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Anna

Ein Buch für Teenager, die sich mit ihren Eltern herumplagen müssen.

Kapitel 1

 

Es begann ganz normal und unspektakulär. Mein Vater Peter Moser und sein Zwillingsbruder Paul Moser beide verheiratet mit den Schwestern Magda (meine Mutter) und Sahra (zwei Jahre älter als Mama) beschlossen, sich im Bayerischen Wald ein altes Bauernhaus zu kaufen und es gemeinsam zu einem Feriendomizil umzubauen. In meinen Augen eine blödsinnige Idee, denn wir hatten über eine Stunde Anfahrtszeit. Ich wusste jetzt schon, dass mir das Haus prinzipiell und auch deswegen nicht gefallen würde.

Nun saßen wir im geräumigen 6-Sitzer Geländewagen meines Vaters, um das „Juwel“, das die beiden Pädagogen am Ende der Osterferien entdeckt hatten, in Augenschein zu nehmen und den Kauf abzuwickeln. Meine Bedenken, dass die beiden Damen mit dem Objekt eventuell nicht einverstanden sein könnten, wurden entrüstet zurückgewiesen. Die beiden Herren waren begeistert von ihrem „Fund“ und überschlugen sich vor Lobeshymnen wie kleine Buben, denen zu Weihnachten ein lang ersehnter Wunsch in Erfüllung gegangen ist und sie benahmen sich auch entsprechend!

Ich saß allein am Hintersitz in mich eingeigelt wie die meiste Zeit, denn meine „Lieben“ behandelten mich immer noch, als wäre ich gerade 12 Jahre geworden und nicht fast siebzehn, was mir als modernes Mädchen überhaupt nicht passte. Um nicht dauernd zu mosern, hüllte ich mich oft in Stillschweigen, und da sich die Meinigen an meine „Mundfaulheit“ gewöhnt hatten, plätscherte die Unterhaltung im Auto über meinen Kopf hinweg und ich hing meinen eigenen Gedanken nach.

Da wir verwandtschaftsbedingt so eng „verbandelt“ waren und die Ehe von Onkel Paul und Tante Sahra zu ihrem und noch mehr zu meinem Leidwesen, kinderlos geblieben war, hatte ich jetzt zwei Mütter und zwei Väter am Hals. Ich wurde nach Strich und Faden von allen maßlos verwöhnt, verhätschelt, behütet und pausenlos „umschwirrt“, nur - dass ich andere Ideen oder Anschauungen haben könnte, das wurde einfach lächelnd ignoriert.

Dass ich nach vier Fehlgeburten meiner Mama stramm und gesund angeblich erst das Glück meiner Eltern sehr spät vollkommen machte, hatte sicher auch zu diesem Umstand beigetragen. Es war ein goldener Käfig in dem ich leben musste. Meine gelegentlichen rebellischen Ausbruchsversuche wurden einfach der Pubertät zugeschrieben und als entwicklungsbedingt abgetan und nie ernst genommen. Dass ich unter dem jetzigen Zustand litt, konnte ich keinem von ihnen vermitteln.

„Straferschwerend“ war, dass meine beiden „Väter“ es eigentlich erkennen hätten müssen wie unglücklich ich war, denn sie waren in ihrem Lehrberuf sehr erfolgreich und bei der Bevölkerung hoch angesehen und gaben anderen Eltern gute Ratschläge bei der Erziehung ihrer Sprösslinge, nur bei mir versagten sie total.

Beide waren Direktoren an unseren jeweiligen Gymnasien in Buxenreuth. Mein Vater hatte Mathematik und Physik studiert und Onkel Paul Englisch und Deutsch. Als Chefs waren sie jetzt mehr in der Verwaltung, als in ihren Fächern tätig. Ich ging auf das Schiller Gymnasium von Onkel Paul in die 11. Klasse, da es ein bisschen einfacher war, als beim eigenen Vater in die Schule zu gehen, der am Freudenstein Gymnasium unterrichtete, an dem Tante Sahra Sekretärin war.

(Über diesen Weg hatten sich die späteren Ehepaare kennengelernt).

Ich lag mit „meiner Welt“ in diesem Schuljahr nicht nur privat sondern auch schulisch im Clinch. Das Schuljahr zog sich wie Kaugummi und war kaum auszuhalten. Nicht, dass ich schlecht in den Leistungen war! Nein, das Lernen fiel mir äußert leicht, nur das Drumherum machte mir das Schulleben heuer schwer.

Meine beste Freundin Annegret war vor Schuljahresanfang in den großen Ferien mit ihrer Familie bei einem Bootsunfall in Vancouver tötlich verunglückt. Der Gedanke an sie trieb mir sofort wieder heiße Tränen in die Augen. Würde ich den Verlust jemals überwinden?

Sie war meine Freundin, Seelentrösterin, mein Pol, meine Durchfechterin für Wünsche bei meinen „Doppeleltern“, und mein Halt gewesen.

Sie hätte mit den Verleumdungen, die Renate gegen mich verbreitete, kurzen Prozess gemacht, genau so, wie sie Renate entlarvt hatte, dass sie sich mit einer Freundschaft mit mir nur schulische Vorteile erhofft hatte. Seit dieser Zeit herrschte „Eiszeit“ zwischen Renate und mir.

Nach dem Vorfall mit ihrer Schwester am Schuljahresanfang hetzte Renate meine Mitschüler und Mitschülerinnen immer mehr gegen mich auf und hatte sogar angefangen, wenn sie über mich sprach nur lautstark von der „Petze“ zu reden. Dabei würde es mich selbst brennend interessieren, wer Onkel Paul die Information, dass sein Referendar Kümmler ein Verhältnis mit ihrer noch minderjährigen Schwester hatte, zukommen hat lassen. Ich leugne ja nicht ab, dass ich die beiden am Flussufer in einer eindeutigen Position angetroffen hatte und sie mich leider erkannt hatten, aber ich hatte niemandem gegenüber auch nur eine Andeutung über den Vorfall gemacht. Natürlich glaubte mir Renate das nicht.

Vielleicht reagierte ich übersensibel und bildete mir auch Vieles ein. Aber stieß ich zu einem Kreis aus Mitschülern und es verstummten schlagartig die Gespräche, so war ich sicher, dass entweder über meinen Onkel, über mich oder über jemanden vom Lehrkörper gelästert worden war, aber man wollte ja kein Risiko eingehen, dass ich es „petzen“ würde.

Mit Annegret an meiner Seite, wäre das unmöglich gewesen. Niemand konnte je auf den Gedanken kommen, sie würde durch ihre Freundschaft mit mir auch nur den geringsten Vorteil haben. Annegret war hochbegabt. Anni, liebe Anni, schluchzte ich auf, ich werde dir nie vergessen, dass du, um bei mir zu bleiben, abgeschlagen hast, eine Klasse zu überspringen, wie man dir angeboten hatte.

Wir kannten uns ja auch schon von „Babybeinen“ an. Unsere jeweiligen Elternhäuser lagen nur vier Grundstücke weit auseinander. Wir hatten in der gleichen Woche im Juni Geburtstag und fühlten uns ähnlich fest verbunden wie Papa und Onkel Paul. Anni hatte auch meinen Namen geprägt. Da sie Katharina als Kleinkind nicht aussprechen konnte, wurde ich für sie und dann auch für alle anderen: Kira. Anni und Kira, was waren wir für ein tolles Team gewesen!

Was hätte wohl Anni zu dem Scheißleben gesagt, das ich im Moment führte?

„Lass sie doch schnattern, die Schneegänse! Sie sind ja bloß neidisch, weil du nicht nur gescheit, sondern auch hübsch bist.“

Wahrscheinlich war von einigen meiner Mitschülerinnen wirklich eine Portion Neid dabei, denn ich müsste ein Trottel sein, wenn ich nicht bemerkt hätte, dass Anni Recht hatte. Hatte ich doch gestern Tante Sahra zu Mutti sagen gehört, dass sie jetzt schon Angst hätte, daran zu denken, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Herren der Schöpfung mit mir ernsthaft „anbandeln“ wollten.

Na ja, wenn ich ehrlich bin, dann ist es im Moment eher anders herum. Martin aus der 12. Klasse würde mir schon mächtig gut gefallen. Aber wie konnte ich ihn auf mich aufmerksam machen? Vielleicht würde es jetzt bald eine Gelegenheit dazu geben, da an unserer Schule gerade eine Mensa eingerichtet wurde. Da kam man sicher auch mit Schülern aus anderen Klassen in Kontakt und ich begann mir Gedankenschemen auszumalen, wie das zu bewerkstelligen wäre.

Hatte ich nicht in einem Buch gelesen, dass die junge Frau sich von ihrem Angebeteten anrempeln ließ und er ihr den Rotwein über ihr kostbares Ballkleid schüttete? Rotwein und Ballkleid in der Schulmensa! Da musste ich selber schmunzeln. Wie wär's, wenn ich mit einem vollem Tablett über seine...

Ich wurde je aus meinen Phantasien gerissen, denn der Wagen hatte gehalten und Papa sagte fast andächtig:

„Nomen est omen! (Der Name sagt alles)

Wir sind da!

 

Vor unserer Stoßstange stand das Ortsschild: Heimling! Dann sah man eine Brücke und da

Papa das Fenster aufgemacht hatte, hörte man ein mächtiges Rauschen.

Rechts erhoben sich einige Granitformationen in hohen Bäumen verpackt und links

schlängelte sich die Straße zwischen den sauber herausgeputzten Dorfhäusern über deren rote Dächer man den dicken Zwiebelturm der Dorfkirche erblickte. Papa fuhr wieder an und ich bemerkte, dass wir von der Hauptstraße abgebogen sein mussten, da keinerlei Verkehr zu sehen oder zu hören war.

Langsam rollten wir durch das schmucke Dörflein. Es gab einen Bäcker, der offensichtlich auch ein Cafe betrieb, weil in seinem Vorgarten gerade Tische und Stühle aufgestellt wurden, denn es war für die Osterzeit ungewöhnlich warm. Dann folgten ein Metzger, ein Frisör und die Straße machte eine fast rechtwinklige Kurve und verbarg die sicher noch weiteren Geschäfte.

„Jetzt bitte ich euch, macht eure Augen zu und erst auf, wenn der Wagen hält. Wer schummelt, bringt sich selbst um eine schöne Überraschung“, forderte Papa.

Gehorsam, aber sehr neugierig schlossen wir die Augen. Der Wagen beschleunigte und wir merkten, dass er steil aufwärts fuhr und offensichtlich auch ein paar enge Kurven zu meistern hatte. Dann hielt er.

Ich hatte meine Augen noch fest zugepresst, als ich Mama und Tante Sahra enthusiastische Schreie ausstoßend aus dem Wagen stürzen hörte. Also beschlossene Sache, dachte ich resigniert. Wenn ich anderer Meinung wäre, würde es sowieso nicht mehr zählen. Widerwillig öffnete ich meine Augen.

Da geschah etwas Eigenartiges. Um mich herum wurde es still und eine tiefe Ruhe begann mich zu erfüllen. Es war, als hätte ich alles, was mich belastete, mit einem Ruck abgeworfen. Ich fühlte mich heil, ganz bei mir und wunderbar zufrieden. Einfach, als wäre ich nach langer Wanderschaft endlich heimgekommen. Ich kann es nicht anders beschreiben. Langsam stieg ich aus und ging auf das Häuschen zu.

Drei Stufen führten zu einer reich beschnitzten Haustüre, die das Alter und Wetter bearbeitet hatten und die in der Vormittagssonne rotbraun schimmerte. Darüber war ein Halbkreis durchbrochen mit geschnitzten Ornamenten und kleinen Glasscheiben. Nochmals ein Stück höher befand sich eine leere mit einer Glasscheibe geschützte Nische, in der wahrscheinlich einmal eine Madonna gestanden hatte.

Rechts und links folgten je zwei Fenster, jedes in vier Teile unterteilt und mit alten Glasscheiben bestückt, die sich nach außen wölbten und in der Sonne glitzerten. Alle Fester wurden von leicht verwitterten grünen Holzfensterläden eingerahmt. Über den Fenstern ragten aus einem teilweise mit Moos bewachsenen Ziegeldach vier Mansarden hervor. Ein mächtiger Schornstein zierte die Mitte und ich meinte jeden Moment würde eine schwarze Katze auf dem umlaufenden Kupferblech Platz nehmen müssen. Das Haus war schneeweiß gestrichen und hatte einen Putz, der mich an Muscheln erinnerte.

Ich spürte, wie sich mein Mund zu einem Grinsen auseinander zog, das ich nicht stoppen konnte. Lachende Gesichter blickten mir entgegen. Alle hatten auf den breiten ausgetretenen Granitstufen auf mich gewartet.

„Kira brauchen wir gar nicht zu fragen, wie ihr das Haus gefällt. Ich hab sie schon lange nicht mehr so lächeln gesehen“, meinte Papa.

„Weil du offensichtlich auch mit unserer Wahl einverstanden bist, darfst du als erste die Tür aufschließen“. Und er überreichte mir einen großen, eisernen, angerosteten und mit Ornamenten verzierten, geschmiedeten Schlüssel. Warum zitterten mir plötzlich die Hände? Ich musste den Schlüssel mit beiden Händen halten. Einmal im Schlüsselloch ließ er sich aber ganz leicht und ohne Quietschen drehen.

Eine kleine Diele, in die die Sonne durch das Halbrundelement der Eingangstür bizarre Muster malte, wurde von einem Einbauschrank und einer kunstvoll geschmiedeten Garderobe ausgefüllt. Eine Tür mit einer Glasscheibe in altem Schliff führte ins Innere. Gegenüber dem Eingang sah man eine Treppe mit herrlichen kleinen ausgetretenen Mulden nach oben gehen, von kunstvoll geschnitzten Handläufen eingefasst. Rechts von der Treppe befand sich eine Toilette. Dann kam eine Küche, in der noch die alte Sitzecke stand. Zwei schöne alte Buffets mit bemalten Frontscheiben bestückt, flankierten einen mächtigen Holzofen. An den Anschlüssen daneben sah man, dass er einen Elektroherd als Nachbarn gehabt hatte. In der anschließenden Speisekammer standen noch ein Kühlschrank und ein sehr großer Gefrierschrank neueren Datums.

Links nahm die ganze Giebelseite ein großes leeres Wohnzimmer in Anspruch, aus dem eine moderne Hebetür, die aber designmässig angepasst war, auf eine breite mit Holzbohlen ausgelegte Terrasse führte.

Auch oben waren die Räume zweckmäßig eingeteilt. Rechts und links auf den Garten schauend waren zwei identisch um die Ecke führende Räume, an die jeweils zwei kleine Kammern anschlossen. Der eine Raum war leer, er würde später Computer und sonstige Medien beherbergen, erklärten uns unsere „Führer“. Der Vorbesitzer hatte hier schon die Kabelanschlüsse legen lassen, wie er auch das ganze Haus auf Zentralheizung umgerüstet hatte. Das andere westlich gelegene Zimmerchen war vollgestopft mit kaputten Sachen.

Ich sah das Gerümpel gar nicht. Vor meinem geistigen Auge flatterten bereits weiße, ganz feine Vorhänge in einem leichten Wind vor dem Mansardenfester. In der Ecke unter der Schräge stand eine bequeme breite Schlafcouch, die ich mit einer dicken Wandbespannung vor der Außenwand abschirmen würde. Neben die Tür passte ein Kleiderschrank, unter die Mansarde ein kleiner Schreibtisch und in die Ecke gegenüber ein Schaukelstuhl auf einem warmen wuschligen Teppich. So sah ich „mein“ Zimmer bereits vor mir. Ich sah sogar noch mehr.

Ein alter Schaukelstuhl, so wie ich ihn mir vorstellte, stand direkt vor mir. Sein Geflecht war an mehreren Stellen durchgebrochen, aber sonst schien er noch gut in Schuss zu sein. Die Bespannung ließ sich bestimmt in einem Fachgeschäft richten und ich freute mich schon, was noch unter den weggeworfenen Sachen zum Vorschein kommen würde. Die Rückseite einer kleinen Truhe lugte unter einem alten Federbett hervor und würde bestimmt ein hübsches Nachtkästchen abgeben.

Da die anderen schon weiter gezogen waren, beendete ich allein meinen Rundgang. An einen weiteren leeren kleinen Raum schloss sich ein hoch modern eingerichtetes Bad an. Ich musste meinen Vätern Recht geben: Das Haus war ideal für unsere besonderen familiär bedingten Bedürfnisse.

Die anderen hatten sich zu weiteren Besprechungen in die Küche zurückgezogen. Ich verließ das Haus durch die Terrassentür. Vor meinen Augen erstreckte sich ein wunderbares Panorama. In einem Halbrund von Felsen und Wald lag hin geschmiegt das Dörfchen mit seinem trutzigen Kirchturm in der Mitte. Hier zu frühstücken oder im Winter auf die verschneiten Dächer zu blicken war pure Augenweide.

Hinter „unserem“ Haus stieg terrassenförmig ein etwas bearbeitungsbedürftiger Garten an und ging nach der Grundstücksgrenze in einen dichten Wald über. Auf dem Grundstück gab es einige Obstbäume, da sie aber erst am Austreiben waren, konnte ich sie nicht identifizieren. An der Ostseite war eine Doppelgarage angebaut worden und da das Gelände stark abfiel, hinderte der Anbau weder das eine der beiden Küchenfenster noch hatten die Autos im Winter eine steile Ausfahrt zu bewältigen. Wenn man vor der Garage stand, konnte man den Fluss rauschen hören, dessen Brücke wir am Dorfanfang überquert hatten.

Vorne fiel das Gelände schroff ab. Man konnte aber einen engen steilen Pfad ausmachen, der direkt ins Dorf zu führen schien. Die Vorderseite des Plateaus begrenzten Granitsäulen in die Löcher gebohrt worden waren in denen waagrecht ganze Stämme steckten. Die anderen drei Seiten waren mit Maschendrahtzaun umgeben. Da das Grundstück nicht ganz viereckig war, bildete es zur Dorfseite hin eine kleine Ausbuchtung. Hier entdeckte ich zu meinem Erstaunen abgeschirmt durch immergrüne Büsche eine aus Bruchsteinen gemauerte Grotte mit einer Gipsmadonna und einer Bank davor. Ich setzte mich. Was für ein herrlicher Ort zum Meditieren oder zum Beten. Allein der Ausblick schenkte einem Ruhe und Gelassenheit.

Die Madonna hatte bestimmt keinen künstlerischen Wert. Man konnte sie auch ruhigen Gewissens als kitschig bezeichnen, aber sie passte irgendwie harmonisch dorthin. Wie viele Anliegen mögen ihr wohl schon vorgetragen worden sein? Ich beschloss, als erstes das kleine Beet davor herzurichten, aus dessen welken Blättern und anderen Überresten des Winters zwei Märzenbecher mühsam ihre Köpfchen steckten.

„Kira, Kira, wo bist du?“, riss mich ein Ruf aus meiner wunderbaren inneren Stille.

„Komm, wir wollen essen gehen!“

Erstaunt merkte ich, dass ich großen Hunger hatte und schloss mich bereitwillig den anderen an. Meine DES, wie ich meine Doppeleltern zu nennen pflegte, waren sehr sportlich und plädierten für den Fußweg. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Der Weg war steil, aber kurz und gefahrlos zu gehen. Eine kleine „Serpentine“ brachte uns am Ende des Weges in die Nähe des Flusses, der mit ziemlichem Getöse neben uns ins Tal stürzte. Die dort unten stehende Mühle mit Wirtshaus, war nur noch Wirtshaus mit ein paar Fremdenzimmern.

In der behaglich eingerichteten Wirtsstube, gewärmt durch einen mächtigen Kachelofen, empfing uns die mollige Wirtin wie alte Bekannte.

„Homs ernerne Damen dabei? A so a hibsch Derndl! Schee is des Heisl, göll?“

Wir wussten von unseren Herren, dass die Wirtin ihnen den Tipp mit dem Haus gegeben hatte, als die Hungrigen enttäuscht nach tagelanger Suche zum Essen hier eingekehrt waren.

Wir aßen einen Schweinebraten mit Knödel zum Niederknien, was auch die anderen zwei Paare und ein Trupp Bauarbeiter bestätigten, die noch nach uns gekommen waren. Im Sommer und am Wochenende wäre es hier proppenvoll und Vorbestellung nötig, erfuhren wir von der Wirtin, als wir mit ihr allein waren.

Sie setzte sich zu uns und fragte uns geschickter aus als ein Staatsanwalt. Wir erhielten dafür von ihr wertvolle Hinweise, wo es frische Eier gab, wer unter der Hand Fische und Geflügel verkaufte und wo man sich seinen Weihnachtsrehbraten rechtzeitig vorbestellen konnte. Über die Geschichte unseres Häuschens wusste sie nicht viel, da sie „herkeirat“ hatte und riet uns, unseren Verkäufer, den Herrn Forstmeister, zu befragen.

Wieder in unserem „Nest“ setzten wir uns in unserer Küche zusammen, zogen Bilanz und besprachen die nächsten Schritte.

Größere Umbauten oder Renovierungen standen nicht an, da das Haus gut gepflegt worden war. In dem leerstehenden kleinen Raum oben würde mit Einverständnis aller ein zweites Bad ebenfalls mit Toilette eingebaut werden. In die Eckräume, die die jeweiligen Schlafzimmer werden würden, beschlossen unsere Herren selbst die Teppichböden zu verlegen und alle Fensterläden neu zu streichen. Mein Zimmer durfte ich mir einrichten, wie ich wollte.

Zum Erstaunen aller hatte ich auch zwei Vorschläge beizusteuern und war sehr stolz, dass sie begeistert angenommen wurden.

Erstens: die alte Essecke samt Tisch doch zu behalten. Da alles aus Vollholz war, konnten wir sie mit entsprechenden Werkzeugen selbst renovieren und zweitens das große Wohnzimmer mit einem aus Bruchsteinen gemauerten nach beiden Seiten sichtbaren durchgehenden großen Kamin halb abzuteilen. Neben der Gemütlichkeit eines Feuers an kalten Wintertagen ermöglichte es dem, der nicht Fernsehen wollte, sich in den anderen Teil zurückzuziehen.

„Also, das ist ein genialer Vorschlag, Kira“, lobte mich Tante Sahra „man merkt eben, dass du erwachsen wirst und richtig mitdenken kannst.“

Mein: „Es wird Zeit, dass ihr das endlich spannt!“, ging schon wieder unbeachtet unter.

Die weitere Reihenfolge unserer Pläne war, soweit es die Zeit zuließ, an den kommenden Wochenenden im Wirtshaus zu übernachten, alle Räume neu auszumalen, die Teppichböden zu verlegen und die inzwischen ausgesuchten Möbel und Elektrogeräte liefern zu lassen. Sobald wir kochen und vor allem schlafen konnten, würden wir die Restarbeiten von hier aus erledigen. Tief zufrieden machten wir noch einen Gartenspaziergang und entdeckten, dass an der Seite von der Garage eine Tür in einen kleinen Verschlag führte, der voll von allen möglichen nützlichen Gartengeräten und Leitern war.

Dann war es Zeit zu fahren, denn zum Kaufabschluss hatten wir um drei Uhr Termin beim Notar. Dort trafen wir den Herrn Forstmeister. Ich hatte mir Leute aus dem Altenheim immer klapprig und nicht mehr so ganz klar im Kopf vorgestellt. Weit gefehlt! Ein strammer tief gebräunter älterer, weißhaariger Herr begrüßte uns herzlich. Nach dem formellen Akt luden wir ihn noch auf einen Kaffee ein, den er in ein Weißbier umzutauschten wünschte. Das imponierte mir gewaltig. So einen Opa zu haben, müsste herrlich sein!

Als erstes entschuldigte er sich, dass das Gerümpel in „meinem“ Zimmer liegen geblieben war. Es war beim Ausräumen vergessen worden und dann hatte er kein Auto mehr gehabt, um es abzufahren. Es beruhigte ihn sehr, dass mir der Schaukelstuhl seines Großvaters so gut gefiel und er erzählte uns, was im Laufe der Zeit alles an- und umgebaut worden war. Das Haus war vor drei Generationen noch ein kleiner Bauernhof gewesen. Sein Großvater hatte es der Gemeinde abgekauft, nachdem der Besitzer plötzlich verstorben war. Es wäre ein kinder- und frauenloser Bauer gewesen. Man munkelte etwas von einer tragischen Liebe, aber mehr wüsste er darüber nicht.

Alle seine Vorfahren waren ebenfalls Förster gewesen. Sein eigener Sohn hatte aber Maschinenbau studiert und war auf ein Inserat hin nach Australien gegangen. Dort hatte er die Liebe seines Lebens getroffen und geheiratet. Der Forstmeister war mit seiner Frau zu der Hochzeit nach Australien geflogen und während es ihm dort ausgezeichnet gefallen hatte, konnte sich seine Frau, die noch dazu kein Wort Englisch sprach, überhaupt nicht für das Land begeistern.

Ein Jahr später erlitt seine Frau einen Schlaganfall und verstarb kurz darauf.

Da der Forstmeister jetzt allein war, gab er dem Drängen seines Sohnes nach und stimmte zu, nach Australien zu auszuwandern. Dass er bald Großvater werden würde, hatte ihm seinen Entschluss leichter gemacht. Er lebte hier nur vorübergehend im Altenheim, um den Verkauf seines Hauses und alle anderen Dinge vor seiner Abreise abzuwickeln.

Dann schilderte er uns in den schönsten Farben mit kleinen Geschichten untermalt das Leben im Forsthaus. Ich konnte gar nicht genug hören von dem kleinen Fuchs Schorschi, den er im Haus mit der Flasche aufgezogen hatte und der die unmöglichsten Sachen anstellte, der mit Begeisterung Auto fuhr, auf Zuruf kam und die Geburtstagstorte des Forstmeisters stückweise weggeschleppt und im Garten versteckt hatte. Dann gab es noch die Gans Elvira, die die Leute nur in den Garten ließ, wenn sie ein Stück Breze bekam. Und der Spatz Balduin, der mit Vorliebe Bier trank, man musste aufpassen und das Bierglas immer mit etwas Schwerem zudeckeln, sonst torkelte ein besoffener Spatz am Tisch herum. Ich hätte dem alten Herrn den ganzen Abend zuhören können

 

 

Kapitel 2

 

Sein Häuschen hätte er schon einige Male viel teurer verkaufen können. Aber er mochte die Käufer alle nicht. Besonders sauer war er auf die „Großgoscherten“, die sollten sein Juwel nicht bekommen, egal, was sie dafür boten. Und dann geschah etwas Seltsames. Er wandte sich plötzlich an mich.

„Was hast du gefühlt, wie du das erste Mal das Haus gesehen hast, Kira?“

Ich wurde rot und mir wurde ganz heiß. Sicherlich würden mich jetzt alle auslachen, wenn ich meine Gedanken preisgab.

„Sag die Wahrheit!“, und seine dunklen Augen bohrten sich förmlich in meine.

„Es ..es war als wäre ich plötzlich heimgekommen“, platze ich heraus und starrte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 07.01.2018
ISBN: 978-3-7438-4911-2

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