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Benjamin schlug die Decke über den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Er zog die schmalen Knie unter das Kinn und den Kopf an die Brust. Sie stritten. Mal wieder. Er hörte das dumpfe Schreien seines Stiefvaters in breitem Amerikanisch, die Worte vom Alkohol schwerfällig und langsam. Die Antwort seiner Mutter konnte er nicht verstehen, doch die Reaktion seines Vaters war nicht zu überhören. Das Klatschen, als er seiner Mutter ins Gesicht schlug, klang unglaublich laut an Benjamins Ohren und er kniff die Augen zusammen, bemüht das Bild los zu werden, das er vor Augen hatte: Seine Mutter lag auf dem Boden, Blut lief ihr von der Stirn, als sie sich zu ihm wandte und unter den Tisch schaute, unter dem sich der kleine junge versteckt hatte, weil seine Mutter es ihm befohlen hatte. Ihre Augen waren starr und verzweifelt, Tränen liefen über ihre geschwollenen Wangen. Benjamin wollte wegsehen, aber er konnte es nicht! Er konnte es auch jetzt nicht. Der Hass auf seinen Stiefvater, den er nach dessen Willen Vater nannte, wuchs mit jedem Streit, jedes böse Wort und jeden Schlag, den er gegen seine Mutter setzte. Doch die Angst war viel zu groß. Die verständliche Angst eines 8jährigen Jungen, der sich gegenüber diesem Riesen mit Bart und Bierbauch einfach nur machtlos und ausgeliefert fühlte. Oft genug hatte er am eigenen Leib die Stärke des Mannes spüren müssen und fürchtete sich so sehr davor, wieder von dem Ledergürtel getroffen zu werden, dass er sich in seinem Bett, das ihm vor wenigen Minuten noch so warm und heimisch, jetzt aber kalt und trostlos vorkam, zu einer kleinen Kugel zusammenrollte und hoffte, dass ihn nicht der Zorn seines Vaters treffen würde.Er fürchtete sich wie damals, als er heimlich ins Wohnzimmer geschlichen und um die Sessellehne gelugt hatte, als sein Vater einen seiner Horrer-Filme gesehen hatte. Er hatte unglaubliche Furcht gehabt, dass unter seinem Bett ebenso ein Mann mit einer Kettensäge lauerte und ihn aufschlitzen wollte, wie das Monster von Mensch es mit dem armen blonden Mädchen im Fernseher vorhatte. Deshalb traute er sich kaum zu atmen und holte tief Luft, als er keine Geräusche mehr von unten wahrnahm und schließlich sank er in einen unruhigen, aber traumlosen Schlaf.„Benjamin, Schatz. Wach auf.“ Die sanfte Stimme seiner Mutter weckte Benjamin. Er öffnete die Augen, widerstand dem Drang, sich auf die andere Seite zu drehen und sie zu ignorieren und schaute seiner Mutter schließlich ins Gesicht. Als seine Augen sich aber an das diffuse Licht gewöhnt hatten, das in seinem Zimmer herrschte, schreckte er zurück, setzte sich aufrecht hin und krabbelte panisch ans andere Ende seines Bettes. Was war nur mit seiner Mutter passiert?! Ihr linkes Auge war fast nicht zu erkennen, so sehr war es angeschwollen und ihre rechte Wange war rot und aufgeschürft. Über ihrer Nase war ein roter Strich, aus dem langsam Blut floss und über ihren Nasenrücken lief, an der Spitze allerdings hängen blieb und dort trocknete. Sie sah schlimm aus! So sehr hatte ER sie noch nie zugerichtet! Und wieder spürte Benjamin diese unbändige Wut, diesen lodernden Hass in sich aufsteigen. Aber er war machtlos. „Mama…“ hauchte er und kroch langsam wieder auf die Frau zu, die gar nicht aussah wie seine Mutter. Ihre dunklen Haare, sonst offen und leicht gewellt, wie seine, waren zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden, der aber nicht einmal halb dazu fähig war, ihre Haarpracht zusammen zu halten, sodass ihr viele Strähnen lose um das Gesicht hangen. Ihre sonst so wunderschönen, braunen Augen, die sie an Benjamin weitergegeben hatte, waren dumpf und leer. „Benjamin, Schatz. Steh auf!“ Ihre Stimme war nicht wie sonst, dunkel und fest, sondern zittrig, ja fast schon piepsig und ängstlich. Wieder eine Sache, die Benjamin so sehr irritierte, dass er einfach gehorchte und aufstand.Erst jetzt fiel sein Blick auf die beiden gepackten Koffer, die an der Wand standen und der feinsäuberlich auf dem Bett geordnete Kleiderstapel.„Zieh Dich schnell um!“ wisperte seine Mutter und machte sich daran, den Schrank zu öffnen und Dinge daraus hervor zu kramen. Wieder gehorchte Benjamin ohne nach zu denken und zog die bereitliegenden Kleidungsstücke an. Dabei fiel ihm auf, dass es draußen noch nicht einmal ganz hell war. Da es Sommer war, musste das also bedeuten, dass es noch fast nachts war. Ihm wurde bewusst, dass er sehr müde war, jetzt, da ihm klar wurde, dass er nur wenige Stunden geschlafen hatte und er sonst nicht so früh aufstehen musste. „Mama, was ist passiert?“ fragte er schließlich mit noch rauer Stimme vom Schlaf. „Wir gehen, mein Schatz.“ Ihre Stimme war warm, aber gleichzeitig hart und entschlossen. Eine Mischung, die Benjamin nie ganz verstanden hatte und die ihm zeitweise auch etwas Angst machte, aber es wirkte beruhigend auf ihn. Wenigstens etwas, das sich offensichtlich nicht verändert hatte!Als er fertig umgezogen war, nahm ihm seine Mutter den Schlafanzug aus der Hand und steckte ihn zusammengelegt in den kleinen Rucksack, in dem Benjamin sonst seine Schulbücher transportierte. Ehe er fragten konnte, wohin sie gehen würden, zog seine Mutter ihn zu sich heran, ging vor ihm in die Knie und nahm seine kleinen, warmen Hände in die Ihren. „Wir werden von hier verschwinden.“ „Aber, Mama..:“ unterbrach sie Benjamin, doch seine Mutter schnitt ihm mit einem strengen Blick das Wort ab. „Wir werden von hier verschwinden und nach Deutschland gehen. Dort finden wir eine neue Wohnung und sind endlich weg von deinem Stiefvater!“ Benjamin presste die Lippen zusammen und hielt den Atem an, als seine Mutter dieses verbotene Wort in den Mund nahm: „Stiefvater“! Niemand durfte das sagen, denn er hasste es, wenn man ihn nicht als Vater und Bestimmer ansah. Erst dann realisierte er die Bedeutung des eben Gesagten. „Wir gehen weg?“ Seine Mutter reagierte nicht ungeduldig, geschweige denn genervt. Sie lächelte so gut es ihre Blessuren im Gesicht und am Hals zuließen und nickte. „Ja, mein Schatz. Wir gehen weg.“ „Cool!“ rief Benjamin überglück und wollte anfangen, vor Freude durchs Zimmer, da zischte ihm seine Mutter zu:“Nein, sei leise! Er darf uns nicht hören!“ Der Kleine biss sich auf die Zunge, bis sie blutete, hoffend, dass er seine Worte zurücknehmen könnte, doch seine Mutter lauschte nur kurz und als das dröhnende Schnarchen aus dem Nebenzimmer ertönte, war er das erste Mal dankbar, dass sein Stiefvater eine Kettensäge verschluckt zu haben schien. „Gehen wir jetzt?“ flüsterte er übertrieben vorsichtig und seine Mutter stand lächelnd auf. „Ja, aber Du musst stark sein, Benjamin! In Deutschland ist das Leben nicht leichter, auch wenn Papa dann weg ist! Wir sind arm und werden hart arbeiten müssen.“ Benjamin schluckte. Er wusste nicht, was er von diesem fernen Land halten sollte, aus dem seine Mutter ursprünglich stammte. Sie hatte ihm auch Deutsch beigebracht, wider Willen des Vaters und nur sehr bruchstückhaft, doch es würde schon reichen, um sich dort zurechtzufinden.Hoffte er.Sie nahmen jeweils einen Koffer in die Hand und gingen die Treppe nach unten. So leise er konnte, tapste er seiner Mutter hinterher, darauf bedacht, mit dem wuchtigen Gepäckstück nirgends anzuschlagen und Lärm zu verursachen. Im Flur angekommen, schlüpften Beide in ihre Schuhe und gingen schließlich zum Auto.Auch wenn er etwas wehmütig auf das Haus im Rückspiegel zurückblickte, war er froh davon weg zukommen, denn er hatte es nie als Zuhause betrachten können. Die ständige Angst, die Wut und die Gewalt hatten es ihm unmöglich gemacht, sich hier wohl zu fühlen und während er sich auf dem Rücksitz herumdrehte und das alte, einstöckige Haus mit der gräulichen Holzvertäfelung und der absplitternden, blauen Farbe an den Fensterläden, ansah, wurde ihm bewusst, dass sich jetzt Alles ändern würde. 
Benjamin wusste: Jetzt begann ein neues Leben!

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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2014

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