Einen herzlichen Dank an Hannah, die mir das schöne Titelbild gemalt hat.
Von meinem Bett aus kann ich an der gegenüberliegenden Wand die Anzeige der Projektionsuhr mühelos erkennen: 23 Uhr 30. Wie langsam schleicht doch die Zeit, wenn man nicht schlafen kann. Und jetzt auch das noch! Wenn sie wüssten, wie laut man ihre Stimmen durch die Wand hört, obwohl sie sich bemühen leise zu bleiben, um meinen „Schlaf“ nicht zu stören. Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen:
Mama mit Tränen in den Augen, den anklagenden Blick auf meinen Vater gerichtet, während sie mit wütenden Bewegungen ihre Nachtcreme verteilt, als könnte sie damit etwas von ihrem Zorn weg reiben. Papa schuldbewusst und sich wortreich verteidigend, während er seine Brille auf den Nachttisch legt und sich seine übermüdeten Augen reibt, ein deutliches Zeichen seiner vielen Überstunden, die mir die Möglichkeit geben sollen, alle nur erdenklichen Ärzte aufzusuchen. Aber das Ergebnis ist doch immer das gleiche:
„Im Moment können wir nicht viel machen und die Wiederherstellungschancen sind nicht sehr groß!“ Und immer der gleiche Wortlaut von Mutters Anklage an meinen Vater. „Wenn du doch….“ Ja, heute wüsste ich ein wunderbares Beispiel für die Englischstunde, als wir das Sprichwort: „If wishes were horses, beggars would ride“ * deuten sollten, nämlich mich!
*Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.
Wenn er mich damals rechtzeitig von der Schule abgeholt hätte, wäre es nicht passiert. Wenn er nicht soviel Ärger in der Firma gehabt hätte, wäre es ihm nicht drei Straßen weiter erst eingefallen, dass er mich nach meiner Musikstunde jeden Dienstag mitnimmt. Wenn ich keine Wartezeit gehabt hätte, wäre ich von dem betrunkenen Autofahrer nicht an die Wand geschleudert worden. Wenn, wenn, wenn...
Und heute habe beziehungsweise hatte ich meinen 13. Geburtstag! Auch mit der 13 kann es nicht mehr schlimmer kommen als es ist, wenn ich an ihre unheilverkündende Zahl glauben würde!
Mutter hatte meine halbe Klasse eingeladen. Unsere Wohnung ist viel zu klein für so viele Leute, und Mutters Bruder Max mit Tante Inge sind auch noch gekommen, um dem „armen Jungen“ zu gratulieren. Wie ich diese Besuche hasse! Ich würde nur Onkel Max einladen, der spricht wenigstens normal mit mir, sofern ihn Tante Inge überhaupt zu Wort kommen lässt.
Meine Klassenkameraden haben mit unnatürlich lauten Stimmen gesprochen und überall hingeschaut nur nicht auf meine gelähmten Beine, aber wenn sie sich unbeobachtet glaubten, verstohlene Blicke auf die bunte Decke geworfen, unter denen mein Schicksal schamhaft verborgen liegt und das Wort „querschnittgelähmt“ wird schon gar nicht in den Mund genommen, als wenn es ein unanständiger Ausdruck wäre.
Auch der Rollstuhl wird nur als mein „Fahrzeug“ oder höchstes noch als „Auto“ betitelt, als wenn man dadurch der Realität aus dem Wege gehen könnte.
Die Realität heißt, dass ich im Moment noch für drei Wochen von der Schule dispensiert bin und dann beginnen sowieso die großen Ferien. Wie es danach weiter gehen soll, das weiß der Himmel.
Am Rande habe ich mitbekommen, dass meine Eltern diesmal einen Arzt in Amerika im Visier haben, aber was soll schon anderes herauskommen, als hohe Kosten und eine zerquetschte Hoffnung mehr. Im Moment ist der „Wunderdoktor“ aber nicht greifbar, sondern auf Vortragsreise. Was soll's!
Ich bin doch aufgedrehter, als ich gedacht habe. An Schlaf will mein Kopf und somit mein Körper offensichtlich noch nicht denken. Also lass' ich meinen Gedanken freien Lauf.
Das war eine Tortur am Nachmittag! Das Lächeln in meinem Gesicht ist mir mit der Zeit eingefroren und ich war mehr als froh, als meine neuen Kameraden abgezogen sind. Da wir erst zwei Monate in dieser Stadt wohnen, habe ich noch keinen richtigen Freund gefunden. Es ist nicht ganz leicht, in eine gewachsene Klassengemeinschaft hinein geschmissen zu werden und darin Wurzeln zu schlagen. Obwohl es mir wirklich keine Schwierigkeiten macht, auf Leute zu zugehen und Kontakte zu knüpfen. Da ich ein sehr guter Fußballer bin, ha, ha war!, hätten sich die ersten Fäden bald knüpfen lassen. Auch vorbei!
Schön wurde es erst, als wir allein waren. Der Rest der Familie saß auf dem Balkon und beklagte wahrscheinlich wieder mal ausgiebig mein Schicksal! Onkel Max und ich, wir hatten die ganze Küche für uns. Ich glaube, auch Onkel Max genoss es sehr dem „Dauerbeschuss“ von Tante Inge zu entgehen. Friedlich und hochkonzentriert saßen wir über den Bauplan gebeugt und versuchten mein Geburtstagsgeschenk zusammen zustecken und zu schrauben. Eine Gabe, die natürlich in Tante Inges Auge unpassend – wahrscheinlich aber nur zu teuer – gewesen ist. Onkel Max hatte mir einen kleinen Roboter geschenkt, der sich fernsteuern ließ.
Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich meine „toten“ Beine total vergaß und mich, ja man könnte es fast so nennen, glücklich fühlte. Das Abendessen war eine unwillkommene Störung. Aber meine Mama hatte wirklich keine Anstrengung gescheut, mir gleich zwei meiner Lieblingsgerichte zu servieren. Da konnte ich sie unmöglich enttäuschen.
Aber auch das brachten wir - Onkel Max und ich - elegant hinter uns und konnten uns dann endlich der Endphase widmen. Knapp vor 22 Uhr war unser „Werk“ vollendet. Mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit betrachtete ich den kleinen Mann, der aus all den vorgefertigten Teilen entstanden war. Ich ließ ihn hin und her gehen, kleine Gegenstände aufheben, sich verbeugen, hinsetzen und rückwärts laufen. Morgen wollte ich dann in den Anweisungen nachsehen, ob sich noch mehr Dinge mit ihm machen ließen. Onkel Max betrachtete zufrieden lächelnd meine hochroten Backen und meinte:
„Jetzt musst du ihm noch einen schönen passenden Namen geben.“ Ohne lange zu überlegen wusste ich: „Er heißt: Robby!“
Jetzt saß Robby auf der halbhohen Kommode und ich konnte ihn bequem vom Bett aus sehen, denn der Orientierungsleuchtpunkt war direkt neben ihm. Stolz lächelte ich ihn an: „Hallo, Robby!“
„Hallo, Julian!“ Und er blinzelte mich vergnügt mit glitzernden Augen an.
Wie bitte!? Ach, ich war wohl eingenickt und hatte zu träumen angefangen. Ich stützte mich auf meine Ellenbogen und drückte meinen Oberkörper nach oben, um mir zu beweisen, dass ich nicht schlief.
„Auch ich wünsche dir alles erdenklich Gute zu deinem Geburtstag. Verliere nie die Hoffnung! Vielleicht wartet das Glück schon an der nächsten Ecke auf dich. Ich glaube, du musst erst lernen, dass es verschiedene Arten von Glück gibt. Gesundheit macht das Leben in vielen Bereichen einfacher, aber nicht unbedingt glücklicher.“
Ich starrte Robby an. War ich plötzlich übergeschnappt oder hatte ich Halluzinationen? Wahnvorstellungen? Sprach der kleine Roboter wirklich mit mir?
Wahrscheinlich machte ich ein ziemlich dummes Gesicht, denn Robby lachte laut auf:
„Wenn du willst, kannst du dich mit mir unterhalten, dann ist es dir nicht mehr so langweilig und deine Gedanken kreisen nicht andauernd um deine gelähmten Beine.“
„Du hast leicht reden, du kannst laufen“, fuhr ich ihn zornig an und fand es gar nicht mehr so komisch mit ihm zu reden, da ich so wütend über seine Bemerkungen war.
„Irrtum, Julian! Du bestehst aus Geist und Körper. Deine Beine können im Moment nicht so arbeiten wie du möchtest, aber dein Geist ist frei, ihm sind keinerlei Schranken gesetzt, solange du deine Bodenhaftung nicht verlierst und deine Gedankenwelt nicht über die Realität stellst. Nicht alle Buben in deinem Alter haben das Glück über einen schöpferischen Geist zu verfügen. Denke doch an den armen Anton, der drei Häuser weiter wohnt. Sein Körper zählt schon 16 Jahre, aber sein Geist ist nicht entwickelter als bei einem Kindergartenkind.“ Ich musste mir eingestehen, dass Robby recht hatte.
„Ich gebe ja zu, dass mein Schicksal im Vergleich zu Anton vielleicht etwas leichter zu ertragen ist, aber – und jetzt fiel mir ein schwerwiegendes Argument ein – er selbst bekommt davon ja gar nichts mit, also kann er auch nicht darunter leiden“, schloss ich triumphierend. „Ja meinst du denn ein Kindergartenkind – um bei dem Vergleich zu bleiben – kennt keine Ängste und Nöte, ist immer nur gut drauf“, konterte Robby.
„Brich aus deiner Gedankenmühle aus, die sich immer und andauernd nur egoistisch, jawohl, ich sage egoistisch um deine Beine dreht, setz' deinen Geist ein, gib ihm andere Gelegenheiten deinen Körper zu vergessen, beschäftige deine Vorstellungskraft. Denke daran, es sind ihr wenig Grenzen gesetzt. Sie kann alles, was du willst, aber das darf nicht so weit gehen, dass du machst, was sie will.“
„Alles? Auch laufen?“, lachte ich bitter auf. „Natürlich“, bestätigte Robby ernsthaft.
„Und wie soll das ,bitte, gehen?“, fuhr ich ihn nicht gerade höflich an.
„Ganz einfach, du schaust mir ohne mit den Augenlidern zu zucken in die Augen und sagst mir, wo du hin möchtest.“
„Mindestens auf ein Schloss, drunter tu ich's nicht“, kicherte ich belustigt. Es war mir, als würde ich eingesaugt werden...
*****
und stand neben einer dicken Eiche. In weiterer Entfernung konnte man ein Schloss auf einer Anhöhe sehen, aber nicht genau erkennen, da es ziemlich neblig war. Dahinter schienen Felsen zu sein. Direkt vor uns lag eine etwa 20 Meter lange, schmale Brücke mit einem recht robusten Geländer, die über morastigen Grund führte. Robby und ich, wir standen auf festem Boden, aber jenseits des Weges konnte man auf ein Moor sehen.
Als wir Hufschläge hörten, schob mich Robby hinter die Eiche. Woher ich wusste, dass wir für die anderen sowieso weder sicht- noch hörbar waren, kann ich nicht sagen. Ich wusste es einfach!
Ein Reiter kam auf die Brücke zu, bog vor der Brücke ab, ritt direkt an unserer Eiche vorbei und in das dahinter liegende Unterholz hinein. Kurze Zeit darauf kam er zu Fuß zurück und stellte sich hinter den nächsten Eichenbaum, der noch dicker zu sein schien als unserer.
Wir konnten den Mann nun aus allernächster Nähe beobachten. Er hatte eine durchtrainierte, mittelgroße Figur und trug einen abgewetzten, aber sauberen braunen Reitanzug und ebensolche Stiefel. Unter seiner Reitkappe sah man schwarze Haare hervorschauen, die einen seltsam bläulichen Schimmer hatten. Sein markantes Gesicht war im Moment grimmig dreinblickend, seine Lippen missbilligend zusammen gepresst. Ich schätzte ihn auf etwa 40 Jahre. In der rechten Hand hielt er einen Dolch, in der linken Hand ein aufgerolltes Seil.
Von der anderen Seite des Stegs hörte man ebenfalls Pferdegetrappel, das aber abrupt aufhörte. Kurz darauf erschien ein schlanker, blonder, hochgewachsener Mann, der eine schwarze Dienerlivree trug. Er kam zu Fuß. Offensichtlich hatte er ebenfalls sein Pferd versteckt. Auch er schien um die 40 zu sein. Auf dem einen Arm saß ein großen Vogel, der ein Käppchen auf hatte, am anderen hatte er einen Lederriemen ähnlich einem Lasso gewickelt. Er postierte sich am Ende der kleinen Brücke hinter zwei dicht nebeneinander wachsenden Büschen und war somit unseren Blicken entzogen. Seinen Gesichtsausdruck hatte ich nicht erkennen können, da er auf die andere Seite geschaut hatte.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Wieder hörte man an den Hufschlägen, dass sich noch ein Reiter von der anderen Richtung näherte. Es handelte sich um einen Jungen meines Alters, der einen schmucken blauen, bestickten Reitanzug trug und auf Hochglanz polierte Reitstiefel. Seine langen blonden Haare waren unbedeckt und wehten im Wind. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Man konnte ahnen, dass er den Ritt sehr genoss.
Kurz vor dem Steg zügelte er sein offensichtlich temperamentvolles Pferd und ließ es im Schritt gehen. Als beide die kleine Brücke fast passiert hatten, sprang der Mann mit dem Vogel, der nun keine Kappe mehr trug, hinter den Büschen hervor und schleuderte den Vogel mit voller Kraft dem Pferd entgegen. Der Vogel schwang sich kreischend in die Lüfte, das Pferd scheute, stieg hoch, drehte sich auf den Hinterhufen, konnte aber auf den Seiten des Stegs wegen des Geländers nicht ausbrechen.
Der Junge musste ein fabelhafter Reiter sein, denn er hatte sein Pferd schnell wieder unter Kontrolle. Natürlich achtete er während des Manövers im Sattel zu bleiben nicht auf seine Umgebung. Der livrierte Mann warf ihm gekonnt eine Lederschlinge über den Kopf, die weiter über seine Oberarme rutschte und riss dann mit einem brutalen Ruck den Jungen, der mit den Stiefeln aus den Steigbügeln gerutscht war, vom Pferd, das wild davon galoppierte.
Der Junge war mit einem heftigen Aufprall auf den Holzbohlen des Stegs aufgeschlagen und rührte sich nicht. Das nützte der Livrierte aus und schlang ihm rasch den Riemen auch um die Füße, so dass der Junge gefesselt war, bevor er wieder ganz zu sich kam.
Robby und ich, wir waren näher geschlichen und sahen, dass der Knabe die Augen jetzt öffnete und den Livrierten voller Hass anstarrte. Dieser beugte sich über den Gefesselten, um ihn hoch zu heben und spottete:
„Elende Ratten ersäuft man und das werde ich jetzt mit dir machen. Du hast meinen Herrn bei deinem Großvater verpfeifen wollen. Gott sei Dank, hat dir der alte Narr deine Geschichte nicht geglaubt. Ha, ha, jetzt läuft alles wie geplant. Gleich bist auch du aus dem Weg geräumt, was wir eigentlich erst später vorgehabt hätten. Aber so kannst du uns nichts mehr verpatzen. Bald ist mein Herr alleiniger Besitzer von Schloss Rabenstein und allem was dazu gehört. Dass ich nicht vergesse: Ich soll dir einen letzten Gruß von deinem dich liebenden Großcousin bestellen und du sollst dir viel Zeit beim Ersaufen im Moor lassen. Du kannst es ausgiebig genießen!“
„Wenn das so ein Genuss ist, dann wollen wir dir ihn nicht vorenthalten, du schleimiger Wurm!“, sprach ganz ruhig eine Stimme hinter ihm. Mit leisen schnellen Sätzen war der Mann, der hinter der Eiche versteckt gewesen war, auf dem Steg hinter dem Livrierten aufgetaucht und trat dem über seinen Gefangenen gebeugten in die Kniekehlen.
Der Livrierte verlor die Balance, stürzte quer über den gefesselten Jungen und musste sich, um nicht mit dem Gesicht auf den Steg zu knallen mit den Händen abstützen. Das gab dem Retter genügend Zeit, dem Livrierten die Beine zu fesseln und ihm einen solchen Fußtritt zu versetzen, dass er von dem Jungen flog, der mit zwei gezielten Schnitten schnell befreit war.
Der nun vor ihnen Liegende hatte sich auf den Rücken gedreht und starrte die beiden vor ihm Stehenden sprachlos vor Entsetzen an. Er versuchte zu reden, aber seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen, sein Gestammel war
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Tag der Veröffentlichung: 25.11.2016 Alle Rechte vorbehalten Widmung:Impressum
ISBN: 978-3-7396-8489-5
Dieses Buch soll besonders kranken Kindern Mut machen, sie unterhalten und so fesseln, dass sie ihre Sorgen, Schmerzen und Ängste vorübergehend vergessen können. Natürlich sollen auch gesunde Kinder ihren Spass daran haben.