Heute Nacht werde ich wissen, was dieser Tag gebracht hat, dachte Ralf, der junge Architekt und rollte sorgfältig seine Zeichnungen zusammen, ehe er Feierabend machte an diesem Montag im Herbst 1989.
Es war der 9.Oktober und dieser Tag würde eine Entscheidung bringen, das spürte er instinktiv.
Langsam ging er die breiten Treppen in dem Volkseigenen Betrieb in Leipzig hinab und beobachtete unauffällig die Menschen um sich herum.
Sie wirkten heute anders als sonst, verschlossener, unruhiger, es schien, als traute keiner dem anderen. Hatte er eben richtig gehört? „Heute machen wir sie platt!“
Ein Blick in den Flur des Kombinats bestätigte seine Vermutung, die Kampfgruppen wurden zusammengezogen.
Was hatte da vor ein paar Tagen ein Kampfgruppenkommandeur in der Leipziger Volkszeitung geschrieben? „Werktätige des Bezirkes fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden. Wir sind bereit, das von uns Geschaffene zu schützen, um die konterrevolutionären Aktionen endgültig zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“
Mit der Waffe in der Hand – soweit sind sie also schon, dachte er, innerlich aufgewühlt und eilte dem Ausgang entgegen.
Kühle, feuchte Luft umfing ihn. Er schlug den Kragen hoch und lief vorbei an gepflegten Blumenrabatten bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.
Unterwegs sah er kleine Gruppen leise diskutierender Menschen stehen und vernahm im Vorübergehen Worte wie: „Die Kinder sollen bis fünfzehn Uhr aus den Kindergärten der Innenstadt abgeholt sein…, die Krankenhäuser sind bereit zur Aufnahme der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2018
ISBN: 978-3-7438-7990-4
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Widmung:
Er dachte an seinen Vater, der mit Leib und Seele Architekt geworden war. Er trug zwar die Verantwortung für mehr als zwanzig Mitarbeiter einer großen Projektierungsabteilung, aber es gab kaum Freizügigkeit für eigene Kreativität.
Wie oft hatte er ihm von den wunderschönen Burgen und Schlössern, die es am Rhein gab, erzählt mit den Worten: „Einmal möchte ich das alles sehen können, das Deutsche Eck in Koblenz, die Lorelei, ein einziges Mal die Kaiserpfalz in Goslar sehen, das wär das Größte.“
„Für dich, Vater, für mich – für unsere ganze Familie will ich kämpfen um die Freiheit, damit niemand mehr seine Träume mit ins Grab nehmen muß!“ kam es lautlos wie ein Schwur von seinen Lippen.