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Kein Komodowaran für Jarik

Grüne Augen funkeln mich ausdruckslos an.

 

Ich starre zurück.

 

Der blinzelt nicht mal. Die Pupillen werden kleiner, bis es fast nur noch zwei schmale Schlitze sind.

 

Der Bastard plant etwas. Das weiß ich.

 

„Jarik? Jar-Jar? Ich warte seit zehn Minuten auf dich, was zum Teufel stellst du wieder…“

 

Ich höre es hinter mir entnervt stöhnen, gehe aber bewusst nicht weiter darauf ein. Wenn ich den Blickkontakt jetzt abbreche, habe ich verloren. Ich darf vor diesem gewitzten Schweinehund keine Schwäche zeigen.

 

„Wie lange willst du dir eigentlich noch diesen Bitchfight mit der Nachbarskatze liefern?“

 

Ich brumme. „Solange, bis er nicht mehr in unseren Vorgarten kackt.“

 

„Das ist `ne blöde Katze.“

 

„Das ist ein perfides Genie, ich schwöre es dir!“

 

Max verdreht in diesem Moment sicherlich die Augen. Ich kenne ihn zu gut. Er glaubt mir natürlich nicht. Pff, ja, bis wir eines Tages aufwachen und die Welt wird von Katzen beherrscht – dann heißt es wieder Oh, Jarik, es tut mir so leid! Du hattest die ganze Zeit recht! aber dann wäre es zu spät und wir alle müssen bis zu unserem Tode als Sklaven auf den Katzenminzefeldern arbeiten und…

 

„Herr Gott nochmal, jetzt lass diese scheiß Katze in Frieden und komm hoch. Wir müssen uns wegen des leeren WG-Zimmers besprechen.“

 

Seufzend gebe ich nach und beende das Starrduell. Moritz – so ruft die altersschwache Nachbarin dieses fellbehangene Stück Wahnsinn – blinzelt mir zweideutig zu und tapst gemächlich davon. Wahrscheinlich, um mit seinem Sieg anzugeben. Diese Schlacht hat er vielleicht gewonnen, aber der Krieg ist noch nicht vorbei!

 

Ich folge Max zurück in die WG im Erdgeschoss, die wir uns mit zwei anderen Studenten teilen. Martin und Andi sitzen in der Küche und schlürfen ein Bier, von dem ich hoffe, dass es nicht meine beiden letzten aus dem Kasten sind. Bei Bier hört die Freundschaft nämlich auf, Wohngemeinschaft hin oder her.

 

„Hast du wieder in den Mülltonnen gewühlt, Jarik?“, fragt Andi spaßhaft und nippt an der Flasche. Ja, das ist mein Bier. Frevelhaft.

 

„Nein“, erwidere ich gleichgültig, „Ich habe unsere Ehre verteidigt, während ihr mein Bier trinkt, ihr Geier.“

 

„Wir hatten gestern neues Bier gekauft“, erklärt Martin mit angefressenem Unterton, „Als du damit beschäftigt gewesen bist, aus Langeweile den Flur einzubuttern. Wäre das nicht gewesen, wäre das Bier noch ganz und wir würden unser eigenes trinken.“

 

Ah ja, stimmt. Na gut, ich hätte doch nicht ahnen können, dass das Zeug so super auf Parkett flutscht. Meine Fresse, ich habe noch Andis doofes Gesicht vor Augen, wie er mit dem Sixpack in der Hand ausrutscht und quasi in Zeitlupe vor mir auf die Nase fliegt. Das hättet ihr echt sehen müssen, erst so Aaahh und dann so Scheiiißeee und dann Bumm

 

„Im Übrigen tut mir immer noch der Steiß weh“, beschwert sich Andi.

 

Jesus, sind die hier alle nachtragend.

 

„Ich hab mich doch gestern schon entschuldigt.“

 

„Darum geht’s gerade nicht“, erinnert Max nun wieder, „Sondern darum, dass Martin nächsten Monat nach Kiel zieht und wir ein Zimmer frei haben werden.“

 

 

(Ah, sehr kreativer Plot, Fräulein Autorin. So innovativ und neu. Regelrecht einzigartig…)

 

[Ja, mein Gott, denk du dir erst mal eine vernünftige Storyhandlung aus, das ist echt kein Zuckerschlecken!]

 

(Mir kommen die Tränen.)

 

 

„Wollen wir daraus kein gemeinsames Wohnzimmer machen?“, schlägt Andi vor, „Das wäre doch ganz cool.“

 

Max schüttelt bestimmend mit dem Kopf. Er ist sowieso die WG-Mutti hier. Ständig am rummeckern und belehren, der hat irgendwelche Elternkomplexe, wenn ihr mich fragt. Dem schießt vor Freude Milch ein, wenn er in der Wohnung seine Regeln durchsetzen kann. „Ne, wir brauchen das Geld.“

 

„Also auch keine gemeinsame Folterkammer?“, frage ich ernüchtert.

 

„Klingt verlockend, aber nein.“

 

„Wir hätten so schön Shades-Of-Grey nachspielen können!“

 

Das Safe Word ist übrigens Tacco.

 

Max ignoriert mich anscheinend. Auch gut, dann muss ich mich an der Diskussion nicht weiter beteiligen. So viel Mitspracherecht habe ich ohnehin nicht – unfair, oder? Die anderen halten mich nicht für zurechnungsfähig oder sowas…

 

„Also müssen wir `ne Anzeige rausgeben“, fasst Andi es kurzerhand zusammen, „Und jemanden finden, der es mit uns aushält.“

 

„Vor allem mit mir“, seufze ich theatralisch, „Wir werden nie wieder jemanden wie Martin finden. Er ist stubenrein, kocht prima und hat sich gerade so toll an mich gewöhnt…“ Ich tätschle seine Wange und mache einen Schmollmund. Das ist schon echt schade. Ich werde Martin vermissen. Ab und an ist er zwar ein bisschen spießig und versnobt, aber das kann man ignorieren.

 

„Wie süß“, grinst Martin, „Ist das deine verdrehte Art und Weise mir zu sagen, dass du mich vermissen wirst, Scarface?“

 

Oh, wie gemein. Ich sehe nicht aus wie Al Pacino in diesem beschissenem Uraltfilm. Er hat ganz andere Gesichtszüge und viel dunklere Haare!

 

„Ich hab’s mir anders überlegt“, schnappe ich beleidigt, „Wir finden schon jemanden, der Martin ersetzen kann. Wird nicht so schwer sein.“

 

Alle lachen. Ich schmolle. Ja ja, solange alles auf meine Kosten geht, lachen sie, aber sobald ich mal ein Witzchen mache, bin ich wieder der Bösewicht!

 

„Gut“, lächelt Max schließlich, „Also sind wir uns einig. Ein neuer Mitbewohner muss her.“

 

„Uh, uh!“ Ich melde mich.

 

„Nein, kein Komodowaran, Jarik.“

 

„Ach, blöder Spießer.“

 

 

 

~~~**~~~

 

 

 

Okay, Max hat wirklich Probleme. So richtig. Und das sage ich, jemand, den man getrost auf das Cover einer Psychologiefachzeitschrift als Psycho des Jahres drucken könnte.

 

Der Typ, der da in Martins altem Zimmer steht und mit dem Rücken zu mir das leere Bücherregal mit etlichen Fantasybüchern zupackt, sieht nicht älter aus als zwölf. Na gut, vielleicht sogar schon sechzehn, aber Schnaps trinken darf der sicher noch nicht!

 

Da verreist man einmal übers Wochenende und aus deiner WG wird ein Kinderheim, kaum zu fassen!

 

„Max, wir müssen reden.“

 

Ich schnappe mir meinen überraschten besten Freund und schleife ihn in unser winzig kleines Bad. Wir stehen uns Brust an Brust gegenüber, bedingt durch den Platzmangel.

 

„Und? Wie findest du Nils?“

 

Nils heißt der Zwerg also, aha.

 

„Der hat doch noch seine Milchzähne“, erwidere ich lapidar und ernte einen missbilligenden Blick.

 

„Er ist neunzehn!“

 

„Sicher? Nicht, dass einer von uns ihn aus dem Hort abholen muss.“

 

„Jarik“, warnt Max mich genervt. Okay, gut, lassen wir das. Dann ist der Kleine halt neunzehn. Auch wenn ich es bezweifle!

 

„Schön, dann leb du deine Muttergefühle aus“, ich schaue unbeeindruckt, als er mir mahnend gegen den Oberarm knufft, „Aber ich bin dafür, dass wir eine neue Abstimmung machen. Ihr habt Nils ohne meine Zustimmung ausgewählt! Nicht mal bei der Vorstellungsrunde durfte ich dabei sein!“

 

„Weil du es nicht wolltest“, erinnert mich Max nonchalant, „Du hast gesagt, ich zitiere: Vorstellungsrunden sind scheißlangweilig, macht doch was ihr wollt. Und dann hast du nochmal geschmollt, weil ich dir den Waran verboten habe.“

 

Shit, das klingt schon nach mir. Ich wusste, irgendwann würde mir mein Desinteresse an meinem Umfeld noch ein Schnippchen schlagen.

 

„Ach, komm schon! Wenn wir Minderjährige…“

 

„Neunzehn!“

 

„…bei uns wohnen lassen, dann können wir all die tollen Erwachsenensachen nicht mehr machen!“

 

Max gluckst amüsiert. „Die wären?“

 

„Die Sexorgien zum Beispiel!“

 

„Du spinnst, Jarik.“ Max seufzt und schiebt sich ruhig an mir vorbei. „Ich weiß, dass du deine Probleme mit Veränderungen hast, aber versuch’s doch wenigstens erst mal, ja? Nils ist wirklich nett. Gib ihm eine Chance.“

 

Klasse, jetzt schenkt er mir diesen Dackelblick. Als ob ich da nein sagen könnte. Dieser Mistkerl kennt mich zu gut.

 

Schön, ich gebe dem Zwerg eine Chance. Aber auch nur eine!

 

Max zieht mich hinter sich her, direkt in Martins – äh, ne, in Nils' Zimmer. Der übrigens immer noch Bücher auspackt. Zur Hölle, wie viele dämliche Bücher hat der bitte? Warte, ist das die komplette Harry Potter Reihe? Fehlen ja nur noch die Herr der … ah, da sind sie ja auch schon.

 

„Nils?“ Max macht auf uns aufmerksam und lächelt freundlich. Ach, ist das ein Heuchler. Jetzt tut er noch nett, aber wenn man ihm eine Augenbraue abrasiert, ist der gar nicht mehr so freundlich!

 

Der Zwerg dreht sich in der Hocke zu uns um und stockt überrascht. Unsere Blicke treffen sich. Hm, gut, so gesehen, ist neunzehn doch nicht so unwahrscheinlich. Er hat einen putzigen roten Drei-Tage-Bart, wuschelige, dunkelblonde Haare und freundliche blaue Augen. Im Profil hat er jünger ausgehen, ehrlich! Liegt bestimmt an den spießigen Klamotten. Das Hemd ist ihm zu groß und die Jeans hat auch einige Jahre auf dem Buckel, wenn ich das richtig beurteile.

 

Er wird rot, als er bemerkt, dass er mich die ganze Zeit bloß blöd anstarrt. Ist nicht so, dass ich das nicht gewohnt bin. So`n Typ mit mehr Narben im Gesicht als Gesicht, wer starrt da bitte nicht. Ich nehm’s ihm nicht übel.

 

Nils steht hastig aus der Hocke auf und kommt uns einen großen Schritt entgegen. Ein Zwerg ist er eigentlich auch nicht, er ist höchstens ein oder zwei Zentimeter kleiner als ich. Aber schmal. Da kriegt man beim Sex ja Angst, ihn durchzubrechen.

 

Äh, nicht, dass ich in die Richtung denken würde. Pff, also…

 

„Nils, das ist Jarik. Jarik, Nils.“

 

Wir schütteln uns die Hände und ich lächle ausnahmsweise mal nett. Man will ja einen guten Eindruck hinterlassen. Vor allem, wenn Mama-Max einen dabei mit Argusaugen beobachtet.

 

„Bist du auch Student?“, fragt Nils freundlich, nach einigen Sekunden Stille. Seine Hand ist warm und weich. Wie Katzenpfötchen. Himmel, wieso finde ich den so schrecklich niedlich?

 

„Nein, ich will Batman töten. Ich dachte, das sieht man.“ Ich deute auf mein Gesicht und grinse.

 

Nils schaut erschrocken drein und Max klatscht sich mit der Hand gegen die Stirn. Also, ich fand den lustig. Alle humorbehindert!

 

„Das war ein Scherz“, lockere ich die Stimmung wieder auf, „Ja, ich bin auch Student. Psychologie.“

 

„Oh“, macht Nils nun erleichtert, „Cool. Ist das nicht schwer?“

 

Oh ja. „Ach.“ Ich nicke lässig. „Gibt schlimmeres.“ Ich bin schon ziemlich cool, muss ich zugeben. „Und du?“

 

„Ich studiere Medizin.“

 

Das nenn ich mutig. Oder lebensmüde. Welcher junge Mensch will denn freiwillig Medizin studieren? Außer natürlich die, die später Mamis oder Papis Praxis übernehmen möchten.

 

Ich schaffe es tatsächlich, den passenden Kommentar dazu runterzuschlucken. Meine Mama wäre stolz auf mich – dafür hab ich ja Max. Der ist `n super Mutterersatz.

 

„So, dann kennst du ja jetzt alle“, lächelt Mutti erleichtert. Er hat sich unser Aufeinandertreffen wohl schlimmer vorgestellt. Als wäre ich so ein unberechenbares Monster!

 

„Ja“, bestätigt Nils und kratzt sich verlegen am Kinn. Oh Gott, der Junge ist der pure Zucker. Ich will an ihm lecken. Sofort.

 

„Können wir dir noch irgendwie helfen?“, platzt es etwas zu überschwänglich aus mir raus, „Ich meine, beim Aufbauen, oder so.“

 

Max Blick ist Gold wert. Er starrt mich an, als hätte ich gerade vorgeschlagen, sein Zimmer pink zu streichen. Was ich tatsächlich schon mal habe, aber das ist `ne andere Geschichte.

 

Gut, ich verstehe seinen Unglauben. Normalerweise bin ich die letzte Person hier, die irgendwo freiwillig mithilft. Ich mache den Abwasch auch nur, weil Max mir sonst die WLAN Verbindung kappt. Bei Nils aber … ich will bleiben. Ein bisschen. Und da er gerade beim Auspacken und Möblieren seines neuen Zimmers ist, klingt das für mich wie ein plausibler Grund. Ja, ich bin ein verkapptes Genie, lernt damit zu leben.

 

„Äh, klar, wenn ihr wollt.“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich muss noch mein Bett zusammenbauen…“

 

„Machen wir“, versichere ich sofort, ohne ihn ausreden zu lassen.

 

Max neben mir kämpft mit einem Ohnmachtsanfall. Wahrscheinlich kann er nicht glauben, was gerade passiert. Schon ein bisschen übertrieben. Als wäre ich so ein Unmensch.

 

 

 ~~~**~~~

 

 

 

„Du machst das falsch!“
 

„Nein, das muss so! Sieht doch richtig aus.“

„Ach ja? Und warum wackelt das dann so?“

 

„Weiß nicht, Special Effect?“

„Du hast das gar nicht festgeschraubt, Jarik!“

 

„Künstlerische Freiheit!“
 

„Oh Gott, noch dümmer kann man sich ja gar nicht anstellen!“

 

„Ääh.“ Nils Stimme erklingt zaghaft aus dem Hintergrund. „Ihr müsst das nicht tun, echt nicht. Ich kann das auch alleine. Ist nicht das erste Mal, dass ich umziehe.“

 

„Nein!“ Ich fuchtele wild mit einem Stück des Lattenrosts rum. „Wir schaffen das schon.“

 

„Du meinst, ich schaffe das schon. Du machst nur alles schlimmer.“ Max schnaubt abwertend und ich blase empört die Wangen auf.

 

„Wenn du mir mal mehr helfen würdest, anstatt mich die ganze Zeit anzumeckern, würde das sicher auch besser klappen!“, schnappe ich zurück.

 

Max verdreht die Augen und entreißt mir das Brett aus meiner Hand. „Okay, wenn du aufhörst, alles kaputt zu machen, was ich aufbaue…“

 

„Stimmt gar nicht!“
 

„Echt, ihr müsst nicht helfen“, wirft Nils nochmals ein, nicht ohne ein bisschen flehend zu klingen. Ich ignoriere das geflissentlich.

 

„Doch, doch. Macht uns nichts aus. Oder Max?“

 

Er brummt und schweigt. Alter Griesgram.

 

Wie, um meine erhabene Männlichkeit zu demonstrieren, schnappe ich mir eine der dicken Latten (Hehe, Latte! Versteht ihr?! Nicht?) und beginne zielsicher, sie zu vernageln. Max beobachtet das alles spöttisch, wendet aber nichts ein, also scheine ich ja ausnahmsweise mal alles richtig zu machen.

 

Ha ha. Denke ich zumindest, ehe Nils hinter mir plötzlich scharf die Luft einzieht. Ich registriere das gar nicht so richtig, bis er mir ruckartig den Hammer entreißt, bevor ich weiter nageln kann. Ich will mich gerade beschweren, als er  nach meiner linken Hand greift, die noch immer eine der Latten festhält, und sie vorsichtig und langsam umdreht. Ich habe mich mal wieder selber übertroffen.

 

„Scheiße, Rik!“, schnauft Max und besieht sich genauso überrascht das Dilemma.

 

Saubere Leistung. Ich habe es unvergleichlich graziös geschafft, mir einen der Nägel durch meinen Zeigefinger zu hämmern. Die kleine Spitze des Nagels guckt frech auf der oberen Seite, knapp hinter meinem Fingernagel, wieder raus.

 

„Hui“, mache ich beeindruckt, „Was macht man da, Herr Medizinstudent? Drin lassen? Rausziehen? Ha, das hörst du bestimmt oft.“

 

„Rausziehen, außer du willst in die Notaufnahme“, erwidert Nils ruhig. Ich bin froh und überrascht, dass der Kleine dabei so gelassen bleibt. Mäxchen dreht immer so schrecklich durch, wenn mir sowas passiert, dabei sollte man meinen, er hätte sich mittlerweile daran gewöhnt. Er will immer hysterisch einen Krankenwagen rufen und geht mir tierisch auf den Wecker. Typisch übervorsorgliche Mutti eben. Ich will jedenfalls um keinen Preis ins Krankenhaus.

 

„Okay, also raus damit.“ Max hält etwas blass das Brett fest, während ich mit einem vorsichtigen Zug meinen Finger befreie. Ich spüre nichts. Dafür, dass es bis eben noch nicht wirklich geblutet hat, sprudelt die dickflüssige rote Pampe jetzt immer energischer aus dem Loch. Teilweise auf meine Jeans, teilweise aufs Parkett. Mama schimpft bestimmt, die gute Hugo Boss Hose!

 

Ohne viel Trara zieht Nils Taschentücher aus seiner Hosentasche und drückt mir gleich mehrere fest um den Finger. „Drück fest drauf“, befiehlt er, ehe er hastig aus dem Zimmer verschwindet.

 

Max stiert fahl auf meinen Finger und die rasch durchtränkten Taschentücher. „Scheiße, eigentlich müsstest du ins…“

 

„Wenn du jetzt Krankenhaus sagst, gibt’s `ne Schelle!“, blaffe ich zurück. „Wofür haben wir denn einen Medizinstudenten, wenn er mit meinen kleinen Unfällen nicht umgehen kann?“

 

Damit kehrt Nils auch schon zurück, in den Händen Mullbinden und Verbandszeug, das wir vorsorglich – wegen meiner Wenigkeit – in Massenwahre im Erste-Hilfe-Schrank aufbewahren. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich es gar nicht so oft bräuchte.

Dann schleift er mich in unser schrankgroßes Bad, um meine Wunde fürsorglich und ohne jedes Wenn und Aber zu säubern. Ich staune nicht schlecht und kriege dabei kein Wort raus. Seine schmalen Finger packen ganz schön kräftig zu und wenn all das Blut nicht wäre, würde ich das gerade ziemlich geil finden. Ach, scheiß auf das Blut, das ist geil. Hätte dem Burschen nicht so eine Standfestigkeit zugetraut. Und er riecht himmlisch.

 

„Du hast keinerlei Nerven verletzt“, informiert mich der angehende Herr Doktor nüchtern. Diese Sexy-Arzt-Stimme macht mich echt an. Also der dürfte mich jederzeit rektal untersuchen.

 

„Jarik? Ich hab dich was gefragt.“

 

Ich blinzle verwirrt. Die Vorstellung eines halbnackten Nils nur in Doktorkittel gekleidet verblasst leider. „Sorry. Was’n?“

 

Nils verbindet meinen Finger endgültig, es blutet auch nicht mehr sonderlich, so wie ich das sehe. Das ist aber auch eine Sauerei gewesen. Jetzt sieht mein Zeigefinger aus wie ein überdimensionaler Tampon. „Ich habe dich gefragt, ob dir so etwas öfter passiert.“

 

„Na, offensichtlich, oder?“ Ich schnaube amüsiert und deute an mir rauf und runter. „Sonst würde ich nicht aussehen wie Freddy Krügers lang vermisster Sohn.“

 

Er kommentiert meinen kritischen Kommentar nicht weiter und gibt meine Hand frei. Schade eigentlich, ich habe seine Körperwärme und seine weichen Katzenpfötchen genossen. Wir verlassen das Bad und finden uns im Flur einem immer noch grundbesorgten Max wieder.

 

„Muss das nicht genäht werden, oder so?“ Er besieht sich meinen Finger-Tampon und schaut angeekelt.

 

Nils lächelt beruhigend und schüttelt den Kopf. „Nein, alles gut. Er hat keine Nerven verletzt und das Loch ist nicht groß. Es wird einfach zuwachsen.“

 

„Danke, Doc“, grinse ich, „Ohne dich hätte Max sicher aus Panik meinen kompletten Arm amputieren lassen.“

 

Der Zwerg wird niedlicherweise rot wie sein Bart und winkt verlegen ab. Noar, zum Fressen. „Schon gut, kein Problem. So als Mitbewohner muss man sich ja gegenseitig helfen, oder?“

 

Oh ja. Mir fallen spontan noch mehr Behandlungsmethoden ein, die aber weder jugendfrei noch für Max‘ Mutti-Ohren bestimmt sind, also belasse ich es bei einem versauten Grinsen. Versteht ja eh nie einer, was in meinem Kopf vor sich geht.

 

„Ich glaube, Nils und ich bauen das Bett alleine zusammen“, mischt Max sich schließlich wieder ein, „Du solltest dich etwas ausruhen, nach deinem hohen Blutverlust.“

 

Ich ziehe einen Flunsch, sträube mich aber nicht weiter gegen seine Ansage. Wahrscheinlich hat er Recht, ich würde es nur wieder verbocken. Irgendwie finde ich es bedauerlich, dass kein Tag vergehen kann, ohne, dass mir meine Krankheit ein Schnippchen schlägt. Tja, meine Mama hat mich von Kindesbeinen an gewarnt, dass mich das bis zu meinem Tode (ihrer Meinung nach sehr, sehr frühem, die alte Schwarzseherin) belasten würde. Ich würde kein normales Leben führen können, blablabla, meine Leichtsinnigkeit würde mich eines Tages umbringen, blablabla…

 

Andererseits hat sie auch behauptet, dass Fernsehen viereckige Augen macht, also richtig glaubwürdig ist sie ja nicht.

Mitternächtliche Gespräche mit Cinderella

„Eeeyy.“ Ich luge geheimnisvoll über die Sofalehne hinweg und stupse Andi mit einem Stift an. „Psssst, eeey.“

 

Andi sieht unwesentlich entnervt von seinen Uniunterlagen hoch und mustert mich abwartend. Anscheinend störe ich ihn beim Lernen. Nicht, dass mir das wichtig wäre. „Was?“

 

„Willst du mal mein Loch sehen?“ Ich wackle enthusiastisch mit den Augenbrauen und ernte einen angeekelten Blick seinerseits.

 

„Pfui, Rik. Wir haben doch schon darüber geredet. Ich bin nicht schwul. Frag doch Nils.“ Demonstrativ schüttelt sich mein Mitbewohner. Ich verdrehe die Augen. Der übertreibt echt.

 

„Ich meinte auch nicht das Loch, du alter Schmierfink. Eigentlich meinte ich das Loch in meinem Finger.“ Unterstreichend wackle ich hektisch mit meinem verbundenen Zeigefinger. Die Verletzung ist zwei Wochen her, ist aber laut Nils schon gut verheilt.

 

Moment mal…

 

„Wie, was meinst du mit ‚frag doch Nils?‘“, werfe ich überrascht ein, meinen vorherigen Gedankengang völlig vergessend.

 

Andreas hebt skeptisch eine Augenbraue. „Na, der ist doch schwul. Und Medizinstudent. Wenn’s ums Untersuchen von irgendwelchen Löchern geht, solltest du ihn fragen, oder?“

 

Ich glaub, ich fress `n Pferd. Seit zwei Wochen versuche ich fast schon hysterisch herauszufinden, an welchem Ufer unser Zwergnase fischt, und Andi weiß das längst?!

 

„Woher weißt du das?“, frage ich überrascht. Andi ist eigentlich immer der letzte, der hier irgendwas mitbekommt, da bin sogar ich meistens schneller. Außerdem hat mein Gaydar gar nicht angeschlagen. Muss kaputt sein, das alte Teil. Ich habe es schon ewig nicht mehr einsetzen müssen, seither liegt es verstaubt auf irgendeiner Kommode in dem hintersten Teil meines verwirrten Verstandes.

 

„Er hat’s gesagt. In der Vorstellungsrunde. Hatte wohl Angst, dass wir homophob sind. Aber Max hat gleich erklärt, dass wir kein Problem damit haben, immerhin haben wir ja auch keins mit dir. Na ja, zumindest nicht deswegen…“

 

Gott, dann wusste Max ja auch Bescheid! Dieser Bastard hat mir die ganzen zwei Wochen über kichernd zugeguckt, wie ich unauffällig versuche, Nils über seine Sexualität auszuquetschen, wissentlich, dass ich theoretisch freie Fahrt habe?!

 

Oh, wenn der mir mal nach Hause kommt…

 

„…also wär’s zumindest echt nett, wenn du aufhören würdest, Ärsche auf meine Kalender zu malen, aber…Hey, hörst du mir überhaupt zu?“ Andi boxt mir ungalant gegen die Schulter, sodass ich das Gleichgewicht verliere und auf meinem Hintern lande. Ich rapple mich sogleich wieder auf, winke und speise ihn mit den Worten, das ich noch was Wichtiges zu tun hätte, ab. Hallo, hier geht es um viel wichtigere Dinge!

 

Nils ist schwul!

 

Ich bremse scharf vor Nils‘ Zimmertür. Moment. Wenn Nils tatsächlich schwul ist und ich ihn schon die gesamten zwei Wochen über penetrant anbaggere, um eben diese Info irgendwie aus ihm herauszubekommen, ohne noch offensichtlicher zu werden …

 

 

[Na ja, die Nummer mit dem Ankreuzzettel war schon ziemlich offensichtlich…]

 

(Ruhe auf den billigen Plätzen!)

 

[Hey,ich bin hier die Autorin!]

 

(Mimimimi…)

 

 

… warum hat er dann darauf nicht reagiert?

 

Oh, Scheiße. Es gibt nur eine logische Erklärung dafür, dass Nils auf meine anziehende und reizende Gestalt nicht angesprungen ist.

 

Er steht einfach nicht auf mich.

 

Er könnte natürlich auch unter einer schrecklichen Geschmacksverirrung leiden, aber seien wir mal ehrlich. Ich muss mir hier nichts vormachen, ich weiß genau, wie ich aussehe und wie ich auf andere Menschen wirke.

 

Wie ein Freak.

 

Zögernd stehe ich noch immer nutzlos im Flur herum. Er hat auf keine einzige meiner Andeutungen reagiert. Bis auf einen Rotschimmer auf den Wangen oder einen hektischen Themawechsel, hat er dem keine weitere Beachtung geschenkt. Einmal ist er sogar vor mir geflüchtet, als ich ihn spaßhaft anzüglich fragte, ob mein Arsch in der Jeans gut kommt. Dabei weiß ich, dass er nicht vergeben ist, bei Facebook steht gut lesbar „Single“.

 

Na klasse, eindeutiger geht’s nicht. Der doofe Jarik hat’s mal wieder nicht gepeilt. Praktischerweise hat Andi mir gleich vor Augen geführt, dass es zumindest nicht daran liegt, dass er `ne Hete ist, sondern eher daran, dass er mich nicht geil findet. Mann, das wäre sonst gleich echt irre peinlich geworden…

 

Ich seufze. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, das wäre sowieso alles gar nicht gut gegangen. Bei mir läuft überhaupt nie etwas gut. Also, hey, Glück gehabt, du Hund!

 

Hm. Fühlt sich aber eher an, als hätte man mir eben voller Schmackes die Eier in die Brusthöhle getreten. Ich glaube zumindest, dass sich das so anfühlt. Hab ja keine Ahnung von physischen Schmerzen. Leider gilt das nicht für psychische. Tja, man kann nicht alles haben…

 

Aber Nils hätte ich schon gern gehabt.

 

„Ey, Rik!“, plärrt es unüberhörbar durch den Flur, was mich ertappt zusammenzucken lässt. Ich schrecke von Nils Zimmertür zurück und blinzele Max, der gerade durch die Haustür hereintritt, verwirrt an.

 

„Trommel mal die Gang zusammen, später kommen ein paar Kommilitonen zum Trinken vorbei. Ihr könnt gerne auch noch ein paar Leute einladen, je mehr, desto besser.“ Damit, schwups, verschwindet er mit dem großen Einkaufsbeutel, den er ächzend durch den Flur geschleppt hat, in der Küche. Ich stehe noch einige Sekunden perplex herum und fange Staub, ehe ich mit den Schultern zucke und einfach tue, was er mir aufgetragen hat.

 

Tja, irgendwie sind aus den paar Leuten mehr geworden, als erwartet. Ich hab das Zählen bereits aufgegeben, die Bude ist rappelvoll. Die Gäste haben sich in allen Zimmern verteilt, überall läuft laute Musik – unsere Nachbarin ist glücklicherweise angehend taub und stört sich nicht daran – und in unserem Wintergarten hat sich die übliche Rauchergemeinde zusammengefunden. Obwohl ich bei Jakob stark daran zweifle, dass das in seiner Hand eine normale Zigarette ist. Der ist auf Partys quasi permanent stoned. Ein weit verbreitetes Phänomen unter Studenten. Max hat’s mir verboten, nachdem ich einmal bekifft seine Klamotten gebatikt habe. Ich weiß gar nicht, was er hatte, ich find’s cool.

 

Ich hab schon einiges an Bier gekippt, aber ich trinke nicht gerne. Also, ich liebe Bier, nur das mit dem Besaufen lasse ich sein. Mein Verstand ist schon verwirrt genug und ich ziehe es vor, die losen Schrauben in meinem Oberstübchen nicht noch mehr zu lockern, ihr versteht? Ich bin höchstens einmal im Jahr betrunken – und das zu Weihnachten, weil ich meine Familie sonst nicht ertrage.

Damit bin ich hier, bis auf ein paar arme, auserwählte Fahrer, wohl eine aussterbende Art. Andi, Max und Robert, ein guter Studentenkumpel von mir, sind schon seit einer Stunde gut dabei. Andi gibt wie üblich schmutzige Lieder zum Besten, Max hat sich an eine Kommilitonin von mir rangemacht und quatscht das wehrlose Mädchen gerade ohne Ende zu und Robert döst auf meinem Bett.

 

Nur Nils, der ist weg. Ich bin wohl der einzige, dem das aufzufallen scheint. Wer hätte denn gedacht, dass ich mal der fürsorglichste Mitbewohner werde? Ha, nimm das, Max!

 

„Hey.“ Ich tippe Claudia, Andis Freundin, an, die sich wenig begeistert anguckt, wie ihr Freund laut grölend auf dem Sofa steht und singt. „Hast du Nils gesehen?“

 

Sie seufzt und wendet sich dem Schauspiel ab. „Ich glaube, er ist vor ein paar Minuten raus gegangen. Er meinte, er braucht frische Luft.“

 

Na, das klingt als wäre das letzte Bier für ihn zu viel gewesen. Ich hab ihm gesagt, dass er nicht mit den Jungs mithalten muss, aber, wie ich schon erwähnt habe, auf mich hört ja keiner.

 

Ich schnappe mir meine Jacke und husche durch die Haustür raus. Es ist ziemlich frisch draußen für Juli, aber was erwartet man auch von einem deutschen Sommer. Da ist man ja schon froh, wenn’s im Oktober nicht plötzlich schneit.

Nils liegt im Vorgarten auf der Wiese. Es hat ihn ziemlich ausgeknockt, wie’s aussieht. Alle Viere von sich gestreckt, chillt er im Gras. Und das nur in T-Shirt! Wenn er da weiter rumliegt wie ein totes Stück Fleisch, wird der Kleine noch krank. Außerdem fehlt ihm ein Schuh. Wäre auch zu mainstream gewesen, zwei anzuziehen.

 

„Na, Cinderella? Wo ist denn deine Kürbiskutsche?“ Ich setze mich gemächlich neben den Kadaver ins Gras und winkle die Beine an. Sonderlich beleuchtet ist es hier nicht, das einzige Licht kommt von unserem Wintergarten. Die Musik hört man bis hier, ich glaube, es laufen gerade die Backstreet Boys, was heißt, dass Andi sich an meinem CD-Regal vergriffen hat. So ein Klauschwein.

 

Nils guckt ziemlich verpeilt drein. „Was? Kutsche? Ich brauch keine Kutsche. Ich hasse Pferde.“

 

Ich gluckse und deute auf den nackten Strumpf an seinem rechten Fuß. „Ich meinte bloß, weil du einen Schuh verloren hast, Prinzessin.“

 

Er zuckt mit den Schultern, was so im Gras ziemlich ulkig aussieht. „Hmpf. Egal.“

 

Seufz. Mensch, mit dem ist auch nichts mehr anzufangen. „Ist dir schlecht?“

 

„Nein.“

 

„Kalt?“

 

Keine Antwort, was ich als stummes Ja werte. Ich ziehe meine Jacke aus und werfe sie über ihn, wie ein Leichentuch. Er grummelt kurz, zieht sie sich aber brav an.

 

Wir schweigen einige Zeit, ich starre in den Nachthimmel und er mummelt sich in meine Jacke. Die Lederjacke steht ihm, trotz der Nieten. Ich könnte mich an den Anblick gewöhnen.

 

Plötzlich fährt er sich mit der Hand übers Gesicht und ächzt gepeinigt. „Ich bin betrunken.“

 

„So weit, so offensichtlich“, grinse ich, „Und, was fängst du mit der Feststellung jetzt an, Sherlock?“

 

„Das ist nicht witzig, Jarik“, brummt er.

 

„Doch, schon.“ Ich hebe abwehrend die Hände. „Ich finde so gut wie alles witzig. Vor allem, wenn der Frischling um kurz nach zwölf, allein betrunken im Vorgarten liegt.“

 

„Ich war nicht allein, bis eben. Da war `ne Katze“, murmelt er.

 

Ich ziehe entrüstet die Luft ein und sehe mich hektisch um. „Was?! Moritz war hier?“
 

Nils hebt skeptisch eine Augenbraue. „Du kennst die Katze?“

 

„Kater“, korrigiere ich penibel, „Ja, dieses getigerte Vieh ist eine Ausgeburt der Hölle!“
 

„Nicht dein Ernst.“ Er reibt sich die Augen und lacht fassungslos auf. „Du bist mit einer Katze verfeindet?“

 

„Hey, er hat angefangen!“

 

„Na klar“, lacht er und schüttelt den Kopf, „Unglaublich. Du bist verrückt.“

 

Es zieht unangenehm in meiner Brust. Ich weiß, dass er nicht Unrecht hat – ich bin merkwürdig. Manche Freakshows würden sich um mich reißen. Es tut nur irgendwie weh, dass von ihm zu hören. Obwohl ich ja bereits festgestellt habe, dass er mich ohnehin für unansehnlich hält.

Sonst hat es mich nie gekümmert, was andere von mir halten. Antrainiertes Selbstbewusstsein, praktisch überlebenswichtig. Jahrelang habe ich mich nicht darum geschert, was man von mir denkt, im Gegenteil, ich lege gerne absichtlich noch eins drauf.

Warum interessiert es mich dann bei Nils so sehr?

 

 

[Junge, du bist sowas von verschossen.]

 

(Klappe! Du machst die ganze Stimmung kaputt, du Stümper.)

 

[Aw, sorry. Ich lass dich weiter dramatisieren.]

 

 

Ich schweige und starre still in den Sternenhimmel. Nils scheint mein plötzliches Verstummen zu bemerken, denn er setzt sich – recht langsam und ungelenk – auf und schaut mit roten Wangen zu mir rüber. Dabei sieht er so verflucht niedlich aus, dass ich ihn auf der Stelle fressen könnte. Weiß dieser Junge eigentlich, wie scharf er ist?!

 

„Entschuldige, Jarik. Ich meinte das nicht böse.“ Seine Stimme klingt sanft und beschwichtigend, wirklich reuevoll.

 

Ich lache trocken und zucke mit den Schultern. „Ist schon gut, Kleiner. Ich weiß, dass ich ein verrückter Freak bin.“
 

„Nein!“ Ich blinzle Nils bei dem pampigen Ausruf überrascht an. „Das stimmt nicht. Du bist kein Freak.“

 

Okay, jetzt schießt ihm der Schnaps wohl endgültig in sein hübsches Köpfchen. „Ähm, Nils, ich weiß nicht, wo du aufgewachsen bist, aber da wo ich aufgewachsen bin, benutzt die Polizei mein Gesicht als Abschreckbild für Crystal Meth Opfer.“

 

 „Sag so etwas nicht“, weist er mich wütend und voller Inbrunst an, „Du bist nicht hässlich oder abstoßend. Ständig redest du so schlecht von dir.“

 

Ich grinse halbherzig, um die Stimmung zu lockern. Irgendwie verunsichert mich sein neugewonnener Enthusiasmus. Nils ist vorher noch nie so Feuer und Flamme für eine Sache gewesen – schon gar nicht für mich. Außerdem weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Dieses dämliche Organ in meiner Brust, das den schwarzen Teer durch meine Adern pumpt, hüpft vor Freude bei seinen Worten. Dabei sollte es das nicht. Falsche Hoffnungen kann ich überhaupt nicht gebrauchen.

 

„Nils“, fange ich ruhig an und tätschle seinen Kopf, wie bei einem aufgebrachten Hund, „Mach dir nichts draus. Wir sollten uns eher darum kümmern, dass du vielleicht mal einen frischen Kaffee in die Hände bekommst.“

 

„Scheiß auf Kaffee“, knurrt der Jüngling zurück und ich japse entsetzt auf.

 

„Nils! Oh Gott, hast du gerade geflucht?!“

 

Seine Wangen färben sich verdächtig rot und ich kann nicht anders, als einen viel zu hohen Laut des Entzückens auszustoßen. „Himmel, ich färbe also doch langsam ab. Max wird gar nicht begeistert davon sein. Sag ihm ja nicht, dass du die bösen Wörter von mir hast, Sugar.“

 

Er verdreht die Augen, nicht ohne dabei zu grinsen. „Ich konnte schon vor dir fluchen, Jarik.“

 

„Max wird es trotzdem auf mich schieben. Apropos Mäxchen, wir sollten vielleicht mal zurück zu den anderen, bevor sie noch einen Suchtrupp losschicken.“ Ich weise wage mit dem Daumen nach hinten, in Richtung Party. Einerseits gefällt es mir, hier draußen allein mit ihm zu sitzen und zu reden, andererseits gefällt es mir zu sehr. Gib mir noch fünf Minuten, und ich bespringe dieses Zuckerstück doch noch vor lauter Frust. Und ich bin in seinen Augen lieber verrückt, als ein Perverser. Was ich auch bin, aber hey, das weiß er ja nicht.

 

„Ich will da nicht wieder rein“, brummelt Nils und zieht ein nachdenkliches Gesicht.

 

Ich seufze. „Gut, dann geh ich alleine wieder rein. Aber bleib nicht zu lang draußen, sonst wirst du noch krank.“

 

„Jarik?“

 

„Hm?“ Ich strecke mich gerade und drehe mich abwartend zu Nils um. Dessen Gesicht hängt binnen Sekunden wie aus dem Nichts direkt vor meinem. Ich sehe in seine blauen – blaugrün, bei genauer Betrachtung – Augen und stocke überrascht. Sein alkoholisierter Atem schlägt in mein Gesicht, riecht sehr nach Andis Pfefferminzlikör, und seine Lippen sind einen klitzekleinen Spalt weit geöffnet. Und so schweben sie, wie die Verlockung des Teufels, unmittelbar vor mir.

 

Oh Gott.

 

Oh Gott-Oh Gott.

 

Er will doch nicht etwa…?

 

 

[Er will.]

 

(OH GOTT ER WILL WIRKLICH!)

 

 

In meinem Kopf wird bereits vorfreudig Konfetti geworfen, was wohl auch erklärt, warum meine restlichen Körperfunktionen, abgesehen von Atmen und Blinzeln, untüchtig geworden sind.

 

Ich sehe, wie Nils näher kommt, bis uns schließlich nur noch eine hauchdünne Luftlinie trennt. Seine Hand legt sich zaghaft in meinen Nacken und sendet einen wohligen Schauer über meinen Rücken. Das fühlt sich so verdammt gut an, dass es nur falsch sein kann. Der Kleine scheint nicht zu wissen, was er hier gerade tut. Klar bei Verstand ist er jedenfalls nicht mehr, wenn er mein Baustellenunfallgesicht küssen möchte.

 

Ich schlucke hart. „N-Nils“, ich muss mich räuspern, weil meine Stimme versagt, „Du bist betrunken.“

 

„Egal“, murmelt er und lässt mir auch nicht viel mehr Zeit zum Widersprechen. Denn es ist scheiße nochmal nicht egal, dass er mich – Frankensteins Monster – um schätzungsweise drei Uhr nachts halbdunkel im Vorgarten unserer WG küsst.

 

Aber Jesus, es ist das Paradies.

 

Seine zarten Lippen legen sich bestimmend auf meine, als würde er keinen Rückzug dulden, selbst, wenn ich nicht so von ihm eingenommen wäre. Ich denke aber gar nicht daran, das hier irgendwie abzubrechen – ich wäre ja wohl reichlich bescheuert, wenn ich die Chance nicht nutzen würde!

 

Ich erwidere den Kuss sehnsuchtsvoll, wie der ausgehungerte Romantiker, der ich bin, und ziehe den schmalen Körper an mich. Er ist wirklich schlaksig, nicht unbedingt dünn, aber seine Schultern und seine Hüfte sind so schmal wie die einer Frau. Ich habe beinahe so viele Mädchen, wie Jungs in meinen Armen gehalten – ja, ich stehe nicht ausschließlich auf Männer, auch wenn es da gewisse Vorlieben gibt – aber das hier stellt alles Bisherige in den Schatten.

 

Wie ein zerbrechliches Wertstück schmiegt er sich an mich und ich vergesse alles – Ort, Uhrzeit, all das wird nebensächlich. Es ist mir egal, dass wir Mitbewohner sind; dass ich eigentlich überzeugt davon gewesen bin, dass er nicht auf mich steht; sogar wie ich aussehe, ist mir gleich. Solange das hier nur andauert und wir uns höchstens trennen, wenn ich schließlich entweder an Atemnot oder, wahrscheinlicher, an plötzlichem Herzversagen krepiere.

 

Doch dieses empfindliche Vakuum, das sich um mich herum gebildet hat und mich lediglich Nils Lippen spüren lässt, zerplatzt wie ein Ballon, als sich mir jegliche Wärme, einen auf den anderen Moment, entzieht.

 

Shit. Ich Idiot hätte es wissen müssen.

 

Nils sitzt vor mir. Er rückt Stück für Stück von mir weg, in seinem Gesicht der Ausdruck der Erkenntnis. Ah, jetzt scheint er kapiert zu haben, was für einen Mist er gerade angefangen hat. Pff, ausgerechnet mich zu küssen!

 

Lächerlich.

 

„Jarik … es…“

 

„Es tut dir leid“, beende ich seinen Satz und schnaube, „Ich weiß. Du bist betrunken.“ Ich bemühe mich, die Wut und die Enttäuschung aus meiner Stimme zu verbannen, aber ich schaffe es nicht. Am liebsten würde ich mir eine Ohrfeige dafür verpassen, dass ich ihn nicht aufgehalten habe, als ich es noch konnte.

 

„Ich…“, fängt er unsicher an, schafft es jedoch nicht, seinen Satz zu beenden. Er sieht fertig aus, wie er da so hockt, in dem feuchten Gras und mit der Reue in seiner Mimik.

 

Ich bin so ein verdammter Idiot. Die Hoffnung, die sich trotz aller Mühe in meiner Brust gesammelt hat, wird zu einem dicken Klumpen. Wie ein Geschwühr drückt er sich in meinen Magen.

 

„Ist schon okay“, versuche ich, ihn zu beruhigen, „Ich verstehe.“

 

„Nein, du…“

 

„Ich gehe rein“, unterbreche ich ihn und werfe ihm ein falsches Lächeln zu, „Mir wird kalt. Wenn du Moritz noch mal wieder siehst, dann sag ihm, dass wir noch `ne Rechnung offen haben.“

 

„Rik“, flüstert er und schaut zu, wie ich aufstehe und ihm den Rücken zudrehe.

 

Ich sehe nicht zurück und hebe bloß die Hand zum Abschied. Er darf nicht wissen, was er innerhalb dieses kurzen Augenblicks in mir entfacht und gleichzeitig zerstört hat. Ich sollte nicht enttäuscht sein. Was habe ich von ihm erwartet? Dass er sich mir an den Hals wirft und mir seine unendliche Liebe gesteht? Wie bescheuert.

 

Als ich in den Flur trete, empfängt Andi mich mit einem breiten Grinsen und einer Flasche Tequila. Sofort schalte ich um, verpasse ihm eine Kopfnuss und lache über eine neckische Bemerkung, die er über mich macht.

 

The show must go on, Jarik. Keine Zeit zum Trauern.

Jarik - Allein zu Haus

 

„I fooled around and fell in love…“

 

„Jarik? Rik? Hallo?!“

 

„Since I met you baby…“

 

„Och, Jarik! Die 70er haben angerufen und wollen ihre Musik zurück!“

 

„Halt die Klappe, das ist ein Klassiker!“

 

„Dann mach deinen doofen Klassiker leiser!“

 

Ich brumme beleidigt und drehe die Lautstärke meiner Anlage runter. Dieser alte Spießer verdirbt einem auch jeden Spaß!

 

Max verdreht die Augen und steigt über eine Klamottenlache auf dem Teppich hinweg. Dann sieht er sich mit seinem typischen Wie-Sieht-Es-Hier-Denn-Aus-Blick um. Er kann richtig verurteilend gucken. „Du solltest echt mal aufräumen. Ist das der Pizzakarton von vorgestern?“

 

Ich hebe triumphierend eine Augenbraue. „Von gestern. Wir hatten gestern Pizza, Maxi. Alzheimer lässt grüßen.“

 

„Na und. Ich meine nur, du solltest mal aufräumen.“

 

„Aye, Sir.“ Ganz bestimmt nicht. Der übertreibt maßlos mit seinem Ordnungstick. In meinem Zimmer herrscht das Chaos mit eiserner Faust. Die Unordnung und ich leben seit Jahren in einer wohlwollenden Symbiose. „Fährst du los?“

 

Er nickt und deutet mit einem Finger hinter sich, auf die Reisetasche, die im Flur liegt. „Ja, ich möchte zum Abendessen bei meinen Eltern sein. Es gibt Pute.“

 

„Aw, bist du ein lieber Sohn“, necke ich ihn sarkastisch und ernte einen strafenden Blick. Er mag es nicht, wenn ich mich über sein enges Familienverhältnis lustig mache. Und mit eng meine ich verflucht nochmal nahezu inzestuös eng. Wie das auf seinem Dorf so üblich ist. Ich vermute schon länger, dass seine Eltern Geschwister sind.

 

Okay, nein, eigentlich ist das nur der Neid, weil ich meine Familie nicht ausstehen kann, aber das hindert mich natürlich nicht daran, mich über meinen besten Freund lustig zu machen. Nimm das, Max!

 

„Gibt’s dazu auch noch Muttermilch serviert, oder hat sie dich mittlerweile abgestillt?“, bohre ich Wimpern klimpernd nach und beglückwünsche mich auch schon für meinen intelligenten Spruch, ehe ich ächzend darum kämpfen muss, Luft zu kriegen, weil das Mäxchen energisch versucht, mich mit einem Kissen zu ersticken.

 

Als er von mir ablässt, schnappe ich theatralisch nach Luft und greife mit den Händen nach meinem Hals. „Ich wusste, du würdest mich eines Tages umbringen!“

 

Er grinst und wirft mir die Mordwaffe hart an den Kopf. „Nein, wenn, dann wäre das Notwehr.“

 

„Au“, mache ich vorwurfsvoll.

 

„Ach, stell dich nicht so an“, schnaubt Max, „Das tut dir doch eh nicht weh.“

 

„Nur, weil ich keine physischen Schmerzen spüre“, schluchze ich dramatisch, „heißt das nicht, dass das nicht tief, tief in meinem Innern weh getan hat!“

 

„Du Dramaqueen“, lacht er und geht auf mich zu, um mich in eine kollegiale, feste Männerumarmung zu ziehen. „Schaffst du es zwei Wochen ohne mich?“

 

„Es wird schwer.“ Das wird super. „Aber ich denke, das überlebe ich. Solange kann ich all die Sachen tun, die du mir immer verbietest.“

 

„Du bist unverbesserlich“, schnaubt er bloß und macht sich auf den Weg zu seiner Tasche.

 

„Oh ja! Ich werde tagelang laut Musik hören, nackt durch die Wohnung rennen und mir ein Haustier anschaffen. Ich dachte diesmal vielleicht an einen Waschbären.“

 

„Kein Waschbär für dich, Jarik. Außerdem vergisst du, dass du hier nicht allein bist.“

 

Ich stutze verwirrt. „Hä? Ich dachte, ihr haut alle ab? Andi hat doch gestern schon seine Dreckwäsche für Zuhause gepackt.“

 

„Ja, aber Nils bleibt hier. Also, ich wünsche dir viel Spaß und bau‘ keinen Mist. Im Notfall hast du ja einen Medizinstudenten in der Wohnung.“ Max grinst über seine Worte, als hätte er etwas total Witziges gesagt. Mir ist nicht nach lachen. „Wir sehen uns!“

 

Und damit verschwindet dieses Kameradenschwein durch die Haustür. Am liebsten wäre ich zu ihm ins Auto gesprungen und mitgefahren, aber ich möchte bei seiner Heile-Welt-Familie keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Seit dem letzten Besuch seiner Mutter, glaubt die sowieso schon, dass ich Max‘ persönlicher Pflegefall bin.

 

Ich seufze. Eigentlich kann ich es ihm auch nicht übel nehmen, immerhin weiß er nicht, was zwischen Nils und mir passiert ist. Wenn er es wissen würde, dann gäbe es aber eine ordentliche Moralpredigt à la Max Steinmann, die sich gewaschen hat. Ich sehe ihn schon vor mir stehen …

 

„Was hast du dir dabei nur gedacht, Jarik!“

 

„Gar nichts, wirklich!“

 

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, Finger weg von unseren Mitbewohnern!“

 

„Aber er hat doch…“

 

„Du hättest damals schon fast Martin vergrault!“

 

„Es tut mir leid!“

 

„Ich habe dich gewarnt!“

 

„Nein, nicht wieder ins Gesicht, neeiiiin…“

 

Na gut, es würde vermutlich nicht ganz so dramatisch enden, aber ansonsten ist das Gespräch durchaus vorstellbar!

 

Nils und ich haben uns seit dem ‚Vorfall‘ vor drei Wochen gemieden. Okay, eigentlich habe nur ich ihn gemieden. Einfach, weil ich das Trara umgehen will – Oh, es tut mir leid, Jarik! Ich war so betrunken, Jarik! Ich würde dich doch sonst nie küssen, Jarik! Blablabla.

 

Ich weiß auch ohne ein klärendes Gespräch, was dabei herauskommen würde, also habe ich mir die verschwendete Lebenszeit erspart. Außerdem muss Nils sich so nicht nochmal dafür schämen. Also eine Win-Win Situation für uns beide. Vielleicht ist irgendwann Gras über die Sache gewachsen und ich fühle mich nicht mehr so hundeelend, wenn ich an ihn denke.

 

Was quasi ständig ist, aber das sei mal dahin gestellt.

 

Irgendwann beschließe ich doch, mich aus meinem Zimmer – Max nennt es gerne Gruft, wegen all der gruseligen Poster an meinen Wänden – herauszuquälen. Mein Magen schreit nämlich Zeter und Mordio und das einzige, was ich meinem Zimmer nicht habe, ist ein Minikühlschrank. Obwohl das echt ´ne super Investition wäre.

 

Ich weiß nicht genau, ob Nils da ist. Er arbeitet als Aushilfe in einem Café in der Innenstadt, was man als armer Student wohl so macht, wenn man nicht von seinen Eltern gesponsort wird. Das einzig Gute an meiner Familie, wenn ich’s genau nehme. Mutti bezahlt meine Miete und überweist mir regelmäßig Taschengeld, was nicht heißt, dass ich es protzig aus dem Fenster werfe. Ich bin sogar recht sparsam, wenn ich nicht gerade unnötig viel Geld für lustigen Kram ausgebe. Das Hunderterpack Wackelaugen ist den Spaß wert gewesen.

 

Ein Blick in den Kühlschrank reicht aus, um zu wissen, dass ich dringend einkaufen muss. Eigentlich ist Andi dran, aber da der sich ja aus den Staub gemacht hat, übernehme ich das wohl. Was kein Problem ist, da ich, wie gesagt, genügend Kohle habe.

 

Entgegen aller Vermutungen bin ich – ohne überheblich klingen zu wollen – ein ziemlich guter Koch. Ehrlich, die Küche rock ich. Ich komme nur nicht oft dazu, weil … okay, weil ich faul bin. Und Max kocht auch nicht schlecht. Es soll ja auch was Besonderes bleiben, wenn ich mal in der Küche stehe, sonst nehmen die das als viel zu selbstverständlich. Meistens freuen die Jungs sich darauf, sollte ich ankündigen, kochen zu wollen, wie auf Weihnachten. Was beweist, dass ich’s drauf habe.

 

Als ich im Flur stehe und mir Schuhe anziehe, fliegt auf einmal eine Tür neben mir auf. Nils arbeitet heute also offensichtlich doch nicht. So kann man sich irren.

 

Ich schneide eine Grimasse und sehe aus der Hocke zu ihm hoch. Er schaut etwas verpennt und sein Blick wandert von meinen Schuhen, zu dem Schlüssel in meiner Hand und dem Einkaufsbeutel in der anderen.

 

„Gehst du einkaufen?“, fragt er mit einer total niedlich verpeilten Stimme. Jesus, selbst seine Ich-Bin-Gerade-Aufgewacht-Stimme klingt scharf.

 

„Nein, nach Mordor.“

 

„Ich komm‘ mit“, übergeht er meinen sarkastischen Kommentar leichtfertig, „Ich brauch‘ auch ein paar Sachen.“ Dann blinzelt er kurz und auf seine Wangen legt sich ein leichter Rotschimmer. „Also, wenn du nichts dagegen hast.“

 

Oh, dieser Hund. Dieser verflucht liebenswerte Hund. Als ob ich bei den Welpenaugen Nein sagen könnte. Wenn ich mir nicht sicher wäre, dass Nils sich nicht bewusst ist, was er für eine Wirkung auf andere Menschen hat, dann würde ich fast glauben, er sei manipulativ – aber er ist die pure Unschuld.

 

„Nein“, bringe ich schließlich widerstrebend heraus, „Nein, ich habe nichts dagegen. Natürlich kannst du mitkommen.“

 

Daraufhin strahlt er mich auf eine derartig erleichterte Art und Weise an, dass ich es fast schon nicht mehr bereue, zugestimmt zu haben. „Super! Ich ziehe mich nur kurz um.“ Damit verschwindet er wieder in seinem Zimmer und lässt mich hilflos im Flur zurück.

 

Klasse, Jarik. Was hat dich denn da wieder geritten?

 

 

[Ich tippe dein Pen-]

 

(Abgesehen davon!)

 

 

Ich brumme. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mich noch gefreut, mit Nils einkaufen zu gehen. Dann hätte ich jetzt mit den Würstchen vor meiner Nase irgendeinen schlechten Penis-Witz gemacht, um ihn zum Lachen zu bringen. Aber gerade ziehe ich es vor, mit den Händen in der Hosentasche missgelaunt auf meinen Einkaufszettel zu stieren.

 

Öl, Butter, Frischkäse, passierte Tomaten …

 

„Oh, ich liebe diese Cornflakes!“ Nils streckt sich und greift in das oberste Regal, um besagte Packung Honey Loops zu ergreifen. Seine Jacke rutscht hoch und entblößt ein Stück seiner blassen, bestimmt verflucht weichen Haut, die sich straff über sein Becken spannt.

 

Ich schlucke hart und schaue zurück auf den Einkaufszettel.

 

Eier, einen Eimer kaltes Wasser (Dringend!), Zwiebeln …

 

„Was willst du überhaupt kochen?“, fragt er mich mit einem gelösten Lächeln. Irgendwie ist er, seitdem wir aus der Wohnung sind, total gut drauf. Da ich seit drei Wochen so wenig Zeit wie möglich mit ihm verbringe, kann ich nicht einschätzen, woran genau es liegt. Steht er neuerdings auf Drogen? Kann ja sein, dass er sich jetzt regelmäßig die Birne zudröhnt. Jeder hat so seine Hobbies.

 

„Ich dachte an Spaghetti Bolognese. Das geht schnell.“ Mein Magen unterstützt das. Er knurrt mir mürrisch zu, dass ich mich beeilen soll.

 

„Oh, ich liebe Spaghetti Bolognese“, erwidert Nils, beinahe schüchtern, „Meine Oma kocht das immer, wenn ich zu Besuch komme.“

 

Ich mustere das Kerlchen vor mir und kann nichts gegen das warme Gefühl tun, das sich in meiner Brust ausbreitet. Das wird wohl nichts, mit dem Aus-Dem-Weg-Gehen. „Na, dann wirst du später beurteilen müssen, wer’s besser kocht. Und ich sag dir jetzt schon, du hast noch nie jemanden so gut mit Nudeln umgehen sehen, wie mich.“


Nils lacht tatsächlich über meine ausgesprochen schlechte Andeutung und sendet damit ein Kribbeln durch meinen Körper. „Ich würde auch nie daran zweifeln.“

 

Gerade, als ich grinsend eine weitere, miese Zweideutigkeit von meinem Schlechte-Witze-Stapel loslassen will, erkenne ich, wie sich in Nils‘ Gesicht das schiere Entsetzen ausbreitet. Verdutzt folge ich seinem starren Blick, der irgendwas hinter mir zu fixieren scheint. Entweder ist Hitler als Zombie von den Toten auferstanden oder Jurassic Park ist real geworden und hinter mir steht jetzt ein T-Rex.

 

Oh bitte, nicht Hitler auf einem T-Rex.

 

Ich komme gar nicht dazu, mehr als einen kurzen Schulterblick hinter mich zu werfen, ehe Nils mich auch schon, halb geduckt, am Handgelenk packt und hinter das nächste Regal schleift. Alles, was ich gesehen habe, ist ein junger Mann gewesen, ungefähr mein Alter, in Slim Jeans, Jeansjacke und einer Frisur, die nur so BWL-Student schreit.

 

„Ist das die Mafia? Hast du Schulden?“, frage ich halbernst und schaue auf den hektisch umsehenden Nils runter, der sich an das Regal drückt, wie ein gehetztes Reh. Ich sehe jetzt erst, dass wir in der Hygiene Abteilung stehen. Hinter mir ist das Kondomregal.

 

„Pssst“, macht er und wedelt mit einer Hand vor meiner Nase rum, „Sei nicht so laut!“

 

„Wer ist das denn?“

 

Nils seufzt vieldeutig. „Julius.“

 

Das sagt mir natürlich alles. Ich leiere genervt mit den Augen. „Und wer ist Julius?“

 

„Er … ich … na ja, also, wir…“

 

Ah, er braucht gar nicht weiterzureden. Bei dem Rumgedruckse verstehe ich sofort. Da steht also einer seiner Ex-Stecher. Anscheinend kein guter, sonst würde Nils sich ja wohl kaum vor ihm verstecken. Aber jetzt weiß ich immerhin, auf welchen Typ Mann der Kleine steht. Gelfrisur, adrett gekleidet und schmieriger als ein Butterbrot. Kein Wunder, dass ich dagegen abstinke.

 

Ich höre Schritte und sehe noch vor Nils, dass gefürchteter Lackaffe gerade um die Ecke stolziert. Bevor Nils reagieren kann, packe ich zwei Kondome aus dem Regal hinter mir und verkünde lautstark:

 

„Hey, Nils! XL oder XXL? Was denkst du, welches passt besser?“

 

Wenn mein treuer Mitbewohner erschrocken sein sollte, plötzlich einem seiner Ex-Flammen gegenüber zu stehen, dann übertüncht seine Verlegenheit in diesem Moment alles andere. Seine Wangen färben sich feuerrot und seine Augen weiten sich in Schock. Das siegessichere Grinsen, das sich in mein Gesicht schleichen will, unterdrücke ich gekonnt und behalte stattdessen meine ernste Mimik bei.

 

„Nils?“, fragt schließlich BWL-Julius verwirrt in die entstandene Stille. Gespielt überrascht schaue ich – Nils scheint tatsächlich perplex – zu ihm rüber.

 

„Oh, hi.“ Die beiden begrüßen sich mit einer merkwürdigen und peinlichen Umarmung, wobei die Gelfrisur es nicht lassen kann, mich – in den Händen immer noch selbstsicher die Kondome – skeptisch zu mustern. Entweder wegen der Verhütungsmittel oder wegen meines Gesichts, ich bin mir da nicht so sicher.

 

„Mann, wie geht’s? Seit dem Auszug haben wir ja nichts mehr von dir gehört“, meint Julius locker, doch ich sehe, dass Nils sich unwohl fühlt. Er lächelt zwar nett, aber es ist falsch. Etwas, das mich auf eine seltsame Weise erleichtert.

 

„Gut“, erwidert er freundlich, „Die neue WG ist super. Ich hatte Glück, dass ich so schnell eine neue Wohnung gefunden habe.“

 

Der unterschwellige Vorwurf entgeht selbst mir nicht. Julius auch nicht. Er guckt betroffen. „Übrigens, sorry … wie das damals alles gelaufen ist. Ich hoffe, du bist nicht mehr sauer.“

 

Nils winkt ab. „Schon gut. Die neue WG ist klasse.“ Dabei sieht er zu mir, ehrlich und offen und am liebsten würde ich ihn küssen.

 

„Ich bin übrigens Jarik“, stelle ich mich nüchtern vor, ohne ihm die Hand zu reichen, „Einer von Nils‘ Mitbewohnern. Und du bist?“ Ha, bin ich böse. Obwohl ich schon weiß, wer er ist, frage ich nach. Mann, ist das ausgefuchst und hinterlistig!

 

„Julius“, erklärt er, „Ich bin Nils‘ ehemaliger Mitbewohner.“ Er grinst affig. „Quasi dein Vorgänger.“

 

Oh, das ist billig. Das wünscht er sich wohl, diese Pfeife! „Komisch, er hat nie von dir erzählt, Justus.“

 

„Julius.“


Wen’s interessiert. „Wie auch immer. Wir kaufen für unser Abendessen ein, also…“ Ich gestikuliere auffordernd mit der Hand und stelle stolz fest, wie Nils sich dabei ein Lachen verkneift. Wir haben hier eindeutig die Oberhand.

 

Das bemerkt wohl auch Schleimius, der verunsichert zwischen uns beiden hin und her blickt. „Ah, okay, klar … ähm, ich geh dann mal weiter. Meld dich mal, Nils. Schönen Nachmittag noch.“ Damit nickt er uns knapp zu und verduftet glücklicherweise. Ich kann den Kerl nicht leiden. Nicht. Ein. Bisschen.

 

Als Julius weit genug weg ist, bricht das Lachen endgültig aus Nils aus.

 

„Justus“, lacht er ausgelassen, „Ehrlich, Justus?“

 

Ich zucke lässig mit den Schultern. „Was denn? Würde doch auch passen.“

 

Nils blickt grinsend zu mir hoch. Er mustert mich ausgiebig, ehe er den Kopf schüttelt und schnaubt. Irgendwas sprüht in seinen Augen nur so Funken. So gelöst habe ich ihn noch nie erlebt.

 

Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

 

„Du bist unglaublich“, meint er schließlich und zieht lächelnd, ohne ein weiteres Wort, weiter.

 

Ich starre ihm einige Sekunden perplex hinterher. Was meint er denn mit unglaublich? Unglaublich gut? Unglaublich bescheuert? Unglaublich irre?

Verdammt, da gibt es zu viele Interpretationsmöglichkeiten!

 

 

Eine gute halbe Stunde später stehe ich mit gewaschenen Händen in der Küche und schneide Zwiebeln. Das Radio schmettert passenderweise irgendein dramatisches Liebeslied, zu dem ich schniefend mitsingen kann.

 

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

 

Ich erschrecke mich beinahe zu Tode, als Nils wie aus dem Nichts neben mir auftaucht. Ehrlich, sprießt der heute einfach aus dem Boden?

 

„Scheiße, Nils!“ Ich greife mir ans Herz. „Bist du ein bekackter Ninja?!“

 

Er lächelt entschuldigend. „Sorry. Aber ich dachte, ich kann dir vielleicht helfen? Wenn du schon kochst, meine ich.“

 

Seine Wangen schimmern in einem zarten Rosa und sein Blick richtet sich auf die Zwiebeln vor mir. Es ist schon fast beängstigend, wie scharf ich es finde, wenn er so schüchtern ist. Meine Brust zieht sich unangenehm zusammen.

 

Ich wette, im Bett ist er nicht so. Stille Wasser sind tief, oder nicht?


Ach, zur Hölle! Ich brauche mir darüber doch gar keine Gedanken machen, ist nicht so, als würde ich das jemals erfahren...

 

„Hm“, mache ich abweisend, „Ist schon gut. Ich koche gerne.“

 

„Ich könnte doch die Zwiebeln schneiden.“

 

„Nein, ich schaffe das schon.“ Demonstrativ schniefe ich.

 

„Komm schon, du heulst doch schon. Ich mach das...“

„Nein!“

 

„Gib mir das Messer!“

 

„Das ist mein Messer!“

 

„Ich will doch bloß helfen!“

„Ich will deine Hilfe aber nicht! Raus aus der Küche!“

 

„Jarik!“

„Nils!“

 

Er greift zielstrebig nach einem Messer aus dem Messerblock und mobst sich flink wie ein Äffchen die Zwiebel von mir. Empört – ich lass mir doch nicht so auf der Nase rumtanzen! - will ich ihm das Zeug wieder abluchsen, aber...

 

Hey, ihr könnt es euch doch schon denken, oder?

 

„Aua.“

 

„Oh Gott, Jarik!“

 

Ich habe natürlich volle Möhre daneben gepackt.

 

„Verdammt“, flucht ausnahmsweise mal Nils und widmet sich meinem Finger, den ich mir längs an seinem Messer aufgeschnitten habe. Es blutet, aber längst nicht so viel wie damals, als ich so kläglich versucht habe, sein Bett aufzubauen. Ein schöner Schnitt ist es trotzdem. Nicht, dass ich den Schmerz gespürt hätte. Das Aua ist etwas, das ich mir angewöhnt habe. Immerhin sagen 'normale' Menschen das auch. Ich kann Schmerz zumindest simulieren.

 

„Jetzt sind wir also schon so weit, dass du mich abstechen willst“, witzle ich trocken und beobachte, wie er meinen Finger unter den laufenden Wasserhahn hält. Das Wasser ist kalt.

 

„Das wollte ich nicht“, rechtfertigt er sich kleinlaut. Ich sehe, dass ihn mein schlechter Witz getroffen hat.

 

„Hey, so meinte ich das nicht. Ich weiß, dass es ein Versehen war. Sowas passiert mir ständig … wie du weißt.“

 

Nils schweigt eine ganze Weile. Irgendwann hört mein Finger schließlich auf zu bluten und ich bekomme ein niedliches Dino-Pflaster. Damit ist der Vorfall für mich bereits gegessen.

 

Nur Nils scheint die Sache länger zu beschäftigen. Während ich mich weiter um das Mittagessen kümmere, lehnt er still und stumm an der Küchentheke neben mir. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, grübelt er angestrengt. Dabei zieht er seine rotblonden Augenbrauen zusammen und stiert vor sich hin. 

 

Nach Stieren kommt der Wahnsinn, pflegte mein Opa stets zu sagen.

 

Einerseits bin ich froh über die Stille, den ganzen Tag von ihm umgeben zu sein, ist nicht das, was mein Gemütszustand gerade braucht. Allein die gute Stunde, die ich sei dem Einkaufen mit ihm zusammen verbracht habe, hat mich wieder völlig aus der Bahn geworfen.

 

Ade, entspannte Ferien!

 

Andererseits ertrage ich diese Ruhe nicht. Es ist keiner von diesen guten Momenten, wo man sich anschweigt, weil man etwas wortlos genießen kann – es ist mehr die Art von „Ruhe-Vor-Dem-Sturm-Stille“, die mir ein ungutes Gefühl beschert.

 

„Jarik.“

 

Seht ihr, genau das meinte ich! Ruhe vor dem Sturm!

 

An seinem Ton erkenne ich, das mir eine ernste Unterhaltung bevorsteht. Ablenken kann ich aber auch nicht, die Nudeln kochen noch und die Bolognese ist fertig. Ich habe nichts zu tun.

 

Mist.

 

„Hm?“, erwidere ich, möglichst unbeteiligt. Ich mag keine ernsten Gespräche. Noch nie. Darauf folgt nämlich grundsätzlich etwas Schlechtes.

 

„Jarik, wir müssen reden. Dein Opa ist gestorben.“

 

„Jarik, so kann das nicht weitergehen! Du bist krank, sieh das doch endlich ein.“

 

„Jarik, wenn du so etwas nochmal machst, stirbst du wahrscheinlich.“

 

„Jarik, du bekommst heute keinen Pudding!“

 

Seht ihr? Nie! Beweisführung abgeschlossen.

 

„Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst“, fährt Nils ruhig fort, „Ich frage mich nur schon, seitdem ich hier eingezogen bin...“

 

„Woher ich diese Jeans habe? Die ist toll, oder? Man glaubt es kaum, aber die habe ich tatsächlich mal im Outlet in-“

 

„Rik“, unterbricht er mich sanft. Seine rechte Hand umschließt zaghaft mein Handgelenk. Ehe ich mich versehe, dreht er mich so, dass wir uns direkt ansehen können. Ich atme tief durch. „Du weißt, was ich fragen will.“

 

Ich seufze. „Ja, ich weiß.“ Meine Finger fahren ziellos durch meine Haare. „Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, dass Max oder Andi es dir irgendwann erzählen.“

 

„Du redest nicht gern darüber.“ Das ist keine Frage, das ist eine Aussage, das höre ich. „Ich habe in der Uni einen der Professoren gefragt, nachdem ich meine Bedenken bei ihm geäußert habe.“

 

Ich grinse schal. „Und, was hat der Gute dir gesagt, Sherlock Nils?“

 

„Dass du unter einer krankhaften Schmerzunempfindlichkeit leidest.“

 

Seine Stimme ist monoton. Ich kann mir vorstellen, dass er irgendwann mal einen guten Arzt abgeben wird. Besser, als all die Ärzte mit denen ich mich mein Leben lang rumschlagen musste. Meine Eltern sind mit mir zu dutzenden gerannt. Die Hälfte davon hat keinen Schimmer gehabt, was sie mit mir anstellen sollen. Es sind zu wenig Fälle bekannt, haben sie gesagt. Es gibt keine Möglichkeiten zu therapieren. Man müsse damit zu leben lernen.

 

Für mich ist das einfacher gewesen als für meine Eltern. Gut, klar, ist bestimmt nicht so cool gewesen, zu sehen, dass ein Baby sich beim Zahnen die Fingerkuppen abkaut. Oder wie ein Kleinkind sich Mückenstiche bis aufs Fleisch aufkratzt. Stell ich mir wirklich nicht prickelnd vor.

 

Mittlerweile bin ich vorsichtiger geworden. Ehrlich! Früher habe ich Mutproben gemacht. Hab mir Nadeln in die Arme gestochen und mir Finger brechen lassen. Das hat meine Eltern in den Wahnsinn getrieben. Erst, als ich von einem Dach gestürzt bin und mir einen Halswirbel und einige andere Brüche zugezogen habe, hat das alles ein Ende gefunden. Ich hatte endlich verstanden, wie gefährlich ich lebe – wie schnell alles vorbei sein kann.

 

Ohne Schmerzen als Warnsignal, ist es nicht sehr einfach, herauszufinden, wo deine Grenzen liegen. Ich dachte als Kind immer, ich sei unsterblich.

 

Bin ich aber nicht.

 

„Deswegen hast du auch so viele Narben“, bemerkt er weiter, „Du spürst es nicht, wenn du dich verletzt.“

 

Ich lächle traurig. „Nein. Liegt an irgendeinem mutierten Gen in meiner DNA.“

 

Nils mustert mich. Lang und ausgiebig. Ich weiß, was er in mir sieht. Einen Freak. Das Produkt einer wirren Laune der Natur. Nicht mehr, nicht weniger.

 

Das ertrage ich nicht länger. Ablenkend lache ich und rühre die kochenden Nudeln um. „Ich weiß, klingt abgefahren, als wäre man in einem dämlichen X-Men Film, zwar nicht so cool wie Wolverine, aber...“

 

Ich lasse beinahe den Kochlöffel fallen, als ich spüre, wie sich zwei schlanke, lange Arme um meinen Oberkörper schließen. Nils Gesicht drückt sich in meine Halsbeuge, sein warmer Atem streift meinen Nacken. Mein Herz setzt in dieser Sekunde aus.

 

„Das ist bestimmt nicht leicht“, flüstert er gegen meine Haut und beschert mir eine monströse Gänsehaut, „Aber deswegen bist du noch lange kein Freak, also hör auf, das zu denken.“

 

Ich schnaube amüsiert – der Kleine kennt mich mittlerweile viel zu gut. „Okay“, murmle ich und drücke den drahtigen Körper fest an mich. Der Kochlöffel bleibt auf der Herdplatte liegen. Als ob ich mich gerade ernsthaft aufs Kochen konzentrieren könnte.

 

„Und wenn wir schon dabei sind...“ Er löst sich von mir, nur um meine Lippen für den Bruchteil einer Sekunde mit seinen zu verschließen. „...würde ich gerne das Missverständnis, das wir seit der WG-Party haben, aufklären.“

 

Das debile Lächeln, das seit dem Kuss in meinem Gesicht klebt, verblasst nicht, obwohl ich unwesentlich verwirrt blinzle. „Hm? Was meinst du?“

 

„Dass du mich seit dem Kuss im Vorgarten meidest, wie die Pest.“

 

Ich reibe mir betroffen den Nacken. „Ich habe dich doch nicht gemieden...“

 

Nils zieht ungläubig eine Augenbraue hoch. „Natürlich nicht. Abgesehen davon, tut es mir leid, dass ich dich betrunken geküsst habe.“

 

Also, theoretisch muss er sich dafür wirklich nicht entschuldigen. Ich hebe abwehrend die Hände. „Hey, kein Problem, für solche Ausrutscher bin ich immer zu haben.“ Selbstverständlich verschweige ich den Teil mit dem Selbstmitleid und dem Herzschmerz, der daraus resultierte. Also, Klappe!

 

Letzteres bringt ihn zu, die Augen zu verdrehen. „Das war's ja eben nicht – ein Ausrutscher. Ich habe dich schon die ganze Zeit küssen wollen, aber nicht betrunken. Ich wollte währenddessen bei Sinnen sein.“

 

„Sehr vernünftig, Honey.“

 

„Danke. Und da du ja nicht den ersten Schritt gemacht hast...“ Er zuckt unschlüssig mit den Schultern, wieder so niedlich verschüchtert, wie er leibt und lebt.

 

„Hey, hey! Moment!“ Ich stütze entsetzt die Hände in die Hüfte. „Ich habe dich seit deinem Einzug quasi ununterbrochen angebaggert und du hast nicht darauf reagiert!“

 

„Weil du das mit jedem machst!“, rechtfertigt er sich, „Max und Andi machst du doch auch ständig an.“

 

„Aber das ist doch nur Spaß! Die sind das schon von mir gewohnt. Glaub mir, bei dir habe ich jeden schlechten Spruch so gemeint, wie ich ihn gesagt habe.“ Ich wackle zweideutig mit den Augenbrauen und kassiere dafür ein verlegenes Lachen.

 

Wie von selbst finden meine Hände den Weg zu seiner schmalen Hüfte. Meine Daumen streicheln über seinen Hüftknochen, bis sein Shirt verrutscht und ich endlich, endlich seine zarte Haut unter meinen Fingern spüren kann. Besser als jede Vorstellung!

 

„Hätte ich nicht gesehen, wie eifersüchtig du Julius eben angesehen hast...“ Nils Arme schlingen sich um meinen Hals, wir sind fast auf Augenhöhe. Klein ist der 'Kleine' wirklich nicht.

 

„Dieser Justus ist ein Idiot“, erwidere ich ernst, „wenn er dich einfach so hat gehen lassen.“

 

„Einfach so.“ Nils schnaubt abwertend. „Nachdem wir…nun ja...“

 

„Du meinst, nachdem ihr total schlechten und langweiligen Sex hattet?“

 

Er lacht und kneift mir halbherzig in den Nacken. „Ja, genau. Nach ein paar Monaten hat er gemeint, dass das schlecht für's WG-Klima wäre und ich wohl besser ausziehen sollte.“

 

Ich ziehe Nils mit einem Ruck an meine Brust. Kein Blatt passt mehr zwischen uns und ich fühle, wie er überrascht ausatmet. „Ehrlich gesagt, bin ich froh darüber, dass Justus...“

 

„Julius.“

 

„...dass Justus so ein Arschloch ist. Immerhin wärst du sonst nicht bei uns eingezogen.“

 

„Stimmt wohl.“ Nils schmunzelt und streichelt sanft über meinen Haaransatz. Ich würde schnurren, wenn ich könnte. Seine Augen wandern über jeden Millimeter meines Gesichtes, bis sie an einer Stelle, knapp unter meinem rechten Auge, hängen bleiben.

 

„Was hast du da gemacht?“, fragt er leise und fährt mit dem Daumen zart über die kleine Unebenmäßigkeit auf meiner Haut. Solange ich so etwas spüren kann, ist mir mein fehlendes Schmerzempfinden völlig gleich.

 

„Bin durch eine Glastür gesprungen.“

 

Er schnaubt, halb belustigt, halb fassungslos.

 

„Und da?“

 

„Vom Klettergerüst gefallen. Klingt fast schon banal, oder?“

 

Nils Daumen ist auf meiner Unterlippe angekommen, die auf der linken Seite durch eine dünne, helle Narbe geteilt wird. Mein Atem geht mittlerweile schwer und es kostet mich viel Überwindung, den Rotschopf nicht einfach gegen den Esstisch zu pressen.

 

„Und da?“ Seine Stimme ist nur noch der Hauch eines Flüsterns, so leise, dass ich ihn nur hören kann, weil uns kaum noch eine Handbreite trennt.

 

 „Bierflasche. Kneipenschlägerei. Wie im Wilden Westen, hättest du echt sehen müssen.“

 

Ich sehe noch das Grinsen auf seinen Lippen, ehe er seine Hand wegnimmt und ich ihm entgegenkomme. Der Kuss geht wesentlich länger und nimmt schnell eine Richtung an, die mir mehr als nur gefällt. Wir schenken uns nichts. Wie ein Verdurstender klammere ich mich an seine Hüfte. Sein weicher Mund ist das Beste, was ich in meinem Leben jemals gekostet habe.

 

Mit feuchten Lippen und glühenden Wangen trennt er sich von mir. So gefällt er mir fast noch besser, als wenn er schüchtern ist. Das ist ein Abbild für die Götter.

 

Für äußerst sündhafte Götter.

 

„Wie wär's“, fange ich ruhig an und lasse meine Hände spielerisch über seinen Steiß bis hin zu seinem kleinen, runden Hintern gleiten, „Wenn wir das WG-Klima ein bisschen durcheinander bringen und ich dir jede Narbe an meinem Körper zeige?“

 

Mann, wer hätte denn gedacht, dass das mal ein Anmachspruch wird, der tatsächlich zieht?

 

Nils scheint nicht abgeneigt von der Idee – als ob er jetzt noch zu mir nein sagen könnte! - und wirft dem Mittagessen auf dem Herd einen skeptischen Blick zu. „Ich dachte, du hast Hunger?“

 

Oh, das Essen kann warten. Ich habe wesentlich länger auf etwas Anderes gewartet...

 

„Habe ich auch“, schnurre ich zurück und bemerke zufrieden, wie Nils' Atmung sich beschleunigt. „Und wie.“

 

Seine Hand hebt sich langsam und gewissenhaft, um den Herd mit einer schnellen Bewegung auszuschalten, ohne, dass er dabei den Blickkontakt bricht. Ich sterbe vor Ungeduld, weiß aber genau, dass es jetzt auch nicht mehr auf jede Sekunde ankommt.

 

Ich will ihn.

 

Und ich bekomme ihn.

 

„Na dann“, meint er auffordernd, „Zeit für eine medizinische Untersuchung.“

 

„Oh Gott“, stöhne ich begeistert und greife nach seinem Kinn, um ihn ein weiteres Mal hart zu küssen, „Du bist perfekt.“

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Tag der Veröffentlichung: 28.05.2018

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