Robin Li
Kurzweilgeschichten
*
Mit Illustrationen von
Martin ‚Lhugion‘ Oder
Hinweise
Die Handlung und die Personen in dieser Kurzgeschichtensammlung sind weitgehend frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebensechten Personen lassen sich gelegentlich nicht vermeiden.
Urheberrechtlich geschütztes Material
Leben
Story 1 - Therapie
Angst saß mir im Nacken. Gnadenlos schlug sie ihre Klauen in mein Fleisch. Mir reichte es. Entschlossen pflückte ich mir das Vieh vom Hals.
»Angst, also ehrlich! Was für ein blöder Name für eine Katze!«, schrie ich laut, damit Lex mich auch in der Küche hören konnte. Ein süffisantes Grinsen im Gesicht kehrte er mit zwei Bierflaschen zurück. Behutsam stellte er sie auf dem wackeligen Couchtisch ab und verscheuchte Angst, die sich begeistert auf ihn stürzen wollte.
»Die hatte noch Glück. Ihre Geschwister heißen Agrizoophobie, Doraphobie, und Zwangsstörung.«
»Echt jetzt?«
Lex nickte. »Die Katze ist von Lina. Therapie hat Babys bekommen und sie wusste nicht, wohin damit.«
»Therapie?«
Lex seufzte. »Linas Mutter hat sie immer genervt, sie bräuchte dringend eine Therapie. Also …«
»… hat sie sich ‘ne Katze angeschafft und sie Therapie genannt?«, rief ich entsetzt.
Angst floh panisch unter das Sofa.
Lex nickte. »Neulich ruft also ihre Mutter an. Lina geht ran und erzählt ihr, sie hätte jetzt Phobien und litte wahnsinnig unter dieser Zwangsstörung, aber immerhin sei sie die furchtbare Angst losgeworden.«
Ich betrachtete zwei kleine Knopfaugen, die erschrocken unter dem Sofa hervorlugten. »Na, so furchtbar ist sie auch wieder nicht.«
Zwei Flaschen später schnurrte sie auf meinem Schoß.
Auf dem Weg zu meiner Tochter dachte ich darüber nach, was für absurde Namen die Leute sich doch manchmal einfallen ließen. Wenn ich Freude-Marie davon erzählte, die würde sich bestimmt kugeln vor Lachen.
Story 2 - Uniform
Während ich den letzten Schluck Bier hinunterkippe, studiere ich nachdenklich unsere Uniformen. Sie gehören zur nächsten Generation. Die Ausstattung lässt trotzdem zu wünschen übrig. Und aus irgendeinem Grund, den mir bis heute niemand zufriedenstellen erklären konnte, sind sie gelb.
»Gelb! Ich meine, wer kommt den auf so etwas? Ausgerechnet für Sicherheitskräfte!«, beschwere ich mich, während der Bus uns unserem Ziel immer näher bringt.
Lex hört gar nicht zu. Er starrt gebannt auf ein haariges Etwas, einem Wookie nicht unähnlich, das verlegen an der Haltestange steht.
Seltsam, denke ich. Der stammt aus einer ganz anderen Welt, wenn nicht gar aus einem vollkommen anderen Universum. Und trotzdem fahren wir hier gemeinsam ganz friedlich mit dem Bus, während sich ein paar hundert Kilometer weiter noch immer Menschen gegenseitig erschießen.
»Wir sind da!«, unterbricht Lex meine trübsinnigen Grübeleien. Jetzt wird es ernst. Wir steigen aus, gemeinsam mit der schlechten Wookie-Imitation.
Für einen Augenblick verharren wir andächtig schweigend und betrachten das vor uns liegende Schauspiel.
»Oh fuck!«, flucht Lex mir aus der Seele. »Das ist ja ein echtes Monstrum!«
Ich nicke schwer beeindruckt. Das ist wohl so ziemlich die längste Schlange, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie reicht gut und gerne einmal um die Dortmunder Westfalenhalle. Beklommen verschmelzen Lex und ich mit dem Strom der Besucher. Immerhin: Wenn wir mit viel Glück und Durchhaltevermögen eines Tages den Eingang zur Comic Con erreichen, dann sind unsere alten Star-Trek-Uniformen vielleicht wieder modern.
Story 3 - K wie Kuchen
»Ich kann den Kuchen nicht finden«, informiert mich die neue Kollegin.
Das ist schlecht. Ich mag die neue Kollegin. Sie ist freundlich und lacht an den richtigen Stellen. Ich befürchte, verschollener Kuchen könnte das ändern und bringe mein Hirn auf Touren.
»Küche?«, rufe ich meiner Kollegin zu, die sich derzeit in der Küche befindet.
»Kühlschrank?«, lege ich nach, weil mir die Sinnlosigkeit meiner vorherigen Bemerkung plötzlich peinlich ist. Leider wird es dadurch nicht besser. Ich stehe auf und begebe mich mit hilfreichen Absichten in die Küche. Hier stelle ich zum dritten Mal in Folge fest, dass ich eben etwas total Idiotisches getan habe.
Aber dann fällt mir ein, wo der Kuchen sein könnte.
»Im Büro!«, rufe ich siegessicher.
Die Kollegin wirkt skeptisch, geht aber hin, um nachzusehen.
»Leider nicht«, lässt sie mich wissen.
Hmmm … dabei war ich mir relativ sicher. »Schau mal im Regal unter K wie Kuchen«, schreie ich. »Der Chef experimentiert mit einem neuen Ablagesystem.«
Kollegin stellt fest: »Ist nicht unter K.«
Verdammt!
»Steht unter T wie Torte.«
Story 4 – Schlüsselmomente
Es klingelt an der Tür.
Zur Mittagszeit?
Ich erwarte niemanden.
Das kann eigentlich nur der Paketbote sein.
»Waa?«, quakt es plötzlich direkt vor meinen Füßen. »Kind, geh von der Tür weg, das ist nur der Postbote«, ermahne ich meinen Sprössling.
»Wuff!«
»Hund! Hau ab, das ist nur der Postbote. Nun lasst mich doch wenigstens an die Tür, ihr beiden!«
Meine hektischen Ermahnungen fruchten nicht. Leon schubst den Köter beiseite und angelt beharrlich nach der Klinke. Ich beuge mich weit genug über das Knäuel, um den Summer zu erreichen. Gerade noch rechtzeitig, der Bote wollte schon aufgeben.
Ob ich ein Paket für einen Nachbarn entgegennehmen kann, fragt er. Natürlich kann ich. Für unsere Nachbarn würde ich fast alles tun. Wir kennen uns inzwischen recht gut, weil wir ständig Pakete austauschen müssen.
»Köter, komm sofort wieder rein!«, fauche ich das Tier an, das sich soeben seinen Weg in die Freiheit erschnüffelt und einen Zwischenstopp an der Hose des Boten einlegt.
»Lassen Sie ruhig, wir kennen uns ja schon«, beruhigt mich der Mann, der mir vage bekannt vorkommt. »Heute habe ich kein Futter für dich dabei, Kleiner.«
Ach ja. Daher kenne ich ihn. Es ist der arme Kerl, der sich alle paar Wochen mit den 30-Kilo-Paketen abschleppen darf. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Während ich zusehe, wie mein Hund liebevoll seinen Dickkopf getätschelt bekommt, schleicht sich das Kind an mir vorbei. Ich hebe den Ausreißer hoch und stelle ihn wieder in die Wohnung.
Die vierbeinige Plage namens Rufus setzt derweil neugierig seine Reise fort und erkundet die Treppe.
Mein Hundefutterlieferant kramt nach seinem Pad. Ich muss den Empfang quittieren. Derweil unterhalten wir uns über das lausige Wetter. Um mein Gewissen zu beruhigen, versichere ich ihm, dass er mein vollstes Mitgefühl besitzt. Im Gegenzug versichert er mir, dass ihm der Regen gar nichts ausmacht.
»Nein? Na, da haben Sie ja – Rufus! Rein mit dir, aber gleich! – Glück.«
»Ach was, ich …«
»Braver Hund.«
»… bin ja die meiste Zeit über im …«
»Beweg deinen Hintern hierher, Töle, aber zügig!«
»… Wagen.«
»Na, dann gehts – Leon! Ich hab gesagt, rein mit dir! Hopphopp! – ja noch.«
Ich unterschreibe, nachdem ich das Kind wieder einkassiert und auf seinen Platz verwiesen habe. Bis jetzt habe ich mich keinen Zentimeter aus der Wohnung bewegt. Bis jetzt. Ich höre dem Boten nicht mehr zu, weil ich endlich das blöde Vieh einfangen will. Mein Schlüssel liegt warm und sicher auf der Kommode. Was soll schon passieren?
Genau. Klack.
»Oh«, sagt der Bote.
»Mist!«
»Haben Sie keinen Schlüssel?«, fragt er.
»Doch, doch.« Ich zeige auf die Tür, hinter der der Junge gerade ein ohrenbetäubendes Kriegsgeheul anstimmt.
»Oh«, sagt der Bote.
»Äh, ja«, sage ich.
»Warten Sie, ich habe hier irgendwo eine alte Kreditkarte«, versichert mir mein zeitweiliger Leidensgefährte und kramt in seiner Brieftasche. »Das ist nett, aber ich fürchte, meine Wohnung nimmt nur Bares.« Er ist irritiert, sucht aber tapfer weiter.
»Wuff?«
»Ach, halt die Klappe.«
Irgendwann sieht der Bote ein, dass noch ein ganzer Berg an Arbeit auf ihn wartet.
Hilflos stochere ich mit seiner abgelaufenen Buchclubkarte im Türschlitz herum und rufe immer wieder: »Es ist alles gut, Mausi, Mami ist ja da.« Aber der Junge glaubt nur, was er sieht, und weint herzhaft weiter.
»Mein Mann wird mich retten. Nur noch zwanzig Minuten«, denke ich und setze meine Bemühungen eifrig fort.
»Soll ich es noch mal versuchen?«, fragt meine Lieblingsnachbarin, die mir bereits seit zehn Minuten mit aufmunternden Worten und immer neuen Ideen zur Seite steht. Wir haben bereits herausgefunden, dass sämtliche Fenster verschlossen sind.
»Na ja«, meint sie, »Wenigstens hat Rufus seinen Spaß.«
»Köter, komm sofort wieder her! Der Keller geht dich nichts an!«
Brav trottet das Untier an meine Seite und gibt mir schwanzwedelnd zu verstehen, dass er jetzt gerne wieder rein möchte.
Das Kind weint, der Hund nervt, die Nachbarin stochert und ich bewahre die Ruhe. Wir sind ein gutes Team.
Herwigs kommen nach Hause. »Hallo Ronja«, begrüße ich Mama Herwig. »Dein Paket ist da.«
Lieblingsnachbarin Bella erklärt ihnen die Situation. Herwigs kleine Tochter schenkt mir einen mitleidigen Blick, während Bellas Mann mit einem Werkzeugkoffer anrückt.
Einige Schraubendreher später bittet er mich um die Buchclubkarte. Die kleine Herwig sieht interessiert zu. Leon brüllt immer noch und ich flöte noch immer alle beruhigenden Worte, die mir einfallen, angereichert um die verzweifelte Bitte, er möge doch mal versuchen, die Türklinke zu erreichen.
Die kleine Herwig versteht nicht, warum sich alle so aufregen. Aber sie ist ein kluges Mädchen. Als ich ihr von Leons großem Interesse an Küchenmessern erzähle, nickt sie verständnisvoll und treibt Bellas Mann zur Arbeit an.
Die Schreie hinter der verräterischen Tür verstummen. Jetzt fange ich langsam an, mir Sorgen zu machen. Mein verzweifeltes Klopfen bleibt ohne Erfolg. Kein Lebenszeichen von meinem Sohn dringt aus der Wohnung. Nur unheilvolle Stille.
Mit prophetischer Miene und einem erschreckend dunklen Tonfall verkündet Tochter Herwig: »Jetzt hat er wohl die Messer gefunden.« Ich mustere sie nachdenklich und verlange dann panisch die Karte zurück. Irgendwie muss die verdammte Tür doch zu überzeugen sein!
Das Kind plärrt wieder. Gott sei Dank!
»Wir sollten vielleicht den Schlüsseldienst rufen«, schlägt Bellas Mann vor. Noch bevor ich dankend ablehnen kann, richtet er seine ganze Aufmerksamkeit auf die gläserne Haustür, hinter der sich ein dunkler Schatten abzeichnet.
»Oder ich gehe einfach rein«, sage ich, niemand außer mir hat das erlösende, sanfte Klacken des Schlosses gehört. Niemand bemerkt, dass ich bereits meinen kleinen Sohn im Arm halte und ihm tröstend über das Köpfchen streichle. Die ganze Nachbarsparty bestürmt meinen Mann, der soeben ahnungslos das Haus betritt. Es kostet mich einiges an Überzeugungskraft, sämtlichen Anwesenden klarzumachen, dass das Problem gelöst ist.
Ich habe den Eindruck, sie finden es schade. Die eingeschworene Gemeinschaft – bereit, allen Unbilden des Lebens in felsenfester Einigkeit die Stirn zu bieten – wird zerfallen. Auch ich finde das ein bisschen traurig. Um alle aufzumuntern, spendiere ich eine Runde Gummibärchen. Die kleine Herwig greift begeistert zu und turnt munter die Treppe hinauf. Sogar ihr sonst so zurückhaltender Vater nimmt eines, bevor er sich mit allen guten Wünschen für die Zukunft verabschiedet.
Ich drücke Bella ganz fest. Schließlich lasse ich sie schweren Herzens ihrer Wege ziehen und scheuche meine Familie samt Hund in die einladend erhellte Wohnung.
Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, atme ich auf.
»Was war denn los?«, fragt mein Mann, der in dem ganzen Durcheinander kein Wort verstanden hat.
»Leon hat gelernt, wie man eine Tür zumacht«, erkläre ich.
Stolz wie Oskar drückt er den Kleinen an die Brust. »Ach, er ist ja so ein großer Junge.«
Story 5 - Mama, wer ist eigentlich Gott?
»Mama, wer ist eigentlich Gott?«
»Was?« »Wer ist eigentlich Gott?«
»Wie … Ähm … Wie kommst du denn darauf?«
»Weil … Im Kindergarten singen wir ihm dauernd was vor. Was er alles Tolles gemacht hat und so. Aber ich weiß nicht, wer das ist, Mama. Ich hab ganz gut aufgepasst. Immer, wenn einer zur Tür reinkommt, denke ich, das ist er vielleicht. Aber die Frau Sommer sagt nie: Hallo, Gott! Immer nur: Hallo, Herr Schulz oder guten Morgen, Herr Pfarrer. Ist Gott vielleicht sein Vorname?«
»Nein, Schatz.«
»Schade. Mama? Hast du Gott mal getroffen?«
»Da bin – ich mir nicht sicher.«
»Kannst du dir keine Gesichter merken?«
»Äh … Doch, Schatz. Ich meine, nein, Schatz, das kann ich tatsächlich nicht besonders gut. Aber mit Gott ist das – kompliziert.«
»Verkleidet er sich gerne?«
»Vielleicht. Das ist eine schwierige Frage.«
Das Kind denkt nach und schüttelt energisch den Kopf. »Nein. Ist es nicht. Sie war ganz leicht. Ich musste mich überhaupt nicht anstrengen.«
»Nein, Schatz, ich meine, die Antwort ist schwierig.«
»Wieso, Mama?«
»Weil Gott kein Mensch ist. Glaube ich zumindest.«
Das Kind denkt nach. »Was ist er denn sonst, Mama? In dem Lied zum Mittagessen singen wir immer, dass er die Vögel füttert und uns das Essen bringt und so. Ich dachte, es wäre vielleicht der Hausmeister. Ist der Hausmeister kein Mensch, Mama?«
»Dein Papa ist Hausmeister, Schatz.«
»Ach ja. Stimmt. Aber wer ist denn nun Gott?«
Ich denke nach. »Wer bin ich, Liebling?« Das Kind ist verwirrt. »Mama.«
»Richtig, Liebling. Und was tue ich?«
Es zuckt mit den Schultern. »Alles.«
Eine Antwort, mit der man arbeiten kann. »Sehr gut. Wenn du älter bist, dann denkst du vielleicht anders darüber. Du wirst Probleme haben, die ich nicht für dich lösen kann.«
Das Kind bekommt Angst. »Mama!«
Ich streichle ihm über das Köpfchen. »Keine Sorge, Spätzchen. Später wirst du gar nicht mehr wollen, dass ich mich um alles kümmere. Zum Beispiel wirst du es nicht mehr mögen, wenn ich dein Zimmer aufräume.«
Das Kind denkt wieder nach. »Mama, du räumst doch mein Zimmer nie auf.«
»Ich meine nur, dass du später nicht mehr glauben wirst, dass ich dir immer helfen kann.«
»Was hat denn das mit Gott zu tun?«
»Manchmal wünschen sich Erwachsene eben, dass es da jemanden gibt, der sich um alles kümmert, was sie selbst nicht schaffen.«
»So wie du, Mama?«
»Ja. So wie ich. Aber große Leute brauchen eben eine größere Mama. Oder einen größeren Papa. Einen, der auch mit ganz großen Schwierigkeiten fertig wird.«
»Dann ist Gott also ein ganz großer Papa?«
»Vielleicht, Liebling. Vielleicht.«
Das Kind denkt wieder nach. »Der Herr Schulz, der ist ganz schön groß.«
»Nicht groß genug, fürchte ich.«
»Schade. Passt Gott denn noch durch die Tür, wenn er so groß ist?«
»Ja und nein. Gott ist so groß, dass er das ganze Universum braucht, um genug Platz zu haben.«
Das Kind ist beeindruckt. »Donnerwetter!« Es grübelt. »Aber Mama, dann haben wir ja gar keinen Platz mehr!«, begehrt es auf.
»Gut mitgedacht. Wenn Gott ein sehr, sehr großer Mensch wäre, dann wäre es für uns wirklich ziemlich eng. Aber er ist ja keiner. Oder besser gesagt, er ist alle gleichzeitig. Noch richtiger wäre es vielleicht, zu sagen: Gott ist alles, was es gibt.«
»Was? Ich etwa auch?«
»Das kann ich nur hoffen, mein Schatz.«
»Und was ist mit all den Vögeln, die Gott ununterbrochen füttert? Wenn die auch ein Teil von Gott sind, dann füttern die sich ja selbst. Und ich, also ich habe noch nie Essen gemacht. Da stimmt was nicht, Mama.«
Ich nicke. »Ich sagte ja, es ist kompliziert.«
Wir denken nach. Dann fällt mir etwas ein. »Der Kindergarten. Stell dir mal den Kindergarten vor.«
Das Kind nickt. »Okay, Mama.«
»Darin gibt es eine Menge Leute. Kinder, die liebe Frau Sommer, dich und den Pfarrer zum Beispiel.«
Es nickt noch eifriger »Ja. Und den Klaus und die Silke und die Susi …«
»Genau, sie gehören alle dazu. Aber du sagst nie: »Heute habe ich bei Frau Sommer und dem Herrn Pfarrer und der Susi und so weiter mit den neuen Autos gespielt.« Du sagst immer: »Heute habe ich im Kindergarten mit den neuen Autos gespielt.«
Die Kinderaugen leuchten. »Die sind toll, die Autos. Man kann die Türen aufmachen und hinten kann man was reinstecken und …«
»Ja, Schatz. Aber ich meine Folgendes: Alles zusammen ist der Kindergarten. Mit Gott ist das ganz genauso. Alles ist Gott.«
Wir denken nach.
»Aber wenn Gott alle Leute und so ist, dann ist es doch doof, sich dauernd bei ihm zu bedanken.«
»Ja. Stimmt. Aber es ist eben so, dass Gott noch viel, viel mehr ist, als nur alle Leute und so zusammen.«
»Was? Noch mehr?«
Ich nicke. »Ja.«
»Was denn?«
»Das weiß eigentlich niemand so genau. Manche Leute versuchen ihr ganzes Leben lang, dahinterzukommen.«
»Verstehe ich nicht. Frau Sommer weiß genau, wer Gott ist.«
»Viele Leute wissen es ganz genau. Allerdings wissen alle etwas anderes.«
Das Kind schaut mich ratlos an. »Das verstehe ich nicht«, gesteht es. Ich fasse mir ein Herz und verstricke mich in hoffnungslosen Erklärungsversuchen. »Wenn du einhundert Leute fragst, wer Gott ist oder was Gott ist, dann bekommst du einhundert verschiedene Antworten. Manche sagen sogar, es gibt ihn gar nicht. Sie glauben, dass die Welt auch ohne Gott ganz gut funktioniert.«
»Aber wer hat denn nun recht?«, fragt das Kind.
»Ich weiß nicht. Das fragst du ihn am besten selbst.«
Das Kleine regt sich auf. »Ja, wie denn, Mama? Hat er vielleicht ein Telefon?«
Ich denke nach. »Irgendwie schon. Mach mal die Augen ganz fest zu, okay?«
Das Kind schließt brav die Augen. »Und jetzt?«
»Jetzt stell dir vor, dass du Gott fragst, wer recht hat.«
»Okay«, sagt es und verhält sich ganz still. Nach einer Weile frage ich: »Und?«
»Ich weiß nicht, Mama«, antwortet das Kind unsicher. »Da lacht irgendwer die ganze Zeit.«
Story 6 - Apfel der Erkenntnis
Was ist der Sinn meines Lebens?
Was für ein saublöder Gedanke, so kurz nach dem Aufwachen. Aber Aufwachen selbst ist ja an sich schon blöd. Gemächlich wie die Evolution rolle ich mich aus dem Bett und torkele verschlafen in die Küche. Zum Glück laufe ich morgens auf Automatik. Da ist der Kaffee schon fertig, bevor mein Hirn sich in Schale geschmissen hat.
Der Sinn des Lebens? Ein schicker Film von Monty Python. Erstklassiger englischer Humor, geht es mir durch den Kopf, als ich den Rechner anwerfe und in meine Tasse puste, bis der rödelnde Rechner wenigstens so wach ist, wie ich es gerne wäre.
Internet. Meine fünfzehn Minuten Ferien, bevor der Tag sich dezent räuspert und nach Aufmerksamkeit verlangt.
Ich bereite das Frühstück für den kleinen Leon zu, der es wie üblich ignoriert. Ich fange ihn ein und liefere ihn bei seinen Vormittagswärtern ab. Die sollen schließlich auch ihren Spaß haben.
Einkaufen, nach Hause kommen, Kaffee! Abwasch, Kaffee, aufräumen, Wäsche machen –igitt! – Kaffee, Staubsaugen – nein, heute nicht! Ich will schreiben. Zwei Stunden später gebe ich den Versuch auf und mache mich auf den Weg, um den kleinen Piraten aus den Klauen seiner Spielgefährten zu befreien. Oder, wie mich die Kindergärtnerin geduldig aufklärt, auch umgekehrt.
Die Heimfahrt ist die Hölle. Manchmal glaube ich, der Sinn meiner Existenz besteht ausschließlich darin, den unternehmungslustigen Rüpel von seinen Selbstmordversuchen abzuhalten. Todesstürze aus dem Kinderwagen sind derzeit groß in Mode. Vielleicht gibt es dafür einen Wettbewerb, von dem mir keiner etwas gesagt hat.
Mittagsschlaf. Leider nicht für mich. Kochen. Mist! Der Sinn des Lebens? Der kann mich mal, der Sinn des Lebens. Soll er gefälligst sehen, dass er alleine klar kommt. Ich habe auch so schon genug um die Ohren! Die unfertige Bewerbung auf meinem Schreibtisch wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich danke es ihr, indem ich sie mit ein paar unbezahlten Rechnungen zudecke.
Der Kleine kräht pünktlich. Fünf Minuten vor drei.
Die Frage ist: Rausgehen auf den Spielplatz oder einfach nur mit Legosteinen abspeisen? Schwere Entscheidung. Oder nein, doch nicht. Es regnet.
Da sitzt er nun. Bei mir in der Küche, mit seiner Kuschelratte auf dem Schoß und einem leeren Eierkarton im Mund. Voll von kindlichem Enthusiasmus strampelt er sich in die Senkrechte und drückt die Ratte energisch gegen die Kühlschranktür. Das renitente Tier weigert sich, dort zu verharren. Wütend wischt er dem Magnet-Tiger das dumme Grinsen aus dem Gesicht. Er mag es gar nicht, wenn irgendwelche Viecher sich über ihn lustig machen.
Spontan strecken sich die kleinen Ärmchen seiner Mama entgegen. Ich nehme ihn sanft hoch und freue mich darüber, dass er mich braucht. Meine Versuche, ihm liebevoll übers Köpfchen zu streicheln, gehen daneben, weil der Kleine einen Korb mit Äpfeln erspäht hat und nun danach trachtet, ihn in Besitz zu nehmen.
»Pape?«, gluckst er. »Na schön«, sage ich, »du bekommst einen Apfel, wenn du versprichst, ihn nicht wieder hinter das Sofa zu werfen, einverstanden?«
»Pape?« Ich werte das als Zustimmung und gebe ihm den begehrten Apfel.
Das Leuchten in diesen dunklen Kinderaugen bricht mir zum hundertsten Mal das Herz.
Plötzlich bereue ich jede Minute, die ich nicht mit ihm verbracht habe. Jeden vergeudeten Augenblick, in dem mir alles Mögliche wichtiger erschienen war. Jede Sekunde, in der mich der Ärger über mich und die Welt davon abhält, einfach nur glücklich zu sein. Unbegreiflich.
Ich wische mir ein Tränchen der Rührung aus den Augen und sehe ihm nach, wie er auf seinen knubbeligen Beinchen herumflitzt und nach dem Hund ruft, der nachweislich kaum Freude an Äpfeln findet. Gemeinsam
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2019
ISBN: 978-3-7487-1107-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die je Bus oder Bahn verpasst haben, weil sie mit dem Lesen nicht aufhören konnten.