf entkamen.
„Würdest du bitte den Tisch denken?“ Ich tat wie geheissen und tischte für drei.
Jeden Moment kommt Manuel!
Mir war etwas zittrig zu Mute, auch wenn ich das nicht zu sein hatte. Manu würde glänzen und meine Mutter schon nach den ersten fünf Minuten in seinen Bann gezogen haben. Meine Mutter ihrerseits, hatte mir versprochen ihm keine peinlichen Fragen zu stellen. Soweit so gut…
Ding Dong!
Hastig ging ich zur Tür – okay ich rannte!
Ich öffnete – und hörte auf zu atmen. Wow!
Da stand also mein Traum, in schwarzen Hosen, dazu passenden Schuhen und hellblauem Hemd, die schwarzen Wellen gewohnt locker.
Die Luft ging mir aus, so dass mein Hirn mich beinahe anschreien musste, zu atmen. In Manus lag Gesicht ein warmes Lächeln.
Innerlich schüttelte ich ungläubig den Kopf. Manuel hatte die Präsenz einer Naturkatastrophe. So alles verschlingend.
Kann er wirklich mich wollen? Kosmos, du hast dich da mal so richtig vertan...
Danke!
„Leif“, raunte er, kam zu mir und küsste mich. Er liess meine Gedankenwelt zusammen stürzen, hüllte mich ein mit seinem Geruch, seiner Wärme und dem Gefühl seiner Lippen auf meinen, ein. So leicht. So unvorstellbar heiss.
Mein Herz raste und mein Blut kochte. Ich wollte Manuel für immer küssen, ihn nie wieder loslassen, bis dass ich in seinen Armen eines traumhaft schönen Todes gestorben wäre.
Gott verdammt! Warum musste sich Manuel nun von mir lösen und meinen Plan zu Nichte machen?
Ich konnte meine Mutter kommen hören.
„Guten Abend, Mrs. Lancaster. Es ist schön Sie wiederzusehen. Ich danke vielmals für die Einladung“
Manuel reichte meiner Mutter einen wunderschönen Blumenstrauss, den ich gar nicht bemerkt hatte – wer konnte es mir bei Manuels Anblick verdenken. Dieser hatte ein umwerfendes Lächeln im Gesicht und gab meiner Mutter die Hand. Wieso hatte ich mir nochmal Sorgen gemacht? Meine Mum schien entzückt zu sein.
„Oh das wäre doch nicht nötig gewesen! Die sind wunderschön! Lasst uns doch ins Wohnzimmer gehen“
Mit diesen Worten ging sie voran.
„Verdammt guter Schachzug“, bemerkte ich, verblüfft darüber, dass meine Stimmbänder unter der Hitze meines kochenden Körpers, noch nicht geschmolzen waren.
Manuel legte einen Arm um meine Taille und zwinkerte mir mit einem verschmitzten Grinsen zu, ehe wir meiner Mutter folgten.
„Also Manuel, wo habt ihr denn vorher gewohnt?“, fragte meine Mutter ihn.
Sie sass uns gegenüber am Tisch, Manu zu meiner Rechten. Die Stimmung war ausgelassen und ich glücklich.
Ich hatte Recht gehabt, meine Mutter war schon nach fünf Minuten in Manuels Bann gezogen worden.
Fünf Minuten, ach was!
Er hatte sie schon, kurz nachdem er mit den Blumen zur Tür herein gekommen war. Das galt auch für mich, denn dass er sich mit meiner Mutter so blendend verstand, war mir wichtig. Ich musterte sein Profil, während er mit Mum sprach.
Seine appetitlichen Lippen zuckten, als er lachte. So melodisch und rau. In meiner Brust streckte sich die flauschige Zuckerwatte und breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Als plötzlich Manuels Fingerrücken über meine Hand, welche auf meinem Oberschenkel ruhte, strichen, erschauerte ich wohlig und meine Kopfhaut begann zu prickeln.
„Wie sieht es denn mit einer Party aus?“ Nun widmete auch ich meine Aufmerksamkeit dem Gespräch.
„Als Einweihung?“, hakte Manuel interessiert nach.
„Ja. Ich würde unheimlich gerne deine Eltern kennen lernen“ Noch als meine Mutter sprach, hielten die mich streichelnden Finger, kurz inne und ich wartete unsicher.
„Die Willkommensparty finde ich eine gute Idee. Du müsstest allerdings mit meiner Mutter, meiner Schwester und mir vorlieb nehmen“, seine Stimme klang unbeschwert und auch seine Finger bewegten sich nun wieder auf meiner Hand, dennoch konnte ich spüren, dass Manuel dieses Thema wohl nicht behagte. Auch gestern war mir das nicht verborgen geblieben.
„Meine Eltern sind geschieden“, fügte er hinzu.
„Oh Manuel, bitte entschuldige. Das tut mir leid“
Ja mir auch. Ob, er zu seinem Vater wohl noch Kontakt hatte?
„Simona, bitte, das ist kein Problem. Ich habe akzeptiert, dass nicht jede Beziehung für die Ewigkeit eines ganzen Lebens geschaffen ist“, versicherte er ruhig.
„Leider ist dem so“, meine Mum wirkte nachdenklich und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ich bemerkte, wie sie an der Klippe stand. Da war nicht viel nötig um sie wieder in die Trauer zu stürzen.
„Mum soll ich dir vielleicht helfen, die Küche zu machen?“, bot ich daher an, was sie mit einem Kopfschütteln abtat. Manuel war still geblieben, hatte uns nur beobachtet und an dem Blick den er mir zu warf, erkannte ich, dass er durchaus wusste, was hier gerade vorging.
„Nein Schatz. Ehrlichgesagt, wäre ich froh wenn du jetzt gehen würdest“ Ich sah zu Manuel und wollte ihn schon zum Bleiben bitten, als mir ein Licht aufging.
Ich sollte gehen!
Ich sah meine Mutter völlig verdattert an, während sie seelenruhig die Dessertteller in die Küche trug.
Warum soll ich denn bitte gehen? Schliesslich ist Manuel hier. Garantiert bleibe ich.
„Ist schon gut, geh nur. Ich komme nach, okay?“ Manuel schien genau zu wissen, was ihm bevor stand. Für einen Moment beugte er sich zu mir und hauchte mir einen sanften süssen Kuss auf den Mund.
„Leif, ich möchte nur einen Moment mit Manuel sprechen“, erklärte Simona mir, als sie wieder zurück war. Zu meinem Leidwesen, hatte sie einen wachsamen Blick drauf. Verdammt ich hatte gedacht, ich hätte ihre geplante Inquisition erfolgreich abgewendet. Falsch gedacht!
Zögernd stand ich auf. Wollte nicht gehen und nicht bleiben. Das würde ganz bestimmt peinlich werden! Aber sowohl meine Mutter, als auch Manuel sahen mich an und ihre Blicke sagten dasselbe. Geh nur.
Dann musste ich mich wohl oder übel, meinem Schicksal fügen.
Ich beugte mich – mutig wie ich war, zu Manu und küsste ihn kurz, ehe ich in mein Zimmer verschwand und stille Gebete sprach.
In meinem Zimmer legte ich mich erstmal aufs Bett und starrte an die Decke. Und wartete.
Warum muss ich hier warten? Was will meine Mutter denn mit Manuel besprechen?
Nun, es würde sicher nichts schlimmes sein.
Fürs erste schloss ich die Augen und liess den Abend Revue passieren. Mir wurde ganz warm ums Herz. Nachdem die anfängliche Nervosität – die sich nur bei mir eingenistet zu haben schien, verflogen war, hatten wir viel gelacht und interessante Dinge erzählt. In manchen Momenten war ich einfach nur sprachlos darüber, dass Manuel wirklich in mich verliebt war. Ich hatte nie jemand perfekteren gesehen, als ihn.
Er ist so unglaublich schön, klug und sehr aufmerksam, wie ich jetzt schon mehrfach festgestellt habe. Manuel beobachtet sehr genau und handelt demensprechend. Ebenso wie vorhin. Ich bin mir sicher, dass er die kurze Verkrampfung meiner Mutter gespürt hat.
Woher er diese Beobachtungsgabe wohl hatte? Vielleicht durch seine Eltern und die Scheidung? Eine anstrengende Zeit, auch für die Kinder. Aber Manuel schien damit gut umzugehen. War er vielleicht sogar froh? Nein, Quatsch. Warum sollte denn ein Kind froh sein, wenn sich seine Eltern scheiden lassen? Oder mochte Manuel seinen Vater nicht?
Nun schüttelte ich selbst den Kopf. Natürlich liebte Manuel seinen Vater, warum auch nicht? Er schien einfach gut damit umgehen zu können, wie es ein Erwachsener auch tun sollte.
Jetzt stellte sich mir nur noch eine Frage: Wo blieb Manuel!
Langsam wurde ich doch etwas hibbelig. Was wenn Mum ihn gerade mit peinlichen Fragen bombardierte? Und ihn damit verscheuchte?
Schnell stand ich auf und tigerte durchs Zimmer. In meinem Kopf verschmolz Realität und Kinohorror. Meine Mutter Manuel gegenübersitzend, ihm drohend, oder sich durch seine verwegene Vergangenheit wühlend.
Stopp! Ich musste definitiv aufhören so viele Filme zu sehen. Meine Fantasie ging wirklich manchmal mit mir durch.
Aber wenn alles okay ist, wo bleibt denn dann Manuel? Und warum musste ich die beiden alleine lassen?
Zwanzig Minuten! Zwanzig unendlich lange, grausame Minuten und Manuel war noch immer nicht hier.
Mir war mittlerweile schlecht, von all den Vorstellungen, die mir mein kreatives Hirn zukommen liess.
Ich blickte aus dem Fenster. Sehen konnte ich nichts, viel zu sehr war ich damit beschäftigt, die Sekunden zu zählen.
Okay, ich gebe den beiden jetzt noch zwei Minuten! Dann geh ich nach unten und seh nach, was da los ist!
Doch noch, als ich das dachte, hörte ich wie die Tür sich öffnete. Hastig drehte ich mich um und zerging beinahe vor Erleichterung, als ich Manuel lächelnd und vor allem, in einem Stück in der Tür stehen sah.
Schnell war ich bei ihm.
„Was habt ihr denn so lange gemacht!“
„Nicht viel“
„Was soll das heissen? Ist alles in Ordnung?“, verlangte ich ungeduldig zu wissen. Manuel streckte die Arme vom Körper wie bei einer Leibesvisitation und grinste.
„Du kannst ja selbst nachsehen“ In seinen Augen leuchtete etwas Anzügliches, was mein Herz sofort aufgeregt pulsieren liess. Das er meine erste Frage übergangen hatte, war mir fürs erste egal.
„Vielleicht sollte ich das tatsächlich…“
Ich legte meine Hände auf seinen Rücken, zog Manuel näher an mich und sah zu ihm auf. Sein Blick brannte sich direkt in meine Seele. Mein Herz flatterte. Selbst durch das Hemd, konnte ich die Hitze von Manuels Körper an meinen Händen spüren.
Aber das reichte nicht. Ich brauchte mehr.
Manuel liess die Arme sinken, berührte mit einem Fuss die Tür hinter ihm, sodass diese zu schwang und mit einem leisen Klicken einschnappte. Sofort war Manuel wieder bei mir und küsste mich. Ich erschauerte und meine Kopfhaut begann herrlich zu prickeln. Augenblicklich erwiderte ich den Kuss, öffnete den Mund und hiess Manuel willkommen. Meine Hände liess ich weiter über den fantastischen Körper gleiten. Wollte ihn überall gleichzeitig berühren. Gierig nahm ich alles von Manuel in mir auf, schmiegte mich näher an ihn. Er bewegte die Hüften, rieb seine Erektion an meine, was uns beide stöhnen liess. Was für ein überwältigendes Gefühl, dass Manuel so auf mich reagierte! Dieser legte seine Hände um meine Wangen, küsste mich sanft und löste sich von mir.
„Gute Nacht Leif“
Vollkommen verwirrt verabschiedete ich mich. Ich war wie erstarrt und bewegte mich nicht vom Fleck, selbst nachdem Manuel gegangen war, mich unerlöst und unbefriedigt zurückgelassen hatte. Nach einer gefühlten Stunde, folgte mein Körper wieder meinem Kommando. Meine Hose war schmerzhaft eng. Kalt duschen.
Also entweder würde ich an einem Herzinfarkt sterben oder an Unterkühlung…
Niemals war mir eine Schulstunde so lange erschienen, wie diese. Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Eigentlich eines meiner Lieblingsfächer. Gut in Anbetracht, dass ich es als Zusatzfach gewählt habe, war das wohl eine Voraussetzung. Trotzdem sass ich im Unterricht und starrte pausenlos auf die Uhr.
Es soll endlich klingeln! Ich will Manuel sehen!
Das würde ich aber erst im regulären Unterricht, also nach diesem Fach. Erleichtert atmete ich auf, als mich das Läuten der Glocke erlöste. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und flitzte aus dem Zimmer. Dabei rannte ich fast den Lehrer um. Egal. Ich hatte einen absoluten Tunnelblick. Leider musste ich vom ersten, in den vierten Stock wechseln, sodass ich erst am Zimmer ankam, als es schonwieder zum ersten Mal klingelte. Mir ging ordentlich die Pumpe, aber das lag sicher nicht nur an der Anstrengung. Freudig ich betrat das Klassenzimmer und sah sofort wen ich so ersehnte.
Manuel sass mit dem Rücken zu mir, auf einem Pult. Nicht auf seinem. Ein blondes Mädchen redete mit ihm.
Jaqueline.
Ich blieb stehen und beobachtete die beiden.
„Bitte Manu“, sie lächelte und setzte sich ebenfalls auf die Tischplatte. Viel zu nah…
„Ich kann, dann nicht“
Jaqueline liess nicht so schnell locker.
„Dann heute! Bitte. Wir müssen auch nicht so lange, nur damit du einsteigen kannst“, sie klang wirklich verzweifelt und legte den Kopf schräg. In ihrem Gesicht, grosse blinzelnde Augen und ein Schmollmund. Mein Atem hatte sich inzwischen beruhigt, aber mein Herz schlug immer noch unregelmässig.
Manuel stiess seufzend Luft aus und hob die Hände.
„Alles klar, ich bin dabei!“
Die Glocke läutete zum zweiten Mal. Ich nahm es gar nicht wahr, konnte nur da stehen und zusehen wie das blonde Mädchen sich erhob und Manuel stürmisch umarmte. „Danke! Du bist mein Retter!“
Sein Lachen drang an meine Ohren, während ich nur beklommen schlucken konnte. In mir zog sich alles unruhig zusammen. Jaqueline löste sich von Manu und ich schaffte es aus meiner Starre und ging zu meinem Platz.
Was war das denn?
Meine gute Stimmung war auf einmal im Keller, nein eher zehn Meter unter der Erde vergraben. Fast schon missmutig liess ich mich auf dem Stuhl nieder, als die Lehrerin herein kam. Mathe.
„Hey“ Blinzelnd sah ich nach links, direkt in Manuels unglaubliche Augen.
„Hey“, gab ich leise zurück und rang mir ein unsicheres Schmunzeln ab. Manu kam auf mich zu.
Will er mich etwa küssen? Vielleicht.
Ich würde es nie erfahren, denn in diesem Moment störte uns die Stimme der Lehrerin.
„So bitte setzen Sie sich. Wir schreiben einen Überraschungstest“
Ein schweres Brummen ging durch das Schulzimmer und alle Studenten griffen wiederwillig nach den Stiften. Derweil verteilte Mrs. Marx die Prüfungsbögen. Matheprüfung? Wie sollte ich mich denn konzentrieren, wenn ich vor meinem inneren Auge, immer wieder die Umarmung sah? Die Fragen auf dem Blatt, machten mir nicht gerade mehr Mut.
„Bitte beginnen Sie nun. Sie haben fünfzehn Minuten“
Das Kratzen der Stifte begann, sonst herrschte Stille. Nicht aber in meinem Kopf. Ich sagte mir, es gäbe keinen Grund unsicher zu sein. Überzeugen konnte ich mich allerdings nicht.
„Noch zwei Minuten“ Super! Irgendwie hatte ich es geschafft, den grössten Teil der Aufgaben zu lösen.
„Legen Sie die Stifte zur Seite“
Wieder ein tiefes Seufzen der Klasse. Marx sammelte die Bögen ein. Meinen reichte ich ihr ebenfalls, sie nahm ihn und ging zu Manuel.
„Wie bereits besprochen, werde ich eine Kopie Ihres Ergebnisses, Ihrem Vater zukommen lassen“
Perplex sah ich zu Manuel.
„Ja genau. Danke“ Er schien nicht im Mindesten überrascht, im Gegensatz zu mir.
Sein Vater kriegt seine Testresultate?
„Harrow mit zwei “r“?“
Wieder bejahte Manuel die Frage von Marx, ehe diese die restlichen Bögen einsammelte.
„Kopie des Ergebnis, wieso das denn?“, hakte ich schliesslich nach. Er sah zu mir hinüber.
„Mein Vater wohnt nicht in der Nähe. Aber trotzdem möchte er natürlich wissen, wie meine schulischen Leistungen sind. Deswegen geben ihm die Lehrer diese Auskünfte“ Über seine Aussage konnte ich nur staunen. Er sagte das, als wäre es völlig natürlich. Mir drängte sich eine Frage ins Bewusstsein. Warum rief sein Vater ihn nicht einfach an?
„Momentmal. Dein Dad kriegt deine Tests. Also alle? In jedem Fach?“ Wenn ich an meine Noten in Französisch dachte, schüttelte es mich.
„Ja, in jedem“ Wow, das war irgendwie… Seltsam, war noch eines der vernünftigsten Wörter die mir einfielen.
Ich war fest entschlossen, mehr darüber zu erfahren, doch das sollte gar nicht so leicht werden. Der Unterricht ging weiter und danach blieb einfach keine Zeit, in der ich mit Manuel hätte sprechen können. So kurz vor den Ferien, hatten die Lehrer anscheinend alle das dringende Bedürfnis uns mit etlichen Prüfungen zu malträtieren. Zuerst Mathe, dann Englisch, gefolgt von einem Deutschaufsatz.
Seit fast zwei Stunden, versuchte ich einen halbwegs anständigen Text zu kreieren. Irgendwann gab ich auf, reichte meinen Text dem Lehrer und verliess das Zimmer. Es hatte noch nicht geläutet und ich war einer der ersten, der abgegeben hatte. Zu meinem Unglück, war Manuel noch nicht fertig.
Also ging ich zur Toilette und sah in den Spiegel. Vergeblich versuchte ich meine Haare in eine Form zu kriegen, dabei liess ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich musste definitiv mehr über diese Jaqueline erfahren. Was nur wollte sie von Manuel. Dämliche Frage, schalte ich mich selbst. Aber ging Manuel darauf ein? Sie sah besser aus als ich.
Unsicher begutachtete ich mich. Die altbekannten Zweifel frassen mich von innen heraus auf. Zu unwirklich war mein Glück.
Ruckartig sog ich Luft ein, als sich zwei starke Arme von hinten um mich legten. Im Spiegel sah ich Manuel grinsen.
„Hier bist du“, raunte er an mein Ohr. Sofort schmolz ich dahin. Geniesserisch seufzend lehnte ich mich gegen ihn. Seine Wärme hüllte mich einmal mehr ein. Ich spürte das Gefühl, sicher zu sein.
Langsam drehte ich mich in seinen Armen und sah ihn einfach nur an. Niemals würde ich mich satt sehen können. Wollte es auch gar nicht. Es war mir egal, dass wir hier in der Toilette waren und jeden Moment jemand herein kommen könnte. Sollte doch jeder wissen, wie hoffnungslos verliebt ich in Manuel war.
Ich küsste ihn, spürte sein Lächeln und das Wummern meines Herzens, als er sich zu mir beugte und mir so entgegen kam. Gemeinsam taumelten wir nach hinten, bis ich mit dem Rücken an der letzten Kabine stand. Gefangen. Verloren und nicht willens mich zu befreien. Während Manuels Zunge die meine massierte, schmolzen langsam die Ängste in mir. Ihn zu verlieren, nur der Gedanke daran brachte mich um den Verstand. Schnell drehte ich mich und Manuel, sodass nun er mit dem Rücken zur Wand stand. Ich löste mich von ihm, nur gerade so viel, damit ich seine Wangen, sein Kinn und jedes Stückchen freie Haut küssen konnte, das ich fand. Voller Verzweiflung versuchte ich mich zu verewigen. Allen klar zu machen, dass Manuel zu mir gehörte. Oder vielleicht auch nur ihm und mir...
Manu seufzte und sah mich aus halb geschlossenen Augen an. Er liess mich machen, vertraute mir, was meine Unsicherheit in Grund und Boden rammte. Meine Hände wanderten unter sein Shirt, schoben es etwas nach oben, so dass ich seinen flachen Bauch bis zum Bauchnabel entblösst hatte. Manuel tat dasselbe bei mir. Ich merkte es kaum, konnte nur staunend dieses wunderschöne Stück gebräunter Haut ansehen. Die fein definierten Muskelstränge und den lockenden Bauchnabel. Manuels Daumen strichen über meine Seiten und lösten eine gewaltige Gänsehaut aus, ehe ich mich nach unten sinken liess und lauter Küsse über seinem Bauch verteilte. Das Spiel seiner Muskeln unter meinen Lippen, liess auch den Rest meines Blutes gen Süden wandern. Gerade als ich meine Zunge in seinen Bauchnabel tauchen wollte, zog Manu mich zu sich hoch, küsste mich kurz und sagte dann: „Es hat geklingelt“
Wow, seine Stimme war so rau, meine dagegen klang heiser als ich antwortete.
„Na und?“
„Gleich wird es hier ziemlich voll werden“
Ich konnte nicht anders, als zu grinsen.
„Hast du Angst erwischt zu werden?“
Blitzschnell drehte Manuel uns um und überfiel meinen Mund heiss und gierig.
„Nein. Aber ich gönne ihnen deinen Anblick nicht“
Mir stieg dir Röte ins Gesicht, als er seinen Blick mit funkelnden Augen über meinen freien Bauch gleiten liess.
Gott, das ist so unglaublich heiss!
Hart schluckend, zog ich mein Shirt nach unten und dann seins.
„Gleiches Recht für mich“
Sein melodisches Lachen hallte durch den Raum, bevor er meine Hand nahm und mich zur Tür führte. Diese öffnete ich und liess ihm den Vortritt. Er nickte mir grinsend zu, was auch mein Lächeln weiter wachsen liess.
„Lass uns was essen gehen“, schlug er vor, die Studenten kamen langsam aus ihren Zimmern und begaben sich bereits zum Speiseraum.
„Manuel?“ Erklang eine ältere Stimme hinter uns. Wir drehten uns um und standen vor der Lehrerin, die unsere Klasse beaufsichtigte.
„Hätten Sie wohl einen Moment?“
„Aber natürlich. Wie kann ich Ihnen behilflich sein“
Ich brauchte einige Sekunden, um den starken Wechseln in Manuels Verhalten zu verarbeiten. Das spitzbübische Grinsen war einem neutralen Ausdruck gewichen und seine Stimme klang auf einmal so überaus erwachsen. Beinahe geschäftsmässig und nicht wie ein achtzehnjähriger Student. Die Leichtigkeit war verschwunden. Mich verwirrte diese Verwandlung, aber genauso sehr faszinierte sie mich. Eigentlich fehlten nur noch der Anzug und die Krawatte.
Die Lehrerin bedachte mich mit einem kurzen Seitenblick, als ich mich jedoch nicht rührte sprach sie weiter: „Es geht um Ihre Zusatzfächer“
„Ist etwas nicht ordnungsgemäss?“
Wieder dieser geschäftliche Ton...
„Nein alles in Ordnung. Ich sehe nur, dass Sie einige gewählt haben. Kommen Sie damit zu Recht? In Anbetracht, dessen das Sie einiges nachholen müssen? Es wäre jetzt noch möglich, Ihre Wahl einzuschränken“
Manuel nickte verstehend.
„Das ist sehr nett von Ihnen, doch ich sehe keinerlei Problem mit meiner Wahl. Die Bedingungen für das Bestehen in den einzelnen Kursen, sind mir bekannt und stellen keinen Hinderungsgrund dar“
Mrs. Chase schien überrascht, bevor sie zögernd zustimmte.
„Nun gut, dann wünsche ich gutes Gelingen“ Dann war sie auch schon wieder weg.
„So, jetzt habe ich aber wirklich Hunger!“ Mir ging der erneute Wechsel nicht so recht in den Kopf, als ich ihm stumm folgte.
Nachdem wir uns durch die Massen der Studenten gekämpft, und tatsächlich einen freien Tisch ergattert hatten, beobachtete ich Manuel, wie er aus seinem Sandwich die labbrigen Salatblätter fischte.
„Was ist?“, fragte er ohne seine Suche zu unterbrechen.
„Wie viele Fächer hast du denn als Zusatz genommen?“
„Hm… Also da wäre Wirtschaft, Recht, Geschichte, Sport, Französisch als Leistungskurs und Psychologie“, zählte er auf, wobei mir bei jedem weiteren Fach der Kiefer weiter nach unten klappte. Einige der Stunden hatten wir auch so, was bedeutete dass er sie auch noch als Kurs für Fortgeschrittene gewählt haben musste.
„So viele!?“ Ich war ehrlich schockiert. Bei so vielen extra Stunden hatte er doch kaum noch Freizeit!
„Ich hätte noch mehr genommen, aber das war das Maximum, das erlaubt war und in meinen Stundenplan passte“ Er sagte das völlig ruhig und sah mich nicht an. Das Ausrangieren des matschigen Grünzeugs, schien seine volle Aufmerksamkeit zu benötigen.
„Wow dich interessiert aber so einiges. Ich hätte nicht gedacht, dass dich Geschichte fasziniert“
„Tut sie auch nicht“
Verwirrt schüttelte ich den Kopf, woraufhin er mich fragend ansah.
„Warum hast du es dann gewählt?“
„Allgemeinbildung ist wichtig“
„Ja schon aber, wir haben doch schon Geschichte, du hättest also nicht extra den Zusatzkurs nehmen müssen“
„Natürlich musste ich das nicht, aber nur die besten schulischen Leistungen überleben“
Okay, jetzt war ich komplett verwirrt. Ich wusste bereits, dass Manuel verdammt clever war und dass sich das auch in seinen Noten widerspiegelte. Wieso also die extra Belastung?
„Und die anderen Fächer sind auch nur zum “Überleben“ gedacht?“
„Nein. Sport und Psychologie mag mich einfach“
Irgendwie passten die auch zu ihm. Mit seiner Beobachtungsgabe und seinem fantastischen Körper. Nur schon beim Gedanken, lief mir das Wasser im Mund zusammen.
„Was ist mit Wirtschaft und Recht?“
„Dazu bin ich sozusagen verpflichtet“ Manu musste meine Verwirrung bemerkt haben, denn er sprach gleich weiter.
„Meine Eltern sind beide Rechtsanwälte“
Oha, nicht schlecht!
Trotzdem sah ich nicht ein, warum Manuel deswegen die Fächer belegen musste. Die Frage wollte mir während des gesamten Essens, nicht mehr aus dem Kopf.
„Tja, dann hab ich ja Glück, dass heute keines deiner Zusatzfächer ist, sonst würde ich dich ja gar nicht mehr sehen“, gab ich irgendwann scheu von mir.
Manuel strich sich durch die Haare, ich ahnte schon schlimmes.
„Leif, ich hab leider noch etwas vor“, sagte er entschuldigend. Mir hingegen kamen sofort Jaquelines Worte wieder in den Sinn.
Oh nein. Er trifft sich mit ihr!
„Oh“, mehr brachte ich nicht raus.
„Weisst du was? Ich sag Jack einfach ab“
„Jack?“
„Ja, sie hat mich für die Fussballmannschaft eingespannt und wollte, dass ich gleich heute zum Training komme“
Jaqueline? Ich hatte glaube ich schon mal gehört, dass sie der Captain der Mannschaft ist. Dass sie auch Jack genannt wurde, war mir hingegen neu.
Ich bekam heisse Ohren, für meine Eifersucht. Wie kindisch war ich denn? Zuerst machte ich mir Sorgen wegen JD, seiner Schwester und jetzt um Jack, die ihn offensichtlich als Mannschaftsmitglied haben wollte.
Was kommt denn als nächstes? Vielleicht seine Mutter? Oder noch besser: Meine Mutter?
Ich bin definitiv armselig…
„Nein Quatsch. Geh nur, ich hab leider sowieso eine Arbeit, die nur darauf wartet, geschrieben zu werden“ Ich musste Manuel vertrauen, eine andere Wahl hatte ich sowieso nicht. Wenn er mich wegen jemand anderem verliess, konnte ich das nicht ändern. Eine grosse Konkurrenz war ich nicht.
„Also gut. Bin gespannt, was eure Mannschaft so drauf hat“ Manuel grinste was mein Herz erwärmte und mich beruhigte. Er, mit allem was er tat, war für mich wie ein sicheres Zuhause.
Der Dienstag brach an. Heute wurde mir noch einmal bewusst, wie viele Zusatzfächer Manuel gewählt hatte. Unsere Stundenpläne passten einfach nicht zusammen. Wir hatten nicht einmal zur selben Zeit Mittagspause.
Wie frustrierend!
Erst nach meiner letzten Stunde sah ich ihn endlich. Wir trafen uns im Flur, der wie leer gefegt schien. Sofort lagen seine Lippen auf meinen und trieben mich in den süssen Wahnsinn.
Viel zu schnell, liess er wieder von mir ab.
„Nicht weggehen, ich komme gleich wieder“
Und schon war er verschwunden. In mir breitete sich bereits wieder ein kleiner flauschiger Ball aus.
„Hey Schwedin!“
Eiskaltes Wasser lief mir über den Rücken, als ich die gehässige Stimme hinter mir hörte.
Einfach ignorieren.
„Hey!“ erklang es abermals. Caleb stellte sich vor mich.
„Was willst du?“ Ich traute mich kaum ihm in die Augen zu sehen.
„Na, hast du endlich deinen Prinzen gefunden?“
Der Ekel in seiner Stimme war nicht zu überhören. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück, doch er folgte mir und schlug mir auf die Schulter. Seine Finger krallten sich in meine Kleider.
„Nicht weggehen Prinzessin. Hast du nicht gehört, was dein Stecher gesagt hat?“
Stockend atmete ich ein.
Was will er von mir?
Ich ging noch einen Schritt nach hinten und wieder tat Caleb es mir gleich. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich mit dem Rücken an die Wand stiess. Der Muskelprotz grinste diabolisch, seine Augen sprühten Funken. Mein Herz sank mir in die Kniekehlen.
„Lass ihn sofort los“ Ruckartig sah ich zu Manuel, der auf uns zukam. Sein Gang war geschmeidig und stark. Ich schluckte hart, als er bei mir war. Er wirkte bedrohlich, sein Körper angespannt, seine Augen dunkel.
„Lass. Ihn. Los“, Manuel wiederholte es leise, kaum mehr als ein Flüstern. Richtig angsteinflössend. Caleb baute sich ebenfalls auf, liess mich jedoch los.
„Verschwinde“ Sowohl Manuel, als auch Caleb entfernten sich ein paar Schritte von mir. Manu flüsterte etwas das ich nicht verstehen konnte. Dann verschwand Caleb mit grimmigem Gesicht. Meine Knie wurden weich und die Anspannung fiel wie ein Stein von mir ab.
„Alles in Ordnung?“
Ich war froh, dass Manuels Stimme wieder warm und liebevoll klang, als er vor mir stand und mich dann in eine Umarmung zog. Etwas zittrig zu Mute, nickte ich an seiner Halsbeuge. Für einen Moment schloss ich die Augen, genoss einfach nur seinen warmen Körper und die streichelnden Hände an meinem Rücken. Manuels Kopf ruhte auf meinem.
Zuhause...
Als ich mich wieder gefangen hatte, sah ich zu ihm auf.
„Danke“ Als Antwort küsste er mich auf die Stirn.
„Na los, lass uns gehen“
„Aber du hast doch jetzt Fussballtraining?“ Er schlang einen Arm um meine Mitte und ging los.
„Schon. Aber – “
„Nichts aber. Du hast Training, also gehst du auch“ Mein bestimmter Ton brachte Manu zum Schmunzeln.
„Jawohl!“ Manu dieser Trottel, der mir so unglaublich viel bedeutete, stellte sich stramm hin und salutierte. Einen ernsten Gesichtsausdruck brachte er allerdings nicht zu Stande.
„Kommst du zu mir. Fünf Uhr?“
Ich nickte eifrig.
„Ich freu mich“
„Ich mich auch“
Mehr als pünktlich stand ich vor Manuels Haustür. Irgendwie hatte ich mich durch die Hausaufgaben geprügelt und wollte jetzt einfach nur noch abschalten. Ich klingelte und keine zwei Minuten vergingen, da wurde die Tür geöffnet.
„Oh hey Leif!“, wurde ich von JD begrüsst und ich konnte das Schwinden meines Lächelns nicht vollkommen verhindern.
„Hallo JD. Ich möchte zu Manuel“
„Tut mir leid, der ist noch nicht da, aber komm doch rein“
Auch wenn ich nicht gewollt hätte, gehen konnte ich nicht, denn JD packte mich am Handgelenk und riss mich praktisch ins Wohnzimmer.
„Ich kann auch später wiederkommen und – “
„Ach Quatsch! Setz dich! Möchtest du was zu trinken?“
„Nein danke“, zögernd liess ich mich auf die schwarze Ledercouch nieder. JD setzte sich mir gegenüber und lächelte freundlich. Ihre langen schwarzen Haare strich sie sich über die Schultern.
„Du kommst doch auch am Dienstag oder?“
„Dienstag?“, fragte ich unwissend.
„Da hab ich Geburtstag! Ich würde mich freuen, wenn du am Abend mit uns feiern würdest“
Ich war gerade etwas überfordert und wusste nicht, ob das Manuel recht wäre.
„Manuel und du habt Geburtstag?“
„Gut kombiniert Watson!“, grinste sie und erinnerte mich stark an ihren Bruder. Nur beim Gedanken an ihn bekam ich weiche Knie.
„Ich überlege es mir, okay?“
„Leif gib dir einen Ruck, ich möchte sehen wie mein Bruder dich anschmachtet“
Ach. Du. Heilige. Scheisse!
Meine Ohren brannten und meine Gesichtsfarbe lief jeder Tomate den Rang ab. Am liebsten wäre ich in die Couchritze gekrochen und nie wieder raus gekommen.
„Du weisst also von uns?“, fragte ich dümmlich.
Hallo würde sie so etwas sagen, wenn sie es nicht wüsste?
JD sah mich ruhig an, was meine Röte im Gesicht wieder etwas schwinden liess.
„Du tust ihm gut“ Stellte sie fest und lächelte liebevoll. Nervös fuhr ich mir durch die Haare.
Was soll ich darauf denn erwidern?
Mein Herz hüpfte dennoch freudig.
„Ja? Wie kommst du darauf?“
Manuel schien mir nicht jemand zu sein, der eine Stütze brauchte, auch wenn ich sie nur zu gerne sein würde, falls doch.
Seine Schwester nickte.
„Er ist entspannter. Sonst war er immer irgendwie… gehetzt“, fügte sie nachdenklich hinzu und strich sich eine Strähne hinters Ohr.
„Tja, wenn jemand meine Schulergebnisse kontrollieren würde, dann wäre ich vermutlich auch ziemlich unter Strom. Aber du scheinst damit gut umgehen zu können“
Keine Ahnung ob es eine gute Idee war, mit JD über die Kontrolle ihres Vaters zu sprechen, aber mir war nicht wohl bei dem Gedanken, Manuel so gestresst zu wissen.
„Ich kann damit umgehen, weil meine Noten nicht überprüft werden“
Nun legte ich den Kopf schief und musterte das Mädchen vor mir.
„Früher schon, aber ich war nie die Leistungsträgerin. Sicher, ich war nicht schlecht, aber eben nur oberer Durchschnitt und ich liess mich auch nicht pushen. Richard hat das irgendwann akzeptiert oder zu mindestens hingenommen. Bei Manuel sieht das anders aus. Er hört auf Richard, nimmt seinen Rat an und bringt Höchstleistungen. Ich weiss es nicht genau, vielleicht ist das so ein Vater – Sohn Ding“ Sie zuckte mit den Schultern, aber ihre Finger flochten sich ineinander und ihre Lippen pressten sich aufeinander. Ich konnte nicht verstehen was JD mir da sagte. Doch tief in mir regte sich etwas. Was nur, störte mich?
„Du nennst deinen Dad beim Vornamen?“
„Ja. Er mag es nicht, wenn wir ihn mit Dad, Vater oder sonst irgendwie ansprechen. Er besteht auf Richard“ Nun sah sie wohl, wie ich ungläubig den Kopf schüttelte.
„Richard ist ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt. Und er will, dass wir ebenfalls erfolgreich werden. Seine Methoden scheinen etwas drastisch, aber er meint es nur gut“, sagte sie beschwichtigend.
Das schiebende Geräusch der Tür verhinderte meine nächste Frage.
„Hey Bruderherz!“, rief JD freudig. In meiner Brust zitterte es angenehm. Ein dumpfer Knall seiner Tasche, die zu Boden fällt und schon kam Manuel herein gerannt.
„Leif, es tut mir leid! Das Training hat länger gedauert“
Ich antwortete nicht, sondern sah ihn einfach nur lächelnd an, was er erwiderte. Seine Wangen waren von der Anstrengung noch leicht rötlich, seine Haare wirkten wirr und seine Haut glänzte.
Wie kann ein Mensch nur so schön sein?
„Manu geh duschen“, sagte seine Schwester. Er jedoch schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte.
„Ich werde schon aufpassen, das Leif nicht verschwindet, okay?“
Wie jetzt, wieso soll ich verschwinden? Nichts in dieser Welt bringt mich von Manuel weg.
„Bis gleich“, stimmte ich JD zu, was Manu dann überzeugte. Blitzschnell drückte er mir einen Kuss auf den Mund und verschwand.
Sofort spürte ich den Frieden, der mich einhüllte.
„Ich sehe schon, die Gefahr das du abhaust, besteht wohl nicht“
Sie erhob sich und strich ihr violettes Kleid glatt, während ich rot wurde. Mal wieder. Aber sie hatte Recht.
„Vergiss nicht, du bist Dienstag bei uns“ Grinsend fuhr sie mir durch die Haare und brachte noch mehr Unordnung ins Chaos.
„Tschüss Leif“
„Tschüss“, schob ich etwas überrumpelt hinterher und sah wie sie sich ihre Tasche schnappte und das Haus verliess.
Etwas verloren sass ich da und sah mich im Wohnzimmer um. Irgendwie wurde ich nervös und hier alleine rumzusitzen, verbesserte das nicht gerade. Also stand ich auf und ging nach oben. Wo sich Manuels Zimmer befand, wusste ich noch von meinem letzten “Besuch“, falls man das Aufstellen eines Bettes, als solchen bezeichnen konnte. Einen Moment stand ich zögernd vor der, einen Spalt weit geöffneten Tür. Als ich ein Geräusch hörte ging ich hinein – und erstarrte.
Manuel stand in offener Jeans da, während er sich das Shirt über den Kopf ziehen wollte. Sein Oberkörper war noch glänzend feucht, was die schön geformten Muskelstränge betonte. Ich hatte schon öfters den Verdacht gehabt, dass ich wegen Manuel noch einen Herzinfarkt bekam.
Nun habe ich Gewissheit.
Ich konnte ganz deutlich spüren, wie in meiner Brust für kurze Zeit vollkommene Stille herrschte. Wie von selbst, bewegte sich mein Körper und so war ich in schnellen Schritten bei Manu. Gerade tauchte sein Kopf aus dem Shirt hervor und ich liess ihm keine Zeit überrascht zu sein. Augenblicklich lagen meine Lippen auf seinen. Ihm entkam ein überrumpeltes Stöhnen, ehe er mir entgegen kam. Seine Zunge schlich sich in meinen Mund und streichelte mich. Mir wurde so unglaublich heiss, als ich meine Hände über den straffen Körper gleiten liess. Wie im Fieberrausch. In meinem Kopf existierte nichts mehr, nur Manuel und sein heisser herrlicher Körper. Ich löste mich von ihm, um sein Shirt auf den Boden zu befördern. Manuel griff nach meinem und riss es mir achtlos vom Körper. Unsere Bewegungen waren hektisch, ich brauchte ihn so dringend, wie jeden einzelnen Atemzug. Musste seine Haut auf meiner spüren, seinen Geruch inhalieren und von seinem Feuer angesteckt werden. Manuel wanderte über meinen Hals, küsste, saugte und leckte meine flammende Haut, während seine Hände zu meinem Hosenbund wanderten. Unwillkürlich musste ich an das Geheimnis darin denken.
„Was ist?“, fragte Manuel und begegnete wieder meinem Blick. Seine Augen leuchteten wie Smaragde.
„Nichts“
Lügner!
Ich hatte Angst. Wie würde Manuel auf diesen Makel reagieren? Natürlich war der Fleck nicht mehr so stark zu sehen, da ich selbst ja eine sehr helle Haut hatte, aber übersehen würde Manu ihn sicher nicht. Ich hasste diesen Fleck selber, wie schlimm fände ihn dann erst Manuel?
„Hey. Wir müssen nichts tun das du nicht willst“, sagte er mit liebevoller Stimme und legte die Arme um meinen Nacken.
„Was? Nein! Also doch! Ich – ich will, aber“, stammelte ich mich um Kopf und Kragen.
Er küsste mich sanft und löste so ein wenig meine Verspannung.
„Vertraust du mir?“
„Ja“, sagte ich ohne zu zögern.
Mit ganzem Herzen.
„Genug, um mich dein Geheimnis selbst heraus finden zu lassen?“ Mit dem Zeigefinger strich er leichte Kreise an meinem Hosenbund. Genau an der betreffenden Stelle.
Weiss er davon? Woher?
Die Nervosität übermannte mich unerwartet und liess mich hart schlucken. Kurz schloss ich die Augen und rang mir ein Nicken ab. Wieder küsste Manuel mich. Die Hektik, welche noch vor Sekunden geherrscht hatte, war verschwunden. Manu nahm meine Hand und führte mich zu seinem grossen Doppelbett.
„Leg dich hin“
Nachdem ich gehorcht hatte, kniete er sich neben mich. Erwartend sah ich zu ihm auf. Wieder einmal schien er in meinem Gesicht zu lesen. Es war faszinierend, zu beobachten wie er jemanden studierte. Mit den Fingern strich er die Konturen meines Gesichts nach, über meine Kehle zum Schlüssel – und Brustbein bis über die Rippen. Ich bekam Gänsehaut und sah ihm zu, wie er in kreisenden Bewegungen immer tiefer glitt. Als er den Knopf meiner Hose geöffnet hatte, blickte er zu mir auf. Dann folgte der Reissverschluss. Doch anstatt mich sofort mit seiner Reaktion zu konfrontieren und den Makel zu entblössen, küsste er meinen Bauch, dem Hosenbund entlang, während seine Hände über meine Brust strichen. Immer mehr entspannte ich mich unter den zarten Berührungen, bis ich schliesslich die Augen schloss.
„Wie habe ich dieses Stück des Himmels nur verdient“
Ich sah ihn an, wie er lächelte.
„Weisst du dass deine Augen, wenn du mich küsst, aussehen wie der Himmel? So blau und verschleiert. Und jetzt habe ich den letzten Beweis“
Meine Wangen wurden warm, trotzdem verstand ich seine Bemerkung nicht, bis seine Finger meinen Hüftknochen streiften. Als ich nach unten blickte, sah ich den Fleck. Sofort schoss mein Blick wieder zu Manuel.
Oh Gott! Wann hat er mir die Hose nach unten geschoben?
„Das hier sieht aus wie ein Stück Wolke“, redete Manu weiter, beugte sich nach vorn und küsste meinen Makel. Zärtlich biss er hinein, was mein Blut aufwallen liess.
„Du bist ein Stück Himmel. Mein Stück“ Sein Mund wanderte nach oben, bis zu meinen Lippen.
„Ich liebe dich, Leif“, murmelte er liebevoll. Ich erstarrte, sah diesen wunderschönen Menschen, hörte immer und immer wieder diese unwirklichen und doch so herzzerreissend schönen Worte. Tatsächlich fingen meine Augen an zu brennen, während mein Herz vor lauter Liebe überlief.
„Ich liebe dich auch!“, sagte ich fast schon verzweifelt und zog ihn auf meinen Schoss. Beide stöhnten wir erregt auf.
Ich brauche ihn! Jetzt und für immer. Alles von ihm.
Jede Faser meines Körpers und meiner Seele sehnten sich nach ihm. Meine Hände fuhren in seinen Nacken, zogen ihn zu mir. Noch nie zuvor hatte ich so viel für jemanden empfunden. Wir küssten uns und ich versuchte verzweifelt alles zu nehmen und alles zu geben. Wir verloren uns ineinander wurden eins und waren doch getrennt. Mit zitternden Händen nestelte ich an seiner Hose, schob sie samt Unterwäsche nach unten. Manuel setzte sich auf, entledigte sich seiner Kleider vollends und streifte dann mir die Kleidung vom Leib. Seine beeindruckende Erektion liess mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seine sündhaften Lippen wanderten über meinen Körper und umschlossen dann eine Brustwarze. Als er an ihr knabberte, keuchte ich auf. Er trieb mich in den süssen Wahnsinn, reizte mich zuerst an der einen, dann andern Knospe, bis mein ganzer Körper vibrierte.
„Du bist so schön“, raunte Manuel und bahnte sich einen Weg zu meiner Erregung, doch ich griff in seinen Nacken und zog ihn zu einem leidenschaftlichen Kuss zu mir.
„Ich liebe dich! Bitte Manuel schlaf mit mir“ Ich brauchte meine Aussage nicht zu präzisieren. Erneut küsste er mich.
„Sicher?“
„Ja“
Ich wollte mit ihm eins sein. Ihn spüren mit jedem Nerv meiner selbst. Das Verlangen nach ihm, war so unendlich gross, eines Schlags meines Herzens gleich. Nach einem Griff in seine Nachtischschublade, kniete er sich zwischen meine Beine. Ich vertraute ihm und war völlig entspannt. Seine Vorbereitung war ein ungewohntes, aber verdammt heisses Gefühl. Immer wieder neckte er die empfindliche Stelle in mir, bis ich kurz davor war den Verstand zu verlieren.
„Manuel bitte“, flehte ich heiser und verzweifelt.
Als er endlich in mich eindrang und sich links und rechts von mir abstütze, küsste ich ihn.
Endlich vereint.
Feurige Sternenschauer sammelten sich in mir, als Manuel sich bewegte und mich immer näher Richtung Himmel trieb. Unsere Laute vermischten sich, spornten uns gegenseitig an. Als ein glühender Feuerball mich überrollte, schlang ich meine Arme fest um Manuel, krallte mich an ihn und kam stöhnend, während um mich herum ein Feuerwerk tobte. Aus halbgeschlossenen Augen sah ich Manuel über mir, verschwitzt und keuchend, als er, mit meinem Namen auf den Lippen und einem letzten Stoss erzitterte. Ich hatte noch nie etwas Schöneres gesehen. Völlig erschöpft sank er über mir zusammen. Sein Gewicht drückte mich angenehm in die Laken. Ich zog ihn fest an mich und genoss dieses Gefühl, meines trägen Körpers und meines leeren Geistes. Manuels Herzschlag trommelte gegen meine Brust, das schönste Geräusch dieses Universums.
„Ich liebe dich“, murmelte ich in seine Haare. Als Antwort erhielt ich ein zufriedenes, schläfriges Nuscheln.
Die letzten Tage dieser Woche, vergingen wie im Rausch. Nichts konnte mich aus der Ruhe bringen. Kein Test, kein schlechtes Resultat, einfach nichts.
Viel zu gross war die Freude, auf ein ganzes Wochenende mit Manuel. Die ganzen zusätzlichen Stunden in Manuels Schulplan, machten es mir nicht gerade leicht meinen Freund – wie wunderschön dieses Wort klang! Zu sehen. Auch jetzt hatte ich längst Wochenende, während Manu noch in einem Wirtschaftskurs hockte. Aber ich hatte beschlossen auf ihn zu warten und so vertrieb ich mir die Zeit vor dem Gebäude auf einer Bank und lass.
Ja was eigentlich?
Nun sah ich zum ersten Mal wirklich in meine Lektüre. Französisch! Geschockt über meine Wahl, die ich während meiner Schwärmereien getroffen hatte, starrte ich darauf. Kopfschüttelnd stopfte ich es in meine Tasche, als endlich die Klingel ertönte.
Mein Blick fiel auf den Ausgang. Lange kam niemand aus der Tür, nicht weiter verwunderlich, es war bereits später Nachmittag, die meisten hatten schon frei. Mein Herz begann zufrieden zu flattern, als Manu und zwei weitere Studenten endlich das Gebäude verliessen. Hastig erhob ich mich und ging auf ihn zu. Er verabschiedete sich lachend von den beiden anderen und wandte sich dann zu mir. Das Aufleuchten in seinen Augen war flüssiger Honig um meine Brust.
„Was machst du denn hier?“
„Auf dich warten, was denn sonst? Ich wollte dich sehen“
Manuels Arm schlang sich um meine Mitte und zog mich mit ihm.
„Ich dich auch. Ich hatte sowieso vor noch kurz bei dir vorbei zu schauen“
„Von mir aus auch gerne etwas länger“, meinte ich grinsend.
Warum eigentlich nicht gleich das ganze Wochenende?
Abrupt blieb Manuel stehen.
„Was ist?“
„Mist! Das habe ich ganz vergessen dir zu sagen“, sein Blick war schuldbewusst.
„Was denn?“
„Ich bin dieses Wochenende bei Richard – meinem Vater“
„Was? Das ganze Wochenende?“
„Ich geh heute noch zu ihm und bin bis Sonntagabend dort“
Meine Vorfreude sauste mit Lichtgeschwindigkeit Richtung Erdkern. Ich hatte mich so nach der Zeit mit ihm gesehnt.
„Leif es tut mir leid, ich hatte es total vergessen“
Ich versuchte meine Enttäuschung so gut wie möglich zu verbergen, da ich sehen konnte, wie unwohl sich Manu fühlte. Es tat ihm wirklich leid. Unterdrückt seufzend legte ich ihm meine Arme um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.
„Wie lange haben wir noch, bevor du verschwindest?“
„Eine gute Stunde“
Ich schmiegte mich nahe an Manuel und flüsterte an sein Ohr: „Dann sollten wir daraus eine unvergessliche Stunde machen“ Er biss in mein Ohrläppchen und zog mich mit sich. Er hatte es definitiv eilig, was mir ein verruchtes Lächeln auf die Lippen zauberte.
An der Strasse stehend, winkte ich etwas unbeholfen dem Auto, das Manuel von mir weg brachte. Als er abbog, stiess ich einen tiefen Seufzer aus. Das würden zwei verdammt harte Tage werden.
Mit einem Körper, der sich anfühlte, als wären alle Knochen geschmolzen, und mich so an diese wahrhaft unglaubliche Sternenstunde erinnerte, ging ich ins Haus zurück. Ja, wir hatten unsere Zeit genutzt, und alles vom jeweils anderen in uns aufgesogen, aber das musste nun ein ganzes Wochenende reichen.
Allein der Gedanke bereitete mir schlechte Laune. Da mein Körper sowieso völlig erschöpft war, legte ich mich aufs Sofa und ruhte mich beim leisen Surren des Fernsehers ein wenig aus. Bald schon fielen mir die Augen zu und ich glitt in einen tiefen, friedlichen Schlaf.
Das Summen meines Handys weckte mich. Brummend rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und setzte mich auf.
Absender: Manuel
An: Leif
Ich vermisse dich jetzt schon!
Absender: Leif
An: Manuel
Ich dich auch!
Das war nicht einmal ansatzweise die Wahrheit! Vermissen? Ich tat viel mehr als das. Schon jetzt fühlte ich mich nicht gut. Es war ein schwer zu beschreibendes Gefühl. Als würden in meinem Körper Teilchen fehlen und so den ganzen Betrieb aufhalten. Vor allem mein Herz schien etwas zu missen. Etwas Wichtiges.
„Oh Schatz du bist wach“
Meine Mutter hatte ich gar nicht bemerkt, die am Esszimmertisch sass und die Klatschhefte durchforstete. Schlurfend ging ich zu ihr und setzte mich.
„Stimmt etwas nicht?“
„Manuel ist bei seinem Vater“, brummte ich nach wie vor verschlafen und missmutig. Nun legte meine Mum ihren Lesestoff weg und musterte mich, während ich mit den Ellenbogen aufstützte und meinen Kopf auf die Hände legte.
„Aber das ist doch schön, er sieht ihn doch offensichtlich nicht so regelmässig“
Wieder ein unbestimmtes Knurren. Wenn man es von ihrer Seite betrachtete, mochte das stimmen, aber mir war meine Ansicht lieber.
„Nicht gut?“, hakte meine Mutter nach.
„Das ganze Wochenende“
„Ach jetzt weiss ich, warum du so eine Schnute ziehst“
„Mum ich bin doch kein trotziges Kleinkind!“
Sie begann zu lächeln.
„Nein du bist mein total verliebter Sohn“
Meine Wangen färbten sich rosa.
„Du, ich schleppte dich gerne zum Shoppen, um dich abzulenken“
Himmel, nein!
Meine Hände schossen abwehrend in die Luft.
„Nein schon gut, danke“
Einkaufen mit ihr, war der Inbegriff der Folter. Stundenlang von einem Landen in den nächsten rennen, bis einem die Füsse bluten. Darauf konnte ich nun wirklich verzichten.
„Schade eigentlich, weisst du eine meiner Kolleginnen hat ein Kind bekommen, du hättest mir helfen können das passende Geschenk zu finden“
Ein schriller Alarm schwirrte durch mein Gehirn.
„Manuels Geburtstag“, murmelte ich vor mich hin. Den hatte ich beinahe vergessen! Ich brauchte auf jeden Fall ein Geschenk, nur was?
„Das sieht fast so aus, als wäre ich doch nicht allein beim shoppen“, grinste meine Mutter. Unwillkürlich begannen meine Fusssohlen zu brennen. Zu Recht. Ja die wussten was da auf sie zukam.
Völlig ausser Puste schmiss ich mich aufs Bett. Am liebsten hätte ich mir die Füsse abgehackt. So sehr brannten sie. Kein Wunder! Den ganzen Samstag war ich meiner Mutter hinterher gerannt, die wie von der Tarantel gestochen, in jeden Laden gesteuert ist. Vorzugsweise in die mit den meisten Leuten darin. Das Schlimmste aber war, dass ich völlig umsonst meine Schuhsohle zum Schmelzen gebracht habe. Ein Geschenk für Manuel hatte ich nach wie vor nicht.
Mist!
Ich hatte einfach keine Ahnung, was ich ihm schenken konnte. Ausserdem vermisste ich ihn schrecklich. Kraftlos strampelte ich meine Schuhe ab, drückte mir ein Kissen auf den Kopf und schloss die Augen. Ich war müde und hatte den Plan, die Zeit bis Manuel wieder zurück kam einfach zu verschlafen.
Meine Augen brannten bereits und die Buchseiten verschwammen vor meinem Blick. Aber so wirklich verstehen tat ich es sowieso nicht. Musste ich auch nicht, das Buch sollte mich nur ablenken. Manuel hatte mir gestern noch geschrieben, dass er nicht wisse, wann er wieder zu Hause sei. Ich würde ihn also erst Morgen in der Schule wieder sehen. Ganz und gar nicht was ich mir wünschte, aber ich hatte ja nicht die Wahl.
Seufzend legte ich das Buch auf den Nachtisch und wollte das Licht löschen, als es leise Klopfte.
Was will meine Mum denn jetzt?
Nur widerwillig verliess ich mein warmes Bett, öffnete die Tür – und hielt den Atem an. Sofort bekam ich Herzrasen und meine Mundwinkel wanderten nach oben.
„Hey!“, sagte ich freudig.
„Leif“
Manuel klang müde und nun da ich die erste Überraschungsstarrte überstanden hatte, musterte ich ihn. Sein Anblick war ungewohnt. Wie aus dem Ei gepellt. Mit einem perfekt sitzenden grauen Anzug, polierten Schuhen, weissem Hemd und silberner Krawatte, stand er vor mir. Im Gegensatz zu ihm, trug ich nur Shorts und Shirt. Doch was mich stockend einatmen liess, war sein Gesicht. Manuel war bleich und unter seinen fast schon glasig wirkenden Augen lagen dunkle Schatten. Schnell zog ich ihn in meine Arme und schmiegte mich an ihn. Er roch herrlich und seinen warmen Körper wieder an meinem zu spüren, liess das Gefühl von Frieden in mir aufwallen. Manu bettete seinen Kopf auf meinem, ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Kopfhaut fühlen.
„Du siehst müde aus“, murmelte ich mit geschlossenen Augen.
„Langes Wochenende“
Seine Stimme berichtete davon in erschöpften Ton, während seine Lippen meine Haare streiften.
Vorsichtig löste ich mich von ihm, öffnete den Krawattenknoten und zog sie ihm aus, ihr folgte das Sakko, beides hängte ich über meinen Stuhl, ehe ich Manuel zum Bett führte.
„Setz dich“
Mit sanfter Gewalt drückte ich ihn an den Schultern auf die Matratze. Rasch zog ich ihm die Schuhe aus und kletterte dann hinter ihn.
„Leif was wird – mhh…“, seufzte er, als ich meine Arme um ihn schlang und immer wieder seinen Hals küsste. Allmählich löste sich seine Anspannung und sein Körper schmiegte sich gegen meine Liebkosung.
„Ich habe dich vermisst“, raunte er und drehte seinen Kopf um mich zu küssen. Dann sah er in meine Augen.
„Mein Stück Himmel“, sagte er mit einem trägen Lächeln auf den Lippen. Ich hüpfte aus dem Bett und zog die Decke zur Seite.
„Leg dich hin“ Manuel kam meiner Anweisung nicht nach, also legte ich mich hin und zog ihn einfach mit mir. Ich kuschelte mich an seine Brust, den Kopf an seiner Halsbeuge, deckte uns beide zu, löschte das Licht und schlang meine Arme um ihn. Er tat es mir gleich.
„Ruh dich aus“
Manu hob den Kopf und küsste mich auf die Stirn und den Haaransatz.
„Ich liebe dich“, murmelte er wobei ich mir sicher war, dass er schon mehr schlief als wach war. Trotzdem summte mein ganzer Körper angenehm und Manus Anwesenheit beruhigte mich, dass auch meine Augenlider bald schwer wurden. An ihn gekuschelt, von seinem Geruch und seiner Wärme eingehüllt sein, das hatte ich mir zwar schon vorgestellt und bereits in meiner Fantasie war es wunderbar gewesen, aber es jetzt in Wirklichkeit zu tun, war einfach unbeschreiblich.
„Ich liebe dich auch“
Etwas Positives hatte die letzte Woche vor den Ferien definitiv an sich. Die Zusatzfächer fielen alle weg.
Weswegen ich nun auch in Manus Flur stand und zusehen konnte, wie er die Treppen hinunter eilte und mich anlächelte. Mir wurde leicht ums Herz, als ich ihn in dunklen Jeans mit Shirt und Jacke sah, die Kleidung symbolisierte diese lockere Art, die Manuel jetzt wieder sein Eigen nannte. Ganz im Gegensatz zu gestern, als er, auf Hochglanz poliert, bei mir erschienen war. So geschäftlich und distanziert mochte ich meinen Freund nicht.
Wärme stieg mir ins Gesicht, zusammen mit einem sorglosen Grinsen, wie es jedes Mal passierte, wenn ich Manuel als meinen Freund bezeichnete.
Gott, ist die Welt doch schön!
„So wir können gehen“
Ich nickte, sah aber immer noch die Treppe hoch. Neun Stufen und ein paar lächerliche Schritte, trennten Manuel und mich von seinem Schlafzimmer, besser gesagt von seinem Bett…
Sofort dachte ich an Manuel, wie er nackt über mir war, lächelnd mit gerötetem Gesicht, die Haare fielen ihm in die Stirn und sein –
„Ich wäre jetzt auch lieber da oben, aber das müssen wir auf später verschieben“, raunte Manuel mir ins Ohr, seine Hand wanderte unter mein Shirt und strich über meinen Bauch. Ich bekam Gänsehaut und meine Ohren begannen zu glühen. Fragend sah ich ihn an.
Steht auf meiner Stirn etwa, wie scharf ich gerade bin?
Auf deiner Stirn na klar! Eher in deiner Hose! Lachte mein Hirn, das erstaunlicherweise noch genug Blut dazu zu haben schien.
Manuel nahm mich an der Hand und ging los.
„Aber schliesslich ist aufgeschoben ja nicht aufgehoben“, murmelte er an meine Lippen, bevor er mir einen Kuss stahl. Herrje ich war mal wieder hoffnungslos verloren. Mit weichen Knien folgte ich Manuel.
„Zum Glück nicht“, stimmte ich zu, während wir das Haus verliessen.
Langsam aber sicher wurde es bitter kalt. Der Winter war definitiv da. Leider, wäre jetzt Sommer, könnte ich nach der Schule mit Manu schwimmen gehen, ihm zusehen wie er seinen köstlichen Körper in der Sonne bräunt, der nur von einer Badehose bedeckt ist, oder vielleicht mit nichts? Mir lief das Wasser im Mund zusammen und bei jedem einzelnen Schritt begann es zwischen meinen Beinen zu ziehen.
„Sag mal, an was für Schweinereien denkst du denn gerade?“
Ertappt sah ich zu Manuel, der verrucht grinste und mir zu zwinkerte. Und wieder fragte ich mich, woher er wusste, was ich dachte. Vielleicht hatte er mit meiner Mum einen Deal und so hatte er auch Zugriff auf den Sensor in meinem Gehirn, der ihm immer verriet was ich dachte.
Manuel schien dieses Mal gnädig mit mir zu sein, denn er erklärte: „Deine Augen wirken immer so verschleiert, wenn du erregt bist“
Dieses Mal wusste ich was meine Augen machten! Sie starrten ihn völlig entsetzt an!
„Oh Leif, mein Stück Himmel“, japste er während er erheitert lachte. Ich hingegen wusste nicht Recht wie mir geschah. Sein Lachen war wie eine Droge, die mich glücklich machte. Andererseits verarbeitete ich Manuels Worte. Meinem Vater, dessen Augen ich zweifellos geerbt hatte, konnte man früher auch vieles aus seinen Seelenfenstern ablesen. Ziemlich passende Bezeichnung eben. Aber mir wurde mulmig zu Mute, wenn ich überlegte, wie oft ich Manuel schon angesehen hatte und an solchen Fantasien hängen geblieben war. Wie oft hatte Manuel gewusst was ich mir gerade vorstellte? Allein der Gedanke verknotete meinen Magen. Mein Freund lachte immer noch, ihn befremdete diese Sache wohl überhaupt nicht.
Warum also mich?
Schulterzuckend sagte ich: „ Tja gewöhn dich an diesen Anblick. In den Ferien wirst du ihn sehr häufig zu sehen bekommen“ Wow, ich klang ziemlich selbstbewusst. Manuel sah mich grinsend an.
„Das hoffe ich“ Dieses Mal war aber mir der Ausdruck in seinen Augen aufgefallen. Für einen Sekundenbruchteil hatten die Smaragde ihren Glanz verloren.
„Du bist in den Ferien gar nicht da, oder?“, fragte ich meiner Intuition folgend. Er seufzte.
„Die erst Woche nicht. Nein“, seine Stimme war tief. Entschuldigend, vielleicht sogar bedauernd.
„Du bist bei deinem Dad“, stellte ich fest. Manuel sah mich unergründlich an.
„Es tut mir leid, dass wir die erste Woche getrennt sind, aber –“
„Hey! Du musst dich doch nicht entschuldigen, dass du bei ihm bist“
Unwillkürlich dachte ich an meinen eigenen Vater zurück. Gerne wüsste ich ihn hier…
Unerwartet zog mich Manuel an sich.
„Das mit deinem Vater tut mir auch leid“ Ich schlang meine Arme um ihn und Manu drückte mich fester an seinen Körper.
„Woher?“, murmelte ich an seinen Hals.
„Letztes Mal beim Essen, als ich deiner Mutter von Richard erzählt hatte, saht ihr beide so traurig aus, da wusste ich es“
Mit geschlossenen Augen nickte ich. Die Erinnerungen an meinen Vater brannten mir in der Seele. Nach einigen zittrigen Atemzügen sagte ich leise: „Er ist gestorben. Vor einem Jahr. Leukämie“ sofort schüttelte es mich und ich vergrub mein Gesicht an Manuels Halsbeuge, liess mich von seinem Geruch beruhigen, während eine Hand meinen Rücken streichelte und die andere auf meinem Kopf lag.
So standen wir still da, bis ich mich wieder gefasst hatte.
„Meine Augen hab ich von ihm“, brach ich die Stille.
„Sie sind wunderschön“, meinte er lächelnd und hauchte mir einen Kuss auf den Mund.
„Du bist es. Ich könnte dich für immer ansehen. Dieses Wochenende war hart, weil ich es nicht konnte“, gestand er, was mich kindischer Weise freute. Ich gab ihm einen Kuss. Manuel reagierte sofort, erwiderte den Kuss, der eigentlich hätte kurz sein sollen, strich mit der Zunge fragend über meine Unterlippe und begrüsste dann mein Gegenstück. Mein Körper begann angenehm zu kribbeln und als Manuel sich wieder löste, hörte ich mein Blut in den Ohren rauschen. Mit seinen Händen umrahmte er mein Gesicht, während ich ihn an den Seiten festhielt.
„Dich eine ganze Woche nicht zu sehen, wird mich umbringen!“, raunte er, während mich ein wahrer Geistesblitz durchschlug.
Ja das ist es!
Nun wusste ich was ich Manuel zum Geburtstag schenken würde! Zufrieden lächelnd sah ich ihm in die Augen. Die Beschaffung sollte kein Problem werden. Manuel hatte heute noch Fussballtraining. Das war meine Chance!
Wir betraten gerade die Eingangshalle, als Jaqueline uns entdeckte. Gut, vermutlich sah sie nur Manuel und liess mich ausser Acht, und kam auf uns zu. Sie lächelte breit, dann schlug sie Manu auf die Schultern.
„Hey Manu!“
„Hey Leif!“, sagte sie nicht weniger lächelnd. Beinahe hätte ich sie schräg angesehen. Dass sie mich begrüsste war etwas Neues. Aber ich musste zugeben, Jack wirkte wirklich sympathisch. Da ihre Haare zum Zopf geflochten waren, konnte ich sogar ihre feinen Sommersprossen sehen, die sich über ihrem Stupsnäschen und ihren Wangenknochen tummelten.
„Hey Jack, na alles klar?“, wollte Manuel wissen, während ich mich immer noch fragte, warum sie nett zu mir war. Vielleicht dachte sie, Manuel und ich wären Kumpels und sie musste mich gut behandeln, da sie offensichtlich mit Manu gut auskam. Möglich wäre es zumindest, wir hatten unsere Beziehung nicht verheimlicht, allerdings hatte sie uns vielleicht noch nie so zusammen gesehen? Momentan wirkten wir auch nicht auffällig, küssten uns nicht, umarmten uns nicht, wir berührten uns ja nicht einmal.
„Alles super“
„Aber?“, sagten Manuel und ich wie aus einem Mund. Beide hatten wir ihren Unterton gehört und nun sahen wir das Glitzern in ihren Augen. Da war was im Busch! Zuerst musterte sie uns und grinste.
„Naja das Turnier ist – “
„Jack ich hab es dir doch schon gesagt, ich kann nicht“
Verwirrt sah ich die beiden an. Vorwiegend meinen Freund, wie auch nicht, bei solch einem fantastischen Anblick!
Abrupt schlang Jaqueline einen Arm um Manuels Schultern und den anderen um meine, so dass sie zwischen uns stand.
„Sag mal Leif, würdest du bitte deinen Freund überreden? Wir brauchen ihn!“ Perplex sah ich in ihr strahlendes Gesicht, in welchem sich gerade ein Schmollmund bildete.
Okay, sie weiss von uns!
Meine Eingeweide tanzten nervös umeinander. Schulterzuckend sah ich zu Manuel, dieser lächelte nur.
„Du schreckst echt vor nichts zurück, jetzt bedrängst du auch noch Leif!“, sagte er gespielt schockiert. Ich hingegen war wieder einmal damit beschäftigt die flauschig weiche Kreatur in mir zu fühlen, wie sie sich in meiner Brust ausbreitete und zufrieden schnurrte. Für Manuel war es das normalste der Welt mich zu lieben, während es für mich die Welt bedeutete! In Momenten wie diesen, konnte ich seine Liebe zu mir einfach nicht fassen. Sie war so bereitwillig gegeben, rein und allesumfassend.
Nun bemerkte ich, wie Manuel mir lächelnd in die Augen sah. Hoffentlich schrien ihm diese nicht wieder entgegen was ich dachte.
Oder, warum eigentlich nicht? Soll er nur sehen, was ich für ihn empfinde.
„Wann ist denn dieses Turnier?“, fragte ich interessiert, was Jack nur noch mehr strahlen liess.
„In der zweiten Ferienwoche am Donnerstag, du kannst natürlich mitkommen. Fans die unseren Sieg mit uns feiern, sind herzlichst willkommen“
Das unsere Mannschaft den Sieg erringen würde, stand für mich ausser Frage. Nicht weil ich unseren Fähigkeiten vertraute, nein, ich wusste aber, dass die Mannschaften gemischt waren und das die Mädchen bei Manuels Anblick einfach völlig hingerissen sein würden. Und ein Team gewann nicht, wenn die Hälfte, meinem Freund hinterhersabbernd da stand. Eins war klar, falls Manu spielen würde, musste ich mitgehen! Nur um ihn zu bejubeln und vielleicht das ein oder andere Auge auf die Mädchen zu werfen, im Falle dass die auf falsche Gedanken kämen…
Jaqueline wuschelte durch meine Haare. „Hey!“
„Siehst du Manu? Leif ist auch dafür, dass du spielst!“ Dieser schüttelte den Kopf.
„Soweit ich weiss, hat er das nicht gesagt“
Stimmt, hatte ich nicht, aber der Gedanke ihn in kurzen Hosen durch eine Halle sprinten zu sehen und seinen athletischen Körper zu beobachten, war mehr als verlockend.
Jack ignorierte Manus Einwand geflissentlich. „Klasse, na dann wäre das ja gebongt!“
Mit einem Lachen im Gesicht, das lediglich durch ihre Ohren daran gehindert wurde, einmal rund um den Kopf zu gehen, wandte sie sich ab und ging.
„Ich dachte, die zweite Woche gehört nur uns?“, fragte Manuel mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Tut sie auch“
„Wie soll das gehen, wenn ich spiele?“
Auf so etwas in der Art hatte ich nur gewartet. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und flüsterte: „Keine Sorge, ich werde dich danach fürstlich entlohnen“
„Na wenn das so ist“, murmelte er, seine Hände auf meinem Kreuz wanderten langsam weiter nach unten, bis sie auf meinem Hintern zu liegen kamen. Gerade wollte ich ihm etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich Caleb sah. Sein Gesicht war eine teuflische Fratze, die mir das Blut in den Adern gefrieren liess. Mit tötenden Blicken, ging er an uns vorbei, nicht ohne kurz zurück zu sehen, eine würgende Geste formend. Unwillkürlich schmiegte ich mich näher an Manuel, was dieser mit einem warmen Seufzen quittierte.
Mein Zuhause… Mein sicherer Ort…
Mit mir selbst mehr als zufrieden, ging ich leichten Schrittes durch den Flur, zu meinem Spint. Dort angekommen, nahm ich das Geschenk für Manuel aus meiner Tasche und begutachtete es noch einmal. Es war schön verpackt in silbernem Papier und mit hellblauer Schleife. Wenn ich an den Inhalt dachte, musste ich freudig grinsen. Ich hatte genau das bekommen, was ich wollte. Am liebsten wäre ich gleich zu Manuel gegangen und hätte es ihm gegeben.
Noch nicht Leif, schellte ich mich selbst und legte es in den Spint. Die Spannung brachte mich fast um, ich wollte sehen wie er reagierte, wenn er das Geschenk auspackte! Ein glückliches Strahlen sollte in seinen Augen glänzen. Mein Körper war ganz hibbelig. Mit ekstatischen Schmetterlingen im Bauch, machte ich mich auf den Weg. Mein Freund – würde ich jemals müde werden, ihn so zu nennen? – hatte zwar noch Training, doch ihm zuzusehen machte mir nichts aus. Schliesslich war ich doch so selbstlos…
Ein kurzes Lachen konnte ich mir nicht verkneifen.
Durch die grosse Fensterseite, der Halle, sah ich meine Mitstudenten in zwei Teams gegeneinander spielen. Hier draussen war es bitterkalt und ich hatte mir auch überlegt von innen zuzuschauen, doch dort allein auf der Tribüne sitzen wollte ich nicht.
Also war ich hier auf der Seite der Turnhalle, die nur aus Glas bestand und die zum See hin lag. Als Manuel, geschickt wie er war, einem Gegenspieler den Ball abluchste, ging ich mir dem Gesicht näher ans Glas. Caleb stellte sich ihm in den Weg, was mir kurz Sorgen bereitete, denn dieser hatte einen bissigen Ausdruck in seiner schweissigen Visage. Manuel hingegen schien beinahe vor diesem zu tanzen und ihn schweigend aus dem Konzept zu bringen, ein siegessicheres Lächeln auf den Lippen. Schneller als es mein Gehirn verarbeiten konnte, zog Manu an Caleb vorbei, aufs Tor zu. Calebs Knurren konnte ich fast schon hören, bevor er ihm hinterher rannte und Manu in die Beine grätschte. Dieser passte den Ball zum freistehenden Tom, der den Ball ins Eckige schob. Doch das sah ich nur im Augenwinkel, viel zu sehr war ich damit beschäftig mein Herz weiter schlagen zu lassen, als Manuel zu Boden ging. Sofort zuckte ein Stromschlag durch meinen Körper. Ich wollte zu Manuel, sehen ob er verletzt war! Aber da war schon Jack bei ihm, zog ihn auf die Füsse und klopfte ihm grinsend auf die Schulter.
„TOR!“ Schrien Tom, Jack und Manu. Lächelnd atmete ich tief durch. Alles okay.
Doch plötzlich spürte ich den tötenden Blick von Caleb auf mir. Er hatte mich entdeckt. Unwillkürlich schluckte ich hart und hatte das Bedürfnis einen Schritt nach hinten zu machen. Meine Nackenhärchen stellten sich auf, der Gefahr entgegen. Der Trainer pfiff zu einer Pause und alle versammelten sich, griffen nach ihren Flaschen und tranken, während sie miteinander herum alberten. Nur einer nicht. Caleb. Dieser versuchte nach wie vor, mich mit Blicken zu pulverisieren.
Was habe ich ihm denn jetzt schon wieder getan?
Vermutlich brauchte er keinen Grund mich zu hassen. Ich entschied mich, es erst einmal gut sein zu lassen und schlenderte den Weg zum See hinunter. Dieser war nur mit einem Geländer, aus einer horizontal verlaufenden Eisenstange bestehend, gesichert. Etwas weiter, befand sich ein Steg mit einer Bank darauf, dort wollte ich mich niederlassen.
Dazu kam es nicht…
„Hey Schwedin!“, schrie Caleb hinter mir, was mich schreckvoll zusammen zucken liess. Stockend einatmend, wandte ich mich um. Er, gefolgt von Tom, was mich nun wirklich nicht überraschte, kam schnell auf mich zu.
„Was willst du?“, fragte ich und straffte die Schultern. Ich würde jetzt nicht klein beigeben. Intuitiv dachte ich an Manuel. Er gab mir Kraft und Stärke. Liebe.
„Du Schwuchtel!“
Mein Atem beschleunigte sich, denn Caleb kam immer näher.
„Geht dir einer ab, wenn du zusiehst?“, knurrte er weiter, während Tom schweigend neben ihm stand. Irgendwie betreten, aber vielleicht fror er auch nur, war ja wirklich kalt.
„Was redest du da?“, versuchte ich bemüht ruhig.
Nun war er direkt vor mir, ich konnte das dunkle in seinen Pupillen sehen.
„Du scheiss Arschficker!“
Noch ehe ich reagieren konnte, stiess er mich brutal nach hinten.
Ein dunkles Krachen…
Wie eine Axt die mich am Hinterkopf traf… Meine Schädeldecke spaltete…Schmerz…
Unförmige Schemen vor meinen Augen und dann… Dunkelheit…
So kalt… Muss atmen…
Kann nicht… Etwas zwang sich meine Kehle hinunter… Nadeln auf der Haut…
„Leif!“
Wer? Manuel…?
Eine Schlange packte meinen Oberkörper und zog mich in den Sternenhimmel. Die Gestirne wurden hell, verzweifelt blinzelte ich dagegen an... Wieder diese Schatten vor meinen Augen...
„Leif komm schon! Hey bleib wach!“
Doch, dieses Mal war ich mir sicher, Manuels Stimme zu hören.
Ich muss zu ihm…
Wieder zwang ich meine Augen auf…
Endlich!
Da war er. Sein wunderbares Gesicht vor meinen Augen.
Sein Anblick war Sicherheit und ich liess mich bereitwillig in die Schwärze ziehen…
Etwas kaltes berührte meine Stirn, dann war es weg.
Was ist das? Wo bin ich? Und – Au!
Auf einen Schlag übermannten mich tierische Kopfschmerzen. Herrgott, es fühlte sich an als hätte man mir eine übergebraten. Und zwar mit voller Kraft. Ich versuchte mich zu erinnern, doch der Weg durch meine Erinnerungen war versperrt und mit Nebel umwoben, der sich nur langsam zu lichten gedachte. Mein Geist war müde und sein Gefäss war taub. So wirklich konnte ich meinen Körper nicht spüren, dennoch versuchte ich nach und nach verschiedene Körperteile zu bewegen. Zuerst nur den kleinen Zeh, als das funktionierte folgten Fuss, Fingerspitzen und schliesslich die Augenlider. Wahre Begeisterung erhielt ich dafür aber nicht. Sie sträubten sich hartnäckig und so dauerte es einige Minuten, bis ich endlich sehen konnte.
Das hier ist mein Zimmer, stellte ich fest. Genauer gesagt, lag ich in meinem Bett.
„Leif“, sagte Manuel, den ich auf der Bettkante sitzend entdeckte. Augenblicklich musste ich lächeln, mein Herz wurde von Wärme eingehüllt, die allmählich meinen gesamten Körper aus seiner Taubheit zog. Für einen Moment erlaubte ich mir, meinen Freund einfach nur anzusehen. Seine Augen glitzerten, doch seine Haut war blass, fast weiss und seine sinnlichen Lippen hatten, wenn mich meine müden Augen nicht im Stich liessen, eine bläuliche Färbung.
„Wie geht es dir?“
Die Antwort auf seine Frage, wusste ich nicht genau. Das Hämmern in meinem Kopf veranlasste mich dazu, nicht allzu viel nachzudenken.
„Gut, glaube ich“
„Gott bin ich froh! Ich habe mir solche Sorgen gemacht“
Seine Hand umschloss meine.
Verdammt ist meine Hand kalt! Oder ist das seine?
„Was ist denn passiert?“
„An was kannst du dich denn erinnern?“
Daraufhin zuckte ich unbeholfen mit den Schultern.
„Ich hab dich Fussballspielen sehen… Dann bin ich zum See“, bruchstückhaft kehrte meine Erinnerung zu mir zurück und der Nebel löste sich auf.
„Caleb war da… Und Tom… Mehr weiss ich nicht mehr“
Manuel nickte verstehend.
„Was ist passiert?“, fragte ich erneut, als Manuel scheinbar gedankenverloren in meine Augen sah, auch er wirkte müde und irgendwie traurig. In Sekundenschnelle verblasste Manuels liebevoller Blick und in seinem Gesicht breitete sich etwas Zorniges aus. Wut liess Manuels Lippen zu einem schmalen Strich werden und angespannte Muskeln in seinem Kiefer zucken.
„Er hat dich gestossen. Du bist gestürzt und mit dem Kopf gegen das Geländer geprallt und… ins Wasser gefallen“, Manuels Stimme klang verbissen. Seine Hand ballte sich zu einer Faust, sodass die Knöchel weiss hervorragten.
Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern. Der Aufprall würde zumindest meine unsäglichen Kopfschmerzen erklären.
Aber Moment mal!
„Wie bin ich denn da wieder raus gekommen?“, denn ich war mir sicher, dass ich nicht selbst raus gekommen bin. Dass Caleb mir helfen würde, war auch ausgeschlossen. Manuel fuhr sich durch die Haare. Jetzt fiel es mir wir Schuppen von den Augen.
Wie hat mir das entgehen können?!
Manuels Haare waren nass, seine Haut weiss, die Lippen bläulich und was mich am meisten schockierte, er sass an meinem Bettrand, in den selben Sachen, die er beim Training anhatte. Kurze Hosen und Shirt bei diesem Wetter! Und alles war feucht!
„Du!“, sagte ich fassungslos.
Er ist in den See gesprungen! Der ist doch arschkalt!
„Natürlich!“, gab Manuel wie selbstverständlich von sich und stand auf.
„Ich habe gesehen, wie Caleb in der Pause verschwunden ist, da hatte ich gleich ein schlechtes Gefühl. Vor allem, als du nicht mehr zu sehen warst. Also ging ich nach draussen. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als ich gesehen habe, wie Caleb dich nach hinten stösst, du mit dem Kopf aufschlägst und dann in den See fällst!“ Auch wenn die Situation überhaupt nicht passend war und Manuels Gesichtsausdruck hart und erst war, musste ich lachen. Trotz meines protestierenden Kopfes. Jetzt wusste Manuel also wie es mir immer erging.
Herzinfarkt.
„Leif?“, Manuel sah mich an skeptisch an. Vermutlich dachte er, ich hätte einen Anfall oder so.
„Du spinnst, weisst du das?“, sagte ich ihm nachdem ich mich wieder beruhigt hatte.
„Danke. Warum genau?“
„Weil du ins eiskalte Wasser gesprungen bist und jetzt immer noch in den Sachen vor mir sitzt!“
Verwirrt sah Manuel an sich herunter, als wäre diese Information etwas Neues für ihn.
„Ich hab das gar nicht bemerkt. Nachdem ich dich nach Hause gebracht hab, hatte ich wichtigeres zu tun, als mich darum zu kümmern“
„Du hast mich nach Hause gebracht? Wie?“
Mein Freund zuckte mit den Schultern. „Getragen“
Jetzt schien er die Kälte aber doch zu spüren. Ich konnte sehen, wie er leicht zitterte. Tausend Fragen schossen durch mein schmerzendes Gehirn, doch die waren alle nicht vorrangig.
Schneller als es meinem Kopf lieb war, schlüpfte ich aus dem Bett. Dass ich nur Shorts trug notierte ich mir nur nebenbei. Einige Herzschläge lang stand ich Manuel einfach gegenüber, strich mit der Hand über seine Wange. Seine Haut schien pures Eis zu sein. Glatt aber ebenso kalt.
Blitzschnell packte Manuel mich am Genick und schon lagen seine Lippen auf meinen. Er überfiel mich mit solch einer Verzweiflung, dass ich die Sorge, die er wegen mir hatte, wie meine eigene spüren konnte. Sie umklammerte mich nun ebenso wie ihn, was mir das Herz zerriss. Ich wollte nicht, dass er solchen Kummer erlitt. Schnell zog ich ihn an mich, sodass unsere Körper sich auf ganzer Länge berührten. Kontakt. Nähe. Nur das zählte. Er küsste mich um jegliche Besinnung, nahm alles von mir, was ich ihm bereitwillig gab und erhielt so viel von ihm zurück. Manuels Hände umschlossen mein Gesicht und wenn ich auch um nichts in dieser Welt aufhören wollte, zuckte ich zurück.
„Scheisse, hab ich dir wehgetan?“, wollte er sofort erschrocken wissen.
„Nein!“
Eilig küsste ich ihn erneut, doch die Kälte seines Körpers war auch noch durch die Flammen unserer Liebe zu spüren.
„Manuel du bist eiskalt!“
Schweratmend sah er mich an. Plötzlich war die Eile verschwunden und Ruhe legte sich über uns. Mit einem sanften Lächeln schob ich ihm langsam das Shirt über dem Kopf.
„Du musst doch entsetzlich frieren!“, sagte ich als ich die Gänsehaut auf seinem gesamten Oberkörper sah.
Manuels Hände legten sich auf meine Schultern und er sah mich eindringlich an.
„Ich bin einfach nur froh, dass es dir gut geht! Alles andere ist egal!“
Tatsächlich begannen meine Augen zu brennen und meine Kehle wurde eng. Wie würde ich ihm jemals begreiflich machen können, was ich für ihn fühlte?
„Du solltest dich wieder hinlegen, du siehst müde aus“, murmelte Manuel und strich mir über die dunklen Stellen unter meinen Augen.
„Ich bin auch müde, aber du solltest dich auch etwas ausruhen“
Er nickte und für einen Sekundenbruchteil hatte ich die Befürchtung, er würde jetzt nach Hause gehen. Ehe das passieren konnte, legte ich mich ins Bett und streckte die Hand nach ihm aus. Seufzend entledigte er sich seiner Schuhe und seiner Kleidung bevor er zu mir ins Bett stieg und ich die Decke wieder über uns ausbreitete.
Das erste Mal, seit ich hier wohnte, ärgerte ich mich über mein grosses Bett. Manuel war viel zu weit weg! Ich drehte mich zu ihm und konnte ausmachen wie seine Unterlippe zitterte. Die feuchte Kälte hatte ihn endgültig eingeholt.
Der Abstand zwischen uns, gefiel mir nicht, denn ich spürte wie sich ängstliche Gefühle in mir regten. Caleb hatte praktisch versucht mich zu ertränken.
Wer weiss, ohne Manuel…
Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es war ihn morgen wieder zu sehen. Unwillkürlich schüttelte es mich.
„Könntest du mich festhalten?“, murmelte ich unsicher.
„Ich kühle dich nur noch mehr aus, aber ich könnte dir noch eine Decke –“
„Bitte Manuel“, flehte ich, während mich die schrecklichen Gedanken immer mehr überfielen. Nun rutschte Manuel ohne weiteres Zögern zu mir und zog mich in eine feste sichere Umarmung. Er hatte tatsächlich die Temperatur eines Tiefkühlgerichts, aber das war mir egal. Seine Hände hinterliessen auf meinem Rücken dennoch heisse Spuren.
„Ich konnte dich nicht beschützen“, sagte Manuel und brach die Stille. Sein Körper spannte sich an und seine Stimme klang vorwurfsvoll.
„Wie meinst du das?“, sein Ton alarmierte mich. Ich sah in seine Augen, doch er fixierte einen nicht existierenden Punkt in der Luft.
„Ich konnte es nicht verhindern“, wiederholte er, sein Gesicht verzog sich, als ob er Schmerzen erleiden würde.
Wild kopfschüttelnd schmiegte ich mich fester an ihn.
„Du hast mich gerettet! Wärst du nicht gewesen…“, ich konnte den Satz nicht vollenden, plötzlich wurde mir bewusst welches verdammte Glück ich gehabt hatte und was alles hätte passieren können, wäre Manuel nicht gewesen.
Er ist mein Glück...
Nun schlangen sich auch seine Arme fester um mich.
„Ich kann dich nicht verlieren Leif! Ich kann es nicht! Ich –“
„Hey! Ich bin hier! Bei dir und nur hier will ich sein! Ich liebe dich!“, erwiderte ich schnell, als ich den schmerzvollen Ton von Manuel hörte. So verzweifelt, dass es mich fast weinen liess. Nur mühsam bekämpfte ich die Tränen. Ich begann seinen Hals und jedes Stückchen freie Haut an das ich heran kam zu küssen, in der Hoffnung die bösen Gedanken vertreiben zu können. Ihm meine Liebe zu beweisen!
Und es schien zu wirken. Die Anspannung entwich mehr und mehr seinem Körper.
„Ich liebe dich! So sehr! Hörst du? Du machst mich glücklich. Mehr als das!“, sagte ich eindringlich und besiegelte meine Worte mit weiteren Küssen. Das würde ich ewig machen, auch wenn die Müdigkeit und meine Kopfschmerzen an mir rissen und mich mein Hirn zum Schlafen aufforderte.
„Ich liebe dich auch, mein Stück Himmel“
Seine sinnlichen Lippen drückten sich sachte gegen meine Stirn. Er schien sich wieder gefangen zu haben.
„Schlaf jetzt“, murmelte er mir zu und begann wieder Kreise, die Frieden verhiessen, auf meinem Rücken zu zeichnen. Erst jetzt gab ich meinen Widerstand auf, murmelte etwas Unverständliches und glitt in sicheren Schlaf…
Die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg in mein Zimmer und schienen mir ins Gesicht.
Viel zu hell!
Ich kniff die Augen zusammen und murrte widerstrebt vor mich hin, drehte mich in den Schatten und tastete nach dem warmen Körper neben mir. Doch die Laken waren kalt. Nur einen Spalt weit, öffnete ich die Lider eines Auges und schielte hinaus.
Tatsächlich, Manu war weg. Was für ein mieses Erwachen! Allein, und dann kamen noch die dröhnenden Kopfschmerzen hinzu, welche mich plagten. Vielleicht sollte ich einfach wieder einschlafen. Die Decke bis zur Nase hoch gezogen, kuschelte ich mich tiefer in die weiche Bettdecke.
Aber dann hörte ich das schiebende Geräusch der Haustür. Gebannt spitzte ich die Ohren. Leider hörte ich keine Stimme und das Knarren der Treppen, welche zu meinem Zimmer führten, blieb auch aus.
Seufzend stiess ich Luft aus und stand auf. Einen Blick auf den Wecker verriet mir, dass ich noch gut eine Stunde hatte bis die Schule begann. Was aber viel wichtiger war als die Uhrzeit, war das Datum.
Dienstag! Heute ist Dienstag!
Und nicht irgendein x-beliebiger! Sofort hob sich meine Laune.
Manuel hat Geburtstag!
Freudig die Hände reibend, grinste ich, während ich mich anzog. Wie gespannt ich war, wie Manu mein Geschenk gefiel.
Rasch war ich fertig und ging die Treppe runter. Im Flur blieb ich jedoch stehen, als ich die Stimmen meiner Mutter und Manuels hörte. Augenblicklich hüpfte mein Herz und wollte zu seinem fehlenden Teil, der nun Manu in sich trug.
„Es ist bereits alles in die Wege geleitet, Simona“
„Ich weiss gar nicht, wie ich dir danken soll! Was du getan hast war – “
„…Selbstverständlich! Ich liebe ihn und ich will nicht, dass ihm etwas passiert!“, sagte Manuel und jagte mir warme Schauer durch den Körper.
„Ich werde ihn heute Zuhause behalten“
„Ich denke das wäre das Beste“, pflichtete Manu ihr zu.
Was?! Zuhause bleiben! Aber das geht nicht!
„Ich gehe!“, sagte ich aus Versehen laut und ging dann zu ihnen.
Sofort war meine Mutter bei mir, drehte meinen Kopf nach links dann nach rechts, sah mir in die Augen und suchte nach Anzeigen einer ernsthaften Verletzung.
„Schatz, geht es dir gut? Hast du Schmerzen?“, fragte sie mit ruhiger erfahrener Stimme.
„Ja alles gut. Manuel wir müssen langsam los, sonst kommen wir zu spät“, sagte ich diesem zugewandt. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beäugte mich skeptisch. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen und hätte ihm mehr als ausgiebig zu seinem Geburtstag gratuliert. Aber ich wollte ihm mein Geschenk dazu geben und das lag nun mal in meinem Spint. Ausserdem wusste er ja nicht, dass ich von seinem Geburtstag Kenntnis hatte und ich wollte ihn überraschen.
„Leif, du solltest dich vielleicht besser noch etwas schonen und - “
„Nein mir geht’s gut. Los gehen wir“, sagte ich entschlossen, ging zu ihm hin und zog in mit mir.
„Auf Wiedersehen Simona“, verabschiedete sich Manu hastig.
„Tschüss Mum“, schob ich dann auch noch hinterher.
„Tschüss ihr zwei“
Kurz bevor wir in der Schule ankamen, wurde ich Zunehmens nervöser. Mein Herz trommelte unregelmässig in meiner Brust und das Atmen viel mir schwer.
Caleb.
Ich wollte ihn nicht sehen. Nicht in seine kalten Augen blicken, um vielleicht ein wenig Enttäuschung zu erkennen, da ich noch da war.
Intuitiv suchte ich Manuels Nähe und trat dichter an ihn heran. Als wir dann vor der Eingangstür waren, zitterte ich am ganzen Körper.
„Hey“ Manuel griff nach meiner Hand.
„Was… ist?“, stotterte ich. Selten hatte ich solche Angst gehabt. Ich wusste, das Caleb mich nicht direkt verletzt hatte. Er konnte nicht wissen, dass ich so unglücklich stürzen würde, aber er hatte auch keine Anstalten gemacht, mir zu helfen.
Die warmen starken Arme von Manuel schlangen sich um mich. Ich drückte meine Nase gegen seinen Hals und liess mich von seinem himmlischen Geruch beruhigen. Sein Herz schlug gegen meins und brachte es in einen ruhigeren Rhythmus.
„Du musst dir keine Sorgen machen, ich bin da“
Etwas unbeholfen nickte ich gegen seine Halsbeuge.
Ich glaubte ihm, nach mehrmaligem tiefem Durchatmen betraten wir das Gebäude.
Alle Studenten quasselten sich um mich herum, den Mund fusselig. Was sie in den Ferien unternahmen, wo sie hin flogen und wie lange. Wen interessierte es? Mich jedenfalls nicht, ich ging neben Manuel her, starrte die immer näher kommende Tür unseres Klassenzimmers an, wie den grössten Feind auf Erden. Doch der war erst hinter der Tür. Mittlerweile fand ich es doch eine absolut idiotische Idee, heute nicht Zuhause zu bleiben. Meine Kopfschmerzen wanderten vom Hinterkopf über die Seiten zu meinen Schläfen bis hinter die Augen. Alles pochte schrecklich. Doch einen Lichtblick gab es. Manuels Geschenk.
Plötzlich legte Manuel einen Arm um meine Schulter, zog mich etwas näher und ich war froh um seine Anwesenheit. War ich immer, aber jetzt konnte ich eine Stütze vertragen.
Kurz musterte ich Manus Profil, er schien die Studenten zu beobachten. Die Umgebung und jeden im Blick zu haben. Diese wachsame Eigenschaft faszinierte mich nach wie vor. Gleichzeitig hatte ich das sichere Gefühl, dass er mich beschützte. Trotzdem kamen wir verdammt schnell zur Tür.
Doch als wir hinein gingen, war von Caleb weit und breit keine Spur. Und das obwohl der Unterricht gleich begann und sein Babe, mit dem er normalerweise immer zur Schule kam, schon da war.
Manu und ich gingen durch die Klasse, während ich immer noch fieberhaft überlegte wo Caleb war. Als mein Blick auf das Gesicht meines Freundes fiel, glaubte ich ein zufriedenes Grinsen zu erkennen. Das Gefühl, dass er mehr wusste als ich liess mich nicht los. Wir setzten uns und sogleich kam auch Dr. Lavie herein. Die Stunde begann.
Derweil starrte ich nur auf Tom, der mit gesenkten Schultern an seinem Platz sass.
Was ist denn hier los?
Etwas kitzelte meinen Arm.
Ein Zettel.
Alles ist gut. Entspann dich.
„Was ist mit Caleb?“, fragte ich Manuel sofort, nachdem die Stunde zu Ende war. In aller Seelenruhe setzte er sich auf meine Tischplatte.
„Er wurde suspendiert“
Wie denn das?
Und warum wusste ich, dass Manuel damit zu tun hatte?
„Wie?“
„Leif, glaubst du ernsthaft, dass ich diesen miesen Verbrecher ungestraft weiter in deiner Nähe lasse?“ Während er das sagte, verschwand der Glanz in seinen Augen und seine Gesichtszüge verhärteten sich.
„Was hast du gemacht?“, gluckste ich.
„Nur ein paar Strippen gezogen“
Mit hochgezogenen Augenbrauen sass ich da. Wieder klang er so erwachsen.
„Leif sieh mal, er hat dich tätlich angegriffen und das genaugenommen während der Schulzeit, da ist eine Suspendierung mehr als gerechtfertigt“
Vorsichtig einatmend nickte ich. Mehr als sprachlos über seine Massnahme, erhob ich mich und wollte mit ihm ins nächste Zimmer wechseln, aber als wir uns der Tür zuwandten, stand Tom da und fixierte Manuel. Genauso wie er ihn, stellte ich fest.
„Kommst du?“, fragte ich unsicher an Manu gerichtet.
„Geh schon mal vor“, er küsste meine Schläfe und nickte dann Tom zu, welcher aus dem Zimmer verschwand. Manuel folgte ihm.
Alles in mir schrie alarmiert auf. Tom war Calebs bester Freund und mit diesem wollte sich mein Freund alleine treffen?!
Immer noch stand ich da. Manuel und Tom allein, und ich sollte schon mal gehen?
Den Teufel werde ich tun!
Schnell folgte ich ihnen, nach draussen, wie sich herausstellte. Die beiden verschwanden hinter dem Gebäude und ich blieb gleich um die Ecke stehen, sodass ich im Verborgenen war.
„Also?“, sagte Manuel in erwartendem Ton, er stand mit verschränkten Armen vor Tom.
„Also wegen gestern… Was da passiert ist… mit Leif…“, stotterte er rum und sah auf den Boden. Mit so was hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Auf einmal wirkte Tom nicht mehr so protzig und machohaft, sondern fast schon handzahm.
„Hör mal Tom, sag einfach was du zu sagen hast“
Nun schoss Toms Kopf in die Höhe und er fixierte meinen Freund.
„Ja… gut… Was Caleb da abgezogen hat, damit hatte ich nichts zu tun und… es tut mir ehrlich leid. Ich hätte nicht gedacht, dass Caleb so weit gehen würde!“
Ja das konnte jetzt ja wirklich jeder behaupten, trällerte mein schmerzendes Hirn.
„Und wie weit hätte er deiner Meinung nach gehen dürfen?“, der Zorn in Manus Stimme war nicht zu überhören. Er kam mir vor wie ein Raubtier. Er war in Stellung und bereit zum tödlichen Prankenhieb.
„Ich – ich weiss es nicht! Aber sicher nicht so weit! Ich weiss doch nicht einmal was er gegen Leif hat!“
„Und was hast du gegen ihn?“
Manuel fixierte sein Opfer nach wie vor, stellte genau die richtigen Fragen und stand selbstsicher da.
„Nichts…“, murmelte Tom. „Weisst du, Caleb war schon auf der alten Schule mit Leif in einer Klasse und als wir uns hier kennen gelernt haben, verstanden wir uns. Die Sache mit Leif hatte da längst begonnen und ich wusste nicht was ich tun sollte“
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Ich weiss es war scheisse und es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe, aber Caleb ist knallhart bei solchen Sachen. Man macht mit oder man ist selbst ein Loser!“, mittlerweile klang Tom richtig verzweifelt und ich hatte beinahe Mitleid, aber nur fast, schliesslich hätte er mich gestern auch versaufen lassen.
„Du hattest Schiss“, stellte Manu, plötzlich ruhig, fest.
„Ja ich war feige! Das gebe ich zu! Was Leif passiert ist tut mir wirklich leid“
Einen Moment herrschte Stille, dann ging Manuel auf Tom zu. Ich wurde nervös, Manuel würde ihn doch nicht schlagen? Nein, mein Freund hasste Gewalt, beruhigte ich mich selbst.
„Tom, soweit ich das einschätzen kann, bist du ganz okay. Mal abgesehen von der Sache gegen Leif, dafür würde ich dir am liebsten dein Leben zu Hölle machen“
Ich musste erstaunt blinzeln, als ich sah wie Manuel Tom seine Hand hinstreckte.
„Ich akzeptiere deine Entschuldigung“
Sowohl Tom als auch mir, fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.
Was?!
Während ich es nur dachte, sprach Tom es tatsächlich aus.
„Warum?“
Tom musterte Manuels Hand, fast schon sehnsüchtig. Er schien wirklich zu bereuen was er getan hatte. Allmählich konnte ich es nicht mehr leugnen, er tat mir leid.
„Weil ich gesehen habe, was du gestern tun wolltest. Während Caleb den Schwanz eingezogen hat, wolltest du ins Wasser springen und Leif helfen. Und du hast uns geholfen, aus dem Wasser zukommen“
Wie bitte, was? Tom will mir helfen?
Jetzt war ich komplett hinüber.
Er entschuldigt sich für die Hänseleien und er hat mir helfen wollen?
Tom schlug ein.
„Danke. Echt!“
Das Klingeln zur Schulstunde war das Ende ihres Handschlags. Tom ging zum Seiteneingang und verschwand. Ich stand immer noch mit offenem Mund in meinem Versteck.
Habe ich da etwa gerade einen Verbündeten gefunden?
Bis jetzt hatte ich Tom immer als abgeschwächte Version von Caleb gesehen, doch wenn er wirklich bereit war, mich aus dem eisigen See zu ziehen, hatte er vielleicht wirklich eine zweite Chance verdient. Und das hatte Manuel erkannt. Er, der –
„Es gehört sich nicht jemanden zu belauschen“, schwang mir die kühle Stimme meines Freundes entgegen. Ertappt und schuldbewusst, kam ich aus meinem Versteck und ging zu ihm.
„Leif“, sagte er sofort viel wärmer und begann zu lächeln.
Er legte seine Arme um meine Mitte und sah mich mit seinen wundervollen grünen Augen an.
„Du hast ihm eine zweite Chance gegeben“
„Seine letzte“
Meine Hände wanderten wie automatisch in seinen Nacken und spielten mit seinen weichen Haaren.
„Warum?“, wollte ich wissen.
„Weil man manchmal Dinge nicht verhindern kann und man dann nur auf eine zweite Chance hoffen kann, um es dieses Mal besser zu machen“
Seine Worte waren so überaus weise und gleichzeitig klangen sie so sehnsüchtig…
Ich zog seinen Kopf zu mir und legte meine Lippen auf seine. Es war eine sachte, zarte Berührung die mich aufseufzen liess.
„Wir müssen zurück“, murmelte Manuel woraufhin ich nur nickte. Er nahm meine Hand in seine und führte mich zum Eingang.
„Komm schon!“, hetzte ich Manuel aufgeregt durch die Flure. Irgendwie hatte ich den Tag tatsächlich überstanden ohne zu verzweifeln, aber jetzt wollte ich endlich meinem Geburtstagskind gratulieren. Manu hielt mühelos mit mir Schritt, doch etwas verwirrt schien er schon zu sein.
Am Spint angekommen riss ich die Tür auf, nur um sie gleich wieder zu zumachen.
Planänderung.
Manuel sah mich erwartend an, was mir das Grinsen ins Gesicht trieb. Er hatte keine Ahnung, dass freute das Kleinkind in mir nur noch mehr.
Überschwänglich sprang ich in seine Arme.
„Alles Gute zum Geburtstag!“, lachte ich freudig. Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken und ich küsste ihn ungestüm, was durch Manuel schnell in pure Leidenschaft umschlug. Seine feingliedrigen Finger drückten gegen mein Kreuz, mich näher an ihn. Manuels Zunge tauchte in mich ein und neckte mich tänzelnd, während ich seinen unvergleichlich köstlichen Geschmack in mir aufsog. Mein Herz geriet ins Stolpern und alles um uns herum verschwand in die Vergessenheit. Ich hatte das traumhaft schöne Gefühl langsam zu schmelzen und in seinen Körper zu fliessen. Die Flammen ergriffen von mir Besitz und ich küsste Manu als hinge mein Leben davon ab. Erst als das Bedürfnis Luft zu holen unausweichlich zwischen uns stand, löste sich Manuel von mir.
„Woher weisst du denn davon?“, fragte er grinsend.
„Deine Schwester“ Nun nickte er verstehend.
„So und jetzt dein Geschenk!“
Händereibend holte ich es aus dem Schrank und hielt ihm die kleine Schachtel hin.
„Ein Geschenk?“
Wieso nur, wirkt er so ungläubig?
„Natürlich! Du hast Geburtstag!“, bekräftigte ich und übergab ihm mein Geschenk.
„Was ist da drin?“
„Wie wäre es wenn du es öffnest und selbst herausfindest?“
Neugierig musterte er die Schachtel und nun wurde ich doch nervös, als mich erste Zweifel überkamen.
Was wenn er es nicht mag?
„Na mach schon!“
„Du musstest mir nichts schenken“
Schluckend sah ich ihn an. „Du glaubst, es gefällt dir nicht“, erkannte ich.
„Hey! Was – nein! Leif“
Er legte das Geschenk in meinen offenen Spint und nahm mein Gesicht in seine Hände.
„Ich weiss das mir dein Geschenk gefallen wird“
Nach einem süssen Kuss, widmete er sich wieder dem Geschenk.
„Oh warte schnell!“, sagte ich hastig und zog mein Smartphone hervor. Nun sah mich Manuel fragend an, als ich einen Arm um in schlang.
„Ein Foto?“
„Ja. Bitte lächeln!“
Nach einem leisen Klicken, steckte ich das Handy wieder weg.
„Okay, mach auf“, bei der Gelegenheit drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange, während ich ihn grinsend beobachtete.
Fast schon bedächtig zog er an der Schleife, was mich schier in den Wahnsinn trieb.
Kann er nicht einfach das Papier runterreissen und mich nicht länger auf die Folter spannen? Wer bitte, packt so langsam aus?
„Na los, mach es auf!“
„Sind wir etwa ungeduldig?“, meinte er schmunzelnd. Ganz hibbelig geworden wippte ich von einem Fuss auf den anderen.
„Ja“
Und, der Himmel sei mir gnädig, endlich riss er das Papier mit samt Schleife ab und betrachtete die kleine schwarze Schachtel einen Moment, ehe er ihren Deckel hob.
Darin lag, in einer Einbettung, ein kleines viereckiges Display, nicht mal halb so gross wie mein Smartphone. Manuel nahm es heraus, legte die Schachtel in den Spint und gab mir so das Signal für meinen Einsatz. Schnell fischte ich mein Handy hervor, suchte das Foto von vorhin und gab ein paar Befehle ein. Kaum fertig, leuchtete Manuels Geschenk auf und unser Bild erschien darauf.
Manuel sah nach wie vor auf den digitalen Bilderrahmen.
„Ich dachte, weil du doch gesagt hast, dass du mich nicht ansehen kannst, während du bei deinem Dad bist und naja… also…“ Ich brach ab und fuhr mir hilflos durch die Haare. Jetzt erschien mir das Geschenk gar nicht mehr so toll, sondern nur peinlich.
Betrübt sah ich zu Boden. War aber auch eine dumme Idee gewesen, tadelte mich mein Gehirn.
Manuels Finger legten sich unter mein Kinn und drückten meinen Kopf hoch. Noch ehe ich es realisieren konnte, küsste mich Manuel. So voller Liebe, dass ich weiche Knie bekam und mich seufzend an ihn schmiegte. Er rieb seine Nase an meinem Gesicht.
„Danke“
„Es gefällt dir?“ Federleicht streiften seine Lippen meine Haut.
„Es ist perfekt. Genau wie du“
Ein strahlendes Grinsen zierte mein Gesicht.
„Sieh mal, ich kann dir jeder Zeit neue Bilder drauf laden, natürlich könnte ich dir auch einfach Fotos auf dein Handy schicken, aber ich dachte so hast du sie immer gleich griffbereit. Man kann auch wählen, ob du immer dasselbe Foto sehen willst oder ob sie wechseln sollen“, erklärte ich euphorisch. Es gefiel ihm!
„Ich werde es immer bei mir tragen“, abermals küsste er mich. Der liebevolle Ausdruck in seinen Augen liess mein Gesicht glühen.
„Immer“, wiederholte er eindringlich.
Fast schon überfordert mit meinen Gefühlen nickte ich.
„So und da meine Schwester das von meinem Geburtstag erzählt hat, hat sie dich sicher auch eingeladen heute Abend“, es war nicht wirklich eine Frage, aber ich wollte trotzdem antworten.
„Ja. Aber ich muss nicht kommen, wenn du nicht – “
„Natürlich will ich dass du auch dabei bist!“
Lachend machten wir uns auf dem Weg.
„Moment mal, hast du kein Training?“
„Ich dachte, das lass ich ausfallen, es sei denn du hast etwas dagegen“
Er zwinkerte mir mit einem frechen Lächeln im Gesicht zu.
„Ach ich denke, da du Geburtstag hast, geht die Ausnahme in Ordnung“, erwiderte ich gespielt streng.
„Da hab ich aber ein Glück!“
„Scheint so“
„Ich habe dich. Das ist Beweis genug“, raunte er an mein Ohr. Jedes Mal wenn ich glaubte, es sei nicht möglich Manuel noch mehr zu lieben, überraschte er mich mit solchen Aussagen oder Gesten und stahl ein weiteres Stück meines Herzens.
„Bruderherz? Du, schon Zuhause?“, hörte ich Jennifer Danielles Stimme von irgendwo her hallen, als Manuel und ich eintraten. Und schon lugte ihr Kopf von der oberen Treppe hinunter.
„Hey du bist also auch gekommen!“, sagte sie lachend, während sie hinunter kam und mich dann in die Arme schloss. Wie beim ersten Mal stand ich etwas unbeholfen da und strich ihr dann über ihre Schulterblätter.
„Alles Gute zum Geburtstag“
„Oh, das ist so lieb von dir, danke! Echt schön dass du gekommen bist, ehrlich“, meinte sie nachdem sie mich losgelassen hatte.
„Ah, und du hast ganz viele Briefe zum Geburtstag bekommen. Sie liegen im Wohnzimmer“
„Danke“ Manuel nickte nicht überrascht. Genau dort führte ihn sein Weg hin und er musterte den Stapel kritisch.
„Etwas von Richard gehört?“, fragte er währenddessen er die Briefe durchging.
„Bei mir nicht. So ich muss noch duschen“
Damit verabschiedete sie sich und liess uns allein. Ich trat an Manuel heran und schielte über seine Schulter auf die Briefe.
„Kommt euer Vater denn heute nicht vorbei?“
„Nein, er ist sehr beschäftig“, verteidigte er ihn sofort, was mir nicht entging.
So beschäftigt, dass man nicht mal zum neunzehnten Geburtstag seiner beiden Kinder kommen kann? Mein Vater hätte sich so etwas nie entgehen lassen, aber das sehen anscheinend nicht alle Väter so.
„Ich hatte nur gehofft, er würde JD anrufen“
Und was ist mit dir?
Ich schlang meine Arme von hinten um seine Mitte und legte meinen Kopf an seine Schulter. Neugierig schickte ich meine Finger auf Wanderschaft, die zielstrebig den Saum seines Shirts fanden.
Geschmeidig drehte sich Manuel zu mir und nahm meinen Mund gefangen. Heisslodernde Flammen wallten in mir auf und krochen durch meinen Körper. Innert Sekunden kochte jeder einzelne Tropfen meines Blutes.
„So wo sind denn meine beiden Geburtstagkinder?“
Enttäuscht und unbefriedigt liessen wir voneinander ab, als die weibliche Stimme durch das Haus hallte. Einen letzten Kuss stahl sich Manuel von mir, bevor eine mittevierzig jährige Frau mit vollem schwarzem Haar ins Wohnzimmer trat.
„Manuel“, grüsste sie ihren Sohn und umarmte ihn, dann wandte sie sich mir zu.
„So so du bist also der junge Mann, der meinen Sohn so glücklich macht“, stellte sie lächelnd fest, was mir die Röte ins Gesicht wandern liess.
Was bitte, sagt man auf so etwas?
„Mum, darf ich dir Leif vorstellen?“, rettete mich Manuel und legte einen Arm um meine Mitte. Augenblicklich fühlte ich mich sicherer.
„Leif, das ist meine Mutter Isabelle“
„Freut mich wirklich sehr dich kennenzulernen Leif“, sagte sie freundlich und ihre braunen Augen strahlten.
„Freut mich auch sehr“, gab ich zurück und schüttelte ihr die Hand. Die Augen hatte Manuel wohl von seinem Vater, stellte ich fest.
„Hallo Mum“, bemerkte JD, die nun auch wieder zu uns stiess.
„Hallo Schätzchen“
„Du hast also Manuels bessere Hälfte schon kennengelernt“, meinte sie grinsend.
„JD!“, tadelten Isabelle und ich gleichzeitig. Nach kurzer Stille, brachen alle Beteiligten in schallendes Gelächter aus.
„Leif einen Rat möchte ich dir geben: Spiel nie mit meiner Schwester Tennis“
„Warum nicht?“, fragte ich neugierig.
„Manu musst du ihm das erzählen!“, grätschte JD dazwischen, doch mein Freund liess sich nicht stören, genau wie beim Fussballspielen blieb er dran.
„Hallo warum? Spielst du so gut?“, wollte ich immer noch wissen, während Isabelle an einem Glas Rotwein nippte und sich vor unterdrücktem Lachen fast verschluckte. Seit mehr als drei Stunden sassen wir am Esstisch und es kamen immer mehr lustige Geschichten zusammen. Meine Stimmbänder waren vom vielen Lachen schon ganz kratzig. Isabelle, JD und Manuel hatten absolut den gleichen ausgelassenen Humor und so bestand unser Essen mehr oder weniger nur aus klangvollem Gelächter. Nun ergab sich JD ihrem Schicksal und legte das Besteck nieder.
„Es war aber doch keine Absicht!“
„Weisst du, meine Schwester hat ihrem Tennispartner mal seine Bälle abgeschossen“, lachte Manuel.
„Was?“, fragte ich ungläubig.
„Es war doch nicht absichtlich!“, verteidigte sie sich verzweifelt.
„Er ist viel zu früh ins Feld gelaufen!“
„Ja schon klar Schwesterchen. Leif das hättest du sehen sollen. Ihr Aufschlag traf direkt ins Schwarze, naja eher dorthin wo es so richtig weh tut“
„Du hast deinem Tennispartner in die Eier geschossen?“, rief ich mit riesigen Augen aus.
„Nicht absichtlich!“
„Das hättest du sehen müssen, der ist zu Boden gegangen wie ein gefällter Baum“, japste Manuel nur noch und auch Isabelle hatte ihr Glas abstellen müssen und hustete kläglich.
Die arme JD tat mir wirklich leid, wie sie da sass mit dem Kopf auf der Tischplatte liegend, und uns verlegen ansah. Ich versuchte mich zu beherrschen. Wirklich! Aber allein die Vorstellung, die Manuel in meinem Kopf heraufbeschworen hatte, liess mich losprusten.
„Der Arme konnte einem wirklich leidtun!“, tadelte Manuel gespielt ernst, was uns alle nur noch mehr das Grinsen ins Gesicht trieb. Irgendwann hielt auch JD nicht mehr stand und stimmte mit ein.
Unsere Lachanfälle hallten noch immer in meinen Ohren, als Manuel und ich mein Zimmer betraten. Er hatte mich nach Hause gebracht und ich hatte ihn hier behalten.
„Na hast du alles bekommen was du dir gewünscht hast?“, fragte ich als ich ihm die Arme und den Nacken legte.
„Fast“
„Nur fast?“
„Ja, etwas gäbe es da noch“, sagte er geheimnisvoll lächelnd.
„Ach und was wäre das? Vielleicht kann ich helfen?“ Seine Hände glitten über meine Seiten.
„Oh das kannst du. Du bist sogar der Einzige, der es kann“, murmelte er an meine Lippen und überbrückte dann die letzten störenden Zentimeter. Wohlige Schauer wanderten über meinen Rücken. Und gieriges Verlangen flammte in mir auf.
Ineinander verschlungen taumelten wir durchs Zimmer, bis ich die Bettkante an den Kniekehlen spürte. Langsam liessen wir uns auf die Matratze sinken. Unsere Körper berührten sich auf voller Länge, mein Blut schlich sich gen Süden und als Manuel sich auf mir bewegte entkam mir ein heiseres Stöhnen. Meine Finger schickte ich unter sein Shirt, schob den störenden Stoff etwas nach oben und strich dann über die schönen Muskelstränge seines glatten Bauches. Abrupt setzte sich Manu auf, riss sich das Shirt über den Kopf und befreite mich dann von meinem. Sein verruchtes Grinsen machte mich unglaublich an, als er sich langsam zu mir senkte und meinen Mund ganz für sich beanspruchte. Sein süsser Geschmack machte mich süchtig, während er mich mit seiner Zunge liebkoste. Gemächlich fuhr ich mit meinen Händen über seinen Rücken und strich dann am Hosenbund entlang. Schnell rollte ich mich über Manuel und entfernte das lästige Ding. Unterwäsche wurde sowieso überschätzt also weg damit. Nun lag er unter mir, in seiner vollen Pracht, hart und heiss, mit glänzenden Augen und angeschwollenen Lippen womit er so verboten sexy aussah. Und was das allerbeste war. Er gehörte mir. Nur mir! Manuel sah mich erwartend an als ich mich zu ihm hinunter beugte und seine sündhaften Lippen kostete. Göttlich! Dafür würde ich Morde begehen. Mein Mund wanderte weiter. Ich leckte über den Aussenrand seines Ohrläppchens und biss dann sachte hinein. Manuel keuchte auf und liess mein Selbstvertrauen wachsen. Ich küsste mich weiter über seinen Hals, knabberte und saugte an der weichen Haut, was meinem Freund weitere Töne entlockte.
Schneller als ich es erfassen konnte, drehte uns Manu und war nun oben. Erst einmal zog er mir meine restliche Kleidung aus, bevor er mit den Lippen seinerseits meinen Körper erkundete. Seine Reise führte ihn zu meinen Brustwarzen. Mit seiner Zunge umkreiste er die eine, ehe er sie in den Mund nahm und mir ein überraschtes Keuchen entlockte. Er spielte mit ihr bis sie hart und erregt nach oben stand. Sachte biss er hinein. Ich wimmerte auf, wand mich unter him, der köstlichen Folter entgegen. Dann liess er von ihr ab und wiederholte das Ganze an der anderen Knospe. Flehend erschauerte ich immer wieder, bis ich glaubte zu vergehen.
„Bitte Manuel mach schon“ Er kam zu mir hoch und küsste mich liebevoll. „Alles was du willst“ Und plötzlich war sein Gewicht weg. Verwirrt sah ich hoch und erblickte ihn wie er in seine Hosentasche griff. Er zwinkerte mir zu als er Gleitgel und Kondome zum Vorschein brachte. Hoffnungsvoll wartend öffnete ich die Beine und Manuel kniete dazwischen. Während er das Gleitgel an seinen Fingern etwas vorwärmte küsste er meinen Bauch und tauchte in meinen Bauchnabel. Mir war unglaublich heiss und als Manuel mit geschickten Fingern mit seiner Vorbereitung begann schloss ich die Augen, denn ich hatte das Gefühl allein durch seinen göttlichen Anblick kommen zu können. Unbarmherzig neckte er immer wieder das sensible Nervenbündel in mir, trieb mich damit in den Wahnsinn und brachte mich zum Betteln.
„Manu… bitte… ich“, keuchte ich stockend. Er versiegelte meinen Mund, ehe er mir endlich den Gefallen tat und in mich eindrang. Der süsse Schmerz wurde schnell durch gewaltiges Verlangen ersetzt. Die flammende Lust verbrannte von innen nach aussen, nach und nach jeden einzelnen Muskel und jeden Knochen, den meinen Körper beherbergte. Heiser keuchte Manuel auf und verharrte einen Moment bevor er sich zu bewegen begann und mir die letzten mir noch verbliebenen Sinne raubte. Während er mich mit seinen Stössen immer näher zum Abgrund brachte, trieben seine Hände allerlei Unanständiges und feuerten mich weiter an. Aus halbgeschlossenen Augen sah ich in Manuels wunderschönes Gesicht. Auf seiner Stirn bildete sich ein dünner Schweissfilm wie auf unseren ganzen Körpern auch, seine Wangen waren rötlich und seine Augen herrlich verschleiert. Schliesslich fiel ich zuckend und wimmernd über die Klippe und riss Manuel mit mir. Gemeinsam flogen wir den Gestirnen entgegen und schwebten durch die Unendlichkeit…
Der Freitag kam viel zu schnell und auch wenn ich mir alle Mühe gab, es nicht zu zeigen, meine schlechte Laune war mir anzusehen. Manuel würde heute gleich nach der Schule zu seinem Vater fahren, und das für eine ganze Woche lang!
Wenn man es in Tagen betrachtete schien das nicht sonderlich viel zu sein, doch während der letzten Schulstunden rechnete ich es in Stunden, Minuten und Sekunden um.
Verdammt eine Woche, ist eine ganze Ewigkeit!
Manuel schien nach aussen hin, ganz normal zu sein, doch ich konnte es an seinen Augen sehen, für ihn war unsere Trennung genauso unerfreulich wie für mich.
Noch nie hatte ich mir gewünscht ein Schultag ginge nicht vorbei. Ich nahm jede Lektion Französisch, Geschichte oder was auch immer, gerne in Kauf, um Manuel noch etwas länger zu sehen.
Doch der Unterricht – dieses unstete Biest, war dennoch bald vorüber.
Manu und ich gingen nach Hause, und ich hatte Zunehmens das Gefühl, unser Weg führe mich direkt in die Hölle.
Auch in Manuels Zimmer wurde ich erneut mit unserer unausweichlichen Zukunft konfrontiert. An seinem Schrank, auf einem Kleiderbügel, hing fein säuberlich ein schwarzer Anzug drapiert.
Missmutig warf ich mich bäuchlings aufs Bett und atmete den wunderbaren Duft meines Freundes ein, während dieser sich umzog. Unter normalen Umständen hätte ich mir diesen Augenschmaus nicht entgehen lassen. Sein Körper war einfach göttlich, da ich jedoch wusste, dass er gleich gehen musste und ich ihn somit nicht haben konnte, liess ich es lieber gleich bleiben.
„Kann ich nicht einfach mitkommen?“, murmelte ich gegen das Kissen. Ich war völlig deprimiert und hätte so ziemlich alles getan, um Manuel nicht eine Woche lang missen zu müssen.
Die Matratze wurde neben mir nach unten gedrückt und Manus warmer Atem strich mir über den Nacken.
„Das Angebot ist mehr als verlockend, doch leider fürchte ich, hätte ich auch dann keine Zeit für dich“
„Ach und warum nicht?“, maulte ich kindlich und drehte mich auf den Rücken.
Das Leben ist echt fies!
„Weil ich bei Richard in der Kanzlei helfen soll“
„Du arbeitest in den Ferien für deinen Vater?“
„Er möchte, dass ich so früh wie möglich an das Leben als Rechtsanwalt gewöhnt bin. Es ist optimal, so lerne ich alles kennen“, versuchte er mir verständlich zu machen.
Aber ich wollte es nicht verstehen, ich wollte meinen Freund bei mir haben!
Manu küsste mich auf die Stirn bevor er sich erhob und weiter anzog.
„Willst du überhaupt Anwalt werden?“, wollte ich wissen. Bis jetzt hatte ich von ihm immer nur gehört, dass sein Vater das so vorsah, seine eigene Meinung jedoch nicht. Manuel schien einen kurzen Moment zu überlegen.
„Nein“
Ich schüttelte nur den Kopf. „Warum tust du dann das alles?“
„Richard möchte das so“
„Ja aber du nicht!“
„Leif, lass uns das ein anderes Mal bereden“, sagte er und beugte sich kurz zu mir, um mir einen Kuss auf die Lippen zu hauchen.
„Wirst du es deinem Vater sagen? Dass du nicht in seine Fussstapfen treten willst?“
Bedächtig, fuhr Manuel mit dem Daumen meine Unterlippe nach, doch er antwortete nicht, sondern packte seine Tasche fertig. Einen Moment herrschte vollkommene Stille, die ich jedoch nicht lange aushielt.
„Telefonieren wir wenigstens regelmässig?“
„Leif, das wird nicht gehen, dazu ist einfach keine Zeit und Richard möchte dass ich voll bei der Sache bin, Telefonate und andere private Störungen duldet er nicht. Trotzdem werde ich dir sooft Nachrichten schicken, wie nur irgend möglich okay?“
Ich konnte den Urknall beinahe hören, als meine miese Laune auf den Erdkern traf und eine alles verschlingende Katastrophe auslöste.
Einen Moment musterte ich Manuel, wie er sich sein Hemd zuknöpfte.
Auf Wiedersehen fröhlicher Manuel und Hallo Geschäftsmann.
Bereits der dämliche Anzug – in dem er, zu allem Übel so verdammt heiss aussah, veränderte ihn, doch als er sich auch noch seine schwarzen Wellen glatt streichen wollte, erhob ich mich und ging zu ihm. Schnell griff ich nach seinen Handgelenken und wuschelte ihm dann wieder durch die Haare, sodass sie wieder in wildem Chaos, Manuels natürliche Schönheit, seine freche, humorvolle Art und seine animalische Seite widerspiegelten. Seine Finger strichen über meine Hände und ich drohte in den grünen Augen zu ertrinken. Verdammt ich konnte nicht mal wütend sein. Nicht auf ihn. Für das war er viel zu schön, zu perfekt und ich war dazu viel zu verliebt in ihn.
„Kein Tag wird vergehen, ohne das du etwas von mir hörst okay?“
Ich nickte nur schwach.
„Hey, und das hab ich immer bei mir“
Aus seiner Hosentasche zog er den kleinen digitalen Bilderrahmen und zeigte ihn mir.
„Ohne den gehe ich nirgendwo mehr hin“
Die Geste berührte mich und brachte mich zum Lächeln. Manuel beugte sich zu mir hinunter und legte seine Lippen auf meine, sanft und voller Wärme. Stirn an Stirn gelegt schlossen wir die Augen und genossen die letzten Momente unserer Zweisamkeit.
„Bruderherz, du musst los!“, rief JD von irgendwo her. Nun löste er sich von mir.
„Moment, kommt JD etwa nicht mit?“, fragte ich verwirrt.
„Nein, sie besucht Richard in der zweiten Woche. So hat er mehr Zeit für uns. Na komm, ich muss gehen“, sagte er und nahm meine Hand.
Draussen legte er seine Tasche, zusammen mit seinem Sakko ins Auto und wandte sich dann mir zu. Mein Körper reagierte von allein und lief in die Arme meines Freundes. Sein Kopf schmiegte sich an meinen, seine Arme hielten mich fest und sein Körper begann sofort den meinen zu wärmen.
Ich will nicht, dass er geht!
Ich küsste ihn voller Verzweiflung, mit all der Sehnsucht, welche ich bereits jetzt in meinem Herzen spürte.
„Ich will nicht, dass du gehst“
Erneut küsste ich ihn.
„Ich weiss“
Mit diesen Worten stieg er ins Auto und fuhr los. Auch als sein Wagen längst ausser Sichtweite war, starrte ich ihm noch nach. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Komm, gehen wir rein. Manu würde mich umbringen, wenn du erfrierst, während du ihn vermisst“, sagte JD in mitfühlendem Ton. Mit einem schwachen Nicken folgte ich ihr. Dass man mir ansah, wie sehr ich ihn jetzt schon vermisste, glaubte ich ihr sofort. Ich konnte selbst fühlen, wie meine Mundwinkel nach unten hingen.
Drinnen setzte ich mich auf die Couch. JD drückte mir wortlos einen glühend heissen Becher Kaffee in die Hände und liess sich mir gegenüber nieder. Gedankenverloren starrte ich in die braune Brühe, als könnte ich darin etwas erkennen.
„Hey, es ist doch nicht für ewig“, wollte sie mich trösten.
Nein nicht für ewig, nur für sechshundertviertausendachthundert Sekunden!
Der erste Tag ohne Manuel…
Gestern hatte ich noch einigermassen gut überstanden. Manuel hatte sein Versprechen gehalten und mir fleissig geschrieben, auch als ich heute Morgen auf mein Smartphone gesehen hatte, war bereits eine Nachricht von ihm drauf.
Danach hatte ich mir selbst einen Vortrag gehalten. Was ich hier machte, war doch lächerlich. Ich würde ja wohl eine Woche ohne Manuel aushalten.
Trotzdem drängte sich mir die Frage ins Gedächtnis, wie ich eigentlich klar gekommen war, bevor Manu in mein Leben getreten war.
Tja, wie heisst es so schön? Wer erst mal auf den Geschmack gekommen ist… Und das bin ich definitiv!
Ablenkung half sicher, sagte ich mir selbst und nahm JDs Angebot von gestern an. Ihr musste das wohl gestern schon klar gewesen sein, denn als ich bei ihr klingelte und sie öffnete, lächelte sie nur wissend.
„Schön dass du es dir anders überlegt hast“
„Danke für die Einladung“, murmelte ich, ehe sie mich wieder in die übliche Umarmung zog.
Sie riecht total anders als Manuel.
Ich musste mir fest auf die Zähne beissen, denn bei dem Gedanken hätte ich fast laut herausgelacht.
Natürlich riecht sie nicht wie ihr Bruder! Nicht so erfrischend und warm… So nach Zuhause…
„Gern geschehen! Du siehst besser aus als gestern“, stellte sie fest, während wir ins Wohnzimmer gingen.
„Danke?“
„Manu hat sich also bei dir gemeldet“
Sie liess sich auf die Couch fallen und strich ihre Haare von den Schultern. Auch ich setzte mich.
„Ja, hätte er das etwa nicht tun sollen?“
Automatisch verengte ich die Augen.
„Was? Nein, also doch natürlich“
„Warum sagst du dann sowas?“
„Naja, normalerweise meldet er sich nur selten. Richard mag es nicht. Er hat sich nicht mal gemeldet, als er sich den Arm gebrochen hat“, sagte sie leichtfertig, doch ihr Blick veränderte sich zu einem unbestimmbaren Gemisch aus Sorge und… Trauer?
„Er hat sich den Arm gebrochen und hat nichts gesagt?“, fragte ich alarmiert.
Sie schüttelte nur den Kopf. „Es war ihm vermutlich peinlich. Keine Ahnung, das ist wohl so ein Männerding, davon versteh ich nichts“
„Wobei hat er sich denn den Arm gebrochen?“
Männerding? Ich bin einer und finde das trotzdem mehr als unsinnig.
„Beim Versuch mit dem Skateboard eine Treppe zu überspringen“
In meinem Kopf wimmelte es von Fragen, dass mir beinahe schwindlig wurde.
„Er fährt Skateboard?“
„Naja jetzt nicht mehr, aber früher hat er es bei Richard wohl mal angefangen“
Ich nickte nur.
Manuel auf einem Skateboard...
Das war nicht gerade die Sportart bei der ich ihn mir vorgestellt hatte, doch mit seinem athletischen Körper konnte er vermutlich alles unglaublich gut.
Fussballspielen, Sprinten, Skateboard fahren, sich bewegen, über mir… oder noch besser in –
„Komm, hör auf Trübsal zu blasen! Jetzt machen wir ein paar Fotos und schicken sie Manuel“, sagte sie entschlossen und erhob sich grinsend. Meine Gedanken, die sich gerade in lustvolle Gefilde verabschieden wollten, liess ich fürs Erste ziehen und folgte JD mit einem tiefen Seufzen.
Sehr zu meiner Überraschung, hatte JD mit ihrer Fotoaktion meinen Tag merklich verbessert. Mit ihr rumzualbern machte wirklich Spass und ich mochte sie immer mehr, auch wenn sie mich manchmal mit ihrer Ähnlichkeit zu ihrem Bruder, mehr als traurig stimmte. Es waren tatsächlich tolle Fotos entstanden! Danach hatte mich JD praktisch dazu gezwungen die Fotos sofort – und zwar wirklich sofort, auf Manus Bilderrahmen zu laden. Gesagt getan, doch bis jetzt keine Antwort von ihm. Und dass obwohl es schon zehn Uhr war und Samstag. Jetzt müsste er doch Zeit haben…
Missmutig verdrückte ich mich in mein Zimmer, liess mich aufs Bett fallen und starrte auf mein Handy.
Ob ich, wenn ich nur lange genug hinein starre, eine Nachricht heraufbeschwören kann?
Nein, stellte ich zehn Minuten später fest, nach denen mir fast die Augen aus dem Kopf fielen. Voller Frust, legte ich das Handy weg, zog meine Beine an und schlang die Arme darum.
Manuel…
Dieser Tag begann schon mies. Mein Kopf hatte wohl beschlossen, dass mich mit einem Presslufthammer zu bearbeiten, eine tolle Idee war.
Widerwillig rollte ich mich aus dem Bett, die Augen halb geschlossen und den Geist noch nicht ganz beieinander. Eine schöne Nachricht von Manuel würde mich sicher erheitern, also griff ich nach dem Smartphone und blickte hoffnungsvoll darauf.
Nichts!
Auch mein letzter Wille sank in den Keller und so beschloss ich einfach wieder unter die Decke zu kriechen und meine Kopfschmerzen zu verschlafen.
Dieser Plan klappte vielleicht eine Stunde. Dann riss mich ein ziemlich feuchter Traum aus dem Schlaf. Welchen ich bei nächster Gelegenheit mit Manuel in die Tat umsetzen wollte.
Wieder war meine erste Handlung der Griff zum Handy. Nichts. Immer noch nicht. Die zweite war eine eiskalte Dusche…
Das Wasser hatte meine Neuronen erweckt und liess mich grübeln.
Warum habe ich nichts mehr von meinen Freund gehört? Seit gestern Morgen!
Erste Zweifel regten sich in mir.
Was ist nur los? Heute ist doch Sonntag, da gibt es sicher nichts zu arbeiten.
Kurzerhand schrieb ich ihm eine Nachricht.
Absender: Leif
An: Manuel
Hey, ist alles in Ordnung? Mache mir Sorgen. Vermisse dich…
Das Dröhnen in meinem Kopf wurde wieder stärker. Frische Luft. Das brauchte ich nun.
Draussen schlug mir ein bitterkalter, beissender Wind entgegen. Der Himmel war mit Wolken verhangen, welche Regen ankündigten. Ziellos schritt ich durch die Gegend. Mein kreativer Geist formte schon wieder irgendwelche abstrusen Ideen zusammen und konfrontierte mich erbarmungslos damit.
Wieso meldet sich mein Freund nicht? Eine einfache Nachricht ist doch innert Sekunden erledigt.
Er hat sich nicht mal gemeldet, als er sich den Arm gebrochen hat… Das waren JDs Worte gewesen…
Was wenn wieder etwas passiert war? Etwas Schlimmes?
Mein Herz schlug schneller und Panik schnürte mir die Kehle zu. Das würde ich nicht ertragen!
Stopp!
Wenn ihm etwas Ernsthaftes passiert wäre, würde sein Vater sofort Isabelle benachrichtigen. Obgleich ich auch einen Armbruch als etwas Schlimmes betrachtete… Und Manuels Vater hatte sich dort auch nicht gemeldet. Aber Manuel selbst hätte es tun können. Wenn JD Recht hatte, wollte Manu genau das ja nicht…
Leif es ist alles in Ordnung, mahnt ich mich selbst zur Ruhe. Ich blickte auf und stand vor der Haustür der Keens. Offenbar war irgendein Teil von mir, noch nicht völlig überzeugt.
Ich musste mit Sicherheit wissen, dass sie nichts gehört hatten. Kurzerhand klingelte ich. Wie gestern öffnete JD mir die Tür.
„Leif, hey schön dich zu sehen“, sie lächelte mich an, wie immer.
Würde sie dass, wenn ihrem Bruder etwas geschehen wäre? Kaum…
„Hey“
Noch bevor ich etwas entgegnen konnte, zog sie mich ins Innere des Hauses und führte mich wie üblich zum Sofa. Langsam bekam ich das Gefühl, ich müsste mich dort hinlegen und all meine Sorgen von mir geben.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer sah ich Isabelle und grüsste sie kurz, ehe mich JD weiter zog. Sie konnte wirklich so stur sein, wie Manu es anfänglich behauptet hatte.
„Hast du was von Manuel gehört?“, fragte ich scheu. Sie schüttelte den Kopf.
„Und du?“
„Nein, seit gestern nicht mehr“
Sie musste merkten wie geknickt ich deswegen war.
„Ach, weisst du, das ist nichts Ungewöhnliches. Ehrlich nicht. Wenn Manuel bei Richard ist, meldet er sich nicht oft. Manchmal machen die beiden Ausflüge und Richard will dann keine Handys dabei, das ist bei mir auch so. Du musst dir keine Sorgen machen“
Liebevoll strich sie mir über die Schultern und sah mich mit ihren freundlichen Augen an. Kurz hatte ich geglaubt, etwas in ihren Augen aufblitzen zu sehen, jedoch war es so schnell wieder erloschen, dass ich mir sicher war es nur illusioniert zu haben. Auch wenn ich nickte und sie mich tatsächlich beruhigt hatte, mein Herz wollte sich nicht beirren lassen…
Es gab kein Zweifeln mehr. Keine Eventualität. Ich machte mir Sorgen. Manuel hatte sich auch gestern nicht mehr gemeldet. Auch wenn JD mir versichert hatte, dass alles okay war. Für mich war nichts mehr okay. Ich war nervös, unruhig und durch den Wind. Manuel hatte mir versprochen sich zu melden, das hatte er nicht. Auch nicht auf meine Nachrichten. Anfänglich hatte ich beinahe ein schlechtes Gewissen gehabt, als ich ihm mehrere Nachrichten, mit so ziemlich dem gleichen Text, gesendet hatte. Mittlerweile war es mir vollkommen egal. Aus einer unerfüllten Hoffnung heraus, rief ich ihn öfters an.
Nichts.
Was zum Teufel ist mit Manuel los?
Wieso meldet sich mein Freund nicht bei mir, entgegen seines Versprechens?
Auch meine wilde Fantasie, liess sich nicht länger im Zaun halten.
Tausendmal war ich bereits durch die Hölle gegangen, als ich den Ideen nachging und dann Manuel mit jemand anderem zusammen sah. Jemanden in seiner Liga, der Skateboarden konnte, der Fussballspielen liebte und genauso – oder wenigstens ansatzweise, so attraktiv war wie er selbst.
Das Gesicht in den Händen vergraben, wollte ich diese Gedanken vertreiben.
Ich verfluchte meine dauerhafte, hartnäckige Unsicherheit. Doch der Wahrheit konnte ich nichts entgegnen: Ich war nicht annähernd so unglaublich schön, so talentiert und witzig wie er. Mein Herz, oder besser der Rest, der noch nicht in Manuel schlug, flatterte und zuckte schmerzvoll zusammen.
Stopp!
Er liebt mich! So unbegreiflich das auch für mich ist.
Manuel stellte Ehrlichkeit über alles. Selbst wenn er – allein die Vorstellung zwang meine Kehle zusammen, gemerkt hatte, dass er Bessere als mich haben konnte. Er würde es mir sagen.
Obgleich ich kaum atmen konnte, ich war wieder am Anfang. Manuel meldete sich nicht und mir fehlte die Klarheit, warum er es nicht tat. Auch auf die Gefahr hin, JD ein für alle Mal zu nerven, ich brauchte Gewissheit.
„Tut mir leid, dass ich schonwieder störe“, sagte ich als sie mir die Tür aufmachte. Mehr als ein lachendes Kopfschütteln, gab sie mir nicht zu Antwort und umarmte mich kurz. Ich streckte ihr, noch im Flur stehend, mein Handy hin.
„Bitte gib mir die Nummer eures Vaters“
Sie musterte mich skeptisch.
„Hat Manu sich immer noch nicht gemeldet?“
„Nein“
Da! Da war wieder dieses Aufblitzen in ihren Augen, das nur einen Herzschlag lang dauerte. Für mich war das der letzte Beweis, dass etwas nicht stimmte. Wenn JD es nun auch merkwürdig fand, lag es nicht an mir und meiner sich endwickelnden Paranoia. Ich bekam kaum mit, wie sie mir das Smartphone aus der Hand nahm und eine Nummer eintippte. Erst als sie es mir zurückgab, reagierte ich.
Noch bevor ich auf „anrufen“ tippen konnte, klingelte in schrillem Ton ein Handy.
Nur leider nicht meins!
JD kramte ihres hervor und ging ran.
„Ja ich weiss, du... ich... mir ist was dazwischen gekommen und“, begann sie und sah mich an. Mit den Händen machte ich abwehrende Gesten.
„Mach nur, ich halt dich auf dem Laufenden“, flüsterte ich und ging.
Wieder Zuhause, knallte ich die Tür zu – meine Mum arbeitete – also wen interessierte es, lehnte mich gegen die Tür und startete den Anruf.
Das monotone Piepen vermischte sich mit dem rauschenden Blut in meinen Ohren.
„Harrow“, sagte eine kalte Stimme am anderen Ende der Leitung. Unwillkürlich zuckte ich bei der Stimme zusammen.
„Mister Harrow, ich bin Leif Lancaster, ich würde gerne mit ihrem Sohn Manuel sprechen“
„Ich habe nur einen Sohn, von dem ich durchaus weiss wie er heisst, es ist also unnötig, explizit nach Manuel zu fragen“, blaffte mir die Stimme entgegen.
Völlig perplex über diese Antwort, erwiderte ich unsicher: „Nun, ähm, richtig. Ich würde ihren Sohn gerne sprechen“
„Hören Sie, wenn mein Sohn Interesse hätte sich mit Ihnen zu unterhalten, dann würde er dies tun“
Dann brach die Verbindung ab...
Wieder dieses monotone Piepen…
Hören Sie, wenn mein Sohn Interesse hätte sich mit Ihnen zu unterhalten, dann würde er dies tun…
Kraftlos liess ich mich mit dem Rücken an der Tür hinunterschlittern und sah ungläubig auf mein Telefon.
Hören Sie, wenn mein Sohn Interesse hätte sich mit Ihnen zu unterhalten, dann würde er dies tun…
In meinem Kopf existierte nichts anderes mehr. Immer wieder hallte der Satz durch mein Gehirn, schlug alles kurz und klein. Das Gefühl wanderte weiter in meine Brust, liess alles zu Eis erstarren und breitete sich rasend schnell aus. Bald zitterte ich unkontrolliert und schlang die Arme um die Knie.
Was soll das heissen?
Sein Vater war da, also war JDs Idee mit dem Ausflug auch hinfällig. Er hatte auch nicht gesagt, dass Manuel sich nicht melden durfte, da er arbeitete. Nein.
Hören Sie, wenn mein Sohn Interesse hätte sich mit Ihnen zu unterhalten, dann würde er dies tun…
Richard Harrow hatte Manuels Interesse in Frage gestellt. Genau wie ich jetzt. Nach nur drei Tagen…
Plötzlich sprengte mein scheinbar lebloses Herz die eisige Festung und riss mich auf die Füsse.
Jetzt reicht es!
Ich wollte endlich eine Antwort von Manuel.
Nein! Ich brauchte sie! Während ich eine Jacke schnappte, rief ich noch einmal Manuel an.
Der gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen… Flötete sofort eine weibliche Stimme und nicht wie sonst Manuel, der einen, nach einigen Momenten, bat eine Nachricht zu hinterlassen.
Manuel hatte sein Handy ausgeschaltet? Das konnte er nicht getan haben, ohne meine Nachrichten und Anrufe gesehen zu haben! Meine schlimmsten Alpträume erwachten zum Leben. Er hatte mich mutwillig ignoriert… Im hintersten Verliess meines Geistes hatte ich gehofft, es gäbe eine vernünftige Erklärung, warum er meine Anrufe noch nicht beantwortet hatte. Diese Hoffnung verstummte und starb leise in mir. Auch in meiner Brust konnte ich den brennenden Schmerz spüren, welcher mich zusammen fahren liess.
Es tat so unglaublich weh!
Doch ein Stück meines blutenden Herzens brannte lichterloh.
Heiss und lebendig.
Unerbittlich gegen die Kälte und die Trauer.
Was es war, konnte ich nicht benennen. Aber es trieb mich dazu an, meinem Instinkt zu vertrauen.
Meiner Liebe.
Ich kam mir vor wie eine Marionette, als ich das Haus verliess. Wer oder was die Fäden in der Hand hielt, wusste ich nicht und es war mir auch gleichgültig.
Während ich den bekannten Weg einschlug, tippte ich eine Nachricht, ich war hier schon tausende Male entlang gelaufen, sodass ich nicht hin zu sehen brauchte. Mein Körper war auf Autopilot.
„Verdammt nochmal. Ich hab gesagt ich will nichts mehr mit dir zu tun haben“
„Du Wichser! Das wirst du mir büssen!“
Die zwei brüllenden, männlichen Stimmen liessen mich auf sehen.
Beide erkannte ich sofort. Auf der anderen Strassenseite, standen zwei Motorräder, deren Besitzer sich gerade lautstark stritten.
„Du hast mich verraten!“, brüllte Caleb fuchsteufelswild.
„Du hast verdammte Scheisse gebaut, dass hast du dir selbst eingebrockt!“, entgegnete Tom.
Wäre ich nicht so sehr auf Manuel fixiert gewesen, so hätte ich mich wahrhaft über Toms neue Einstellung gefreut.
Caleb ging auf Tom zu, mit den Händen zu Fäusten geballt.
„Tom!“, rief ich aus einem Impuls heraus und überquerte die Strasse.
Dieser sah überrascht zu mir, genauso wie mein Peiniger. Tom sollte nicht verprügelt werden, aber das war nur ein Teilgrund, weswegen ich einschritt. Bei ihm angekommen, würdigte ich Caleb keines Blickes. Dieser Mensch hätte mir nicht gleichgültiger sein können, und die Angst, welche normalerweise in solch einer Situation über mich hergefallen wäre, wurde von meinem brennenden Herzen nicht einmal erfasst.
Manuel.
Er war wichtig, nur er.
„Tom, fährst du mich ins Krankenhaus?“, wollte ich wissen, denn zu Fuss hätte ich dorthin eine gute Stunde, diese Zeit konnte ich jetzt nicht mit Gehen verschwenden.
„Ist etwas passiert?“, Tom sah mich schon fast besorgt an.
„Nein“, sagte ich knapp und hoffte er würde nicht weiter fragen. Was hätte ich ihm auch erzählen sollen? Dass mein Freund mich ignorierte? Dass ich spürte, dass etwas nicht stimmte? Gott sei Dank, kam es nicht zu einer weiteren Frage.
„Steig auf“
Tom setzte sich aufs Motorrad, ich kletterte hinter ihn und schon heulte der Motor los.
Caleb liessen wir mit einem völlig verdatterten Gesichtsausdruck zurück.
Der Wind pfiff mir um die Ohren und ich schloss die Augen. Manuels Gesicht erschien sofort vor mir, wie es das immer tat, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Er lächelte und fast hatte ich das Gefühl er würde strahlen. Die zarte liebevolle Wärme kroch in meinen Körper, bis zu meinem Herzen und verbannte auch die letzten Eisbrocken. Meine Entscheidung stand fest: Ich würde kämpfen! Wie und gegen wen oder was auch immer!
„Wir sind da“, liess mich Tom wissen, nachdem ich befürchtet hatte nicht heil anzukommen. Er hatte einen grauenhaft, fahrlässigen Stil und ich war froh jetzt absteigen zu können.
„Danke Tom“, schon ging ich in Richtung Eingang.
„Leif, warte!“ Tom überholte mich und sah mich an.
„Wegen der Sache am See. Ich wollte mich bei dir entschuldigen“ Er sah aus also wolle er weiter sprechen, doch ich hielt ihm die Hand hin.
„Ich nehme deine Entschuldigung an. Von mir aus, ist das hier ein Neuanfang“
Schnell schüttelte er meine Hand.
„Danke. Neuanfang klingt klasse!“ Ich glaubte ihm…
Was ich zu Tom gesagt hatte, war ernst gemeint gewesen, aber nun fürs Erste vergessen. Mit einem leisen Pling! Kam der Aufzug zum Stehen und ich befand mich in der Onkologie. Dass meine Mum, nach dem Tod meines Vaters, immer noch mit anderen Krebspatienten arbeiten konnte, war für mich ein Zeichen unglaublicher Stärke.
Am Empfang angekommen, erkannte mich die Pflegerin Tracy sofort.
„Oh hallo Leif, schön dich mal wieder zusehen“
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nie mehr hier gewesen war, nach dem mein Vater gestorben war. Die Gedanken der Trauer kreisten um mich und ich musste mich zusammenreissen um sie nicht zuzulassen. Hier ging es nicht um die Toten…
„Ich muss mit meiner Mutter sprechen“, sagte ich nach knapper und zugegebenermassen ziemlich kühler Begrüssung.
„Ah, da kommt sie gerade“
Tracy zeigte hinter mich und legte den Pager wieder weg.
„Schatz, was machst du denn hier, ist etwas passiert?“
Gute Frage…
In meiner Hosentasche summte mein Handy, sofort keimte Hoffnung auf, welche gleich wieder erstarb. Nicht Manuel.
„Mum, du musst mich bitte zu Manuel fahren“
„Oh, Leif das geht nicht, ich hab noch Dienst“
Ich sah ihr eindringlich in die Augen. Ich musste zu ihm. Brauchte Antworten. Das Gefühl in meiner Brust, für das ich keinen Namen wusste, breitete sich unaufhaltsam aus.
„Bitte“
Ich war verzweifelt. Vielleicht machte ich mich bei Manuel zum Deppen der Nation, wenn ich wie ein gehetztes Huhn bei ihm aufschlug, doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
„Ist etwas passiert?“, fragte mich meine Mutter erneut und musterte mich besorgt. Ihr Ton war mitfühlend und sanft geworden. Ich schüttelte hilflos den Kopf, zuerst nickend, dann verneinend.
„Bitte, Mum“, ich konnte selber hören, wie flehend ich mich anhörte. Auf einmal war ich mit meinen Gefühlen überfordert. Die Einsamkeit, mein halbes Herz schrie nach ihrer Vollkommenheit. Die Unsicherheit, die ich nach wie vor mein Eigen nannte, welche über mir zusammen zu brechen drohte. Die Angst, Manuel zu verlieren. Das stete Gefühl, dass etwas nicht stimmte und zu allem hinzu: Wut. Warum meldete sich mein Freund nicht, obgleich er genau das versprochen hatte?
Simona schlang einen Arm um meine Schultern und führte mich in den altbekannten Aufenthaltsraum für die Patienten mit ihren Familien. Dieser war über und übervoll mit Büchern, in der Mitte des Raums, zum Fenster gerichtet standen grosse, schwere Sessel. Auf genau so einen drückte mich meine Mum nieder und küsste meine Haare.
„Warte kurz“, dann war sie weg.
Unruhig sah ich mich um, versuchte die Titel der Bücher zu lesen, um mich abzulenken.
Keine Chance.
Es wollte und sollte mir einfach nicht gelingen. Unaufhörlich stellten sich mir die immer gleichen Fragen und jedes Mal, schien ich noch weniger im Stande zu sein, eine Antwort zu finden.
Ruppig riss ich mein Handy hervor und starrte auf die Adresse, die in der Nachricht stand. Die Strassennamen sagten mir rein gar nichts, jedoch hätte ich in meiner momentanen Verwirrung vermutlich nicht einmal mehr nach Hause gefunden.
Es war ein absolut unpassender Moment, doch es durchschlug mich wie ein Blitz: Die Erkenntnis mit welcher Heftigkeit ich Manuel liebte. Meine Liebe zu ihm war an sich nichts Neues, während die Seine zu mir, einem Wunder glich und dass in jeder einzelnen Sekunde. Doch nun hatte ich das Gefühl sie wäre in den letzten Tagen nur noch mehr gewachsen. Vielleicht war das bloss die Sehnsucht die aus mir sprach, oder aber eben die Angst vor dem Ungewissen…
„Leif?“, hörte ich die Stimme meiner Mutter durch den Nebel meines Bewusstseins. Sie hatte eine Hand auf meine Schulter gelegt, welche ich erst jetzt bemerkte, und beugte sich zu mir. Ihr Blick war besorgt. Langsam erhob ich mich und stand ihr dann einfach stumm gegenüber.
„Komm lass uns gehen“
Auf dem Weg in die Parkgarage, fragte sie mich was passiert sei. Möglichst genau schilderte ich ihr die Ereignisse, oder viel mehr die Dinge, welche sich eben nicht zugetragen hatten. Ich war froh, dass sie mich nicht auslachte oder sich über meine möglicherweise paranoiden Vorstellungen lustig machte.
„Du machst dir wirklich Sorgen“
„Ja“, bestätigte ich knapp, als wir in den grauen BMW stiegen.
„Glaubst du er betrügt dich?“
Ihre Stimme klang nicht, als würde sie daran denken, doch vielleicht wollte sie mir nur keinen Grund zu Besorgnis geben...
Herrgott ja! Schrie mein Kopf mir entgegen und schleuderte es mir im Schädel umher, während allerdings mein Herz stark und sicher dagegen an klopfte.
Unwillkürlich tauchten schöne Erinnerungen von Manuel vor meinem geistigen Auge auf, welche meinem Herzen Beifall pflichteten, doch was hiess das schon…?
Ohne auf Simonas Frage einzugehen, nannte ich ihr die Adresse von Manuels Vater und starrte dann aus dem Seitenfenster. Der Wagen sprang an und meine Mutter fuhr los.
Während der ganzen Fahrt schwirrten meine Gedanken in unbekannten Sphären umher.
Was wird mich erwarten?
Wenn ich an Richard Harrow dachte, schüttelte es mich immer noch. Seine Stimme war irgendwo unter dem Gefrierpunkt angesiedelt und alles was ich bis jetzt von ihm wusste, liess ihn auf meiner Sympathieliste auch nicht gerade weiter nach oben klettern. Ich war froh, bald zu wissen was hier los war, doch im selben Moment hatte ich Todesangst.
„13B hast du gesagt, oder?“
Beinahe schreckte ich auf, als mich meine Mutter so abrupt zu sich auf die Erde beorderte. Verwirrt strich ich mir durch die wirren Haare.
„Ja“
„Gut, dann sind wir da“, meine Mum zeigte aus dem Seitenfenster raus und tatsächlich, wir waren da.
Praktischerweise befand sich direkt vor dem Haus eine Reihe an Parkplätzen. Schnell stand der Wagen in einer der Lücken und wir stiegen aus. Das Haus war riesig! Es erinnerte mich an eine kleine Ausführung eines Wolkenkratzers, viel Glas, modernes Design und wirklich überdimensional. Ich brauchte einen Moment, denn mein Herz trommelte so fest gegen meine Luftröhre, dass ich kaum mehr atmen konnte. Allein dieses Bauwerk strahlte Macht aus, perfekt passend zu Manuels Vater.
„Schatz“
Meine Mutter war neben mich getreten und sah mich fragend an. Tief atmete ich ein und nickte. Meine Beine fühlten sich taub an. Jeder Schritt war harte Arbeit. Im Aufzug, bemerkte ich erst, dass meine Mutter mir folgte. Auch wenn es sicher feige war, nicht alleine zu gehen, ich war froh um ihren Beistand. Der Spiegel im Fahrstuhl zeigte mein Ebenbild. Man konnte mir ansehen, wie sehr ich durch den Wind war. Ein rötlicher Schimmer legte sich um mein Schlüsselbein, welcher von meiner Nervosität zeugte. Eine elektronische Stimme sprach aus dem Lautsprecher und verkündete in welchem Stock wir angekommen waren. Wir stiegen aus und befanden uns in einer Art Flur mit bodentiefen Fenstern, die eine tolle Aussicht ermöglichten. Für einige Momente blieb ich stehen, ich sammelte all meine Gefühle und bestärkte mich selbst in meinem Vorhaben. Dann blickte ich zu meiner Mutter, die genau wusste was ich dachte, dieses Mal war sie es die nickte.
„Ich warte hier“
Sie in der Nähe zu wissen, beruhigte mich im selben Masse wie es mich nervös machte. Je nach dem was gleich geschehen würde, könnte es ziemlich peinlich werden…
Oder schmerzhaft…
Oder nichts von alledem und es gibt eine plausible Erklärung für alles! Flüsterte mir meine optimistische Seite entgegen.
Der Flur bis zur Tür kam mir vor als wäre er kilometerlang. Meine Hände ballte ich an meinen Seiten immer wieder zu Fäusten, ehe ich sie wieder entspannte. Dann stand ich vor der massiven dunkelgrauen Tür, die mich unwillkürlich an Fort Knox erinnerte.
Oder vielleicht wäre Alcatraz die bessere Bezeichnung?
Meine Hand zitterte, als ich sie nach der Klingel ausstreckte. Einige Sekunden ruhten meine Finger auf dem kühlen Edelstahl, in das “Harrow“ eingraviert war. Mittlerweile trommelte mein Herz so schnell in meiner Brust, dass ich es nur noch als durchgehenden Schlag wahrnahm.
Das Verlangen Manuel zu sehen, brachte mich dazu zu klingeln.
Die Stille bis sich die Tür öffnete, schien mir wie eine halbe Ewigkeit…
Dann jedoch wurde die Tür ruckartig geöffnet und ein grosser Mann, etwa Ende vierzig, stand mir gegenüber.
Der graphitfarbene Anzug sass perfekt an dem muskulösen Körper, mit passendem Hemd, Krawatte und Schuhen, sogar Manschettenknöpfe waren vorhanden. Die dunkelbraunen Locken, in denen sich bereits erste graue Strähnen zeigten, waren streng nach hinten gegelt.
„Junger Mann, werden Sie heute noch mit der Sprache rausrücken, oder mich nur dümmlich anstarren?“, blaffte mir Richard Harrow entgegen. Als ich seinem eiskalten Blick begegnete, erstarrte ich kurzzeitig. Das waren dieselben Augen wie die von Manuel. Genauso grün, doch mich schüttelte es nur. Da war nicht diese unglaubliche Wärme, dieser wundervolle Glanz, der mich bei Manuel jedes Mal in seinen Bann zog. Mich schmelzen liess und sich so sehr nach Zuhause anfühlte.
Diese hier waren matt und zu Schlitzen verzogen. Dennoch, ich war nicht hier um diesen Mann mit meinem Zuhause zu vergleichen, ich wollte dieses nur wieder finden…
Unauffällig sah ich an ihm vorbei in die Wohnung und konnte vage ein Wohnzimmer ausmachen, doch vielmehr als einen grossen Wohnzimmertisch und ein Sofa konnte ich nicht erkennen.
„Mister Harrow?“
„Wer sollte denn sonst die Tür öffnen? Schliesslich ist dies mein Appartement“, wieder diese ruppige unfreundliche Art, die mir kühle Schauer durch den Körper rasen liess. Ich war sonst schon unsicher, doch durch sein Auftreten mir gegenüber wurde das fast unerträglich.
„Mister Harrow, ich habe Sie bereits angerufen. Ich bin Leif Lancaster. Ich möchte mit Ihrem Sohn sprechen“, sagte ich und straffte die Schultern. Abermals blickte ich ins Innere der Wohnung. Mein Blick blieb an dem kleinen Gegenstand auf dem Tisch hängen. Manuels Bilderrahmen, und seine Schlüssel daneben! Er war wirklich Zuhause! Gleich würde ich ihn endlich wiedersehen! Mein Herz flatterte vorfreudig und meine Seele sehnte sich so sehr nach ihm, dass ich glaubte sie seinen Namen rufen zu hören.
„Dann können Sie gleich wieder gehen. Manuel befindet sich nicht hier“
Wie bitte?!
Verwirrt sah ich Richard an, dann wieder zu den Schlüsseln, immer und immer wieder.
Da lag das Geschenk, dass ich ihm gegeben hatte!
Das habe ich immer bei mir… Ohne den gehe ich nirgendwo mehr hin…
Das waren Manuels Worte gewesen!
Er musste hier sein!
„Wo ist er denn?“, fragte ich, obgleich ich Mister Harrow am liebsten aus dem Weg geräumt hätte und zu dem Bilderrahmen gestürmt wäre.
Harrow schnaubte gerade überdeutlich.
„Sein momentaner Aufenthaltsort ist mir nicht bekannt“
Dieser Mann treibt mich zur Weissglut! Was sind das denn bitte für Aussagen?
„Sie wissen nicht wo Ihr eigener Sohn ist?“, fragte ich aufgebracht. Richard verschränkte die Arme vor dem Körper, sein Blick verdunkelte sich weiter, sodass ich tatsächlich Angst bekam.
„Mein Sohn ist volljährig, wie Sie vielleicht wissen. Ich bin daher nicht mehr verpflichtet auf ihn aufzupassen. Nicht zu wissen wo er sich aufhält, verletzt also keinesfalls die Aufsichtspflicht, welche mir obliegt. Und nun möchte ich, dass Sie gehen. Ich habe gleich einen Termin“
Bei Gott, ist dieser Mann nicht ganz bei Trost?
Schon allein durch die Schilderungen dieses Mannes, von JD und Manuel, hatte ich ihn für schwierig befunden. Schwierig, streng vielleicht auch bevormundend, aber nicht gleichgültig. Doch genau das schien er zu sein.
Ich sollte gehen?
Den Teufel würde ich tun! Ich hatte genug!
Meine Gefühle übermannten mich und sperrten jegliches rationales Denken aus.
Schneller als Richard oder ich es hätten verhindern können, war ich an ihm vorbei geschlüpft, in seine Wohnung.
Blitzartig sah ich mich in allen Richtungen um, doch von Manuel keine Spur. Doch er war hier, ganz sicher! Ich konnte seine Nähe spüren!
„HEY! Verlassen Sie sofort meine Wohnung!“, knurrte es wutentbrannt hinter mir.
Aus einem Impuls heraus, griff ich nach dem Bilderrahmen und den Schlüsseln und liess sie schnell in meine Hosentasche gleiten.
Dann wandte ich mich Harrow zu.
„Verlassen Sie meine Wohnung oder ich werde rechtliche Schritte gegen Sie einleiten!“
„Das wird nicht nötig sein!“, sagte plötzlich meine Mutter, die im Türrahmen erschienen war.
„Leif, wir gehen“
Widerstrebt folgte ich ihrer Anweisung. Ich musste das Feld räumen, so kam ich nicht weiter.
„Verschwinden Sie! Alle beide! Sofort!“, brüllte Harrow lautstark. Er rief es immer wieder, bis meine Mutter und ich im Aufzug verschwanden.
Meine Mutter blieb stumm, obgleich ich ein Donnerwetter erwartet hatte. Mein Atem ging schwer und mir war unglaublich heiss. Die ganze Aufregung trieb meinen Puls in ungeahnte Höhen.
„Was ist das nur für ein kalter Bastard“
Völlig verblüfft sah ich zu meiner Mutter, die ungläubig den Kopf schüttelte.
„So einen Vater hätte ich bei Manuel nun wirklich nicht erwartet. Gott sei Dank, fällt manchmal der Apfel ganz weit weg vom Stamm“, zeterte sie weiter und sprach mir aus der Seele. Manuel sah äusserlich seinem Vater zwar ähnlich, doch sein Wesen war ganz und gar anders. Manuel hatte diese liebevolle Wärme in sich, die er ausstrahlte und ihn so unvergleichlich vollkommen machte. Die jeden um sich herum glücklich stimmte und dich deine Sorgen vergessen liess.
„Hat er dir wenigstens gesagt, was mit Manuel ist?“
„Nein, er meinte, er wäre nicht da“
Die Frage, die sich mir nun stellte war einfach: War er wirklich weg?
Vielleicht log sein Vater ja auch… Aber warum sollte er? Und würde er es? Für seinen Sohn? Momentan fiel es mir schwer, zu glauben, dass dieser Mensch überhaupt etwas Nettes tun konnte. Doch immerhin war er Manus Vater. Er würde für seinen Sohn sicher einiges tun… Gehörte lügen auch dazu? War Manuel Zuhause und wollte mich nur nicht sehen? Hatte er seinen Vater gebeten, mich abzuwimmeln?
Zitternd atmete ich ein, der beklemmende Schmerz in meiner Brust wurde wieder stärker. Die dunklen Gedanken zogen mich immer mehr in die Tiefe und rotteten auch die letzten Hoffnungen aus. Ich wollte mich auf den Boden sinken lassen, mich zusammen rollen und nichts mehr spüren.
Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben. Manu hatte gesagt er müsse für seinen Vater arbeiten, doch nun war er entweder nicht da, oder zwar Zuhause und wollte mich nicht sehen.
Es gab keinen Weg mehr daran vorbei: Manuel hatte mich angelogen und mich vergessen…
„Komm“, sagte meine Mutter sanft, legte einen Arm um mich und führte mich hinaus. Ich folgte ihr willenlos, innerlich gebrochen und langsam am tiefen Schmerz zu Grunde gehend…
Irgendwie führte mich meine Mutter zum Wagen und brachte mich dazu einzusteigen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt zu überleben. Den pochenden Schmerz in meiner Brust zu ertragen, obgleich er so unerträglich war. Im Wagen herrschte Stille, genau wie in meinem Herzen. Noch nie war ein Herzinfarkt, den mir Manuel bescherte so fürchterlich qualvoll gewesen. Nur mit unmenschlicher Kraft, schaffte ich es mich zu beherrschen. Immer wieder fuhr ich mit den Händen übers Gesicht, durch die Haare und über meine Arme. Mir war so furchtbar kalt. Die Flamme meines Herzens war nicht mehr vorhanden, nur ein leises Züngeln und Zischen, des langsamen Erlöschens war zu hören. Mit tauben Sinnen, griff ich in meine Hosentasche und barg die Schlüssel und den Bilderrahmen. Ich hielt das Geschenk, darauf war das Bild zu sehen, auf dem Manuel und ich gemeinsam in die Kamera grinsten. Anscheinend hatte Manu es so eingestellt, dass dieses Foto durchgehend zu sehen war. Mein Blick verschwamm und mit einem Finger strich ich sachte über Manuel. Verdammt, er war so wunderschön. Diese leuchtenden grünen Augen, sein ehrliches Lachen und die dunklen, wilden Locken, durch welche ich so gern meine Finger gleiten liess.
„Er liebt dich wirklich sehr“
Verwirrt sah ich zu meiner Mutter, die auf das Foto deutete.
„Du siehst es in seinen Augen. Schau hin“
Wieder blickte ich auf Manuel. In seine Augen. Und tatsächlich, in seinem Blick schien etwas zu lodern, etwas dass mich verzehrte, mich immer mehr in seinen Bann zog. Die silbernen Sprenkel leuchteten, wie Sterne am Firmament. Nur durch das Anstarren seines Antlitzes entzündete sich ein Funke in meiner Brust. Die Wärme strahlte aus, streckte sich in meinem ganzen Körper aus und blieb.
Ich liebe dich, sagte ich ihm in Gedanken.
Entschlossen, rang ich die aufkommenden Tränen nieder.
Ich hatte gesagt, ich würde kämpfen und das werde ich auch!
„Oh, unser werter Bastard verlässt den Todesstern“
Meine Mutter war schon immer eine leidenschaftliche Star Wars Fanatikerin gewesen, was mich auch jetzt wieder zum Lachen brachte. Aber sie hatte Recht. Richard Harrow verliess gerade das Gebäude und ging mit einem schwarzen Aktenkoffer in die, uns entgegen gerichtete Richtung.
„Na mal sehen was Darth Vader so verbirgt“, sagte ich kurzerhand, schnappte mir die Schlüssel und zeigte sie meiner Mutter.
„Leif das kannst du nicht tun“, wollte sie mich aufhalten, doch ich war bereits ausgestiegen.
„Bin gleich wieder da“
Mit diesen Worten stiess ich die Tür zu und ging zum Eingang des Gebäudes.
Plötzlich floss ungeahnte Energie durch meinen Körper, fast einer Euphorie gleich. Vermutlich das Adrenalin, ausgelöst durch das Verbotene, das ich im Begriff war zu tun. Egal, es fühlte sich viel besser an als die Trauer um etwas, dass noch nicht endgültig verloren war.
Ich weigere mich das zu akzeptieren!
Eilig schlüpfte ich in den Aufzug und kurze Zeit später stand ich vor Harrows Haustür. Verstohlen blickte ich nach links und rechts, doch da war niemand zu sehen. Gut. Schnell, öffnete ich die Tür und verschwand im Inneren der Wohnung. Nun klopfte mein Herz aufgeregt und ich erlaubte mir, kurz durch zu atmen.
„Manuel?“, flüsterte ich nur ganz leise, ehe ich ins Wohnzimmer ging. Es war wirklich riesig, ebenfalls mit bodentiefen Fenstern, doch ich war nicht hier, um die Aussicht zu geniessen und deshalb ging ich den Flur hindurch, der zu weiteren Zimmern führte. Zuerst ein absurd grosses Arbeitszimmer, mit einem massiven Holztisch und einer ziemlich ausführlich ausgestatteten Bar. Alles war penibel aufgeräumt.
Auch das Schlafzimmer war nicht anders, schnell ging ich weiter.
„Manuel?“ Alles war totenstill und ich fand mich schon damit ab, dass er nicht da war, als ich vor einer weiteren Tür stand. Wieder öffnete ich sie – und erstarrte.
Nein! Gott nein!
Völlig unfähig mich zu bewegen stand ich da. Die Augen weit aufgerissen.
Mein Herz gab endgültig auf.
Ich wollte schreien!
Rennen!
Nein!
Manuel…
Zitternd atmete ich ein. Starrte auf Manuel. Eiswasser flutete meinen Körper, als ich auf meinen Freund niederblickte. Er schien kaum mehr als ein Bündel zu sein, welches an der Wand lehnte.
Völlig regungslos.
Innert eines Herzschlages war ich bei ihm und kniete mich vor ihn.
Oh Gott!
Ein entsetztes Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Manuels Gesicht, sein wunderschönes Gesicht, war angeschwollen.
Seine Wange blutete.
An seiner Stirn prangte eine hässliche Wunde, das klebrige Rot rann ihm über sein gesamtes Gesicht und tropfte auf sein, einst weisses Hemd. Nun jedoch war es blutgetränkt. Die einen Flecken dunkler, älter als die anderen. Ich wollte schreien, ihn an mich ziehen, ihn wiegen wie ein kleines Kind und ihn vor allem Bösen beschützen, doch ich traute mich nicht ihn zu berühren.
Er wirkte so furchtbar zerbrechlich!
Dann liess ich meinen Blick weiter über sein Hemd schweifen.
Erneut blieb mir das Herz stehen.
Der rot verfärbte Stoff, stand etwas offen und entblösste einen Teil seines Oberkörpers.
Nein!
Manuels gesamte Brust, war mit violetten und blauen Flecken übersäht. Schwere Blutergüsse, deren Anblick mir das Blut in den Adern gefrieren liessen.
„Manuel“, flüsterte ich zittrig. Noch immer rührte er sich nicht. Ich starrte auf seine Brust.
Atmete er? Ich konnte es nicht sagen!
Mein Blick verschwamm, durch die Tränen der Verzweiflung.
Endlich schaffte ich es mich zu bewegen. Vorsichtig, nein ängstlich, legte ich eine Hand an seine Brust.
Bitte, lass mich einen Herzschlag spüren!
Bitte! Flehte ich verzweifelt.
Kaum berührte meine Hand Manuels glühenden, verletzten Oberkörper zuckten einige seiner Muskeln und sein schmerzverzerrtes Wimmern zerriss meine Seele. Unbändige Erleichterung schüttelte mich.
Er lebt!
„Manuel“, sachte rüttelte ich an seiner Schulter. Nichts.
„Manuel, bitte mach die Augen auf“
Als ich seinen Kopf berührte, sackte dieser nur leblos zur Seite.
Alles in mir schrie verzweifelt nach Hilfe. Doch die würde nicht kommen…
„Manuel, bitte“, schluchzte ich wieder, leiser. Ich war am Ende, kurz davor zusammenzubrechen. Die Last auf meinen Schultern war einfach zu schwer. Abermals sah ich auf meinen Freund, wie er still und blutend da lehnte. Keuchend holte ich Luft.
Er braucht mich! Hier geht es nicht um mich und meine Schwäche!
Manuel verliess sich auf mich und ich durfte ihn nicht enttäuschen. Hier konnte er nicht bleiben!
Ich schlang meine Arme um ihn und hob ihn hoch. Mehr als ein schwaches Wimmern, entfloh ihm nicht. Er lag kraftlos in meinen Armen, die ich fest um ihn geschlungen hatte und mich an ihn krallte.
Manu wirkte so verdammt blass, so schwach, was mir fruchtbare Angst machte.
„Alles wird gut, versprochen!“, murmelte ich in seine vom Blut verklebten Haare. Die Worte sagte ich mehr mir, als ihm. Ich musste mich selbst daran glauben lassen.
Langsam schritt ich durch die Wohnung, darauf bedacht Manuel nicht weh zu tun. Im Flur sah ich mich um. Ich war wachsam und ich hatte das Gefühl meinen Freund beschützen zu müssen. Mit allem was ich hatte. Meinem Leben, meiner Liebe. Mein Körper war sein Schutzschild.
Niemand kam mir entgegen, auch nicht als ich den Fahrstuhl betrat, und unten wieder ausstieg. Manuel fest gegen meine Brust gedrückt, verliess ich das Gebäude.
„Oh Gott!“, hörte ich meine Mutter, wie durch einen undurchdringlichen Nebel, sagen. Sie war neben mich getreten.
„Was ist passiert?“
„Hilf ihm! Bitte!“, flehte ich und ignorierte ihre Frage. Sie sah ihn an, schob das Hemd etwas zur Seite.
„Er muss sofort ins Krankenhaus“
Mehr als nicken konnte ich nicht mehr. Sie öffnete die Hintertür und ich stieg mühevoll, mit Manuel auf den Armen ein. Sein Kopf kippte gegen meine Brust. Diese völlig unkontrollierten, kraftlosen Bewegungen und die Tatsache, dass Manu nicht bei Bewusstsein war, machten mir das Atmen unmöglich. Ich war innerlich zerrissen, sodass ich kaum mitbekam wie meine Mum losfuhr.
Unwillkürlich, schoben sich schmerzliche Erinnerungen vor mein inneres Auge. Von meinem Vater. Wie er schwächer wurde, seinen Kopf kaum noch heben konnte und wie sich sein leerer Blick ins Nichts richtete, als er starb.
Ich bekam keine Luft mehr, zitterte am ganzen Körper.
Nein! Ich würde das kein zweites Mal ertragen!
Schon das erste Mal hatte mich umgebracht, ich war mit tauben Sinnen durch die Welt geschritten, bis Manuel gekommen war. Mit seinem Lachen mein Herz erwärmt hatte. Er hielt mich am Leben. Manuel trug mein Herz in sich, ohne ihn war ich tot.
Hinter meinen Augen brannte es fürchterlich, doch die Tränen wollten nicht fliessen. Konnten nicht. Ich war wie gelähmt. Nur Manuel zählte, alles andere war bedeutungslos.
Aus meiner Tasche, zog ich eines meiner Stofftaschentücher und begann vorsichtig Manuels Gesicht abzutupfen. An einigen Stellen, war das Blut schon längst dunkel und verschorft.
„Manuel, komm schon, mach die Augen auf. Ich bin‘s!“, flüsterte ich an sein Ohr.
Nichts.
Wie in Trance, starrte ich weiter auf ihn, ohne etwas anderes mitzubekommen. In meinem Kopf war alles ruhig, jeder Gedanke wurde von der vorherrschenden Sorge um Manuel sofort zum Schweigen gebracht.
Das Öffnen der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Waren wir wirklich schon da? Der Weg hier hin kam mir vor wie fünf lächerliche Minuten und gleichzeitig wie fünf schmerzhafte Jahre.
„Soll ich dir helfen?“, fragte meine Mutter, doch ich schüttelte den Kopf, ich konnte Manuel nicht loslassen. Obgleich er der Schwerverletzte war, fühlte ich die Schmerzen wie meine eigenen. Sie zehrten an meinen Kräften, liessen meinen Puls verlangsamt schlagen. Ich war unglaublich müde, doch das Adrenalin in meinen Blutbahnen hielt mich wach, und ich würde so lange wach bleiben, bis Manuel wieder die Augen öffnete, bis ich wusste, dass alles gut werden würde.
Vorsichtig stieg ich aus, Manu hielt ich fest an mich geschmiegt. Er war während der ganzen Fahrt nicht zu sich gekommen, auch die kleinen Klagelaute hatte er eingestellt. Nur meine Hand an seinem Hals, die seinen Puls fühlte, zeigte mir, dass er lebte. Seine Brust hob sich kaum, sein Atem war flach.
Wie ferngesteuert, folgte ich meiner Mutter ins Krankenhaus. Sie sprach mit irgendwelchen Leuten, doch ich verstand sie nicht. Alle meine Sinne waren auf Manuel gerichtet. Dann kamen die Ärzte und Schwestern, welche sie wohl waren auf mich zu, redeten mit mir. Ich sah auf ihre Lippen, die sich bewegten, doch hörte ich nicht was sie sagten.
„Schatz, leg Manuel auf das Bett“, erklärte mir meine Mutter. Unsicher sah ich ihr in die Augen. Ich sollte ihn loslassen? Konnte ich das überhaupt? Sie nickte beschwichtigend. Er brauchte Hilfe, die ich ihm nicht geben konnte. Es war zu seinem Besten…
Behutsam legte ich Manuel aufs Bett.
Die Schwestern schoben ihn durch den Gang, automatisch ging ich mit ihnen, bis mich meine Mutter aufhielt.
„Schatz wir müssen ihn erst mal untersuchen. Warte hier okay?“
Zitternd sah ich in ihre Augen. Ich wollte ihn nicht allein lassen! Sie führte mich zu einem der Stühle an der Wand, drückte mich darauf nieder und kniete sich vor mich. Sie nahm meine Hände zwischen ihre und begann sanfte Kreise zu zeichnen, wie einst mein Vater es getan hatte.
„Leif, wir müssen abklären was für Verletzungen er hat, um ihm besser helfen zu können“
Das wusste ich, doch es machte mir Angst.
„Wie schwer ist er verletzt?“, murmelte ich ängstlich, sah ihr in die Augen, sie wusste, dass ich jetzt nicht die Ärztin fragte, sondern sie als meine Mutter. Wie damals bei meinem Vater. Genau wie sie wusste, dass ich die ungefilterte Wahrheit hören wollte, hören musste.
„Seine Verletzungen kann von aussen niemand genau beurteilen, aber sie könnten sehr gefährlich sein, darum bedarf es einer genauen Abklärung um gegebenenfalls die nötigen Schritte einzuleiten“
„Innere Blutungen“ Es war keine Frage, ich wusste es. Wieder fühlte ich mich in die Vergangenheit zurück versetzt.
„Oh Schatz, das muss nicht sein. Bei Kopfverletzungen muss man immer vorsichtig vorgehen. Ich gehe mit und gebe dir Bescheid, sobald ich etwas weiss, okay? Mach dir nicht so grosse Sorgen. Manuel ist jung, gesund, stark und er hat dich“
Hart schluckend, nickte ich. Meine Mutter erhob sich, küsste mich auf die Stirn und ging in den Raum in welchen sie zuvor Manuel gebracht hatten.
Meine Arme stützte ich auf die Knie, den Kopf in den Händen vergraben. Ich kniff meine Augen fest zu und biss die Zähne schmerzhaft stark aufeinander, während ich unbarmherzig von geräuschlosen Schluchzern geschüttelt wurde. Nur Tränen flossen keine, obgleich ich es mir wünschte. Warum konnte ich all die Gefühle nicht aus mir herausbrechen lassen? Stattdessen frassen sich in meine Seele, schlugen alles kurz und klein. Der Schmerz regierte. Der Schmerz und die tödliche Angst Manuel zu verlieren…
Wieso habe ich nicht früher gehandelt?
Schon nach dem ersten Tag, als Manuel sich nicht mehr gemeldet hatte? Vielleicht hätte ich so alles verhindern können. Stattdessen habe ich mich in Selbstmitleid gebadet, Manuel irgendwelche schlechten Dinge angedichtet. Er hätte mich vergessen… Wie hatte ich das nur glauben können? Obgleich es doch nicht im Geringsten zu meinem Freund passte? Ich hatte versagt! Ihm nicht vertraut, unsere Liebe verraten und ihn einfach im Stich gelassen!
Wenn er sich jetzt nicht erholte, dann war das allein meine Schuld! Wenn er starb, hatte ich ihn getötet…
Oh Gott nein!
Energisch schüttelte ich den Kopf. Manuel würde wieder gesund werden! Er musste!
Die Tür des Raums, in welchen sie Manu gebracht hatten, ging auf. Sofort schoss ich aus dem Sitz und eilte meine Mutter entgegen. Sah ich Trauer in ihrem Blick? Nein! Bitte!
„Wie geht es ihm! Was hat er?“, fragte ich beinahe hysterisch. Sie legte ihre Hände auf meine Schultern.
„Das MRT hat keine inneren Blutungen gezeigt, aber die Ergebnisse müssen noch genauer ausgewertet werden. Danach müssen wir ihn weiter untersuchen“
Zittrig vor Erleichterung faste ich mir ans Herz. Das waren erstmal gute Nachrichten.
„Kann ich zu ihm?“
„Wir verlegen ihn kurz in ein Zimmer, bis die Resultate da sind, kannst du bei ihm sein“
Manuel wurde aus dem Raum geschoben und meine Mutter und ich folgten ihm. Wir warteten noch kurz, bis man Manuel an irgendwelchen Maschinen angeschlossen hatte, dann nickte mir meine Mum zu und ich ging ins Zimmer.
Manuel lag regungslos im Bett. Man hatte ihm die Kleidung entfernt und eine dünne Decke, verbarg provisorisch angebrachte Verbände an seinem Oberkörper. Jeder Schritt zu ihm, machte ich auf wackeligen Beinen, von denen ich glaubte, sie würden mir jeden Moment den Dienst versagen. Irgendwie schaffte ich es ans Bett, setzte mich an den Rand und zögerte. Ich brauchte seine Nähe, musste sie spüren, als Beweis, dass er da war. Echt und lebendig. Doch ich hatte Angst, er sah aus als könnte jede Berührung ihn zu Staub zerfallen lassen. Dennoch griff ich nach seiner Hand, nahm sie sachte in die meinen. Seine Haut war ungewöhnlich kühl, als hätte jemand Manuels glühende Wärme erlöschen lassen. Federleicht strich ich über seine feingliedrigen Finger. Mit dem Gesicht ging ich näher, legte meine Wange an seine Hand und hauchte flüchtige Küsse auf seinen Handrücken.
„Es tut mir so leid! Ich hätte da sein müssen. Dir helfen müssen!“, schluchzte ich. Langsam erhob ich mich, beugte mich über ihn, ganz nah an sein Gesicht.
„Ich liebe dich“, flüsterte ich ihm zu, als die Tür aufging.
„Schatz?“ Mühevoll um Beherrschung ringend wandte ich mich meiner Mum zu.
„Ich brauche die Nummer von Manuels Mutter um sie zu benachrichtigen“
Ach du heilige Scheisse! Isabelle und JD hatte ich vollkommen vergessen!
„Schon gut, ich mach das“, sagte ich leise. Allein der Gedanke, ihnen sagen zu müssen, dass Manuel verletzt war, liess mich erschauern. Meine Mutter sah mich zweifelnd an.
„Ich werde sie anrufen“, bekräftigte ich.
„Sicher?“ Ich nickte und zog mein Handy hervor.
Kein Empfang… Mist! Unsicher sah ich zu Manuel, ich wollte ihn nicht alleine lassen.
„Könntest du solange bei ihm bleiben?“, fragte ich meine Mutter.
„Er muss jetzt sowieso zu weiteren Untersuchungen“ Seufzend strich ich mir durch die Haare. Was wenn er aufwachte? Dann musste er doch glauben, er sei allein…? Den Gedanken ertrug ich nicht!
Ich fischte den Bilderrahmen aus meiner Tasche, ging zu Manuel und legte ihn ihm in die Hand. Mit meinen krümmte ich leicht seine Finger darum, dass er ihn nicht verlor.
„Ich bin gleich wieder da“ murmelte ich.
Schweren Herzens, verliess ich das Zimmer und wappnete mich. Diese Telefonate würden keine leichten werden…
Müde schloss ich die Augen und liess mich seufzend auf einen der Stühle im Flur nieder. Nachdem ich Isabelle erreicht, und ihr erzählt hatte, dass Manuel im Krankenhaus war, hatte ich ganz deutlich ihren Schockzustand mitanhören dürfen. Sie war knapp angebunden gewesen, doch die gedämpfte Stimme und die lautlosen Schluchzer, die sie immer wieder zu Unterbrechungen gezwungen hatten, waren mir nicht entgangen. Sie wollte sofort herkommen und ich danke dem Himmel, dass Isabelle ihre Tochter selbst informieren wollte. Momentan fühlte ich mich nicht dazu in der Lage ein weiteres Mal auszusprechen wie ich Manuel vorgefunden hatte. Meine sämtliche Energie war mir aus dem Leib gerissen worden und doch war an schlafen nicht einmal zu denken. Nicht solange, bis Manuel in Sicherheit war. Dieser befand nach wie vor bei den Untersuchungen und ich flehte, dass diese nur Gutes zu Tage fördern würden.
„Leif!“ Die Stimme klang gespenstisch, geprägt von Angst und Unglauben. Ich erhob mich, als Isabelle auf mich zukam. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen gross und glasig. Sie wirkte wie eine Puppe, wenngleich ich schon von weitem sehen konnte wie sie zitterte.
„Leif! Wo ist er? Wie geht es ihm?“
„Er wird gerade untersucht, aber die ersten Tests waren positiv“
„Oh Gott“, stiess sie erleichtert aus, aber dann veränderte sich ihr Blick, Wut und Hass erschienen darin.
„Das ist meine Schuld! Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte ihm nicht wieder vertrauen dürfen. Ich – “, Isabelle wurde immer hysterischer, gestikulierte wild, wobei ich nichts verstand.
„Was hättest du wissen müssen?“, fragte ich sie ruhig, ich konnte sehen wie verzweifelt sie war, denn mir war es nicht anders ergangen.
„Dass Richard wieder gewalttätiger werden würde“, sie legte sich die Hand an die Stirn, drehte sich immer wieder nach links und nach rechts, doch ich nahm es kaum wahr. Das Gefühl, dass mich gerade überrollte, fühlte sich an wie ein kräftiger Tritt in die Magengegend. Ich konnte hören wie in mir etwas zerbrach, und zum ersten Mal, dachte ich darüber nach, wie Manuel zu seinen Verletzungen gekommen war… Bis jetzt hatten mich die ständigen Sorgen, diese Tatsache völlig vergessen lassen, doch nun trat sie mit aller Macht in den Vordergrund… Manuels Vater hatte ihn so zugerichtet… Mein Herz blieb stehen und purer, kalter Hass frass sich in mich hinein. Es brodelte in mir und wollte aus mir heraus brechen, doch dann traf mich bereits der nächste Fausthieb und schickte mich zu Boden. K.O.
Dass Richard wieder gewalttätig werden würde…
Wieder…wieder…
Fassungslos sah ich Isabelle an, hatte sie das gerade wirklich gesagt?
„Manuels Vater hat ihm das angetan! Und das nicht zum ersten Mal?!“ Ich war völlig ausser mir, wenngleich es meine ruhige Stimme nicht verriet.
Isabelle nickte und ich konnte sehen wie sehr sie das quälte.
„Ich will alles wissen“
Abermals nickte sie, schluckte hart und blieb einem Moment lang stumm.
„Vor etwa fünf Jahren… Richard begann zu trinken… Und vor etwa fünf Jahren wurde es unerträglich. Der Alkohol veränderte ihn, liess ihn aufbrausend und kalt werden. Ihm wurde alles egal… Er war schon immer ein strenger, hart arbeitender Mensch gewesen, doch seine Kanzlei forderte ihm zu viel ab und so griff er zur Flasche. Er vernachlässigte auch seine Arbeit, die ihm immer alles bedeutet hatte. Es wurde immer schlimmer. Richard begann die Kinder anzuschreien, ihnen Strafen aufzubürden, für Dinge die sie gar nicht begangen hatten. Vor allem Jennifer kam damit nicht klar. Eines Tages reichte es und ich sagte Richard, dass er sich ändern musste oder ich mit den Kindern gehen würde“
Isabelle brach ab, Tränen glitzerten in ihren Augen und sie schluckte sie hinunter. Ich blieb still, wollte die ganze Geschichte hören und gab ihr die Zeit, die sie brauchte, denn das gab mir die Gelegenheit meine eigenen Emotionen im Zaun zu halten.
„Und tatsächlich. Richard versprach sich zu ändern, und tat dies auch. Er kam von der Flasche los und begann wieder richtig zu arbeiten. Wir waren alle froh darum. Ich natürlich auch, denn auch wenn meine Gefühle ihm gegenüber stark gelitten hatten, er war der Vater meiner Kinder und die liebten ihn“
Schmerzhafte Schluchzer brachen aus Isabelle heraus und nun hatten auch die Tränen ihren Weg gefunden.
„Was ist dann passiert?“, hakte ich nach, ich wusste, dass mir der schlimmste Teil noch bevor stand.
Sie wischte sich die feuchten Perlen von den Wangen, nur damit gleich Neue folgen konnten.
„Jennifer, liebte ihren Vater sehr, aber in dieser schweren Zeit hatte sie nicht viel von ihm. Sie hatte schon lange den Wunsch geäussert, einen Film im Kino anzusehen, den sie aber als vierzehnjährige noch nicht ohne Begleitung sehen durfte. Ich hatte keine Zeit, aber Richard bot sich an und versprach mit ihr hin zu gehen. Sie war ausser sich vor Freude und ich sah das nur zu gern. An diesem Tag hatte Manuel Training und ich arbeitete. Irgendwann rief mich Jennifer traurig an. Sie wartete bereits eine Stunde und Richard war nicht aufgetaucht. Schon da hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich bin nach Hause gefahren. Jennifer war mit der Bahn unterwegs. Als ich zu Hause ankam, roch ich schon von weitem den Alkohol. Richard lag schlafend auf der Couch, eine zerbrochene Whiskyflasche auf dem Boden und seine Hand blutete. Ich glaubte er habe sich geschnitten und bin in die Küche zum Erste – Hilfekasten, doch da war…. Oh Gott!“
Sie legte das Gesicht in ihre Hände und weinte so furchtbar, dass mir das in der Seele wehtat, doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen, ich brauchte Gewissheit.
„Isabelle bitte“
Sie versuchte sich zusammenzureissen und sprach aus, was sie so quälte: „Manuel sass auf dem Boden in der Küche… Er blutete… Richard hatte ihm… Oh Manuel… Er hatte ihn geschlagen“
„Das fehlende Stückchen an seinem Eckzahn“, murmelte ich wissend vor mich hin.
Isabelle nickte verzweifelt, ihre letzte Zurückhaltung brach und sie wurde geschüttelt von ihren heftigen Schluchzern, während unaufhörlich Tränen über ihr Gesicht rannen und sie immer wieder „Es tut mir so leid… Es ist meine Schuld“, murmelte.
Ich sah diese Frau an, die zugelassen hatte, dass Manuel so verletzt worden war. Ich wollte sie anschreien, sie hassen für das was sie nicht verhindert hatte, doch ich konnte es nicht. Manuel würde das nicht wollen... Und in diesem Moment tat sie mir einfach nur leid… Vor mir stand keine zielstrebige Anwältin, nur ein gebrochene Mutter, die wusste, dass sie versagt hatte. Dieses Wissen wog bereits schwerer, als jede Anschuldigung die ich je hätte gegen sie erheben können…
Seufzend ging ich auf sie zu und nahm sie in die Arme, sofort krallte sie sich fest an mich und durchnässte mit ihren feuchten Perlen mein Shirt. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken, als immer weitere Wellen der Verzweiflung und des Schmerzes über ihr zusammenbrachen.
Nach einiger Zeit wurde sie ruhiger, das Zittern verebbte und auch die Tränen liessen nach.
„Warum hast du Richard nicht angezeigt?“
Das Wort Vater verwendete ich ganz bewusst nicht mehr, denn das hatte Richard Harrow nicht verdient. Ein Kind zu zeugen war leicht, doch das Privileg Vater zu sein, sich so nennen zu dürfen, musste man sich verdienen…
Bei meiner Frage, verspannte sich Isabelle wieder.
„Ich wollte es… Aber Manuel nicht“
Ich hielt verwirrt inne.
„Manuel war damals schon so furchtbar erwachsen gewesen. Stundenlang hat er mit mir diskutiert. Mir gesagt er hätte ihn provoziert und dass Richard bereits genug Strafe erfahren habe, in dem er seine Familie verloren hatte. Ich weiss nicht warum, aber irgendwann habe ich Manuels Bitte nachgegeben. Ich habe die Scheidung eingereicht und bin mit den Kindern weggezogen. Hätte ich doch nie auf Manuel gehört! Ich hätte mich durchsetzen müssen! Er war doch noch viel zu jung, um so etwas entscheiden zu können!“
Wieder begann sie zu weinen und ich presste meine Fäuste so fest zusammen, dass die Knöchel weisslich hervor traten. Der Hass auf diesen Mann wuchs in mir weiter an, Manu hatte ihm sogar eine zweite Chance geschenkt, die dieser einfach ausgenutzt hatte.
„Ich kann verstehen, warum du Manuel nachgegeben hast. Er ist sehr intelligent und du vertraust ihm. Du wolltest nicht, dass er noch mehr leiden muss, indem du Richard anzeigst. Ich verstehe es“, wiederholte ich, obgleich es nicht stimmte. Ich war wütend auf Isabelle, wie hatte sie Manuel diese Entscheidung überlassen können?! Doch Vorwürfe brachten nichts. Manuel wollte sicher nicht, dass seine Mutter sich so ein Gewissen machte, und die Taten liessen sich dadurch auch nicht wieder rückgängig machen.
„Ich wollte ihn schützen und habe ihn stattdessen weiter leiden lassen“, flüsterte Isabelle verzweifelt.
„Dann schütze Manuel jetzt! Zeig Richard an. Sofort“
Sie nickte gegen meine Schulter und löste sich von mir.
„Das werde ich! Jetzt gleich“
Sie straffte die Schultern und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Blick war gezwungen stark.
„Bitte, halte mich auf dem Laufenden“
„Natürlich“
Sie ging bereits zum Ausgang, als sie sich noch einmal mir zuwandte.
„Ich danke dir für alles. Ich werde immer in deiner Schuld stehen“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verliess das Krankenhaus.
Während Manuel untersucht wurde, hatte ich Zeit um nachzudenken. Mein Herz brach, wann immer ich mir vorstellte, welch unsägliches Leid Manuel hatte ertragen müssen. Wie oft, hatte Richard ihn die ganzen Jahre hindurch misshandelt, ohne dass er auch nur einen Ton gesagt hatte?
Aber vor allem, fragte ich mich, warum? Wieso hatte Manuel nichts gesagt? So kannte ich ihn nicht.
Wenn ich an den Vorfall am See dachte… Da hatte er Caleb sofort einen Riegel vorgestossen.
Wieso also bei Richard nicht?
Wütend und traurig ballte ich die Hände zu Fäusten, so fest, dass sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten und schmerzhafte Male hinterliessen.
Die ganzen Jahre hindurch, in welchem mich Caleb gequält hatte, mich sogar in den See befördert hatte, nie, nicht ein einziges Mal hatte ich so deutlich den Wunsch verspürt meiner Wut und meinem Hass freien Lauf zu lassen. Jetzt gab es nichts, dass ich lieber täte. Wenn ich die Augen schloss, sah ich dieses Monster vor mir, wie er zufrieden grinsend auf Manuel einschlug. Augenblicklich wallte noch mehr Zorn in meinem Körper auf. Ich stellte mir vor, wie es wäre, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Richard Harrow die Faust ins Gesicht zu rammen, immer und immer wieder, bis dieser zu Boden ginge und ihm dann so lange in den Körper zu treten, bis er nicht mehr als ein wimmerndes Häufchen Elend war. Seine Taten sollten gesühnt werden…
Ich wollte ihm zeigen, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen konnte, bis er daran zerbrach…
Lange noch, schwelgte ich in meinen Rachefantasien, fütterte sie mit immer neuen, schmerzhaften Details und qualvollen Variationen meiner Strafe.
Er hatte Manuel wehgetan und wer ihm wehtat, fügte mir denselben Schmerz zu. In keinem Moment meines bisherigen Lebens, hatte ich mich so sehr unter der Führung des Hasses befunden. Nun wusste ich, wie Menschen zu solchen Aktionen fähig waren… Rache… Ich konnte jeden verstehen, der sich ihr hingab. Auch ich stand an der Klippe, sah hinab in den dunklen Abgrund und wähnte mich darin.
Dennoch, da war etwas, was noch stärker war als mein glühendes Verlangen nach Vergeltung…
Manuel…
Allein sein Name beruhigte mich. Tief atmete ich ein, die Augen geschlossen. Bei den Gedanken an ihn, glaubte ich seinen Geruch wahrzunehmen, der mich langsam einhüllte. Seinen ruhigen Herzschlag zu fühlen, der meinen Puls führte. Warme, weiche Wellen, sammelten sich in meiner Brust und wanderten durch meinen ganzen Körper.
Manuel…
Ich spürte ihn, als würde er schützend seine Arme um mich schlingen, obgleich er doch derjenige war, der beschützt werden sollte. Und ab diesem Moment würde ich das tun, ihn schützen vor allem und jedem, bis an mein Lebensende…
Ich hoffte nur, dass ich dazu überhaupt die Chance bekam…
Wenn Manu es nicht schaffte, hatte ich schon versagt.
„Leif“
Mein Kopf schnellte nach oben und ich sah in das glücklich wirkende Gesicht meiner Mutter.
„Wie geht es Manuel?“, sagte ich und erhob mich rasch. Ein warmes Lächeln, war für mich schon ein erstes Signal für Gutes.
„Es wurden keine inneren Blutungen gefunden und auch sonst keine lebensbedrohlichen Verletzungen. Er hatte Glück im Unglück“
Zitternd atmete ich aus, die beklemmende Enge in meiner Brust wich und ich konnte endlich wieder atmen.
Dann jedoch veränderte sich der Blick meiner Mutter, Wut glitzerte in ihren Augen.
„Dieser Mensch muss bestraft werden“
„Ja, das muss er und das wird er auch. Isabelle wird ihn anzeigen“
Meine Mutter nickte.
„Ich will mir gar nicht vorstellen, was dieser arme Junge alles durchmachen musste. Er hat mehrere gebrochene Rippen, eine Gehirnerschütterung und unzählige Prellungen überall am Körper“
Unwillkürlich schüttelte es mich und die Gedanken an Rache traten wieder in greifbare Nähe.
„Kann ich zu Manuel?“, fragte ich und schluckte die süssen Fantasien der Vergeltung hinunter.
Abermals nickte meine Mutter und gab mir seine Zimmernummer, ich bedankte mich für ihre Hilfe und machte mich auf den Weg.
Auch jetzt liessen mich die schrecklichen Bilder, an meinen Freund, wie er blutend in meinen Armen lag, nicht in Ruhe. Die Verletzungen, die er hatte erleiden müssen…
Wütend ballte ich die Hände an den Seiten. Wie hatte Richard Harrow es gewagt, Manuel – seinem eigen Fleisch und Blut, so etwas anzutun? Und wie oft hatte er es bereits getan? Was hatte Manu alles hinter einer Mauer des Schweigens ertragen und verborgen gehalten? Und warum?
Das war die Frage, die mich am meisten quälte: Warum, hatte er das alles zugelassen?
An seinem Zimmer angekommen, zögerte ich einen Moment, liess meine Hand auf der Türklinke verweilen und starrte auf die Zimmernummer.
Was erwartet mich?
Wie wird sich Manuel verhalten, und kann ich dass, was er mir erzählen wird, überhaupt ertragen?
Ich atmete tief ein. Auch wenn es mir das Herz zerreissen würde, egal was mein Freund mir sagen würde, ich ertrüge es und wäre ihm die Stütze, die ich schon früher hätte sein müssen.
So leise wie möglich öffnete ich die Tür und betrat das Zimmer, nur um mitten in der Bewegung inne zu halten. Mein Blick galt nur Manuel, dessen Augen geöffnet waren.
Er ist wach!
Erleichterung machte sich in mir breit, als ich zu ihm schritt.
Sein Blick war aus dem Fenster gerichtet und er schien meine Anwesenheit nicht zu bemerken. In sein Gesicht war wieder ein wenig Farbe eingekehrt, seine Wunden waren versorgt und verbunden worden. Neben seinem Bett befand sich ein Infusionsständer, an dem ein Tropf befestigt war, welcher direkt in Manuels Hand führte.
„Hey“, sagte ich leise, woraufhin er seinen Blick mir zuwandte.
„Leif“, murmelte er mindestens genauso leise. Seine Mundwinkel zogen sich etwas nach oben, doch sein Lächeln war nicht so wie sonst. Gekünstelt und unecht, das waren die Begriffe, die mir dazu einfielen. Seine Augen wirkten seltsam verschleiert und unfokussiert, als würde er gar nicht wirklich wahrnehmen, was er sah. Mein Blick fiel wieder auf den Tropf neben ihm, aus dem langsam die klare Flüssigkeit rann und Manuels Körper flutete. Einige der Namen sagten mir etwas. Schmerzmittel, hauptsächlich.
Ich konnte mich gut erinnern, als mein Vater allmählich immer mehr Medikamente benötigt hatte um seine Schmerzen ertragen zu können. Einige davon hatten ihn richtig zugedröhnt, genau das schien nun auch bei meinem Freund der Fall zu sein.
Ich sah wieder zu Manuel, der mich immer noch so seltsam verträumt anlächelte. Er bekam Schmerzmittel, hatte gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung. Die Prellungen zeigten sich als dunkle Verfärbungen an seinem ganzen Körper. Und warum das alles?
Richard Harrow.
Ich musste tief einatmen um nicht die Kontrolle zu verlieren. Das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit brach über mir zusammen. Manuel so zu sehen, tat so unglaublich weh und ich konnte nichts dagegen tun! In meinem Hals steckte ein Knoten, der mir die Luft abschnürte und schmerzhaft fest gegen mein Schlucken ankämpfte. Meine Augen brannten, obgleich sie trocken blieben. Immer noch konnte ich nicht loslassen. Es ging einfach nicht, obwohl sich in mir alle Gefühle zusammen taten und danach lechzten, aus mir heraus brechen zu können.
Unsicher setzte ich mich an den Bettrand und nahm vorsichtig Manuels Hand, an der die Infusion befestigt war. Seine Haut war wärmer als zuvor und sachte strich ich mit dem Daumen über seine Finger. Manu liess mich gewähren, seine Hand lag bewegungslos in meinen. Vorsichtig hob ich sie an, legte meine Lippen auf die weiche Haut.
„Es tut mir so leid! So unendlich leid! Ich hätte dir helfen müssen! Ich- “, schluchzte ich schmerzvoll.
Die Augen zusammengepresst und die qualvollen Gedanken bekämpfend.
„Ich hätte – ich“
Mir wollte kein Satz einfallen, den ich hätte sagen können. Wie auch? Ich suchte nach Worten, die Manuels Schmerz linderten, doch diese existierten nicht. Nichts konnte sein Leid ungeschehen machen, auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte.
Seine Finger krümmten sich leicht um meine.
„Schhhh…. Ist ja gut. Alles okay“
Erstaunt sah ich hoch, direkt in die Augen meines Freundes. Der Nebel hatte sich nicht gelichtet, doch irgendwo tief dahinter verborgen, konnte ich Klarheit erkennen.
Beinahe ungläubig schüttelte ich den Kopf, wieder versuchte mich Manuel zu beschützen! Er mich!
Woher nahm er die Kraft dazu? Ich wusste es nicht, doch gleichzeitig machte es mich wütend. Er sollte nicht schützen, er musste beschützt werden, aber stattdessen schlüpfte er scheinbar mühelos in seine Beschützerrolle.
„Nichts ist okay! Gar nichts!“, trotzte ich fast schon kindlich. Manuels Gesichtsausdruck blieb entspannt und zeigte nicht was er dachte oder was er fühlte.
„Ich hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmt“, murmelte ich beschämt über mein Versagen.
Manuels Daumen strich über meinen Handrücken, er selbst schwieg, bedachte mich nur mit verschleierten Blicken.
Ich versuchte zu erkennen, was in ihm vorging. Ob er Schmerzen hatte, wütend oder traurig war.
Nichts.
Ich war nicht im Stande dazu meinen eigenen Freund zu lesen…
Die Erkenntnis schmerzte und legte sich wie ein Schatten über mein Herz. Wieso wusste ich nicht wie es ihm ging? Das müsste ich doch spüren? Doch stattdessen rannte ich immer wieder gegen eine Mauer. Manuels Festung hinter der er alles mit sich selbst regelte.
„Wie bin ich ins Krankenhaus gekommen?“, fragte Manu plötzlich. Seine Stimme war dünner und gehetzter. Sein Atem ging flacher als sonst, seine Brust hob und senkte sich nur millimeterweise.
Erneut wurde ich mit seinen Verletzungen konfrontiert, die ihn sogar am normalen Atmen hinderten.
„Meine Mutter und ich haben dich gefunden und dich sofort her gebracht“, gab ich knapp zur Antwort, denn ich spürte, wie die Erinnerungen nur um die Ecke lauerten, wartend darauf mich zu Boden ringen zu können. Manuel nickte abwesend.
„Danke, doch das wäre nicht nötig gewesen“
„Wie bitte!? Manuel du bist schwer verletzt und was weiss ich, hätte passieren können!“
„Es geht mir gut“
Völlig verwirrt sah ich ihn an.
Warum sagt er so etwas? Verdrängung? Angst?
„Das meinst du nicht ernst?“, fragte ich unsicher.
„Natürlich meine ich es ernst“, er sah mich mindestens genauso unverstanden an, wie ich ihn.
„Manuel, du hast bewusstlos in der Wohnung gelegen. Überall war Blut! Du hast gebrochene Rippen, eine Gehirnerschütterung und keine Stelle am Körper, die nicht voller Prellungen ist“ Nichts von dem was ich sagte, schien ihn zu beeindrucken.
„Ich hätte das auch selbst regeln können“, war seine ruhige Antwort.
Wieder sah ich auf seine Hand, die ich mittlerweile fest umklammerte. Ich konnte nicht verstehen, wieso Manuel so reagierte, wie er es gerade tat. Was trieb ihn dazu? Dann sah ich hoch und musterte Manu abermals.
„Du musst keine Angst mehr haben. Deine Mutter wird Richard anzeigen. Er kann dir nichts mehr tun“, versicherte ich ihm, da ich glaubte, er könnte aus Angst vor seinem Erzeuger, solche Dinge sagen.
Seine Augen weiteten sich schlagartig. Der Nebel wurde ausgelöscht und nichts als Klarheit blieb übrig.
„Was! Das kann sie nicht! Richard hat nichts Unrechtes getan!“ er wollte sich aufrichten, stoppte jedoch sofort, als ihn der Schmerz seiner Rippen daran hinderte und ihn mit einem unterdrückten Schmerzensschrei zurück in die Kissen zwang. Die Qualen seiner Verletzungen schienen Manuel unerwartet zu treffen, er legte seine freie Hand auf seine Brust und verzog voller Leid sein Gesicht. Ich beobachtete alles wie in Trance, zu sehr hatten mich Manuels Worte entsetzt.
„Natürlich hat er etwas Unrechtes getan! Er hat dich verprügelt!“
„Es war meine Schuld“
Einen Moment war ich einfach nur sprachlos. Seine Worte fühlten sich an wie Messerstiche, direkt ins Herz. Ich sah diesen Menschen an, den ich so sehr liebte und den ich um alles in der Welt beschützen wollte, doch er war verletzt worden und nun glaubte er auch noch selbst daran schuld zu sein… Als würde es nichts bedeuten, wenn er verletzt wurde… Mir wurde übel und die Schmerzen in der Brust zwangen mich emotional in die Knie.
„Wie kannst du so etwas nur sagen?“, murmelte ich heiser. Manuels grüne Augen blickten in meine und ich konnte sehen, dass es sein voller Ernst gewesen war.
„Leif, ich habe ihn provoziert. Richard hat mich gemassregelt. Völlig zu recht“, sagte Manuel mir ruhig als würde er aus einer Zeitung vorlesen. Das normalste der Welt, das schien es für ihn zu sein.
„Dich gemassregelt, in dem er dich verprügelt? Das ist abscheulich! Wie kannst du ihn auch noch verteidigen?“
„Er hat angemessen reagiert. Ich bin selbst schuld“
Manuel sah mich an und ich konnte seine Ernsthaftigkeit in meiner Seele spüren. Wie sie sich langsam hinein ätzte und unauslöschliche Wunden hinterliess.
Ich schüttelte fassungslos den Kopf, liess Manus Hand los und erhob mich. Völlig überfordert mit der Situation trat ich, mit verschränkten Armen ans Fenster, sah hinaus und beobachtete wie die letzten Sonnenstrahlen hinter den Häusern verschwanden. Ich rieb mir über die Oberarme, mir war fürchterlich kalt, doch die Kälte kam nicht von aussen. Mein Körper war ausgelaugt, sämtliche Energie war mir aus dem Leib gerissen worden, seelisch war ich müde und ich fühlte den dumpfen Schmerz, der in mir pochte. Entstanden wegen der Gräueltaten Richard Harrows und Manuels Leid, welches er scheinbar ungesühnt lassen wollte.
Warum nur?
Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, wie der Mensch den ich so allumfassend liebte, so etwas ertragen konnte und es als nichtig abtat.
Was hatte Richard Harrow in Manuel zerstört, dass dieser nicht willens war zu kämpfen? Oder sich einfach beschützen zu lassen? Stattdessen stellte er sich vor einen Peiniger.
Was bringt ihn dazu?
Ich versuchte mich in Manu hinein zu versetzten, doch ich konnte seine Logik einfach nicht verstehen. Aber das war vielleicht die einzige Möglichkeit um an Manuel heran zu kommen. Denn eins stand fest: Ich würde nicht zulassen, dass er weiter solch grosses Leid erfahren und es ertragen würde!
„Was hast du getan, dass deiner Meinung nach, solch eine Strafe erfordert?“, fragte ich möglichst sachlich, obgleich mir jeder einzelne Buchstabe wie Blei auf der Zunge lag.
„Ungehorsam. Provokation“, sagte Manuel ebenso nüchtern.
Blödsinn!
Am liebsten hätte ich mich umgedreht, Manuel an den Schultern gepackt und ihn geschüttelt, bis ihm diese Idiotie aus dem Kopf verschwand, doch ich musste ruhig bleiben. Wenigstens äusserlich. Ich hatte einen Plan und die Hoffnung Manuel so den Fehler in seiner Logik zeigen zu können.
„Das kannst du nicht verstehen“, sagte Manuel mir, als wäre ich ein verdammtes Kleinkind, welches nicht in der Lage war, eine einfache Gegebenheit zu verarbeiten. Tief einatmend drehte ich mich wieder Manu zu und ignorierte seine Worte.
„Richard hat dich also geschlagen, getreten und dich blutend liegen lassen, weil du nicht getan hast was er wollte“
Ich wollte dieses Schwein töten! Ihn von den Zehen an aufwärts aufschlitzen und sehen, ob da irgendwo in diesem Monster ein Herz schlug, dass ich ihm herausreissen konnte, so wie er es bei Manuel und mir getan hatte!
Manu blieb stumm und das war auch gut so. Er sollte nicht reden, nur zuhören und nachdenken.
„Ich habe Caleb nicht provoziert und trotzdem bin ich im See gelandet“
Manuels Kiefer spannte sich an und seine Augen verengten sich beim Namen meines Peinigers.
„Dieses Drecksschwein“, zischte er, was für mich nur Gutes bedeutete. Ich zuckte mit den Schultern.
„Früher habe ich ihn provoziert, also hatte ich die Quälereien doch irgendwie verdient“
Es stimmte nicht, den Mut Caleb zu reizen hatte ich nicht. Nie gehabt.
„Gar nichts hast du! Er darf dir nichts tun!“
Manus Stimme wurde lauter, seine Augen wurden zu Schlitzen. Er war wütend.
Gut so.
„Aber Provokation ist relativ. Vielleicht habe ich Caleb etwas getan, ohne es zu wissen. Da wäre doch eine Kopfverletzung und ein unfreiwilliges Bad im See gerechtfertigt“
Manuel schüttelte den Kopf, beinahe ungläubig über meine Aussage, genau wie ich über seine.
„Egal was du tust, es gibt Caleb nicht das Recht dich auch nur anzurühren“
Ich ging näher an sein Bett, nahm vom Tischchen daneben ein Glas, füllte es mit Wasser und trank daraus einen Schluck, ehe ich es wieder hinstellte und meinem Freund ins Gesicht sah. Ich wollte ihm Zeit geben, die ersten Schritte meines Plans zu verarbeiten, offensichtlich mit Erfolg, denn Manu sah sauer aus, wie damals als Caleb mich in die Enge getrieben hatte. Seine Augen wurden dunkel, seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er konnte den Gedanken daran, dass mir weh getan wurde, nicht ertragen, dass konnte ich sehen. Manuel! Warum? Wieso verstand er den Schmerz, den ich fühlte, nicht? Es war für mich eine nicht ertragbare Folter, ihn verletzt zu wissen.
„Und was ist mit Richard?“
Mein Freund verstand nicht, sah mich nur an.
„Dürfte er mich schlagen? Bis mein Gesicht blutet? Mich treten, bis meine Rippen nachgeben und mit einem grausamen Knacken brechen? Und – “
„Nein!“, rief Manuel, blickte mich schockiert an. Er schien nach wie vor nicht zu wissen, worauf ich hinaus wollte. Mir tat sein Anblick unendlich weh. Hinter meinen Augen begann es wieder zu brennen und ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen. In dem ich Manuel mit den Verletzungen konfrontierte, liess ich auch zu, dass sich die grausamen Erinnerungen an den bewusstlosen Manuel, an die Momente in denen ich geglaubt hatte ihn verloren zu haben, wieder vor mein inneres Auge drängten. In meiner Brust klaffte eine tödliche Wunde, die sich immer weiter ausbreitete und mich langsam zu verschlingen drohte.
„Wenn ich Richard provozieren würde, ihm sagen würde, was für ein kaltes Monster er ist, dann gäbe es ihm das Recht mir weh zu tun? Mir meine Torheit aus dem Kopf zu prügeln? Was ist dafür die angemessene Strafe? Rippenbrüche? Kopfverletzungen? Oder prügelt er solange auf mich ein, bis er nicht mehr kann? Solange bis ich auf dem Boden liege? Oder – “
„Stopp!“
Manuel richtete sich schlagartig auf, keuchte schmerzvoll auf und presste seine Hand auf die schmerzenden Rippen. Sein Blick galt nur mir. Es sah mich an, mit diesem durchdringenden Ausdruck in den klaren Augen. Für einen Moment konnte ich nicht mehr atmen, in dem tiefen Grün Manuels lag solch eine unsagbare Qual! So viel Leid, Schmerz und Angst, wie ich sie kaum ertragen konnte. Und das alles bei Manuel. Seine Stärke war weg, die Festung hinter der er alles löste und ertrug, brach in sich zusammen und brachte einen verängstigten, einsamen Manuel hervor…
„Er darf dir nichts tun! Niemals! Nicht dir!“, flehte Manuel, eine einzelne Träne löste sich und rann über seine Wange. Ich atmete zitternd ein, fast nicht mehr in der Lage dazu zu sprechen. Vorsichtig nahm ich Manuels Hand in meine und wischte mit der anderen seine Träne weg. Mit dem Daumen strich ich weiter über seine Wange und blickte in die stürmische grüne Tiefe.
„Warum machst du einen Unterschied zwischen dir und mir? Wieso darf er dich so verletzen, mich aber nicht? Bitte Manuel! Du musst damit aufhören! Siehst du denn nicht, dass mir das hier genauso Schmerzen zufügt, wie wenn Richard es tun würde?“, bettelte ich, während nun auch mir unaufhaltsam feuchte Perlen über meine Haut glitten. Ich begann zu schluchzen, nun konnte ich nicht mehr länger…
Gewaltsam brachen sich meine Gefühle ihren Weg und drangen an die Oberfläche, liessen mich zitternd und schwach zurück.
„Ich liebe dich! Dich so zu sehen, ertrage ich nicht! Bitte zeig Richard an!“
Nun wandte Manuel den Blick ab, starrte zum Fenster hinaus in die hereinbrechende Nacht.
Seine Hand schloss sich fester um meine.
„Ich habe die Familie zerstört“ Eine weitere Träne glitt über sein Gesicht, währenddessen er weiter in die Dämmerung blickte.
„Was meinst du damit?“, fragte ich während ich mir mit dem Handrücken übers Gesicht wischte.
Langsam drehte Manu sich wieder zu mir.
„Ich habe Richard die Familie genommen. Alles nur wegen mir“, sagte er in einem beängstigend ruhigen Tonfall.
„Und weil du das glaubst, lässt du ihn dich so behandeln?“
Müde schüttelte Manuel den Kopf.
„Du warst nicht dabei. Das kannst du nicht nachvollziehen“
„Erzähl mir von damals“, bat ich ihn leise und verflocht unsere Finger miteinander. Manuel blickte mir in die Augen. Grün sah Blau. Einige Minuten herrschte Stille und ich glaubte schon er würde nicht mehr antworten, als er plötzlich nickte und zu reden begann.
„Er begann zu trinken. Anfangs war es nur ein Drink nach der Arbeit. Dann irgendwann waren es mehrere. Vor der Arbeit, währenddessen und danach. Er war noch nie der herzliche Typ Vater gewesen, doch wir waren daran gewöhnt. JD und ich liebten ihn dennoch. Aber als seine Sucht immer schlimmer wurde, änderte sich alles. Wir waren ihm egal, oder wir machten alles falsch. Jennifer zerbrach fast daran. Tausende Male musste ich sie trösten, weil sie weinend in ihrem Zimmer sass, da Richard sie beschimpft hatte. Mal wieder“, Manuel stoppte und atmete einige Züge vorsichtig ein. Ich traute mich nicht etwas zu sagen, hatte Angst ihn zu unterbrechen und gleichzeitig auch Sorge vor dem was ich vielleicht gleich alles hören würde.
„Eines Tages reichte es meiner Mutter und sie drohte ihm damit, dass sie ihn verlassen würde. Es wirkte. Vorerst zumindest. Alles schien wieder so zu werden wie früher und ich war erleichtert, meine Schwester und meine Mutter wieder glücklich zu sehen. Bis – “ Manuel schloss die Augen und atmete aus.
„JD wollte diesen Film sehen. Gott, wie sehr sie unsere Mutter angebettelt hat“, auf seinem Gesicht breitete sich für einige Sekunden ein wehmütiges Lächeln aus.
„Richard versprach JD mit ihr hinzugehen. Schon Wochen bevor der Film in die Kinos kam, grinste meine Schwester wie eine Besessene, schwärmte bei mir immer wieder wie froh sie doch ist, dass unser Vater wieder der Alte war. Das ihr der Ausflug mit ihm so unglaublich viel bedeutete. Selten habe ich sie glücklicher erlebt. Als dann endlich der Tag kam, war JDs Fröhlichkeit schon fast nicht mehr zu ertragen“, sagte Manuel, doch ich konnte sehen, dass das nicht stimmte. Er hatte es geliebt sie so zu sehen, da war ich mir sicher.
„An dem Tag hatte ich Training, unsere Mutter arbeitete, während Richard extra frei genommen hatte. Als ich nach Hause kam und ich ihn an der Bar sitzen sah, wo er doch eigentlich bei JD sein sollte, wurde ich so wütend! Ich ging zu ihm und als ich seine Alkoholfahne gerochen, und sein Lallen gehört habe, bin ich ausgerastet. JD hatte sich so verdammt gefreut! Ich habe ihm die Whiskyflasche aus der Hand gerissen. Ihn beschimpft, was er für ein miserabler Vater sei, ein Versager und ein Arschloch. Ich hab einfach Rot gesehen. Dann habe ich ihm die Flasche um die Ohren geschleudert. Ich glaube, das war das Einzige, was er wirklich realisiert hat. Er war viel zu betrunken um noch klar zu denken. Dann ging alles viel zu schnell. Er kam auf mich zu, hat mir gesagt ich könne mir nicht vorstellen wie es sei, eine Familie ernähren zu müssen, eine Kanzlei zu führen, ein vorzeigbares Leben zu errichten“
„Er hat dich geschlagen, darum fehlt dir ein Stücken an deinem Eckzahn“ Meine Tränen waren versiegt, im Schock einfach unbemerkt vergossen worden.
„Ja. Richard hat sich in seinem Suff auf die Couch gelegt, ich glaube er hat nicht einmal gemerkt, dass er mich geschlagen hat. Ich war irgendwie geschockt, oder einfach nur zu jung um begreifen zu können. Da kam auch schon meine Mutter und hat mich entdeckt. Noch am selben Abend, ist sie mit JD und mir ausgezogen. Weil ich ihn zu sehr provoziert habe. Er hat seine gesamte Familie wegen mir verloren“
Sachte küsste ich Manuels Hand.
„Das stimmt nicht. Er ist schuld daran, nicht du. Du hast deine Familie nicht zerstört“, wollte ich ihm klar machen, doch er schüttelte den Kopf.
„Meine Familie ist daran zerbrochen. Du warst nicht da. Hast nicht gehört, wie sich JD und unsere Mutter, Abend für Abend in den Schlaf geweint haben, weil ich ihnen den Vater und den Mann genommen habe. Und JD wusste nicht einmal warum, sie wusste, dass ich etwas getan habe, doch nicht was“
„Sie weiss nicht, dass Richard dich geschlagen hat?“
„Nein. Ich wollte nicht, dass sie einen schlechten Eindruck von ihrem Vater, den sie so sehr vergötterte, bekam“
Wieder musterte ich meinen Freund. Er war schon damals ein Beschützer gewesen. Er wollte seine Schwester vor dem Schmerz bewahren, Richard vor einer Anzeige verschonen und Isabelle nicht dazu zwingen ihren Mann vor Gericht zerren zu müssen. Stattdessen baute er sich eine Festung und verbarg seine eigenen Qualen, denn die hatte er. Auch wenn er es nicht zu gab, er hatte ebenfalls seinen Vater verloren und das war, mit vierzehn Jahren sicher nicht so einfach zu verkraften. Abermals überkam mich der Wunsch Manuel in den Arm zu nehmen, ihn an mich zu pressen und ihn zu wiegen wie ein Baby.
Wie hatte er all das stillschweigend ertragen können? Dieses Martyrium, das er hinter sich hatte und welches noch nicht zu Ende war…
„Du hast die Familie nicht zerstört. Nicht damals und auch jetzt wirst du das nicht. Aber du darfst Richard damit nicht durchkommen lassen. Was wenn er eines Tages nicht nur dich schlägt? Wenn sein nächstes Opfer JD ist?“
„Das werde ich nicht-!“
Sofort wollte Manuel sich aufrichten um zu protestieren, doch ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft ins Bett.
„Schhhh… Ich weiss, dass du sie beschützen willst, aber das kannst du nicht tun, solange Richard in ihrer Nähe ist“, versuchte ich ihm ruhig zu erklären.
Meine Hände legte ich vorsichtig um sein Gesicht, rahmte es ein und liebkoste seine verschrammte Haut.
„Du hast deine Familie nicht zerstört. Im Gegenteil, du hast sie zusammengehalten. JD, Isabelle und du, ihr seid eine Familie“, flüsterte ich ihm beruhigend zu und wurde von ungeahnter Erleichterung getränkt, als Manuel zögerlich nickte. Von meinem Herzen fiel eine untragbare Last ab, von der ich nicht gewusst hatte, wie ich mit dieser bis jetzt hatte überleben können.
Ein herzzerreissendes Schluchzen ertönte, sofort sahen Manuel und ich zur Tür, von wo aus der gequälte Laut gekommen war.
„JD“, sagte ich und sah zu dem zitternden Mädchen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, sie war weiss wie eines der Laken, auf denen ihr Bruder lag. Die Arme hatte sie sich schützend um den Körper geschlungen. Sie wirkte klein und zerbrechlich.
„Er hat dir das angetan?“, murmelte sie in gespenstigem Ton und kam langsam zum Bett. Ihr Blick war fest auf Manuel fixiert. Sie tat mir unglaublich leid, nicht nur musste sie ihren Zwillingsbruder so sehen, sie wurde nun auch gezwungen Richard als das anzuerkennen was er war: Ein kaltes Monster.
Vorsichtig strich ich Manuel über die Haare.
„Ich lasse euch allein“, flüsterte ich sachte, woraufhin er nickte. Schweren Herzens verliess ich sein Zimmer. Ich wollte ihnen die Zeit lassen, die sie brauchten und ich hoffte nur, dass JDs Worte, ihren Bruder noch darin bestärken würden, Richard anzuzeigen.
Er sollte für immer in der Hölle schmoren, für das was er seinen Kindern und seiner Frau angetan hatte. Er musste bezahlen, denn sonst würde die Familie Keen nie einen Schlussstrich ziehen können und Manuel würde womöglich noch länger leiden…
Vor Manuels Zimmer, lehnte ich mich an die Tür und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. Dann fischte ich mein Handy hervor, suchte ein stilles Plätzchen wo ich Empfang hatte und gab Isabelle Bescheid. Ihre Erleichterung konnte man hören, als ich ihr den endgültigen Befund von Manuels Verletzungen berichtete. Gleichzeitig war da aber auch die heissglühende Wut auf Richard und über ihr eigenes Versagen. Ich konnte diese Gefühle gut nachvorziehen, schliesslich brannten sie nicht minder schwer in mir selbst.
Kaum hatte ich aufgelegt und war wieder bei Manus Zimmer angelangt, öffnete sich die Tür und JD kam heraus. Sie war nach wie vor schrecklich blass, die Tränen hatten in ihrem Gesicht kleine Rinnsale hinterlassen und in ihren Augen glitzerte es verräterisch, kündigte neue an. Ich ging zu ihr und zog sie in meine Arme. Ohne zu zögern krallte sie sich an mich, als würde es ihr Leben bedeuten. Schweigend verharrten wir so für einige Augenblicke, teilten unsere Sorgen still miteinander. Mehr denn je, fragte ich mich, wie Manuel alles mit sich allein ausmachen konnte und beschloss, dass das nicht so weiter gehen durfte. Er hatte zwar eingesehen, dass Richards und auch sein eigenes Verhalten falsch war, gleichwohl konnte er nicht einfach von heute auf morgen sein bisheriges Denken komplett ändern. Ich würde ihn dabei unterstützen, dafür sorgen, dass Manuel sich als das sah was er nun mal war: Ein wunderbarer, aussergewöhnlicher Mensch, den es zu lieben galt.
Den ich liebe…
Leise schniefend, löste sich das aufgewühlte Mädchen von mir und blickte mir in die Augen. Ihre Lippen öffneten sich, wenngleich keine Worte dazwischen hervor drangen.
„…Ich… Du…“, sie brach ab und schüttelte verzweifelt den Kopf. Plötzlich schlang sie ihre Arme um meinen Nacken, zog meinen Kopf zu sich und küsste mich auf die Wange.
„Ich… danke dir, dass du meinen Bruder gerettet hast… das werde ich dir nie vergessen“
Etwas verlegen nickte ich, bevor sie sich von mir löste und sich verabschiedete. Ich sah ihr nach, ehe ich wieder zu Manuel ging.
Nun fiel mir sofort, der sterile Krankenhausgeruch auf, den ich zuvor völlig ignoriert hatte. Noch immer mochte ich ihn nicht. Nach Vaters Tod hatte ich ihn nicht mehr ertragen können. Jedes Mal wenn meine Mutter von der Arbeit kam und sie nach Desinfektionsmittel roch, war mir übel geworden.
Irgendwann verblasste der Brechreiz, doch die Erinnerungen, die sie mir mit diesem Geruch bescherte, waren geblieben. Ab jetzt würde ich nicht mehr nur die Bilder von meinem sterbenden Vater im Kopf haben, sondern auch Manuel, der mit Verletzungen, physischer wie auch psychischer Art kämpfen musste.
Energisch schüttelte ich die dunklen Gedanken ab und schloss die Tür hinter mir.
Dieses Mal bemerkte Manuel mich sofort und lächelte müde. Ebenfalls lächelnd trat ich neben sein Bett und setzte mich vorsichtig auf den Rand. Seine Hand fand meine und ich erlaubte mir, meinen Freund einfach nur anzusehen. Er war wieder da, bei mir, auch wenn es sicher selbstsüchtig war so etwas in dieser Situation zu denken. Ich war glücklich. Die Sorgen und die Schmerzen verdrängte ich, musterte nur Manuel, wie er mich mit seinen sündhaften Lippen anlächelte, mit seinen feingliedrigen Fingern meine Haut liebkoste und wie er mich aus seinen wunderschönen Augen ansah.
„Du siehst traurig aus“, brach Manu die Stille.
Ich schüttelte den Kopf, was mir einen fragenden Blick einbrachte. Ich war nicht traurig.
„Ich bin glücklich, dass du wieder bei mir bist. Dass ich dich berühren kann, in deine Augen sehen kann, die mich so süchtig machen“, gestand ich ohne auch nur die geringste Spur von peinlicher Berührung zu spüren. Jedes Wort war wahr.
„Ich habe sie von Richard geerbt. Sie sind exakt gleich“
Auf der Stelle wiedersprach ich: „Nein, das stimmt nicht. Deine und seine Augen ähneln sich kein Bisschen! Richards Augen sind kalt, leer und emotionslos. Deine nicht. Wenn du lachst, stahlen sie grün. Wenn du mir sagst, dass du mich liebst, sehe ich das in deinen Augen. Sie funkeln. Immer wenn wir uns berühren, uns küssen, uns lieben werden deine Augen dunkel und lassen mich nicht mehr atmen. Dein Blick offenbart deine Gefühle. Richard und du, ihr seid das pure Gegenteil voneinander“
Manuel griff mir in den Nacken zog mich zu sich, während er sich ächzend etwas aufrichtete. Seine Lippen fanden meine. Die sanfte Berührung löste eine Gänsehaut in mir aus und durchschlug mich wie ein Stromschlag. Es war nicht mehr als ein zartes Lippen aufeinander legen, doch es reichte um warme Schauer durch meinen Körper strömen zu lassen.
„Danke“, raunte Manuel ehe er sich etwas gequält zurück sinken liess. Wofür genau er mir dankte, wusste ich nicht, es spielte auch keine Rolle, aber es rief etwas in mir wach, das mich schon eine ganze Weile als undefinierbarer Schatten bedrückte. Bis jetzt hatte ich es nie greifen oder benennen können, nun war das anders…
„Versprichst du mir etwas?“
„Was denn?“
„Das du in Zukunft mit mir redest“, bat ich ihn, woraufhin er nichts erwiderte.
„Ich weiss, ich kann das nicht von heute auf morgen verlangen. Dass du es gewohnt bist alles mit dir allein auszumachen, aber das solltest du nicht. Ich möchte, dass du mit mir über die Dinge redest, die dich beschäftigen. Ich bin für dich da, aber das kann ich nicht, wenn ich nicht weiss was in dir vorgeht, also bitte ich dich, mit mir zu reden. Egal über was“ Ich beugte mich ein wenig zu ihm, strich mit der Handfläche seine Wange entlang und versuchte in seinen Augen zu erkennen, ob er verstand. Doch wieder einmal rannte ich gegen eine Mauer der Undurchdringbarkeit. Eine ganze Weile lang herrschte hartnäckige Stille, sodass ich die Hoffnung auf eine Antwort bereits aufgab, als Manuel plötzlich anfing zu reden.
„Ich hab ihm von dir erzählt. Von dir und dem Wunsch mit dir zu reisen“, so beliess er diese Aussage, welche für mich mehr Fragen als Antworten bedeutete.
„Du meinst Richard? War das der Grund für… das?“, fragte ich voller Unbehagen und deutete auf einen von Manuels zahlreichen Prellungen.
„Ja. Nein. Es war der Anfang. Richards Grenzen verlaufen oftmals sehr verwischt“ Ich musste mich zusammen reissen um mich nicht voller Ekel zu schütteln. Dieser abartige Bastard! Allein der Gedanke an diesen Menschen liess bittere Galle in mir aufsteigen. Die Übelkeit herunterschluckend, konzentrierte ich mich auf das Gute.
„Du möchtest mit mir reisen?“
„Ja“, Manuels Gesichtszüge wurden weich und in seinen Augen erschien ein sanfter Glanz.
„Wohin?“, fragte ich interessiert. Mit Manuel zu reissen klang fantastisch.
„Egal wohin, überall wo es etwas zu sehen gibt. Ägypten, Japan, Island. Ganz egal“
„Island?“
„Die Nordlichter wollte ich schon immer mal sehen“ Manuels jugendhafte Freude war ansteckend und machte mich glücklich.
„In Island ist es doch bestimmt bitterkalt, ich weiss nicht ob ich so warme Klamotten überhaupt besitze“
Das Funkeln in Manus Augen verschwand und machte etwas anderem Platz. Etwas dunklem, gefährlichem und unglaublich erregendem.
„Dir wird nicht kalt sein, dafür werde ich sorgen“, das Versprechen war nicht zu überhören und auf einmal wurde mir unglaublich heiss.
„Du scheinst ja schon ziemlich klare Vorstellungen im Kopf zu haben“, meinte ich etwas atemlos. Mein Freund begann anzüglich zu grinsen.
„Vor – Stellungen hab ich keine, aber Stellungen würden mir einige einfallen“, raunte er unfassbar erotisch. Allein seine Stimme machte mich unglaublich an. Am liebsten wollte ich mich auf ihn stürzen, doch mein Vorhaben wurde auf Eis gelegt, als es an der Tür klopfte. Meine Mutter kam herein und trat zu uns.
„Hallo Manuel“
„Hallo Simona, schön dich wiederzusehen“ Meine Mutter lächelte sanft.
„Die Umstände dürften gerne andere sein“ Manuels Laune schien ungetrübt als er antwortete:
„Ich werde es mir für die nächsten Male merken“
„Darüber würde ich mich freuen. Leif, Schatz ich gehe jetzt nach Hause, die Besuchszeiten sind auch gleich vorüber. Soll ich dich mitnehmen?“, fragte sie nun an mich gewandt.
Missmutig sah ich zwischen ihr und Manu hin und her, ich wollte ihn nicht allein lassen…
„Geh schlafen, du siehst müde aus“, bemerkte Manuel, nur um praktisch im gleichen Moment selbst zu gähnen.
Widerstrebend nickte ich.
„Ich warte draussen auf dich. Gute Nacht Manuel“
„Danke. Dir auch eine gute Nacht“, verabschiedete sich Manu ebenfalls. Auch als meine Mutter längst das Zimmer verlassen hatte, sass ich immer noch ungerührt am Bettrand.
Erst Manuels Hand an meiner Wange löste meine Starre. Er sah mich an.
„Geh nach Hause“
„Ich will dich nicht alleine lassen“, gestand ich unsicher.
„Ich bin doch nicht allein“, meinte er lächelnd, griff unter seine Decke und brachte den Fotorahmen hervor, den ich ihm zuvor in die Hand gelegt hatte. Unser Foto leuchtete mir entgegen. Das entlockte mir ein kleines Schmunzeln.
„Und ich werde auch nicht wegrennen, versprochen“, witzelte Manu und hob beschwörend eine Hand.
„Na gut. Ich komme schnell wieder“, versicherte ich ihm, beugte mich zu ihm runter und küsste ihn.
„Hmm –mm“
Mit einem letzten Blick zurück, verliess ich das Zimmer.
Meine Mutter wartete und ich ging mit ihr mit, wenngleich jeder Schritt sich falsch anfühlte. Jeder Meter schien mich zu verhöhnen, mir entgegenzuschreien, dass ich mich weiter von Manu entfernte. Meine Laune raste immer weiter Richtung Erdkern.
„Die Visite wird vermutlich erst so um neun Uhr bei Manuel sein“, sagte meine Mutter scheinbar nebenbei. Mein übermüdetes Hirn brauchte einige Momente, bis die Aussage verarbeitet war und mich abrupt zum Stehen brachte. Skeptisch betrachtete ich meine Mum, die nun ebenfalls gestoppt hatte. Auf ihrem Gesicht ein verschmitztes Lächeln. Hatte sie -? Meinte sie wirklich, dass was ich dachte?
„Ach ist das so?“, fragte ich argwöhnisch, woraufhin sie nur mit den Schultern zuckte.
„Das Personal hat immer viel zu tun“
Überschwänglich umarmte ich sie: „Mum, du bist die Beste!“ Sie lachte heiter und wuschelte mir durch die Haare.
„Ich werde dich daran erinnern! Und jetzt verschwinde schon“ Eifrig nickte ich und eilte zurück. Der Weg zum Zimmer erschien mir viel kürzer als zuvor. Schnell schlüpfte ich ins Zimmer und musste kurz stehen bleiben, damit sich meine Augen an den Lichtmangel gewöhnen konnten. Die Lichter im Zimmer waren aus, nur an Manus Bett kämpfte ein wirklich mickriges Lämpchen gegen die Dunkelheit.
Ans Bett getreten, stellte ich fest, dass Manuels Augen geschlossen waren. Unentschlossen stand ich da, ich wollte ihn nicht wecken, aber –
„Hatte ich nicht gesagt, du sollst nach Hause gehen?“, seine Augen blieben geschlossen, doch auch im schwachen Licht konnte ich sein amüsiertes Lächeln sehen.
„Naja, genaugenommen, hast du gesagt, ich soll schlafen gehen, von Zuhause war nie die Rede“
„Da hast du Recht. Ich werde mich in Zukunft präziser ausdrücken“, meinte er und öffnete nun die Augen. Einige Herzschläge lang, betrachtete er mich schweigend, ehe er die Decke zur Seite schlug und, sichtbar mühsam etwas nach links rutschte. Nur zu gerne folgte ich der stummen Einladung, entledigte mich meiner Schuhe und schlüpfte zu meinem Freund. Vorsichtig legte ich einen Arm um ihn und zog ihn etwas dichter zu mir, ehe ich uns beide zudeckte. Manu lehnte sich gegen mich und bettete seinen Kopf an meiner Schulter.
„Ich liebe dich, Manuel“, murmelte ich dicht an sein Ohr, unendlich froh darüber ihn wieder bei mir zu haben und seine Wärme zu spüren.
„Ich liebe dich auch“, raunte er leise und schläfrig. Schon bald wurde sein Kopf schwerer, seine immer noch flachen Atemzüge ruhiger und gleichmässiger, was auch mich langsam einlullte. Sanft drückte ich Manu einen Kuss auf die Haare.
Ich bin wieder Zuhause…
Mit diesem wundervollen Gefühl von weicher, kuscheliger Wärme in meiner Brust, gab ich mich dem so dringend benötigten Schlaf hin und liess mich bereitwillig in die Tiefe ziehen.
Ein Monat war nun bereits durchs Land gezogen, seit ich befürchtet hatte, dass mein Herz für immer verloren sei. Manuel war schon einen Tag später, wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Nicht ganz zum Wohlgefallen der Ärzte, doch Manu hatte ihnen keine Wahl gelassen. Mein Freund war ein ziemlich ungeduldiger Patient, wie sich herausgestellt hatte. Kaum hatte er das erste Mal einen Fuss aus dem Bett gesetzt, hatte es für ihn keinen Grund mehr gegeben, zu bleiben.
Mein kleiner Sturkopf…
Die ganzen letzten Wochen waren schwierig gewesen. Eine Zeit die für alle sehr nervenzehrend gewesen war. Richard Harrow bekam seine Strafe. Er wurde angezeigt und musste sich nur vor Gericht verantworten. Das genaue Urteil war noch nicht bekannt, doch Isabelle war mehr als zuversichtlich und einen Teil unserer Vergeltung hatte er bereits zahlen müssen. Vielleicht sogar den, welchen ihn am meisten schmerzte. Seine Kanzlei. Nachdem die Anzeige eingereicht worden war, hatten Richards Taten die Runde bei seinen Klienten gemacht und nun, sie waren nicht begeistert gewesen.
Doch der dunkle Schatten, den Richard mit seinen Verbrechen über die Familie Keen und auch über mich gebracht hatte, war noch lange nicht Vergangenheit. Alpträume. Beinahe jede Nacht. Immer wieder sah ich Manuel, kniete mich zu ihm und suchte einen Puls. Vergebens.
Schweissgebadet und mit einem Schrei auf den Lippen, entkam ich dem Schlaf. Manuel ging es da nicht anders. Er schrie zwar nicht, doch wann immer seine Beherrschung ihn im Schlaf verliess und so Platz für Wut, Rache und Angst schuf, spannten sich seine Muskeln an, bis ich glaubte sie reissen zu hören. Aus dieser Starre war er nicht leicht heraus zu holen. Oftmals wachte er erst durch die Schmerzen seiner Rippen auf, die unter seiner Anspannung aufflammten. Seit nun genau neunundzwanzig Nächten übernachteten Manuel und ich immer bei einander. Und es half. Wenngleich ich nicht gänzlich von der Folter meiner Träume verschont blieb, half es doch Manuel jedes Mal neben mir vorzufinden wenn ich ihr entkam. Nicht selten, vorwiegend in den ersten paar Nächten, hatte ich dem Drang nicht wiederstehen können, Manuel die Hand an die Brust zu legen um seinen Herzschlag zu fühlen, der mir versicherte, dass er bei mir war. Ausserdem hatte ich herausgefunden, dass es die Anspannung meines Freundes löste, wenn ich sanft seine Muskeln knetete. Wir gaben und nahmen voneinander und wurden so stärker. Auch versuchte ich Manuel eine mentale Stütze zu sein, ihm die schreckliche Selbsteinschätzung, die er von Richard eingetrichtert bekommen hatte, langsam aber stetig zu löschen. Manu gab sich Mühe, sein Versprechen mir gegenüber einzuhalten und liess mich hinter seine Fassade blicken. Wenngleich ich das, was ich dahinter zu sehen und zu hören bekam mir oftmals den Boden unter den Füssen weggerissen hatte. Immer wieder aufs Neue wurde mir bewusst, was Manuel in den letzten Jahren alles schweigend ertragen hatte. Armbruch beim Skatebordfahren… Er hatte noch nie einen Fuss auf so einem Brett gehabt, aber es war eine Möglichkeit gewesen, Dinge zu erklären, Verletzungen nichtig erscheinen zu lassen und die hatte er genutzt. Allein der Gedanke jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken und löste das dringende Bedürfnis in mir aus, Richard einen Besuch abzustatten. Und da war ich nicht allein. Isabelle hatte nach und nach, jedes einzelne Erinnerungsstück an dieses Monster aus ihrem Haus entfernt und JD hatte ihr nur zu gern dabei geholfen. Manuel hatte die Befürchtung gehegt, seine Schwester könnte sich nun Vorwürfe machen. Und da hatte er völlig richtig gelegen. Sie hatte es ihrem Bruder nie gesagt, doch ihre Blicke zu ihm verrieten es ohnehin. Etwa nach zwei Wochen hatte sie es nicht mehr ausgehalten und war förmlich zusammengebrochen, als ich sie darauf angesprochen hatte. Nicht wissend was ich sagen sollte, gab ich ihr die Zeit sich zu beruhigen und die Chance zu reden. Manuel war das nicht verborgen geblieben und in einer ungeahnten Offenheit, hatte er mir gebeichtet wie sehr es ihn geschmerzt hatte, nicht derjenige gewesen zu sein, mit dem seine Schwester gesprochen hatte. Ich konnte das nur zu gut verstehen, da er immer ihren Hafen der Ruhe und der Erleichterung dargestellt hatte. Gleichwohl hatte er Verständnis und bald schon freute er sich, dass JD langsam wieder nach vorne sah und einen Schlussstrich erarbeitete. Genauso wie Manuel und ich. Unser nächstes Ziel stand fest. Nach unserem Abschluss ging es raus in die grosse, weite und vor allem freie Welt. Reisen, das war unsere Zukunft. Wohin genau unser Weg uns führen sollte, wussten wir noch nicht und es ging uns auch nicht um das Land oder die Stadt, sondern um das Abenteuer.
Gegenüber JD hatten wir bereits hoch und heilige versprechen müssen, dass wir ihr so viele Postkarten schicken würden wie sie nur in den Briefkasten passen. Auch heute hatte sie und damit bereits in den Ohren gelegen und uns so jegliche Flucht vereitelt. Leider! Genau deshalb sassen wir nun mit ihr auf Manuels Bett und sahen uns einen Film an. Den aller, aller besten auf der ganzen Welt, wie sie ihn uns schwärmend angepriesen hatte. Dirty dancing…
Manuel und ich hatten wirklich alles versucht, doch JD liess uns einfach nicht gehen. Mittlerweile kam uns beiden der Selbstmord als ziemliche Verlockung vor. Dieser Kitsch war ja nicht zu ertragen!
„Oh Baby!“, labberte gerade der Tänzer mit der Föhnfrisur zum gefühlt hundertsten Mal. „Oh Baby“, sagte JD neben uns wie aus einem Mund mit dem Synchronsprecher, was mir unweigerlich die Frage ins Gehirn schrie, wie oft sie sich diesen Horror bereits verschlungen hatte. Ich fragte nicht, die Antwort hätte ich womöglich nicht überlebt…
„Oh! Oh! Ohh!! Hey!“, meinte JD plötzlich völlig aufgeregt und schlug mir dabei kräftig gegen den Oberarm. Verdammt, mit diesem Mädchen wollte man keine Probleme, sie hatte eine unheimlich starke Schlagkraft, die mich dazu veranlasste über die gepeinigte Stelle zu reiben. Eine Hand schob meine zur Seite und fuhr an ihrer Stelle sachte über meinen Oberarm. Wohlig erschauernd sah ich zu Manuel der mich sanft anlächelte.
„Was ist mit euch?!“, fragte JD beinahe hysterisch.
„Was soll mit uns sein?“, meinte ihr Bruder schliesslich.
„Wie nennt ihr euch?“ Allmählich machte mir JD fast ein wenig Angst, wie sie uns gegenüber sass und aussah als wollte sie uns gleich anspringen.
„Baby? Darling? Liebster? Süsser?“, schlug sie begeistert vor. Manuel legte den Kopf schräg und beäugte seine Schwester skeptisch, als wüsste er nicht ob er mal in der Psychiatrie anrufen sollte.
„Leif und Manuel?“, sagte er so als würde er fragen, ob das okay war, was mich zum Lachen brachte. Verdammt ich liebte Manuel und seine Familie so sehr. Ihre humorvolle Art hatte mich längst angesteckt.
„Ja! Klasse! Ich wollte schon immer mal einen anderen Namen haben!“, grinste ich.
„Man, Bruderherz! Du hast echt einen schlechten Einfluss auf ihn! Und dabei hatte ich gehofft, er würde dich etwas ruhiger werden lassen!“ Manuel legte ebenfalls lachend, einen Arm um mich und ich sah zu ihm auf, in sein wunderschönes Gesicht, in seine strahlenden Augen die mich so anfunkelten, dass ich unweigerlich dahin schmolz.
„Ich finde ~ Leif ist perfekt, genauso wie er ist!“, murmelte ich während ich meinen Freund ansah. Würde ich mich jemals an seinen Anblick gewöhnen? Niemals, das war klar. Er war ein Wunder und das jeden Tag aufs Neue.
„Ich liebe dich ~ Manuel “, flüsterte Manu lächelnd, ehe er mich küsste.
Beruhigende Wärme stieg in mir auf, mein Herz schlug Purzelbäume und meine Hände suchten die Seinen.
„Ich liebe dich auch!“
Ende
Texte: Alle Rechte an den Texten liegen bei mir selbst
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die den Glauben an das Gute noch nicht aufgegeben haben...