SCHEINWELT
-Anthologie des Geldes -
4. Anthologie
der
WORTFINDER
Mitwirkende
Texte:
Silvia Steinmann (Hrg.)
Karl-Heinz Schulze
Lisa Lux
Renate Frese
Rose-Mary Hein
Robin Li
Claudia Schasiepen
Arno Nym
Gabi Röhr
Lektorat & Korrektorat:
Monika Schoppenhorst
Umschlaggestaltung:
Dana Müller
Mit freundlicher Unterstützung des Quartiersmanagements Auguste-Viktoria-Allee,
Graf-Haeseler-Straße 17, 13403 Berlin und den Förderern.
Urheberrechtlich geschütztes Material.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Rechte der einzelnen Texte liegen beim jeweiligen Autor beziehungsweise der jeweiligen Autorin.
Der kleine Unterschied ist gar keiner
Seien Sie gegrüßt, liebe Leserinnen und Leser. Bestimmt kennen Sie mich, denn mein Leben hat schon oft in Ihrer Hand gelegen.
Aber vielleicht kennen Sie mich nicht so gut, wie Sie glauben. Nehmen Sie nur mein Äußeres als Beispiel:
2014 bekam ich das strahlende Outfit, in dem Sie mich heutzutage erleben. Wenn Sie ein älteres Geschwisterchen von mir treffen und mit einem jüngeren vergleichen, werden Sie es sehen.
Einen großen Unterschied macht das allerdings nicht, denn egal, wie alt wir sind, wie wir aussehen oder was uns zugestoßen ist, wir haben alle denselben Wert.
Karl-Heinz Schulze
Vorwort
Zehn Euro. Ach ja – dieses rotweiße, doppelseitig bedruckte und nummerierte Stück Spezialpapier – eine Illusion – ein Schein. Das Papier scheint einen Wert zu haben. Die meisten Menschen glauben daran, vertrauen darauf, was die Zahl ihnen sagt. Wirtschaft und die Politik unterstützen sie dabei.
Und weil das so ist, funktioniert das Ganze. Nimmt ihn der eine vom anderen. Genauso, wie es im alten Volkslied »Taler, Taler du musst wandern« zutreffend beschrieben wird.
Zehn Euro sind für manche nicht viel. Wenn man nix hat, dann ist es umso mehr. Dabei erlebt so ein Stück bedrucktes Spezialpapier die tollsten Dinge, falls es überhaupt etwas erlebt. Es kann ausgegeben, verschenkt, zerrissen, verloren werden. Man kann es einem Straßenmusiker geben und in eine »Geldnote« verwandeln. Eine Frau könnte ihn, zusammen womöglich mit einigen anderen, »größeren«, so wie man es aus Filmen kennt, süffisant im Ausschnitt zwischen ihren Brüsten verschwinden lassen. Es ist auch möglich, dass sich ein Bösewicht, um andere zu provozieren, damit eine Zigarette ansteckt. Der Schein könnte Teil eines Lösegeldes, in Form von kleinen, gebrauchten Scheinen sein und einem entführten, unschuldigen Kind das Leben retten oder sogar in einer dubiosen Sammelbüchse landen. Das alles und noch unendlich viel mehr kann passieren – muss aber nicht.
Wenn niemand etwas mit ihm anstellt und ihn einfach links liegen lässt, dann passiert gar nix.
Ich hab mal so `nen Schein besessen,
in einem geliehenen Buch als Lesezeichen benutzt,
und schlicht vergessen.
Gabi Röhr
Von der einen Hand zur andern
Ein unbeschriebenes Blatt war ich damals, als ich an die Druckerei geliefert wurde, um – ohne es mir ausgesucht zu haben – etwas Besonderes aus mir zu machen, etwas Wertvolles. Davor war ich nur ein weißes Stück Papier – immerhin von bester Qualität, aber bis auf Wasserzeichen und ins Papier eingebetteten Fäden nackt und leer. Ich war eines von vielen.
Wir waren noch alle zusammen auf dem großen Bogen, bis wir nach dem sorgsamen und mit unzähligen Arbeitsschritten versehenen Druck und diversen Veredelungen getrennt in viele kleine Scheine aufgeteilt wurden. Geldscheine. Allein die ganzen Sicherheitsmerkmale, mit denen sie uns ausgestattet haben, machten die Produktion unfassbar aufwändig. Jeder von uns ist ein Unikat und so gesehen ein Kunstwerk für sich.
Wir wurden gebündelt, eingeschweißt, verpackt und unser Karton sicher versiegelt.
Ich bin ein 10-Euroschein mit eigener Seriennummer geworden: PA8943438275. Das ist quasi mein Name.
Das auf meiner Vorderseite abgebildete Tor symbolisiert den Geist der Offenheit und der Zusammenarbeit, die auf meiner Rückseite abgebildete Brücke die Verbundenheit zwischen den Völkern Europas und zwischen Europa und der übrigen Welt.
Symbolträchtig bin ich also. Und etwas wert. Meine Produktion hat nur acht bis zehn Cent gekostet, aber trotzdem habe ich die Ehre, 10 Euro zu repräsentieren. Faszinierend!
Gut, mein Wert hätte höher sein können. Ich habe kürzlich neben mehreren 500-Euro-Scheinen gelegen. Die sind selten und werden heute gar nicht mehr produziert! Das war einschüchternd.
Aber sie kamen mir auch ein bisschen arrogant vor, und ich bin froh, so ein bodenständiger Zeitgenosse zu sein.
Ich bin der Zehner in Ihrem Portemonnaie, den Sie unbedacht herauskramen, um hastig und dankbar den Taxifahrer zu bezahlen.
Sie zahlen Ihren Coffee to go mit mir, weil Sie kein Kleingeld dabei haben. Und Sie bekommen sogar eine Menge Wechselgeld wieder.
Mit einem verschmitzten Lächeln lassen Sie mich in der Hand Ihres Enkelkindes verschwinden, wenn es mit einer guten Note nach Hause kommt.
Gerade werde ich von Fingern zweier Hände abgetastet. Ja, mit etwas Übung kann man meinen Wert ertasten. Die Frau hat kein Augenlicht. Ihre Finger streichen zart, sanft über meine Oberfläche und wirken beruhigend. Ich freue mich, als sie mich zurücksteckt, um ihren Einkauf mit einem anderen Schein zu bezahlen. Ich bleibe gerne noch ein bisschen bei ihr. Ich glaube, ich habe mich in ihre Finger verliebt und hoffe, sie werden mich noch häufig berühren.
Sie verlässt das Geschäft und hält inne. Jemand spielt Saxophon. Sie scheint der Musik zu lauschen, greift Minuten später bedächtig nach mir, zieht mich aus dem Portemonnaie und legt mich in den Hut, der vor dem Straßenmusiker liegt.
Weiß sie eigentlich, wie viel sie ihm da gegeben hat? Vielleicht wollte sie nur einen Fünfer erwischen. Sie bleibt noch und hört zu, bis das Lied zu Ende ist und die letzten Töne verklingen. Gerade wendet sie sich zum Gehen, als der Saxophonspieler mich genauer in Augenschein nimmt und sie anspricht: »Entschuldigung, warten Sie!«
Lächelnd wendet sie sich ihm zu.
»Das kann ich nicht annehmen. Ich glaube, so viel Geld wollten Sie mir gar nicht zuteilwerden lassen.«
Sie fragt: »Wie viel habe ich Ihnen denn gegeben?«
»Zehn Euro«, antwortet er. »So viel bekomme ich manchmal nicht an einem Tag.«
»Zehn Euro?« Ihr Lächeln erscheint immer zauberhafter. »Genauso viel wollte ich Ihnen geben. Wissen Sie, Ihre Musik hat mich gerade sehr glücklich gemacht und das ist es mir wert.«
»Nein, nein, wirklich«, windet er sich und hält mich in ihre Richtung.
»Ist schon gut«, sagt sie und will abermals gehen. Er hält sie sanft auf und sagt: »Ok, Madame, ich habe verstanden. Aber, hören Sie …«
Er zögert. »Wie wäre es, wenn ich Sie als Revanche auf einen Kaffee einlade?«
»Madame?«, wiederholt sie ein bisschen schnippisch und überlegt.
Ich liege immer noch in seiner in ihre Richtung ausgestreckten Hand.
Schließlich sagt sie: »Ja. Warum eigentlich nicht?«
Rose-Mary Hein
Monsieur Hugo
Seit einiger Zeit befinde ich mich in dem zerbeulten Hut eines Straßenmusikers. Anfangs fand ich das aufregend und spannend, aber langsam reicht es mir. Immer wieder wirft jemand kleine und größere Münzen in diesen Hut. Regelrecht erdrückt fühle ich mich und fürchte um mein Aussehen. Gut, ich bin nicht mehr der Jüngste und wurde häufig weitergereicht.
Das ist auch gut so. Inzwischen verfüge ich über sehr viel Lebenserfahrung und könnte ein Buch über mein abenteuerliches Dasein schreiben. Allerdings fühle ich mich in einem Hut so gar nicht wohl. In jungen Jahren wurde ich schon einmal in so eine bescheuerte Kopfbedeckung geworfen und abends regelrecht gefoltert. Ja, richtig gefoltert wurde ich.
Wer seinen Schein am häufigsten zusammenfalten kann, gewinnt den des anderen, so lautete die Wette. Eine bekloppte Wette. Jedenfalls war das der schrecklichste Moment in meinem Leben. Mein Besitzer kniffte mich mal rechts herum, mal links herum und alles war umsonst. Er verlor die Wette und musste mich an den Gewinner abgeben. Mir wurde erst richtig übel, als ich meinen Leidensgenossen sah. Zerknittert und gepresst lag er zitternd auf der Tischplatte. Diesen Anblick werde ich nie vergessen.
Heute allerdings scheint wieder Bewegung in mein Dasein zu kommen.
»Ah, schaut mal, da kommt Monsieur Hugo«, höre ich den Musiker rufen und unweit von ihm erwidert jemand:
»Ja, den hatte ich schon vermisst, man munkelt, dass er wieder im Knast war.«
Fast zeitgleich steht eine mittelgroße Gestalt vor dem Hut und ruft in die Menge: »Ja, so ist es, Jungs. Ich war drei Monate im Bunker, aber jetzt bin ich wieder für euch da.« Dabei ertönt sein grölendes Lachen, in das die anderen begeistert einstimmen. Plötzlich wird er von vielen Personen umringt.
Jeder klopft ihm begeistert auf die Schultern und mir wird dabei angst und bange. Mehrmals wird der Hut, in dem ich mich befinde, unsanft gestoßen und ich befürchte, jeden Moment herauskatapultiert zu werden. Zum Glück endet dieses Begrüßungsspektakel so abrupt, wie es begonnen hat. Monsieur Hugo schnappt sich den Hut, greift hinein und zieht mich lachend unter den Münzen hervor.
»Wir tauschen«, sagt er zu dem Musiker. »Ich nehme den Zehner und pack dir dafür den Zwanziger rein. Mehr geht momentan nicht, ich muss
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Silvia Steinmann, Karl-Heinz Schulze, Lisa Lux, Renate Frese, Rose-Mary Hein, Robin Li, Claudia Schasiepen, Arno Nym, Gabi Röhr
Bildmaterialien: Dana Müller www.dana-art-studio.jimdofree.com, Pixabay, Silvia Steinmann, Rose-Mary Hein, R. Schwartz
Cover: Dana Müller, www.dana-art-studio.jimdofree.com
Lektorat: Monika Schoppenhorst
Korrektorat: Monika Schoppenhorst
Satz: Regine Schwartz
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9094-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet allen Lesern, die Freude daran haben.