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Die Liebe ist einäugig, aber Hass gänzlich blind

 

Berthold Auerbach

 

 

 

„Du bist ein Wichser, Sander.“

 

Von meinem Handy aufschauend, betrachte ich Lisa, eine meiner Mitschülerinnen. Sie baut sich drohend und mit funkelnden Augen vor meinem Tisch auf. Fehlt nur noch, dass sie die Zähne bleckt.

 

Kurz überlegen … wieso könnte ich diesmal ein Wichser sein?

 

Weil ich Nina eben gesagt habe, dass ihre Brüste hängen? Wahrscheinlich nicht. Ich meine, hey, das ist bloß die Wahrheit.

 

Weil ich Sandra und Rubens Trockensex-Foto in der Pause rumgezeigt habe? Okay, gut möglich.

 

Oder weil ich viele kleine Penisse auf den Vertretungsplan gemalt habe? Niemals. Das ist witzig.

 

Himmel, Fragen über Fragen. Ich komm einfach nicht drauf.

 

„Richtig“, erwidere ich mit hochgezogener Augenbraue lapidar, „Hilf mir mal auf die Sprünge. Wieso genau?“

 

Lisa atmet fassungslos aus, völlig entsetzt über meine Ahnungslosigkeit. Aber mal ehrlich – wenn man sich tagtäglich so scheiße aufführt wie ich, ist es wirklich kein Zuckerschlecken, immer wieder herauszufinden, warum die Leute diesmal auf einen sauer sind.

 

„Weil es verdammt nochmal nicht lustig ist, wenn du Tom ständig schikanierst! Ich habe gesagt, du sollst es lassen!“ Sie wirft ihr blondes Haar zurück und guckt zornig. Ach so. Na, da wäre ich wirklich nie draufgekommen.

 

Ich hebe abwehrend die Hände und nehme langsam meine Füße vom Tisch. „Hey! Ich schikaniere den kleinen Racker doch nicht, wir machen nur ein bisschen Spaß.“

 

Lisa schnaubt abwertend. „Für ihn ist es aber kein Spaß, wenn du ihn im Klo einsperrst!“

 

Ach, das war's, was ich vergessen habe.

 

„Oh, buhu!“

 

„Ich als Kurssprecherin...“

 

Oh Scheiße, jetzt fängt sie mit diesem Mist an. Als ob mich die Meinung von jemandem interessiert, der sich bei der Wahl zum Kurssprecher als einzige gemeldet hat. Das Gequieke eines Meerschweinchens ist packender.

 

„...und deswegen kann es nicht sein, dass du Tom ständig mobbst. Das ist eine ernste Sache.“

 

„Das ist eine ernste Sache.“

 

Lisas Nüstern beben gefährlich, als ich sie nachäffe. Vielleicht treibe ich das Spiel diesmal zu weit?

 

„Ich habe mit Herr Tobermann gesprochen. Das wird Konsequenzen haben!“

 

„Das wird Konsequenzen haben.“

 

Ihr entfleucht ein erbostes Knurren, ehe sie auf dem Absatz kehrtmacht und wütend davonstampft. Ich spüre den Blick einiger Mitschüler auf mir, mache mir aber nichts daraus und tippe weiter auf meinem Handy rum.

 

Ha, da ist ein Pikachu im Klassenzimmer!

 

 

 

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„Gib's mir wieder, Sander!“

 

Ich grinse vergnügt und halte den Block in meiner Rechten noch ein Stück höher. Mit meiner Statur ist das ein deutlich unfaires Spiel – vor allem für Tom. Der Knirps geht mir gerade mal bis zur Schulter, wenn überhaupt.

 

Und er springt wie ein Mädchen.

 

„Bitte!“, fleht er genervt und versucht ein weiteres Mal den Malblock in meiner Hand zu erreichen. Vielleicht würde er es mit Gewalt schaffen – ich bin eher der klassische Schönling, ohne die Muskeln und den ausbleibenden Verstand – und Tom ist zwar winzig, aber kein Hänfling.

 

Nur eben ein Weichei.

 

„Was bekomme ich dafür, Prinzessin? Malst du auch mal ein Bild von mir? Oh ja, bitte! Wie in Titanic! Nur ohne das lästige Absaufen. Ich lege mich aber gerne nackt und posierend auf dein Sofa. Draw me like one of your french girls, Jack!“

 

Ein gewisses Gefühl der dominanten Zufriedenheit durchfährt mich, als ich sehe, wie seine Wangen einen leichten Rotschimmer annehmen. Das erkennt man bei seinem dunklen Teint schwer, aber ich, als geübter Schikanierer – okay, ich geb's zu, ich schikaniere ihn – bemerke es natürlich sofort.

 

Ha, Ziel erreicht. Das ist eigentlich alles, was ich bezwecken wollte. Gut, vielleicht noch, dass er heult, aber egal was ich Tom in den letzten fünf Jahren angetan habe, er hat nie geheult. Er gibt sich immer total tapfer und tut so, als würde er Meilen weit über mir stehen, doch ich weiß, dass es ihn trifft.

 

Ganz bestimmt.

 

„Ich brauche das nächste Stunde, Sander! Es … es ist wirklich wichtig.“

 

„Vielleicht brauche ich es ja auch nächste Stunde?“

 

„Das ist nicht witzig“, erwidert er kühl, „Benimm dich doch einmal deinem Alter entsprechend.“

 

Ich stutze kurz. Was? Hat er mich gerade als kindisch bezeichnet? Als wäre er so erwachsen!

 

„Oh, sorry. Wenn ich so ein Kind bin, kann ich ja ruhig noch ein bisschen spielen.“ Kaum gesagt, blättere ich unter Toms lauten Protesten durch seinen dämlichen Block. Ohne groß darüber nachzudenken, reiße ich hier und da unsauber eine Seite heraus – es sind alles Bleistiftskizzen und wenn ich nicht so sehr damit beschäftigt wäre, mich wie ein Arschloch aufzuführen, könnte ich darüber philosophieren, wie talentiert Tom eigentlich ist.

 

Aber wie gesagt, ich bin ein Arschloch.

 

„Nein!“, ruft er und schafft es, mich mit einem kraftvollen Stoß gegen die Wand hinter mir zu befördern. Von seinem plötzlichen Angriff überrumpelt, lasse ich den Block aus meiner Hand fallen und starre den Knirps vor mir verwundert an.

 

Hat Tom mich gerade geschubst? Der Tom? Der Tom, den ich in der achten Klasse mal an einen Kleiderhaken gehängt habe?

 

Tom schnappt sich sein kleines Malheftchen vom Boden und greift nach den einzelnen Zetteln, die sich zerknittert und halb zerrissen auf dem Boden verteilen.

 

„Ich habe keine Ahnung, was ich dir jemals getan habe“, schnauft er wütend – zum Teufel, ich habe ihn noch nie so wütend erlebt – und starrt mich einige Sekunden nur ungerührt an, „Aber es reicht mir. Ich habe immer gedacht, dass in dir mehr steckt, als dieser hirnlose Rüpel, den du hier gibst, aber … vergiss es. Du bist und bleibst ein verdammter Idiot.“

 

Damit stapft Tommy davon. Ich stehe, tatsächlich irgendwie geflasht von seiner Ansage, einige Sekunden reglos da. Die nette Bekanntschaft meines Rückens mit der Wand hat nicht geschmerzt. Es ist eher dieses stumpfe Gefühl in meinem Bauch, das mich innehalten lässt.

 

Als hätte Tom irgendwas in mir zerstreut.

 

Ich schüttle diesen Gedanken rasch ab. Das ist absoluter Schwachsinn. Der Kleine ist einfach angepisst, weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Auch, wenn er mich noch nie beleidigt hat.

 

Was soll's. Als würde mich seine Meinung über mich interessieren. Als würde mich die Meinung von irgendjemandem interessieren. Soll er mit seinem doofen Malblock glücklich werden.

 

„Oh, super Abgang, du Diva!“, rufe ich schnaubend hinterher, „Richtig dramatisch. Eine sichere Zehn auf der Schauspiel-Skala.“

 

Doch er dreht sich nicht um. Nach ein paar Metern schließt sich eine Klassenzimmertür hinter seinem Rücken und ich stehe immer noch da wie der letzte Trottel.

 

„Du kannst mich mal“, brumme ich wütend und trete halbherzig gegen den Tisch neben mir. Was denkt dieser Hänfling überhaupt, sich eine Meinung über mich bilden zu können?

 

Was hat er gedacht? In mir steckt also mehr als nur ein Rüpel? Als würde er mich kennen, dieser kleine Loser. Er hat keine Ahnung und es geht ihn einen Scheißdreck an!

 

Am meisten regt mich auf, dass er mich so unvorbereitet getroffen hat. Dass es mich beschäftigt, was Tom zu mir sagt, was er denkt. Wie hasserfüllt er mich angesehen hat.

 

Und das macht mich noch wütender.

 

Der nächste Tritt trifft einen Stuhl, der zwei Meter über den Boden schlittert und dann an der Wand zum Stehen kommt. Er hat ein knittriges Stück Papier unter sich mitgeschliffen, das ich geistesgegenwärtig aufhebe. Es stammt aus Toms Malblock, das erkenne ich sogar, ohne es aufzufalten.

 

Ich tue es trotzdem und bereue es beinahe sofort.

 

Trotz der ganzen Falten und dem abgerissenen Rand ist die Zeichnung nicht beschädigt. Seine Linienführung ist atemberaubend und unheimlich genau. Auch wenn er vielleicht nicht lange daran gesessen hat, ist das Porträt gelungen.

 

Ich mustere mein Abbild und schüttle fassungslos mit dem Kopf. Das muss in Deutsch gewesen sein, da sitze ich schräg vor ihm. Das würde die Perspektive erklären.

 

Ich möchte nicht arrogant klingen – na gut, eigentlich schon. Ich sehe gut aus. Er hat mich getroffen. Die hohen Wangenknochen, das markante Kinn, das verwegene Grinsen, selbst meine charmant verwuschelte Frisur.

 

Trotzdem steckt da mehr hinter, als mein hübsches Gesicht. Die Art und Weise, wie er gezeichnet hat … mit so viel Gefühl.

 

„Scheiße“, seufze ich und greife mir an die Stirn. Es ist unglaublich und Felix, mein bester Freund, würde sich nach Luft schnappend an die Brust greifen, würde ich es ihm erzählen, aber …

 

Ich habe ein schlechtes Gewissen.

 

Wie ein aggressives Geschwür arbeitet es sich meine Speiseröhre hoch. Dabei weiß ich gar nicht, warum ich meine Aktion bereuen sollte.


Klar, vielleicht bin ich übereifrig und empfindlich gewesen – was bislang jedoch kein Grund für mich gewesen ist, jemals irgendwas zu bereuen. Pff, wegen so einer lächerlichen Zeichnung werd' ich nicht gleich gefühlsduselig!

 

Ich werde sie einfach zerknüllen und in den nächsten beschissenen Papierkorb werfen, wo sie verdammt nochmal hingehört. Tom ist mir egal. Genau wie dieses Bild.

 

Dann hat er mich eben gezeichnet – na und? Dem muss ich definitiv keine weitere Bedeutung zumessen. Er kritzelt immerhin ständig irgendwas. Ich sehe ihn andauernd mit diesem Malblock und einem Bleistift in der Ecke sitzen, lächelnd in seiner eigenen Welt versunken.

 

Mir ist es ein Rätsel, warum ich sie nicht wegschmeiße. Stattdessen falte ich sie sorgsam zusammen und stecke sie rasch in meine Hosentasche. Manchmal verstehe ich selbst nicht, was ich tue.

 

 

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„Das können Sie doch nicht machen“, schnappe ich ungläubig.

 

„Ich kann und ich habe. Tut mir leid, Sander.“

 

Einen Scheiß tut es ihm leid! Dieses geheuchelte Mitleid kann der Drecksack sich sparen.

 

„Irgendwann musste dein Verhalten Konsequenzen haben“, erklärt Herr Walter ruhig, „Es war nur eine Frage der Zeit.“

 

Ich fasse mir ins Haar und ziehe grob an meinem Lockenschopf. Sie fallen mir ungezähmt in die Stirn und verdecken größtenteils die Sicht auf den Lehrertisch vor mir. Mein Kursleiter schaut immer noch unbeeindruckt zu mir hoch – als wäre es ihm nicht sowieso scheißegal, was ich davon halte.

 

Tja, wer hätte gedacht, dass diese doofe Ziege Lisa ihren Worten tatsächlich Taten folgen lässt?

 

Ich nicht.

 

„Ich habe hier noch einen Brief für deine Mutter, den sie sich durchlesen sollte.“ Damit überreicht er mir besagten Wisch, den ich Kopf schüttelnd in die Hand nehme. „Das wäre alles gar nicht so weit gekommen, wenn du es nicht wieder übertrieben hättest, Sander.“

 

„Bullshit“, brumme ich und stopfe das wertlose Stück Papier in meine Jackentasche, „Sie suchen sich doch nur eine dämliche Ausrede, um sich nicht mit mir rumschlagen zu müssen.“

 

In Herr Walters Augen funkelt es verdächtig, als hätte ich ihn auf frischer Tat ertappt. Was ihm eigentlich auch niemand vorwerfen kann – ich bin ein unerträglicher Schüler. Wenn Felix mir nicht in Mathe helfen würde, wäre ich nicht mal mehr auf diesem bescheuerten Gymnasium.

 

Meine Mutter ist immer noch überzeugt davon, dass ich ein super Abitur hinlege und dann akademisch durchstarte. Ich bin schon immer etwas kritischer gewesen als sie. Aber solange sie daran glaubt, will ich ihr diesen Traum möglichst nicht zerstören. Ich weiß, dass sie maßlos enttäuscht wäre. Nur ihr zuliebe probiere ich es.

 

Wenn's nicht danach ginge, könnten mich all diese Lackaffen hier getrost mal am Arsch lecken.

 

„Es tut mir leid“, wiederholt er nochmals und ich weiß, dass er lügt. Doch ich habe keine Kraft, noch weiter zu diskutieren, weshalb ich es bei einem resignierten Schnauben belasse.

 

Es bringt doch eh nichts. Lisa hat ihren Willen bekommen, sie hat ein bisschen Justitia gespielt und mir die verdiente Strafe erteilen lassen. Touché. Hätte ich nicht besser hinbekommen.

 

Ich könnte mich mit irgendeinem dummen Streich an ihr rächen – binnen Sekunden schmieden sich bereits die perfidesten Pläne in meinem Kopf – aber genau das ist es, was sie von dem cholerischen, nichtsnutzigen Sander erwarten. Das, was Herr Walter dazu veranlasst hat, mich nicht mit nach Kroatien fahren zu lassen. Was Tom von mir denkt.

 

Mir vergeht die Lust daran.

 

 

Meine Mutti ist verständlicherweise nicht sonderlich begeistert von dem Brief. Sie mag mich zwar mit der bedingungslosen Liebe einer Mutter lieben, aber selbst sie greift sich nicht gerade selten meinetwegen an den Kopf.

 

„Wie hast du das denn wieder geschafft?“, seufzt sie enttäuscht. Die Schatten unter ihren Augen zeigen, dass die letzte Nachtschicht wirklich anstrengend gewesen sein musste. Umso mehr tut es mir leid, sie – zum wiederholten Male – mit meinen nichtigen Problemen zu nerven.


Leider kann ich irgendwie nicht anders. Ich wäre so gern der Mustersohn, den sie sich wünscht … aber es will nicht klappen.

 

„Herr Walter meinte, ich soll nicht mit nach Kroatien, weil ich dort mit meinem guten Aussehen zu viel Aufregung auslösen würde“, witzle ich und mache einen unschuldigen Blick.

 

Mutti seufzt nochmal. „Was hast du ausgefressen, Sander?“

 

Ich ziehe eine Schnute. „Willst du abstreiten, dass ich gut aussehe? Du weißt doch hoffentlich, dass ich meine Attraktivität von dir geerbt habe, oh, du liebste Mutter aller Mütter...“

 

Sie unterbricht mich mit gerunzelter Stirn. „Hör auf mit dem hirnlosen Geplapper und sprich, Kind, bevor es mit deinem guten Aussehen zu Ende geht.“ Seht ihr, genau deswegen liebe ich meine Mutter. Selbst, wenn sie einem ab und an Angst einflößt.

 

„Hier steht, dass du einen deiner Mitschüler beinahe täglich drangsalierst. Stimmt das?“

 

„Also angeblich nennt man das mobben“, gestehe ich lahm und mache Gänsefüßchen in der Luft, „Dabei mach' ich schon seit Jahren mit Tom diese Späße und er hat sich nie beschwert, bis Lisa meinte, mich plötzlich ankreiden zu müssen. Eine dumme Spinatwachtel, oder?“

 

„Es stimmt also?“ Mutti scheint entsetzt zu sein. „Was heißt das? Was machst du?“

„Nichts Großes, ehrlich“, ich hebe abwehrend die Hände, „Ich necke ihn manchmal liebevoll, das ist alles.“

 

„Du neckst ihn also?“, wiederholt sie leicht amüsiert. „Stehst du auf ihn oder was möchtest du mir sagen?“

 

Ich falle vor Schock beinahe um. Wie diese seltene Ziegenart, die stocksteif werden, wenn man sie erschreckt. Sieht witzig aus. Bei mir bestimmt auch.

 

„Was?!“ Ich greife mir theatralisch an die Brust. „Will meine eigene Mutter mir gerade Homosexualität unterstellen?“

 

„Ich hätte kein Problem damit“, fährt sie entspannt fort und studiert neugierig mein Gesicht, „Ehrlich. Du kannst mir jederzeit alles erzählen – aber wenn du diesen Jungen schikanierst, damit du dich besser und mächtiger fühlst, bin ich wirklich schwer enttäuscht von dir. Dann hast du diesen Ausschluss nämlich verdient. Ich dachte, ich hätte dich besser erzogen.“

 

Autsch. Das sitzt tief. Nicht, dass sie vermutet, dass ich schwul bin – bei uns in der Familie ist das kein skandalöses Thema, seitdem Großtante Erna ihre Freundin Gudrun hat – sondern ihre ehrliche Auswertung. Ich weiß, dass sie Recht hat, sonst würde ich mich auch mehr dagegen wehren. Trotzdem ist es nicht leicht zu akzeptieren, dass sich meine eigene Mutter gegen mich stellt.

 

Was nicht ihre Schuld ist, denn irgendwie habe ich sie dazu wohl gezwungen.

 

„Wenn du ihn magst, solltest du dich entschuldigen“, bricht Mutti schließlich die Stille. Sie lächelt mich warm an und zwinkert mir zu. „Du könntest es sicher noch wiedergutmachen, du musst dich nur anstrengen.“

 

Hm, genau, klar. Sie scheint sich des Ausmaßes meines Verhaltens nicht bewusst zu sein. Also, ich bin mit den Regelungen des sogenannten "Mobbings" nicht sonderlich bewandert, aber ich zweifle daran, dass eine einfache Entschuldigung die letzten Schuljahre Toms mit mir wiedergutmachen würden. Nicht, dass ich was wiedergutmachen müsste. Pff.

 

„Ich mag ihn nicht“, erwidere ich stur und schnappe mir bemüht lässig einen Apfel. Mutti hat keine Zeit gehabt, zu kochen. So, wie sie auf ihre Uhr schaut, muss sie auch gleich wieder los.

 

„Gut“, antwortet sie nüchtern – dabei klingt es weniger wie ein 'Ich-glaube-dir-Gut', sondern mehr wie ein 'Erzähl-was-du-willst-Gut'. „Trotzdem wirst du dich bei ihm entschuldigen – und lass dir was einfallen, ein bloßer Händedruck reicht da nicht.“

 

Na, hab‘ ich doch gesagt!

 

„Aber Muttiiiii...“

 

Sie haut mir den Brief um die Ohren, bevor ich weiter jammern kann. „Sander de Bruyn, ich schwöre dir, ich nehme alle deine Pornoheftchen, die du unter deinem Bett versteckst und verbrenne sie feierlich im Hinterhof, wenn du nicht sofort dein Rückgrat findest und zu deinen Schandtaten stehst!“

 

Mit großen Augen lasse ich den Apfel aus der Hand fallen. „Nein! Mutter! Das kannst du nicht tun! Da sind richtige Sammlerstücke aus den Siebzigern dabei, bevor das Schamhaar out wurde!“

Meine Mutter belässt es dabei, amüsiert zu schnauben und sich ihre Schlüssel zu schnappen. „Ich muss jetzt los. Drück deine Schwester von mir, wenn du sie abholst. Sie hat sich heute zum Abendessen Pfannkuchen gewünscht.“

 

Mit einem Zwinkern verschwindet sie. Das Klacken der Haustür lenkt meinen Blick auf den dämlichen Brief. Keine Abschlussfahrt für mich. Nicht, dass es außer Felix jemanden interessieren würde, dass ich nicht dabei sein werde. Sicherlich sind sie ganz froh, eine Woche Ruhe vor mir zu haben.

 

Hey, immerhin spart meine Mutter so zweihundert Euro, für eine Fahrt mit Idioten, die ich nach dem missglückten Abitur ohnehin nie wiedersehen werde.

 

Ich raufe mir die Haare und schreie frustriert in die leere Wohnung.

 

 

Femke freut sich wie immer, als sie mich entdeckt. Die Schaufel, mit der sie eben noch im Sand gespielt hat, landet vergessen im Dreck. Mit hastigen Schritten rennt sie auf ihren kurzen Beinen zu mir rüber und wirft sich mir überschwänglich in die Arme.

 

„Hey, Kürbis“, grüße ich sie grinsend und drücke sie fest an meine Brust, bevor ich sie wieder auf dem Boden absetze. Mutti hat ihr das feuerrote Haar heute Morgen zu zwei seitlichen Zöpfen geflochten, die ihr bis zu den Schultern reichen. Sie erinnert mich ein bisschen an Pipi Langstrumpf. „Was hast du heute schönes gemacht?“

 

„Ich hab‘ versucht, dir was zu malen“, erzählt sie grinsend, „Aber das sah total doof aus. Also hab‘ ich Konfetti daraus gemacht. Hier.“ Sie grabscht mit ihren Händen in die Taschen ihrer grellpinken Jacke und holt kunterbunte Papierschnipsel heraus, die sie mir freudig in die ausgestreckten Hände schmeißt.

 

Wow. Zauberhaft. Kinder geben einem so viel zurück.

 

„Äh, danke“, antworte ich minder begeistert und stopfe mir den Müll in meine Hosentasche, „Das kann ich gut gebrauchen.“

 

„Wofür?“, erkundigt sie sich verdutzt.

 

Gute Frage. „Für Feenstaub. Das streu ich über die Erde und dann wächst da ein Kürbis.“

 

Femmy wirft mir einen – völlig begründet – skeptischen Blick zu. „Ein Kürbis?“

 

„Klar, so haben wir dich auch damals bekommen. Was glaubst du denn, warum du so einen Kürbiskopf hast?“

 

Lachend weiche ich ihren Händen aus, als sie sich beleidigt auf mich stürzen will, und drücke den Knirps mühelos am Kopf auf eine Armlänge Abstand.

 

„Schluss mit den Faxen. Holst du deine Sachen? Ich mach dir Zuhause Pfannkuchen.“

 

Das ist das Stichwort. In ihre Augen stiehlt sich ein unheimliches Glitzern und binnen Sekunden ist sie im Kindergartengebäude verschwunden. Ich schmunzele. Sie liebt Essen über alles, aber Pfannkuchen, die sind der richtige Kick für sie.

 

Von weitem erkenne ich Frau Krämer, eine der Kindergärtnerinnen von Femmy. Sie lächelt mich an und ich winke freundlich zurück. Leider verleitet sie das anscheinend dazu, zu mir rüber zulaufen. Mist. Höfliche Konversation ist gar nicht mein Ding. Vor allem, weil sie Toms Mutter ist und die hat mir gerade noch gefehlt.

 

„Hallo, Sander“, begrüßt sie mich nett und schüttelt meine dargebotene Hand, „Wie geht es dir? Wie läuft die Schule?“

 

Da ich seit zwei Jahren meine Schwester wöchentlich mindestens drei Mal vom Kindergarten abhole, kennt man mich hier gut. Ich benehme mich vorbildlich – sonst würden sowohl Mutti, als auch Femke ziemlich sauer werden – und bin recht beliebt bei den Kindern, weil es mich nicht schert, mit ihnen irgendwelche doofen Spiele zu spielen, wenn meine Schwester noch nicht nach Hause möchte. Einmal habe ich noch geschlagene zwei Stunden ein rasch eskalierendes Puppentheater vollführt, in der Hauptrolle ein Fuchs, der starke Blähungen hatte und die Schildkröte, seinen besten Kumpel, immer anpupste. Die kleinen Satansbraten haben sich totgelacht.

 

Seither mögen mich auch die hiesigen Erzieher. Obwohl sie den pupsenden Fuchs nicht so unglaublich witzig gefunden haben wie ich. „Läuft schon.“

 

„Sag mal, weißt du zufällig, ob Tom in der Schule irgendwelche Probleme hat?“, fragt sie mich aus heiterem Himmel. Ihre Miene ist ernst und ich lese eindeutig Besorgnis daraus.

 

Scheiße. Da fragt sie doch tatsächlich ausgerechnet mich. Lucifer höchstpersönlich. Ich kann das Gefühl, ertappt worden zu sein, nicht abschütteln, während sie auf eine Antwort von mir wartet. Irgendwie glaube ich, dass es heute jeder auf mich abgesehen hat.

 

„Wieso?“, erwidere ich bemüht unschuldig. Dumm stellen klappt meist ganz gut.

 

Frau Krämer schaut nachdenklich in die Luft. „Ich weiß auch nicht. Er ist in letzter Zeit so angespannt. Was ich verstehe, weil er seit Monaten an seiner Zeichenmappe arbeitet, aber gestern, da kam er erst viel zu spät nach Hause und das auch noch ohne Rucksack … Er meinte, er hätte ihn verlegt, aber irgendwie glaube ich ihm das nicht.“

 

Jupp. Völlig berechtigt. Ich habe gestern seinen Rucksack im Schulgebäude versteckt. Das Teil liegt bestimmt immer noch in der Abstellkammer der Turnhalle. Hab vergessen, ihm zu sagen, wo er ist. Nicht, dass ich sonderlich viele Gedanken daran verschwendet hätte.

 

Mir wird übel. „Er … arbeitet an einer Zeichenmappe?“

 

„Ja, für seine Studienbewerbung“, erläutert Frau Krämer stolz, „Er möchte Kunst und Design studieren.“

 

Ein dicker Knoten aus Schuld und Frustration bildet sich in meinem Magen. Merkwürdig, so miserabel habe ich mich noch nie gefühlt. Vielleicht, weil ich vorher auch noch niemandem böswillig die Zukunft zerstört habe.

 

Das sind nicht bloß dumme Kritzeleien gewesen, das waren Zeichnungen für seine Mappe. Für sein Studium. Jetzt verstehe ich langsam, warum er diesmal so wütend geworden ist.

 

Ich habe das vernichtet, was ihm momentan am meisten bedeutet.

 

„Ich hab‘ alles“, quäkt Femke ungeduldig, als sie mit ihrem Einhornrucksack neben mir auftaucht. Noch nie bin ich dankbarer gewesen, nach Hause zu können.

 

Den fetten Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, schlucke ich talentiert nach unten, als ich Frau Krämer höflich die Hand schüttle, gefolgt von meiner Schwester, die sich bei ihrer Kindergärtnerin vorbildlich verabschiedet. „Tschau, Frau Krämer. Äh … grüßen Sie Tom von mir, ja? Wir machen los.“

 

„Tschühüs!“, winkt Femmy, während wir zügigen Schrittes zum Tor marschieren. Toms Mutter schaut uns verdutzt hinterher.

 

„Aua, warum ziehst du so?“, beschwert sich meine kleine Schwester zornig und zerrt an meiner Hand, die ihre fest umklammert. Ich lasse sie erst los, als wir den Kindergarten hinter uns gelassen haben und den Nachhauseweg durch den Park einschlagen.

 

Meine merkwürdige Vorstellung hat sie quasi augenblicklich wieder vergessen, nachdem ich vorschlage, eine wilde Runde auf dem Karussell zu drehen.

 

Nach dem Wettschaukeln fühle sogar ich mich etwas besser.

 

Als ich abends im Bett liege und Mutti noch bei ihrer Nachtschicht ist und ich wie wahnsinnig an die weiße Decke meines Zimmers starre, weil ich den Klang meines Fernsehers nicht mehr ertragen habe, da glaube ich, ganz kurz nur, nichts fühlen zu können.

 

Es ist die Leere, die sich, wie ein schwarzes Loch, in meinem Körper manifestiert und mich verschlingt und einfach ein Nichts zurücklässt.

 

Ich habe etwas Schreckliches getan, nicht nur, als ich Toms Zeichnungen zerstörte, sondern seit Jahren. Die Reue, die mich einholt, macht mich taub. Reue und all dieser Hass.

 

„Sander?“ Ich fahre alarmiert hoch und blinzele die zierliche Gestalt in meinem Türrahmen an. Femke hat ihren Lieblingshasen unter den Arm geklemmt und trägt einen kitschigen Pyjama mit Kirschen drauf, in den ich sie vor einer Stunde gezwungen habe.

 

„Was? Was ist los, Kürbis?“

 

„Ich kann nicht schlafen und Mama ist nicht da.“

 

Ich lächle und rücke in meinem Bett zur Wand, um ihr Platz zu machen. Tapsig und müde krabbelt sie unter meine Decke und greift wie automatisch nach meiner Hand. Ihre kleinen Finger umgreifen meine und drücken wie selbstverständlich zu. Ich streichle über ihren Kopf, bis sie tief und fest schläft.

 

Und für einen Moment, ganz kurz nur, fühle ich.

 

Meine Finger zwirbeln eine Strähne ihres flammenden Haares und ich seufze frustriert. Ich muss mich bei Tom entschuldigen.

 

Nein, mehr noch.

 

Ich muss alles wiedergutmachen, was ich ihm jemals angetan habe.

 

Ich muss …

Take my hand, take my whole life too

Elvis Presley - Can't help falling in love

 

 

„Es ist schon faszinierend, wie du es immer wieder schaffst, dich so unbeliebt zu machen.“

 

Ich brumme und drücke etwas fester auf die Knöpfe meines Controllers. Felix‘ dämliche Figur soll endlich verrecken!

 

„Ehrlich, da bin ich eine Woche mal ausnahmsweise krank und verpasse, wie du von der Klassenfahrt ausgeschlossen wirst.“

 

Grrr. Dieser Mistkerl hat einfach zu gute Konter drauf. Er will einfach nicht sterben…

 

„Hättest du dich die paar Tage nicht zusammenreißen können? Ohne dich wird die Klassenfahrt einfach nicht lustig.“

 

YOU LOST strahlt über die komplette Hälfte meines Bildschirms und ich möchte Felix am liebsten den Fernseher an den Kopf werfen.

 

„Entschuldige“, knurre ich latent aggressiv, „Ich konnte auch nicht ahnen, dass Lisa mich verpetzt.“

 

„Doch, konntest du“, erwidert er trocken und tätschelt mir im nächsten Moment beruhigend die Schulter, „Schon gut, ich weiß. Es tut mir leid. Du findest es genauso beschissen, nicht mitkommen zu können, das würdest du nur nie zugeben.“

 

Meine Fresse, kann der seine Empathie mal ausschalten? Ich kann’s nicht leiden, wenn er meine Gefühle liest. „Hör auf zu labern und starte ein neues Match.“

 

Zustimmend murmelt Felix etwas in seinen Drei-Tage-Flaum und beginnt eine neue Runde. „Weißt du … ich habe mich sowieso immer gefragt, wieso du es ausgerechnet so auf Tom abgesehen hast.“

 

„Felix“, warne ich mit drohendem Unterton.

 

Mein bester Freund lacht über mich, als würde er mich gar nicht ernst nehmen, und spricht unbesonnen weiter: „Wie läuft das jetzt eigentlich? Hast du wenigstens solange frei, während wir in Kroatien sind?“

 

„Schön wär’s“, schnaufe ich, „Ich muss in Frau Köhlers Stammkurs.“

 

Felix macht einen bedauernden Laut der Entrüstung. „Sorry, Mann. Klingt echt scheiße.“

 

„Danke, weiß ich selber.“

 

Den restlichen Nachmittag verbringe ich damit, mit Felix Videospiele zu spielen. Dabei reden wir kaum und ich bin froh, dass er das Thema fallen gelassen hat. Auch ohne Worte hat er verstanden. Wahrscheinlich weiß ich meinen einzigen, richtigen Freund in dieser verkommenen Welt nicht oft genug zu schätzen; dafür, dass er mich für mein Verhalten noch nicht hat fallen lassen.

 

„Meine Güte, bist du scheiße in diesem Spiel. Langsam langweile ich mich.“

 

„Schnauze!“

 

 

Eine Woche später sitze ich Montag morgens in dem Klassenraum des zweiten Stammkurses. Einige Mitschüler werfen mir skeptische Blicke zu und tuscheln. Anscheinend spekulieren sie, was genau der Grund gewesen ist, um mich von der Abschlussfahrt auszuschließen. Lisa scheint nicht getratscht zu haben. Merkwürdig.

 

Einige kenne ich aus ein paar Kursen, die ich mit ihnen teile, aber mehr als eine relativ freundliche Begrüßung ist nicht drin. Ich bin ganz froh darüber, meine Ruhe zu haben. So kann ich die Woche ungestört absitzen, wie die unnütze Strafe, die sie eben ist.

 

Felix hat sich am Abend vorher gebührend bei mir verabschiedet (indem er mir mich in jedem erdenklichen Spiel, das er besitzt, geschlagen hat) und mir viel Spaß beim Büßen meiner Taten gewünscht. Wohl seine morbide Art und Weise mir mitzuteilen, dass er ebenfalls der Meinung ist, dass ich das hier verdient habe.

 

Ich seufze. Wenn sogar Felix das denkt …

 

„Oh, hey!“, höre ich ein Mädchen plötzlich lautstark losplappern, „Was machst du denn hier? Müsstest du nicht auf dem Weg nach Kroatien sein?“

 

Im nächsten Moment schrecke ich hoch. Mein Herz schlägt wie wild. Ich bin so erschrocken, dass ich nur zu ihm rüber starren kann.

 

„Tja, leider habe ich mir den Arm gebrochen“, lächelt Tom das Mädchen – Theresa, glaube ich – warm an und wedelt mit dem dicken Gips, der seinen kompletten linken Arm umschließt, „Deswegen konnte ich leider nicht mitfahren.“

 

„Oh, das ist ja schade!“

 

Ja, richtig schade. Scheiße.

 

Er quatscht noch eine Weile mit Theresa, ehe Frau Köhler den Raum betritt. Das bringt schließlich alle dazu, sich an ihre angetrauten Plätze zu setzen und ihr Schreibzeug auszupacken. Ich habe lediglich einen Block und einen Stift dabei – mehr sollte ich nicht brauchen.

 

Just in diesem Moment wandert Toms Blick durch die Reihen, auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Was mein Erbsenverstand nämlich erst jetzt realisiert:

 

Der einzig freie Stuhl ist der neben mir.

 

Doppelscheiße.

 

Unsere Augen treffen sich. Ich erkenne Verwunderung in seinen dunklen Iriden und etwas, das beinahe … Furcht gleicht.

 

Augenblicklich fühle ich mich schrecklicher als je zuvor. Ich habe mich solange dagegen geweigert, einzusehen, was mein Verhalten anrichten kann. All die Jahre habe ich keine Sekunde damit vergeudet, darüber nachzudenken, wie andere sich dabei fühlen. Schon gar nicht Tom.

 

Es ist mir ausschließlich darum gegangen, dass ich mich schlecht fühle; dass alle Menschen um mich herum meine Wut verdient haben. Doch seitdem ich diese Zeichenmappe zerstört habe, bricht die Schuld wie ein Kartenhaus über mir zusammen.

 

Plötzlich straffen sich Toms Schultern. Er läuft mit raschen Schritten zielstrebig zu mir rüber und lässt sich kommentarlos auf den Stuhl neben mir fallen, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

 

Ich schlucke und fasse unerwarteten Mut. „Hey, Tom.“

 

Keine Reaktion. Er ignoriert mich. Wahrscheinlich habe ich das verdient. Nein, ich hätte mehr als einfache Ignoranz verdient.

 

„Das mit deinem Arm tut mir leid.“

 

Tom schweigt. Die Geduld geht mir aus. Ich atme geräuschvoll ein und belasse es dabei. Wenn er nicht mit mir reden will, bitte. So dringend brauche ich seine Vergebung auch wieder nicht.

 

Die nächsten Schulstunden bricht er sein Schweigegelübde nicht einmal. Auch am nächsten Tag spricht er kein Wort mit mir. Früher hat er mich zumindest gegrüßt, aber er tut so, als wäre ich Luft für ihn.

 

Und es zerreißt mich.

 

Ich kann nicht genau erklären wieso oder was in mir vorgeht, während er mir die kalte Schulter zeigt, doch ich hätte nie gedacht, dass mich das derartig treffen würde. Natürlich gäbe ich das niemals offen zu …

 

Ist es mir schon immer so wichtig gewesen, mit Tom zu reden? Ich habe ihn oft zugequatscht, meistens dumm von der Seite, ohne jeglichen Grund. Es ergibt einfach keinen Sinn.

 

Vielleicht hat es einen Grund gegeben? Vielleicht habe ich ihn nur nie sehen wollen?

 

In der Pause hole ich mir frustriert in der Cafeteria einen Kaffee. Dieses scheußliche Gesöff ist zwar ätzend, aber immer noch besser als gar kein Kaffee. Ohne Felix langweile ich mich schrecklich. Er hat mir ein paar Bilder von der Jugendherberge und dem dortigen Strand geschickt, aber da er bloß in der Unterkunft WLAN hat, können wir erst am Abend wieder miteinander schreiben. Allgemein ist es ungewohnt ruhig, seitdem ich in diesem Stammkurs bin. Ein paar der Mitschüler kenne ich zwar auch näher, doch wir wechseln nicht viele Worte. Die meisten beäugen mich, als wäre ich ein Aussätziger. Mein Ruf ist im kompletten Jahrgang verbreitet, also wundert mich das nicht.

 

Was die paar Spießer von mir denken, geht mir am Allerwertesten vorbei. Der einzige Grund, warum ich überhaupt meine Zeit hier absitze, sitzt Stunde über Stunde neben mir und macht mich mit seinem Schweigen schier verrückt.

 

Er ist noch nie so sauer auf mich gewesen.

 

„Sag mal, Tom“, ertönt unerwartet neben mir die Stimme Theresas. Sieht so aus, als wäre sie Toms neue BFF, solange die anderen auf Klassenfahrt sind. Möglicherweise sind die beiden auch schon vorher enger miteinander befreundet gewesen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen meiner Mitschüler haben mich noch nie wirklich interessiert, solange ich sie nicht gegen sie verwenden kann. „Was hat eigentlich Sander verbrochen, dass er nicht mit auf die Klassenfahrt durfte? Alle machen so ein großes Geheimnis daraus.“

 

Überrascht widme ich dem Gespräch meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die beiden stehen um die Ecke im Flur, bei den Heizungen, mit dem Rücken zu mir. Offensichtlich haben sie mich beim Vorbeigehen nicht bemerkt.

 

„Weiß nicht“, kommt die unschlüssige Antwort des Kleineren. Sogar Theresa überragt ihn um einige Zentimeter.

 

„Komm schon!“, lässt die sich nicht abspeisen, „Mir kannst du’s sagen, ich erzähl’s auch nicht rum.“

Pff, na aber sicher – und ich bin strenggläubiger Katholik.

 

„Ich weiß es nicht, tut mir leid.“

 

„Bestimmt hat er’s wieder einfach zu weit getrieben, wie damals, als er sich mit Manuel auf dem Schulhof geprügelt hat“, überlegt Theresa laut drauf los, „Wenn du mich fragst, hat er es so oder so verdient.“

 

„Das glaube ich nicht.“

 

Mir fällt vor Unglaube beinahe der brühendheiße Kaffee aus der Hand. Wäre ich eine Comicfigur, wären meine Ohren tellergroß. Wieso zum Henker verteidigt Tom mich? Nach all dem?

 

Theresa scheint genauso schockiert. „Er triezt ständig jemanden – vor allem dich. Also, ich denke bloß…“

 

„Hast du dich denn nie gefragt, warum er das tut?“, unterbricht Tom sie leise. Ich muss mich richtig anstrengen, um ihn zu verstehen. Komisch. Mein Herz schlägt mir vor Erwartung bis zum Halse.

 

Bevor ich ihre Antwort hören kann, klingelt es zur nächsten Stunde. Bedauerlich, wo es doch gerade interessant wurde. Leider muss ich schnellstmöglich verduften, bevor die beiden mich doch noch bemerken. Trotzdem ist es mir ein Rätsel. Wieso ignoriert Tom mich einerseits und andererseits nimmt er mich in Schutz? Es will mir nicht in den Kopf gehen.

 

Im Klassenraum stiere ich in meinen schwarzen Kaffee und grübele angestrengt, bis Tom neben mir Platz nimmt und ich nicht umhinkomme, ihn dabei zu beobachten.

 

Sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar, liegt kreuz und quer und sein relativ kurzer Oberkörper wird von einem schlichten, weißen Shirt und einem kurzärmeligen Hemd bedeckt. Seine Arme sind im Vergleich dazu lang und längst nicht so schmal, wie man erwarten würde. Ich glaube mal gehört zu haben, dass er früher trainiert hat. Was genau, hab‘ ich auch keine Ahnung. Die kräftigen Beine stecken in einer schlichten, schwarzen Jeans, die ihm an den Knöcheln zu lang ist und einen Teil seiner abgetragenen Turnschuhe überdecken.

 

Alles in allem, ein völlig normaler Typ. Durchschnitt. In Menschenmassen geht er unter, bei Durchzählungen während Klassenfahrten haben ihn die Lehrer ständig vergessen. Kaum zu verdenken. Er fällt nie auf – weder positiv, noch negativ – und spricht im Unterricht kaum.

 

Genauso wenig wie mit mir.

 

Seine blaugrünen Augen erwidern meinen starrenden Blick mit Skepsis. „Was?“

 

Da ich unfähig bin, Scham zu spüren, sehe ich nicht weg, nachdem er mich beim Spannen erwischt hat. Ich bin lediglich überrascht darüber, dass er sein Schweigegelübde mir gegenüber gebrochen hat. „Es spricht!“

 

Toms Wangen färben sich in dem typischen, leichten Rotton, den ich jedes Mal schaffe, aus ihm herauszulocken. „Du hast mich angestarrt.“

 

„Hmh“, brumme ich zustimmend, „Wie hast du dir den Arm gebrochen?“ Ich deute auf den dicken Gips. Gute Ablenkung, ich bin ein Genie.

 

Er schaut verwirrt auf seine Verletzung. „Ich bin gefallen und wollte mich abfangen.“

 

„Oh“, mache ich geistreich, „Ist das nicht deine Schreibhand?“

 

Tom nickt und bewegt den Gips etwas. „Er muss noch ein paar Wochen dranbleiben.“

 

Das heißt, er kann nicht zeichnen. Nachdem ich so viele Zeichnungen von ihm zerstört habe. Er würde sicher gern weiter an seiner Mappe arbeiten, wo ich doch seine Arbeit weit zurückgeworfen habe.

 

Ich schweige schuldig. Diesmal bin ich es, der keine Worte findet.

 

„Immerhin muss ich so nicht mitschreiben“, murmelt er amüsiert und schenkt mir zum ersten Mal seit Wochen ein kleines Lächeln.

 

Ich erwidere es nicht und unterhalte mich den restlichen Tag über nicht nochmal mit ihm. Meine Gedanken sind woanders. Abends schreibe ich mit Felix und schildere ihm die Situation. Der Mistkerl findet das alles ausgesprochen witzig – er meint, dass ich so eine ganze Woche Zeit habe, mich mit Tom wieder gutzustellen, wenn wir eh jede Stunde zusammenhocken.

 

Langsam befürchte ich gar nicht mehr, dass Tom mir nicht verzeiht.

 

Ich befürchte eher, dass er es tut.

 

 

Mittwoch in Sport kann ich meine angestauten Gefühle nicht länger zurückhalten. Mein Hirn ist seit Tagen völlig überfordert mit dem Scheiß, den ich erlebe und verarbeiten muss, dass es sich feuchtfröhlich dazu entschließt, einfach komplett auszusetzen.

 

Tom integriert sich prima in den Stammkurs – zumindest in den weiblichen Teil. Die Mädels fliegen nur so auf ihn. Ständig geht er mit diesen Nervensägen in die Cafeteria, auf den Hof oder heute während einer Freistunde sogar kurz in die Stadt. Es ist faszinierend, wie beliebt er bei den Mädchen ist.

 

Die Jungs aus dem Kurs sind davon nicht so beeindruckt wie ich. Eher angefressen, würde ich sagen. Ich tippe auf ihren verletzten Macho-Stolz. Jonas und Kevin, die in unserem Jahrgang zu den ‚coolen‘ Typen gehören, weil sie ab und an Partys in der Gartenlaube von Kevins Eltern veranstalten, lästern über Tom, wenn sie denken, dass sie sonst keiner hört. Leider unterschätzen Dick und Doof mein Hörvermögen, wenn ich eine Reihe hinter ihnen sitze.

 

Nicht, dass mich das kümmert. Es ist nicht mein Problem, wenn Tom sich durch seinen Charm unbeliebt macht. Man sollte meinen, es reicht, wenn ich mich nicht mehr ständig über ihn lustig mache.

 

Sollte man meinen.

 

„Hey, Sander, kommst du in unser Team?“ Lucas klopft mir auf die Schulter, während Herr Nitsche mit ein paar anderen Jungs die Bälle holt. Ich bin zwar kein Fan von Mannschaftssportarten, aber Basketball geht. Die meisten Mitschüler sind kleiner als ich, also habe ich einen natürlichen Vorteil.

 

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern und schließe mich ihnen an. Lucas ist einer der ruhigeren Jungs, über den man keine peinliche Geschichte erzählen kann, außer, dass er in der sechsten Klasse mal unserer Deutschlehrerin aus Versehen einen Papierflieger direkt in die Visage geworfen hat. Verdient, wenn ihr mich fragt, die Frau war die Hölle. Die hat immer nach Mottenkugeln und Zigarettenrauch gerochen und mich quasi jede Stunde in den Flur geschickt, weil ich ihr „auf die Nerven gegangen bin“, sobald ich Fragen gestellt habe.

 

Meiner Meinung nach hat jeder Sechstklässler das Recht zu fragen, ob es normal für eine Frau mittleren Alters ist tellergroße Schweißflecken unter den Armen zu haben.

 

Zwanzig Minuten später bin ich voll im Spiel. Unser Team führt gegen das von Jonas mit neun Punkten. Er ist ein ziemlich schlechter Verlierer, denn je mehr Körbe wir werfen, desto aggressiver keift er seine Leute an.

 

Fabian, einer seiner Teamkollegen, versucht aus purer Verzweiflung schließlich einen Wurf von der Dreipunktlinie. Wahrscheinlich, damit Jonas endlich seine motzende Klappe hält. Unglücklicherweise prallt der Ball am Korb ab und fliegt in die andere Richtung davon – genau in Toms Gesicht, der, untätig auf der Bank sitzend, weder schnell genug ausweichen, noch sich mit beiden Händen verteidigen kann.

 

Es ertönt ein dumpfes ‚Umpf‘ beim Aufschlag. Herr Nitsche hebt den Ball auf und besieht sich kurz Toms Gesicht, nur um festzustellen, dass, bis auf einen roten Abdruck und etwas Kopfschmerzen, nichts weiter passiert ist. Fabian entschuldigt sich augenblicklich für das Missgeschick und wie Tom eben ist, winkt der bloß ab und tut so, als wäre nichts weiter.

 

„Bei dem Gesicht kann man ja auch keinen weiteren Schaden anrichten“, grinst Kevin und erntet ein anerkennendes Lachen von Jonas. Sie merken nicht, dass ich direkt neben ihnen stehe. Normalerweise würde mich das Geläster auch gar nicht interessieren.

 

Tom reibt sich die Nase und hat dabei einen Gesichtsausdruck drauf wie ein hilfloser Hundewelpe. Bei dem Anblick kann ich das Gefühl, Jonas und Kevin in das nächste Klo stopfen zu wollen, irgendwie nicht unterdrücken. Sie haben kein Recht, den Kleinen so zu behandeln. Das ist immerhin inoffiziell bis vor kurzem noch mein Job gewesen.

 

Keine zwanzig Sekunden später tackle ich Jonas hart gegen die Turnhallenwand. Er stöhnt überrascht auf, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wird. Das erinnert mich märchenhaft an den Tag in der neunten, als ich mich mit ihm wegen meiner Jeans geprügelt habe.

 

Er hatte gemeint, sie sähe alt und scheiße aus, weil meine Mutter wohl nicht genug für Markensachen verdient.

 

Da habe ich ihm ins Gesicht geboxt.

 

Den Zwist haben wir überwunden, sonst hätte ich einige Partys in der Gartenlaube verpasst, aber ich schätze, ich handle mir gerade neuen Ärger ein.

 

„Ey, geht’s noch?!“, blafft Jonas mich wütend an und schubst mich von sich.

 

Meine Schulter brennt noch etwas vom Aufprall, doch ich grinse ihn keck an und fahre mir bemüht lässig durchs Haar. „Ups, sorry, war ich zu grob?“

 

„Sander, was soll das?“, fährt mich nun auch Herr Nitsche an, „Das war ein klares Foul!“

Ich hebe abwehrend die Hände, während sich Jonas den Arm reibt, der Bekanntschaft mit der Wand machen durfte, und entschuldige mich nochmals mit einer dramatischen Verbeugung.

 

Herr Nitsche drückt nochmal ein Auge zu und lässt mich weiterspielen. Na ja, bis ich Kevin zwei Minuten später meinen Ellbogen in den Bauch ramme. Selbstverständlich völlig zufällig.

 

Okay, ich sehe ein, das war einer zu viel. Demnach widerspreche ich auch nicht, als ich auf die Bank geschickt werde. Kevin flucht wie ein alter Seemann und wirft mir ganz schön giftige Blicke zu. Mit ihm hab‘ ich’s mir jetzt ordentlich verscherzt. Ich denke jedoch, damit lässt es sich leben. Vor allem mit der Genugtuung, die ich gerade empfinde, wenn ich in Kevins vor Wut rotglühendes Gesicht gucke. Den Affen hätte es eben fast noch von den Füßen gerissen – hätte ich nur etwas kräftiger gestoßen…

 

Wie automatisch beobachte ich aus dem Augenwinkel Tom, der das gesamte Spektakel lediglich verwirrt verfolgt hat. Das Spiel wird für ein paar Minuten unterbrochen. Kevin unterhält sich angeregt mit Jonas und gestikuliert wütend in meine Richtung. Meine Güte, stellen die sich aber an.

 

Ich falle beinahe entsetzt von der Bank, als ich sehe wie Tom zu den beiden Flachflöten rübergeht und sich nach deren Empfinden erkundigt.

 

Unglaublich! Einfach hirnrissig. Dieser Kerl ist viel zu naiv und gutgläubig. Tom fragt diese Idioten tatsächlich, wie es ihnen geht. Als hätten die sein Interesse auch nur irgendwo verdient!

 

Ich balle meine Hände zu Fäusten und starre den restlichen Unterricht über genervt die Decke an. In der Umkleide ignorieren mich die meisten. Jonas schubst mich grob aus dem Weg, als er vor mir die Sporthalle verlässt und Tom trifft auf dem Hof auf ein paar der Mädchen, die gackernd auf ihn gewartet haben. Was auch immer die so toll an ihm finden.

 

Keine Ahnung, wieso mich das alles kümmert.

 

Ich verdrehe die Augen über mich selbst und verlasse dieses gottverdammte Schulgelände so schnell wie irgend möglich.

 

 

Donnerstagmorgen haben wir Mathe. Anstatt entspannt an einem kroatischen Strand zu liegen, sitze ich vor zwei Übungszetteln, die uns die Lehrerin Tom und mir auf den Tisch geklatscht hat, um uns zu beschäftigen, während sie mit ihrem Kurs ihren Stoff weiterbearbeitet. Tom, der alte Klugscheißer, hat sie nämlich unbedingt darauf aufmerksam machen müssen, dass unser Kurs ja schon viel weiter mit dem Stoff ist.

 

So ein Idiot.

 

„Hey, da du doch so ein kluges Bürschchen bist, kannst du mir, wenn du fertig bist deine Lösungen geben?“ Ich stupse Tom mit meinem Bleistift gegen den Ellbogen.

 

„Kluges Bürschchen also? Eben nanntest du mich noch einen Klugscheißer.“

 

Oh, hab‘ ich das auch laut gesagt? „Och, Tom, bitte…“

 

„Nein, du solltest das können.“

 

Ich schnaube. „Ja, ich sollte. Felix macht meine Matheaufgaben sonst immer.“

 

Tom wirft mir einen uneinsichtigen Blick zu. „Dann solltest du jetzt damit anfangen sie selbst zu lösen.“

 

Was fällt ihm denn ein, ausgerechnet in diesem Moment so durchsetzungsfähig zu werden? „Bitte, Tom! Bitte, bitte, bitte…“

 

„Sander“, spricht Frau Oertel mich laut und deutlich an, „Ich verstehe, du musst dich langweilen, wo du das Thema doch schon kennst. Dann ist es doch auch sicher kein Problem, die Ergebnisse dieser Aufgaben zu nennen.“

 

Was soll denn das? Die alte Schachtel will mir in ihrem Menopausenwahn wohl eins auswischen. Als ob das nicht im ganzen Kollegium rumgesprochen ist, dass ich ein absoluter Loser in Mathe bin.

 

Okay, das da vorne hat irgendwas mit Statistik zu tun, was genau kann ich aber auch nicht sagen…

 

„A ist gleich 0,75“, flüstert eine dunkle Stimme mir seitlich ins Ohr. Ich bekomme Gänsehaut und bin kurz davor Tom rein aus Reflex vom Stuhl zu boxen, bis ich bemerke, dass er mir tatsächlich versucht zu helfen.

 

„A ist gleich 0,75?“, wiederhole ich laut. Frau Oertel zieht ungnädig eine Augenbraue hoch und schüttelt missbilligend den Kopf.

 

„Es ist zwar ausgesprochen freundlich von Tom, dir die richtige Lösung vorzusagen, aber das hilft dir auch nicht weiter, Sander.“ Sie wendet sich wieder der Tafel zu und schreibt Toms Lösung hinter die Aufgabe. „Außerdem ist mir durchaus bewusst, dass der einzig kluge Beitrag von dir nicht deinem Kopf entstammen kann.“

 

Wouh, wie fies. Ich schnaube vor unterdrückter Wut und verkneife mir mit aller Kraft den passenden Konter. Normalerweise würde ich keine Sekunde zögern, dieser Krötenwachtel die Stirn zu bieten, aber … ich will nicht. Nicht, wenn Tom neben mir sitzt, dem ich – ja, verdammt, ich gebe es zu – beweisen möchte, dass ich tatsächlich auch anders kann.

 

Gott, ist das anstrengend.

 

„Wer erlaubt Ihnen, so über Schüler zu sprechen?“

 

Ich zucke vor Schreck zusammen. Die Stimme, die so tief und laut durch den Klassenraum schallt, zittert vor nervöser Spannung. Ich glaube, ich habe Tom noch nie so laut sprechen hören. Seine rechte Hand, die er zu einer Faust geballt hat, presst er aufgeregt auf die Tischplatte.

 

Wenn man meinen Blick als ungläubig bezeichnen würde, wäre das noch gänzlich untertrieben. Ich kann nicht anders, als ihn anzustarren. All die Jahre hat sich noch nie jemand für mich eingesetzt – außer Felix. Jedes Mal, wenn ein Lehrer mich vom Unterricht oder von Wandertagen ausschließen wollte, hat Felix für mich gebürgt. Oftmals vergebens, oftmals hat er dafür Rüge kassiert. Doch hat er es, wie er behauptet, nie bereut.

 

Manchmal muss man nicht für sich, sondern für andere gerade stehen hat er mal zu mir gesagt. Ich habe es schrecklich theatralisch gefunden, obwohl ich ihm insgeheim unglaublich dankbar bin.

 

Doch dass ausgerechnet Tom mich verteidigt – schon wieder – und diesmal vor einer Lehrkraft … das schockiert mich.

 

Frau Oertel blinzelt Tom überrascht an. Sie wirkt ebenso erschrocken. „Wie bitte?“

 

„Ich verstehe, dass Sie es nicht mögen, wenn man Ihren Unterricht stört, und das tut mir auch leid, aber das erlaubt Ihnen nicht, einen Schüler zu beleidigen“, erwidert er ernst. Sein Gesichtsausdruck ist verkniffen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast meinen, er sei wütend.

 

„Wer mir was erlaubt, geht euch Schüler meiner Meinung nach nichts an“, giftet die alte Sumpfschrulle erbost zurück. Langsam gehen ihr wohl die Nerven aus. Ich beobachte das Gespräch der beiden wie ein Wimbledon-Fan ein Tennismatch.

 

Tom gibt ein abwertendes „Tz“ von sich und schüttelt den Kopf. „Sie müssen jetzt auch nicht beleidigt sein, nur weil ein Schüler Ihnen mal die Meinung gesagt hat.“

 

Ich kann mir das ungläubige Auflachen bei dem schnippischen Kommentar meines Banknachbars nicht verkneifen. Das war’s. Jetzt habe ich alles erlebt. Wenn ich nicht gleich aufwache, dann ist das ein Tag, der in die Geschichte dieser Schule eingehen wird. Tom Krämer bekommt ein Ehrendenkmal auf dem Schulhof, weil er sich heldenhaft gegen den Schrecken Frau Oertel einsetzte und sie verbal vom Schlachtfeld fegte. Kinder weinen. Alte Herren in Anzügen ziehen ihren Hut. Fanfaren ertönen…

 

„Raus!“ Frau Oertel hat endgültig genug. „Alle beide, raus in den Flur, keine Diskussion!“

 

Ich habe auch nicht vor, darüber zu diskutieren. Wortlos stehe ich auf und packe mein Zeug in meinen Rucksack. Tom zuckt nicht mal, er starrt immer noch aufgebracht zu Frau Oertel.

 

„Tom“, seufze ich und tippe ihn sanft auf die Schulter, „Komm.“

 

Letztendlich erwacht er aus seiner Trance. Sein Blick schweift hoch zu mir. Einige Sekunden lang wandern seine tiefbraunen Iriden musternd über mein Gesicht, bis ein Schub durch seinen Körper geht, er seine Sachen schnappt und mit mir aus dem Unterrichtsraum stapft. Ich habe keinen Schimmer, was in den kleinen Kerl gefahren ist und je mehr Tage ich neben ihm verbringe, desto mehr stößt er meine Gedanken ins Chaos.

 

Bevor Frau Oertel es tun kann, schließe ich lautstark die Tür hinter uns. Ein eindrucksvoller Abgang ist das A und O. Tom geht ein paar Schritte zur nächsten Fensterbank und lässt seinen Rucksack dort achtlos zu Boden fallen.

 

„Habe ich gerade ernsthaft zu Frau Oertel gesagt, dass sie nicht beleidigt sein soll?“

 

Ich kann nicht anders. Das Lachen bricht plötzlich aus mir heraus. Unfassbar. Tom ist einfach … unfassbar.

 

„Das ist nicht lustig, Sander!“ Er dreht sich mit hochrotem Kopf und wild gestikulierend zu mir um. „Das wird Ärger geben!“

 

„Sag doch einfach, dass es meine Schuld ist“, antworte ich trocken, „Das wird ohnehin jeder annehmen.“

 

Tom sieht mich an, als hätte ich etwas Wichtiges nicht verstanden. Wie ein Kleinkind, das versucht, Puzzleteile mit Gewalt zusammenzustecken. „Lass das.“

 

Verwirrt runzle ich die Stirn. „Was?“

 

„Sie hatte nicht das Recht, so mit dir zu reden.“

 

Er macht mich verrückt damit. Wie kann er so verflucht verständnisvoll sein? Wieso verteidigt er mich? Womit zur Hölle habe ich das verdient? Ich bin unglaublich lange unausstehlich zu ihm gewesen und jetzt handelt er sich sogar Ärger für mich ein.

 

Warum? Warum zur Hölle?

 

„Ach ja?“ Ich gehe ruckartig auf ihn zu. Aus Reflex weicht Tom zurück, bis ich ihn an die Wand gedrängt habe. „Wieso nicht? Was interessiert es dich?“

 

Seine Pupillen sind geweitet. Man erkennt es kaum, weil seine Iris in einem derartig dunklem Braun funkelt, dass man meinen könnte, sie sei schwarz. Bis auf Unsicherheit kann ich nichts darin lesen. Das verwirrt mich unglaublich, als ich mich drohend vor ihm aufbaue.

 

„Sander…“

 

Ich trete den letzten Schritt an ihn heran, bis lediglich eine Handbreite unsere Oberkörper trennt. Sein Kopf reicht mir bis zur Schulter. Ich bin kurz davor, ihn vor Verzweiflung am Oberarm zu packen und zu schütteln. „Wieso glaubst du, mich verteidigen zu müssen?“

 

„Du musst nicht so sein.“

 

Ich stocke überrascht. Tom erwidert meinen bohrenden Blick mit einer Welle von Sanftmut und Verständnis. Bis auf seine roten Wangen ist keine Unsicherheit mehr an ihm zu erkennen.

 

Plötzlich ist er mehr viel zu nah. Ich taumle zurück, als hätte er mich geschlagen. „Was?“

 

In aller Ruhe greift er nach seinem Rucksack und schultert ihn mit seinem gesunden Arm. „Du musst nicht so sein, wie sie dich sehen wollen.“ Dann lächelt er mich an, nur kurz, und geht.

 

Es ist das zweite Mal binnen drei Wochen, dass Tom Krämer mich in diesem Schulflur mit aufgewühlten Gefühlen zurücklässt.

 

Diesmal bin ich nicht wütend darüber.

 

Diesmal würde ich am liebsten weinen.

Die Vernunft enttäuscht uns oft, das Gewissen nie

Jean-Jaques Rousseau  

 

 

Das ist eine sehr schöne Idee, hat meine Mutter gesagt.

 

Ich wusste gar nicht, dass du so einfühlsam sein kannst, hat Felix geschrieben.

 

Ich starre missmutig auf das dicke Buch in meinen Händen. Wenn man es aufblättert, gähnen einem unzählige leere Seiten entgegen. Die Verkäuferin hat gemeint, das Papier sei perfekt für Bleistiftskizzen. Ich hoffe dieser kleine Trottel nimmt es an. Nicht unbedingt als Entschuldigung, sondern als …

 

Ja, was ist es eigentlich? Bloß ein Geschenk? Eine nette Geste?

 

Am Ende ist es doch nur ein mickriger Ersatz für das, was ich zerstört habe. Ich weiß nicht wieso ich mich dazu genötigt gefühlt habe es zu kaufen. Nach gestern ist mir bereits klargeworden, dass Tom mir nicht sauer ist. Zumindest nicht mehr so sehr wie am Anfang. Als er mir diese Dinge an den Kopf geworfen hat.

 

“Du bist und bleibst ein verdammter Idiot“ – damit hat er nicht Unrecht gehabt. Zur Hölle, ich bin wirklich ein verdammter Idiot.

 

Ich bin immer noch verwirrt und verstehe nicht, was in meinem Kopf vor sich geht, aber es fühlte sich nicht verkehrt an, das Skizzenbuch zu kaufen. Leider habe ich keinen Plan wann ich es ihm schenken soll.

 

Das Teil liegt den gesamten Schultag über schon wie ein schwerer Felsbrocken in meinem Rucksack. In der ersten großen Pause haben die Mädchen Tom entführt, bevor ich ihn erwischen konnte. In der zweiten Pause habe ich mir einen Kaffee geholt und zugesehen, wie Tom gelangweilt mit seiner rechten Hand Kringel auf ein Blatt kritzelt. Als Linkshänder muss er unter dieser Einschränkung wirklich leiden. Doch anstatt irgendwas zu tun, habe ich diese ekelhafte Plörre getrunken und vor mich hin gestiert.

 

Vor einigen Sekunden hat es zum Schulschluss geklingelt. Ich bin quasi geflüchtet. Wahrscheinlich habe ich beim Verlassen des Klassenraums sogar eine Staubwolke hinterlassen. Doch letztendlich bin ich auf dem Schulhof wie angewurzelt stehen geblieben. Ich kann nicht gehen, ohne es ihm gegeben zu haben. Nachdem er sich gestern für mich stark gemacht hat und danach diese Worte …

 

„Du musst nicht so sein, wie sie dich sehen wollen.“

 

Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich verstanden gefühlt habe.

 

Lächerlich, ich weiß. Sander de Bruyn gibt nichts darauf, wie andere Leute ihn sehen. Verstanden werden ist was für Weicheier. Trotzdem muss ich zugeben, dass es mich unvorbereitet getroffen hat. Ich bin Tom einfach etwas schuldig.

 

Also warte ich hier, mit perfektem Blick auf die Tür und dem Buch in der Hand und fühle mich wie der letzte Depp. Jonas und Kevin werfen mir einen neugierigen Blick zu, während sie ihre Fahrräder holen, ziehen jedoch kommentarlos weiter. Bemerkungen von den Kohlköpfen muss ich heute nicht haben. Es hat mir schon gereicht, dass Theresa heute lautstark über mich lästern musste.

 

„Ich finde es super, dass endlich mal jemand Frau Oertel die Meinung gegeigt hat“, hat sie gesäuselt, keine zwei Meter neben mir, „Auch wenn ich ihr wegen Sander Recht gebe.“

 

Ich habe bloß die Augen verdreht und in ähnlicher Lautstärke Fabian gut verständlich gefragt, ob er schon die Fotos von Theresa auf Jonas‘ letzter Geburtstagsparty gesehen hat, auf denen sie gut sichtbar hinter das Sofa kotzt. Theresa ist tomatenrot angelaufen, was man nur schwer unter all dem Make-Up erkennen konnte. Danach hat sie glücklicherweise ihre vorlaute Klappe gehalten.

 

Das Skizzenbuch ist im Gegensatz zu dem, was ich demoliert habe, wesentlich dicker und besitzt einen festen Einband. Mutti hat gemeint es sieht schick aus.

 

„Was starrst du da an?“

 

Ich erschrecke mich zu Tode. Dabei lasse ich beinahe das dämliche Buch fallen. Am liebsten würde ich die Person anmeckern, was es ihr denn einfällt, mich dermaßen zu erschrecken, doch mir bleiben die Worte im Halse stecken, als ich Toms geduldigem Blick begegne.

 

„Äh, was?“ Wow, wie ausgesprochen geistreich ich bin. Darwin-Award ich komme.

 

„Warum stehst du hier und starrst ein Buch an? Ich dachte, du wärst schon weg. Du bist doch als erster los“, erklärt Tom einen Hauch verwirrt. Was ich ihm nicht verübeln kann.

 

Langsam sollte ich wohl etwas Intelligentes von mir geben. „Ich…äh.“ Etwas Intelligentes habe ich gesagt! „Ich hab‘ auf dich gewartet.“

 

„Was?“ Jetzt ist es an ihm, dumm aus der Wäsche zu schauen. Das hat er wirklich nicht erwartet. „Warum?“

 

„Hier.“ Ungeschickt drücke ich ihm das Buch an die Brust. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so unbeholfen benommen. Meine Handflächen schwitzen.

 

Tom besieht sich das Skizzenbuch kritisch. Als erwarte er jeden Moment, dass ich es ihm wieder wegnehme und laut „Ha ha!“ rufe. Das Misstrauen kann ich ihm nicht verübeln. In meinem ganzen Leben habe ich ihm noch nie etwas Gutes getan, geschweige denn etwas geschenkt.

 

Als er es öffnet, stiehlt sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Er fährt über das Papier, blättert ein paar Seiten und schaut schließlich zu mir auf.

 

Ich kann nichts dagegen tun – ich werde rot. Irgendwie ist mir das furchtbar peinlich. Außerdem hat er immer noch nichts gesagt. Er starrt mich lediglich an. Das macht mich wahnsinnig.

 

„Ähm, also … falls es dir nich‘ gefällt“, ich fahre mir verlegen durch die Locken, „dann … dann kann ich es auch zurückgeben. Ich würde auch verstehen, wenn du es ablehnst, aber…“

 

„Danke!“, bricht es aus Tom heraus, der mich plötzlich anstrahlt wie eine Supernova, „Danke, Sander. Das ist nett von dir.“

 

Ich könnte schwören, dass meine Gesichtsfarbe gerade mit einem Hummer konkurriert. Scheiße, reiß dich am Riemen Sander! Das ist ja peinlich, wie du dich hier aufführst. Du schenkst ihm was, er bedankt sich, ist doch gelaufen wie geplant. Jetzt drehst du dich um und gehst. Dein schlechtes Gewissen ist befriedigt. Ende.

 

Tom hebt lächelnd die Hand, um sich zu verabschieden, doch bevor er den Mund öffnen kann, stocke ich und unterbreche ihn. „Also…“

 

„Also?“ Er schaut abwartend. Fast ein bisschen hoffnungsvoll. Das Lächeln ist ihm noch keine Sekunde aus dem Gesicht gewichen.

 

„Ich…“

 

„Du?“

 

Ich schaffe es nicht. Meine Zunge liegt schwer in meinem Mund und mein Herz klopft, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Wieso fällt es mir so schwer? Es ist doch bloß ein einziger Satz, vier lächerliche Worte…

 

Nach einigen weiteren Sekunden Stille steckt Tom mein Geschenk in seinen Rucksack. Kurz wirkt er etwas enttäuscht, aber dann sieht er mich an, mit diesem verständnisvollen Blick, den er perfekt draufhat. „Nochmal danke. Wir sehen uns ja dann Montag. Schönes Wochenende!“

 

Damit dreht er mir den Rücken zu und verlässt das Schulgelände. Ich würde am liebsten meinen Kopf gegen die nächste Wand schlagen. Das ist die perfekte Gelegenheit gewesen. Was zum Teufel kann an einer einfachen Entschuldigung so schwer sein? Es tut mir leid. Mehr hätte ich nicht sagen brauchen. Stattdessen habe ich die ganze Zeit gestammelt wie der letzte Höhlentroll. Wie kann man sich bei der Übergabe eines Geschenks derartig blamieren?

 

Die Worte wollten meinen Mund nicht verlassen. Ich habe in Toms Augen gesehen und all die miesen Sachen, die ich ihm angetan habe, sind wie ein brennender Zug an mir vorbeigerauscht. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass Tom anders ist.

 

Tom sieht mich aus einer anderen Perspektive. Es ist fast wie bei der Zeichnung, die er von mir angefertigt hat. Man hat mich zwar erkannt, doch irgendwie ist da mehr gewesen. Hinter den zarten Bleichstiftstrichen schimmert etwas, das seinem verständnisvollen Blick ähnelt. Dieser langweilige, ruhige Kunststreber ist längst nicht der unaufmerksame Außenseiter, für den ich ihn unberechtigterweise gehalten habe.

 

Nachdem ich ihn an Kleiderhaken gehängt, ihm Schulmaterialien geklaut, beleidigt und unzählige Male verarscht und getriezt habe, hat er noch genügend Freundlichkeit inne, um mich zu verteidigen und einfach als Menschen zu sehen. Als Sander – und nicht als Störenfried oder sein Mobber.

 

Eine Entschuldigung wird nicht reichen. Niemals.

 

 

Sonntagabend sitze ich traditionell neben Felix auf dem Boden vor seinem Fernseher und zocke. Diesmal spielen wir zusammen und nicht gegeneinander – was natürlich nicht bedeutet, dass wir nette Worte austauschen.

 

„Heb das auf, du Trottel, das ist wichtig für die Quest!“

„Leck mich, du bist doch hier der Noob. Wer hat die meisten Gegner getötet?“

 

„Und wer ist auch viel öfter gestorben? Richtig, du.“

 

Ich verdrehe demonstrativ die Augen und drücke Pause. Als Felix mich verwirrt ansieht, erkläre ich, dass ich nur mal kurz pinkeln gehe. Ich verbringe eigentlich so gut wie jeden Sonntag bei Felix. Hauptsächlich, weil er eine PS4 hat und ich nicht – aber auch, um meinem Zuhause zu entfliehen. Ich liebe Mutti und Femke zwar, aber ich schätze die Zeit, die ich nicht mit ihnen verbringen muss. Klingt scheiße, oder? Manchmal kann ich nicht anders.

 

Felix‘ Eltern sind meinen sonntäglichen Besuch gewohnt. Ehrlich gesagt, mögen die beiden mich. Seine Mutter hat mal gemeint, dass sie sogar Angst hatte, Felix würde nie einen richtigen Freund finden. Was ich nicht wirklich verstehe, weil Felix im Gegensatz zu mir beliebt ist in der Schule, ausschließlich gute Noten schreibt und zudem Schülersprecher ist. Die meisten verstehen nicht, warum er mit mir abhängt. Anscheinend bringt er jedoch nicht viele Freunde mit nach Hause. Zugegeben, ab und an ist er etwas verschroben und er zockt vielleicht zu viel, aber unsympathisch macht ihn das nicht, denke ich.

 

Außerdem mag ich Karen und Sven – Felix‘ Eltern. Sie kennen mich besser als meine Mitschüler und haben mir und meiner Familie oft geholfen über die Jahre. Als meine Mutter sich von meinem Vater getrennt hat, haben wir sogar übergangsweise eine Woche bei ihnen wohnen dürfen.

 

Als ich von der Toilette wiederkomme, dödelt Felix an seinem Handy herum. In letzter Zeit schreibt er oft mit Josi, einem Mädchen aus unserem Stammkurs. Josephine ist still, langweilig und schüchtern, aber da ich seit der siebten Klasse weiß, dass Felix unheimlich verknallt in sie ist, habe ich sie immer in Ruhe gelassen. Sie hat mir sogar einmal in Physik geholfen und mich abschreiben lassen. Ich weiß zwar nicht, was Felix an ihr findet – sie hat ein durchschnittliches Gesicht, aschblondes Haar und ist flach wie ein Brett – aber sie ist schon in Ordnung.

 

„Bei der Abschlussfahrt seid ihr euch wohl nähergekommen, hä?“ Ich entreiße Felix grinsend das Handy und halte es gen Decke, um seinen verzweifelten Versuchen, es zurückzuholen, auszuweichen. Selbst er ist kleiner als ich. „Was schreibt ihr denn so? Hast du sie geknallt?“ Ich lache, als er rot wird und überfliege hastig die letzten Nachrichten der beiden. „Ernsthaft? Ihr unterhaltet euch über Informatik?“

 

Felix zieht an meinem Arm, um das Handy wieder in seine Gewalt zu bringen, scheitert aber kläglich. „Na und? Wir sind im selben Kurs!“

 

„Also Felix“, tadele ich ihn gespielt und weiche in der nächsten Sekunde auch schon seiner Faust aus, „So stirbst du noch als Jungfrau.“

 

Plötzlich holt er Schwung, prallt hart gegen mich und landet mit mir zusammen unsanft auf dem Fußboden. Ich ächze gepeinigt, weil ich direkt auf meinem Steiß gelandet bin, während Felix gierig das Handy, das ich bei dem Gerangel fallen gelassen habe, vom Teppich aufliest.

 

„Ich kann doch wohl erst mal normal mit ihr schreiben, oder?“, mault er mich beleidigt an. Es ist herrlich, den sonst so gefassten, klugen Felix unbeholfen zu erleben. Das passiert nicht oft und ich muss mich daran ergötzen, solange es andauert.

 

„Ja, aber willst du nicht langsam den ersten Schritt machen? Du hechelst ihr immerhin seit der siebten Klasse hinterher. Du weißt gar nicht, wie traurig es ist, dir dabei zuzusehen“, necke ich ihn und kassiere instant einen Schlag gegen den Hinterkopf dafür. Da verträgt jemand die Wahrheit nicht…

 

„Ich habe nach ihrer Nummer gefragt, war das nicht der erste Schritt?“

 

„Wow“, mache ich trocken, „Wie unglaublich verwegen von dir, sie zu fragen, ob du ihre Nummer haben kannst, damit du sie wegen dem Informatikprojekt erreichen kannst, an dem ihr gerade arbeitet.“

 

Er zieht eine Grimasse und schmollt. „Man sollte nicht zu vorschnell sein.“

 

„Ja, stimmt. Pass lieber auf, wenn du in dem Tempo weitermachst, triffst du sie vielleicht nächstes Jahr im Herbst auf einen Kaffee. Soll ich schon mal die Hochzeitsvorbereitungen treffen? Wann passt es euch? 2042?“

 

„Arschloch“, brummt Felix und zeigt mir demonstrativ den Mittelfinger. Ich zwinkere ihm grinsend zu und setze mich in den Schneidersitz vor den Fernseher. Auf dem Bildschirm flackert immer noch das Pausemenü.

 

„Apropos Arschloch“, höre ich ihn hinter mir unheimlich amüsiert auflachen, „Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie dein Geschenk bei Tom ankam?“

 

Ach Mist. Das ist also die Quittung für mein gehässiges Gelächter. Ich werfe Felix einen genervten Blick zu und zucke planlos mit den Schultern. Keine Ahnung, wie ich ihm die Situation beschreiben soll, abgesehen von peinlich. Dieser Aasgeier will sich doch ohnehin nur lustig machen.

 

„So gut also?“, grinst er schadenfroh und stupst mir mit einem Finger gegen die Schulter. „Was ist passiert? Hast du es ihm überhaupt gegeben?“

 

„Ja“, murre ich. „Ich habe es ihm gegeben und er hat Danke gesagt.“

 

Überrascht blinzelt Felix mich an. „Wie? Und warum guckst du dann so doof?“

 

„Oh, danke, das ist mein Gesicht!“

Mein bester Freund seufzt ungeduldig. „Das weiß ich, Gollum. Ich meine, warum wirkst du unzufrieden? Hat er sich nicht angemessen gefreut?“

 

„Doch…“

 

„Hast du was Blödes gesagt?“

 

Ich spiele mit einer Locke meines Haares und atme geräuschvoll aus. „Nein, eher im Gegenteil.“

 

„Du hast was Nettes gesagt?“, fragt Felix gespielt schockiert.

 

Mich ziemlich verarscht fühlend, werfe ich ihm einen meiner Hausschuhe an den Kopf. „Nein, Mann! Ich hab‘ nichts sagen können. Ich hab‘ versucht mich zu entschuldigen, aber hab’s nicht rausbekommen.“

 

Nun schweigt Felix nachdenklich, er legt sogar das Handy weg, was in unserer Generation von wahrer Ernsthaftigkeit spricht. Schließlich rutscht er zu mir rüber, viel zu nah, wenn ihr mich fragt, und starrt mir debil ins Gesicht.

 

„Das üben wir! Tu mal so, als wäre ich Tom und du entschuldigst dich.“

 

Ich ziehe zweifelnd eine Augenbraue hoch und zeige ihm den Vogel. „Hast du dir in Kroatien dein Hirn verbrutzelt, oder was?“

 

„Ich glaube, du konntest dich nicht entschuldigen, weil du gar nicht wusstest, was du sagen willst. Klar, es ist super, dass du’s tun willst, immerhin sieht nicht jeder Mobber ein, dass er sich wie’n Arschloch aufgeführt hat, aber es ist sicher besser, wenn du auch weißt, wofür genau du dich entschuldigst.“

 

„Wofür? Ist doch offensichtlich, oder?“, brumme ich genervt. Dieses Gespräch ist mir unangenehm – vor allem, weil der Depp mich dabei wie ein Irrer anglotzt. Warum muss der denn unbedingt Therapeut spielen?

 

„Ja und Nein. Für Tom ist es vielleicht wichtig zu hören, dass du dir ehrlich Gedanken gemacht hast.“ Ich komme nicht umhin, Felix widerwillig zuzustimmen. Das klingt irgendwie logisch, auch wenn es mich ärgert. „Also, ich bin Tom. Los, entschuldige dich!“

 

Schnaubend drücke ich Felix eines seiner Kissen in die Visage. „Das funktioniert so nicht, du Idiot.“

„Wieso nicht? Genierst du dich etwa vor mir?“, nuschelt er durch den Stoff, ehe er sich feixend von dem Kissen befreit.

 

Manchmal möchte ich ihn gerne greifen und aus dem nächsten Fenster werfen. „Du siehst ihm überhaupt nicht ähnlich.“ Was er nicht abstreiten kann, weil er quasi das genaue Gegenteil von Tom ist. Ein Lauch. Ich nenne ihn liebend gern Spargeltarzan. Außerdem macht er mit seinem Hautteint jeder Kalkwand Konkurrenz und mit seinen hellblonden Haaren und dunkelblauen Augen bestätigt er alle deutschen Klischees. „Und du nervst mich gerade.“

 

„Sag mal, Sander…“ Plötzlich wird sein Gesichtsausdruck ernst. „Warum ist dir das eigentlich alles auf einmal so wichtig?“

 

Ich murre Unverständliches, schlage ihm unbeholfen gegen die Schultern und greife zum Controller. „Jetzt halt’s Maul und lass uns weiterspielen, sonst werden wir mit der Mission nie fertig.“

 

Felix beobachtet mich noch einige Sekunden, ehe er lächelnd mit dem Kopf schüttelt und das Spiel startet. Wahrscheinlich denkt er sich seinen Teil. Was hätte ich auch antworten sollen? Ich habe doch selbst keine Erklärung. Das ist exakt die Frage, die mir, seitdem ich Toms Zeichenblock zerrissen habe, durch den Kopf spukt. Warum ist mir das alles auf einmal so wichtig – und vor allem, warum ist mir Tom so wichtig?

 

 

Der Montag zieht spurenlos an mir vorbei. Die meisten meiner Mitschüler sinnieren über die Abschlussfahrt und wie unglaublich toll sie gewesen ist. Felix hatte am Sonntag kaum ein Wort darüber verloren, außer wenn es irgendwas mit Josi betraf. So wie ich ihn kenne, hat er meine Gefühle nicht verletzen wollen, weil ich den ganzen Spaß verpasst habe.

 

Merkwürdig. Wirklich traurig darüber bin ich nicht. Tom wirkt genauso wenig getroffen, als Lisa ihm in der Pause Fotos zeigt und von den Ausflügen erzählt. Er lächelt seit heute Morgen quasi ununterbrochen. Er hat mir sogar einen guten Morgen gewünscht, als er in der ersten Stunde den Klassenraum betreten hat. Diese übermäßige Euphorie irritiert mich.


Obwohl Lisas verständnisloser Blick, als ich seinen Gruß höflich erwiderte, schon Gold wert gewesen ist.

 

Nach der Schule obliegt mir wieder die ehrwürdige Pflicht Femke vom Kindergarten abzuholen. Es hat vor ein paar Minuten angefangen zu nieseln, also wundert es mich kaum, als sie in Gummistiefeln und Matschhose vor mir steht. Ihr Regenmantel hat ein Marienkäfermuster.

 

„Holst du deine Sachen? Es sieht aus, als würde es noch gewittern und es wäre zauberhaft wenn wir nicht im strömenden Regen nach Hause laufen müssen“, begrüße ich sie brummelnd. Ich hasse es durch Regen zu laufen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn einem nasse Klamotten an der Haut kleben. Die glorreiche Idee einen Schirm einzupacken, ist mir natürlich nicht in den Sinn gekommen.

 

„Bist du aus Zucker?“, fragt Femmy ernst und stemmt demonstrativ die Hände in die Hüfte.

 

Ich verdrehe die Augen, wissentlich, welchen Spruch meine kleine Schwester mir reindrücken will, immerhin stammt der von unserer Mutter. „Nein, aber ich werde mich trotzdem gleich auflösen, wenn du nicht schnell deine Sachen holst.“

 

Der kleine Giftzwerg plustert noch empört die Wangen auf, ehe sie kehrtmacht und ihren kitschigen Rucksack holt. Derweil stelle ich mich unter dem Vordach der Eingangstür unter und warte geduldig. Die düsteren Wolken verdecken mehr und mehr den orangefarbenen Himmel und tauchen die Stadt in ein trostloses Grau. Für Oktober ist es noch recht warm, aber diesmal bereue ich es, meine Regenjacke nicht eingepackt zu haben.

 

Zielstrebige Schritte plätschern über den nassen Asphalt, während sich eine Gestalt unter einem Regenschirm der Kita nähert. Als diese jedoch ungelenk mit einer Hand den tropfenden Schirm unter dem Vordach zusammenklappt, geht mir ein Licht auf.

 

„Oh, hi“, begrüße ich Tom verlegen, der mich für einen Augenblick verblüfft mustert und dann freundlich anlächelt. Bislang habe ich ihn erst einmal im Kindergarten gesehen, bei einem der Sommerfeste, wo er freiwillig Essen und Getränke verkauft hat. Ich bin ihm damals erfolgreich aus dem Weg gegangen.

 

„Hey, Sander. Ich schätze, du holst deine Schwester ab, oder?“ Er schüttelt seinen nassen Schirm aus und lehnt ihn gegen die Hauswand. Der Regen nimmt zu, wie’s aussieht.

 

Ich nicke wortlos und vergrabe die kalten Hände in meinen Hosentaschen. Femke braucht gefühlte Ewigkeiten, um ihre blöden Sachen zu holen. „Und du?“

 

„Ich hole meine Mutter ab“, erklärt er offen, „Mein Stiefvater wartet im Auto. Sie möchte bei dem Wetter nicht laufen.“

 

„Verständlich. Es sind auch nur noch ein paar Kinder da, die werden sicher auch gleich abgeholt“, erwidere ich trocken und starre stur in den Regen. Habe ich schon mal erwähnt, dass Smalltalk überhaupt nicht mein Ding ist? Ja? Nun, es stimmt.

 

„Übrigens“, Tom reibt sich schüchtern den Nacken und schaut zu Boden, „Nochmal danke für das Skizzenbuch…“

 

„Schon gut“, unterbreche ich ihn wirsch, „Kein Ding. Immerhin hab‘ ich dein altes auf dem Gewissen.“ Wie absurd es ist, sich für etwas zu bedanken, das doch eigentlich selbstverständlich ist. Wie absurd es ist, es überhaupt erst so weit kommen zu lassen.

 

„Ich werde es sofort einweihen, wenn ich wieder kann“, grinst er und wackelt im nächsten Moment mit dem Gips, „Leider dauert das noch.“

 

Ich gebe ein verstehendes „Hm“ von mir und schweige beharrlich. Einerseits geht es mir nicht ganz auf, wieso er so übertrieben freundlich ist, andererseits kann ich nicht leugnen, dass es erschreckend erleichternd ist, dass er wieder mit mir spricht. Was die Frage aufwirft, warum mir das nicht reicht. Ich bin mir sicher, wenn ich mich jetzt entschuldigen würde, würde dieser Esel mir augenblicklich verzeihen – und ich finde dennoch keine passenden Worte.

 

Worauf warte ich?

 

„Sander, ich habe ein Loch in meiner Hose!“, quäkt es aus dem Nichts lautstark neben uns los. Femke hat einen von Grund auf erschütterten Ausdruck im Gesicht und deutet auf ihr Knie, wo sich tatsächlich ein fingerkuppengroßes Loch befindet.

 

„Ist nicht schlimm, Kürbis“, winke ich ab, „Dadurch wirst du auch nicht wesentlich nasser als sowieso schon.“

 

„Ihr habt gar keinen Schirm mit“, fällt es Tom plötzlich auf. Femke richtet ihr Augenmerk nun auf den Dunkelhaarigen, der hastig nach seinem Regenschirm greift und ihn mir bestimmend in die Hände drückt.

 

Ich bin überrumpelt von seiner Entschiedenheit. „Danke, aber…“

 

„Ist schon gut, wir sind doch eh mit dem Auto da. Die paar Meter bis zum Parkplatz sind kein Weltuntergang.“ Er lächelt warm, verabschiedet sich eilig, um seiner Mutter beim Aufräumen zu helfen und Wusch, verschwindet im Inneren des Hauses.

 

„Wer war das?“, fragt Femke neugierig und übergibt mir wie selbstverständlich ihren Einhornrucksack. Ich hasse dieses Teil.

 

„Tom“, antworte ich lapidar und füge bei einem unbefriedigten Blick von ihr hinzu: „Der Sohn von Frau Krämer und ein Mitschüler von mir.“

 

„Seid ihr Freunde?“

 

Ich verharre auf dem Fleck und stiere auf den waldgrünen Regenschirm in meiner Hand. Eine gute Frage. Ohne groß zu überlegen würde ich sofort verneinen. Bloß weil ich Tom nicht länger trieze und wir auf einer relativ freundlichen Basis miteinander kommunizieren, heißt das nicht gleich, dass wir Freunde sind. Felix ist der einzige Freund den ich habe. Das reicht auch. Mein Ziel ist es nicht, Tom als Freund zu gewinnen. Es geht einzig und allein darum, mein schlechtes Gewissen zu besänftigen.

 

Ich spanne den Schirm auf, trete in den prasselnden Regenschauer und lächle Femmy an. „Komm schon, ich hab‘ Hunger. Heute gibt’s Lasagne.“

 

„Wuhu!“

 

Hm, Tom und ich Freunde. Eine witzige Vorstellung…

 

 

Oh Gott. Was zum Teufel passiert hier? Was bedeuten diese kryptischen Hieroglyphen? Warum nicken alle, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt? Wurde dieser Kurs einer Gehirnwäsche unterzogen? Bin ich der einzige, der klar denken kann?

 

„Felix“, flüstere ich hilflos und ziehe an seinem Ärmel, bis er sich genervt zu mir dreht, „Wir sind im falschen Kurs. Wir haben doch gar kein Spanisch!“

 

Mein bester Freund verdreht verständnislos die Augen. „Das kommt davon, wenn man die letzten drei Jahre in Mathe nur an seinem Handy spielt.“

 

„Ich verstehe aber wirklich nur Spanisch“, schmolle ich. Das Mathebuch neben mir ist mir auch keine große Hilfe. Die Staubschicht, die sich darauf bereits gesammelt hatte, spricht für sich.

 

„Du musst mir nach der Stunde deine Aufzeichnungen geben“, bestimme ich verzweifelt und beobachte, wie Felix neben mir skeptisch die Augenbrauen zusammenzieht.

 

„Bist du krank?“ Er legt mir demonstrativ eine Hand auf die Stirn, bevor ich ihn aufhalten kann. „Fieber hast du nicht. Bist du heute Morgen wieder aus dem Bett gefallen?“

 

„Ha ha“, mache ich unbeeindruckt, „Ich meine es ernst. Ich habe am Ende der Stunde sonst keinerlei Mitschriften, weil der dämliche Herr Walter ja zu faul ist, irgendwas an die Tafel zu schreiben.“

 

„Du hast nie Mitschriften“, schnaubt Felix leise, „Aber bitte, wie du willst. Ich gebe dir nach dem Unterricht meinen Hefter, dann kannst du zum Kopierer.“

 

„Danke.“ Ich verschränke lässig die Arme hinter dem Kopf und kipple auf meinem Stuhl hin und her. Mein Mund verzieht sich unbewusst zu einem kleinen Schmunzeln. Felix denkt sicherlich, ich sei verrückt geworden.

 

Er hält sein Wort. Kommentarlos überreicht er mir seinen Hefter nach Unterrichtsschluss und begleitet mich sogar noch netterweise bis zum Kopierer. Da ich nie Geld auf meiner Kopierkarte besitze, leiht er mir zusätzlich seine. Ob er sich dabei wohl bewusst ist, dass er sie nie wiedersehen wird?

 

„Kopieren schaffst du hoffentlich allein“, meint er dann unwesentlich vorwurfsvoll, „Ich muss los. Ich bin mit Josi verabredet, wegen des Informatikprojektes.“

 

Ich stoße ein zu langgezogenes „Uuuh“ aus und pieke ihm mit dem Ellbogen penetrant in die Seite. „Nur ihr zwei? Seid ihr allein? Bei ihr oder bei dir? Hoffentlich bei ihr, weil dein Zimmer förmlich Jungfrau schreit.“

 

Felix‘ Gesichtsfarbe nimmt ein unnatürliches Rot an. „Wir treffen uns im Computerraum. Herr Tobermann hat mir den Schlüssel gegeben. Das Projekt ist wichtig für unsere Halbjahresnote.“

 

„Also seid ihr allein“, fasse ich grienend zusammen, woraufhin er ein Stöhnen und sowas wie „Unverbesserlich“ von sich gibt. Ich mache demonstrativ laute Knutschgeräusche, als er mit roter Birne vor mir flieht. Wofür hat man Freunde.

 

Nachdem ich alles Wichtige kopiert habe, stopfe ich den Kram in meinen Rucksack und renne zur nächsten Bushaltestelle. Laut Meister-Google ist es eine zwanzigminütige Fahrt bis zu meinem Ziel. Die Strecke bin ich noch nie gefahren. Felix wohnt direkt in der Innenstadt, keine zwanzig Minuten Fußweg entfernt von mir und zur Schule oder zum Kindergarten brauche ich ähnlich lang. Das Viertel, das ich ansteuere, gehört zu den schöneren. Dort stehen zahlreiche Familienhäuser, Doppelhaushälften und sogar eine Handvoll Villen. Als Kind habe ich immer davon geträumt, dass unsere Familie in einem schönen Haus am Stadtrand wohnt, mit einem Hund und netten Nachbarn. Wir hätten alle gemeinsam zu Abend gegessen oder Ausflüge gemacht, wie ein Zoobesuch oder einen Trip zum nächsten Vergnügungspark.

 

Wahrhaft idyllisch – und absolut lächerlich. Träume sind Schäume.

 

Wenn die Adresse im Klassenbuch korrekt ist, dann stehe ich vor dem richtigen Haus. Ansonsten wird das, was ich gleich tun will, fürchterlich peinlich. Es ist ein nettes, kleines Haus, mit beblümten Vorgarten, weißer Fassade, rotem Dach und einer typisch deutschen Hecke drumherum. Der Name auf dem Briefkasten verrät mir, dass ich hier tatsächlich richtig bin.

 

Ich atme tief durch und drücke fest auf die Klingel, bevor ich mich umentscheiden kann. Ein lautes Bellen antwortet mir. Am liebsten hätte ich gelacht. Natürlich haben sie einen Hund.

 

„Hallo?“ Ein brünetter Junge öffnet die Tür. Er ist größer als Tom, hat grüne Augen und einen kühlen Ausdruck im Gesicht. Neben ihm wedelt aufgeregt ein kniehoher Hund mit dem Schwanz. Irgendwie schaut der Vierbeiner freundlicher drein als der Typ. Vielleicht habe ich ihn auch beim Masturbieren gestört, er sieht so aus, als würde er noch mitten in der Pubertät stecken. Fünfzehn, allerhöchstens.

 

„Ich bin Sander, ein Mitschüler von Tom“, erkläre ich höflich, „Ich habe ein paar Schulsachen, die ich ihm geben muss.“

 

Der Dreikäsehoch mustert mich, als würde er in Erwägung ziehen, sein kleines Hündchen auf mich zu hetzen, zuckt aber schließlich desinteressiert mit den Schultern. „Warte kurz.“ Als er mir seinen schmalen Rücken zudreht, komme ich nicht umhin, festzustellen, dass er Tom kein bisschen ähnlichsieht. Die beiden können nicht verwandt sein.

 

„Toooom!“, brüllt der Junge durchs Haus, „Da ist ein Freund von dir an der Tür!“

 

Fassungslos greife ich mir an die Stirn. Noch stumpfer hätte er mich nicht ankündigen können, oder? Und wer hat hier von einem Freund geredet? Tom wird bei der Aussage verwirrt darüber sein, ausgerechnet mich in der Tür stehen zu sehen – obwohl, das wird er so oder so sein.

 

„Komme!“, schallt es ähnlich laut zurück. Mensch, Zuhause ist er anscheinend nicht so leise wie in der Schule. Kurz darauf hört man ein Knallen, als wäre jemand gestolpert und der Teenie vor mir verdreht ungeduldig die Augen.

 

Einige Sekunden später bremst Tom auf dem rutschigen Parkett scharf. Wahrscheinlich hat Frau Krämer es gerade erst poliert. Toms kitschige Weihnachtssocken spiegeln sich jedenfalls darin. Das kann ich so gut sehen, weil ich ein paar Augenblicke brauche, um vom Boden direkt in sein Gesicht sehen zu können.

 

Tja, da ist auch die Überraschung, die ich erwartet habe.

 

„Sander? Wie … äh … was machst du hier?“ Dann bemerkt er, dass der Junge, der mir die Tür geöffnet hat, noch immer ungerührt neben ihm steht und uns beide aufmerksam betrachtet. „Äh, Alex … würdest du…?“

 

Alex zuckt lustlos mit den Schultern und dampft ab. Anscheinend sind wir nicht so interessant, wie er gehofft hat.

 

„Alex ist mein Stiefbruder“, erklärt Tom relativ steif, während er angespannt an seinem T-Shirt zupft, auf dem ein übergroßes Pikachu abgebildet ist. Es ist verwaschen und etwas zu klein, weshalb ein Teil seiner Hüfte zwischen Jogginghose und Shirt hervorblitzt.

 

„Schickes Shirt“, kommentiere ich bemüht nüchtern, muss aber innerlich über seine Verlegenheit grinsen.

 

Er verschränkt defensiv die Arme vor der Brust und verdeckt mir so die Sicht auf das putzige Pikachu. „Hat dein Besuch irgendeinen Grund?“

 

„Wie, ich brauche einen Grund?“ Ich schlage mir theatralisch die Hände an die Wangen. „Das hat mir keiner gesagt. Gibst du mir fürs nächste Mal die Nummer deiner Sekretärin?“, necke ich ihn.

 

„Sander“, quengelt er mit roten Ohren. Ich habe es unheimlich vermisst, den Kleinen zu ärgern. Das Rot hat mir gefehlt.

 

„Ja ja“, winke ich ab und krame in meinem Rucksack, bis ich die Papiere zusammenhabe. „Ich habe ein paar Mitschriften für dich.“

 

Perplex wäre gar kein passender Ausdruck, als ich ihm die Blätter überreiche. Er nimmt sie mit der gesunden Hand und überfliegt sie einzeln. Ich finde, ich habe meine Arbeit gut gemacht. Sogar mit Überschriften in bunten Farben und leserlich. Sowas hab‘ ich seit der siebten Klasse nicht mehr gemacht.

 

„Die sind leider nur von den Kursen, die wir zusammen haben“, erkläre ich entschuldigend, „Ich weiß ja nicht, ob du dir schon von Lisa alles kopierst, aber ich dachte, wenn ich dir die Mitschriften ab jetzt bringen würde, würde dir das eine Menge Arbeit sparen.“

 

Gott, klingt das nett. Wie ekelhaft. Langsam verstehe ich, warum Felix so verwirrt ist. Ich erkenne mich ja selbst kaum wieder.

 

„Äh-ähm“, stammelt Tom und starrt mich an, als wäre ich ein Geist, „Danke, also … krass. Warum … warum machst du das?“

 

Damit erwischt er mich kalt. Ich hatte gehofft, er würde keine Fragen stellen und meine nette Geste einfach hinnehmen. Mein Herz stottert bei der Frage minimal und ich streiche mir ablenkend die Locken aus der Stirn.

 

„Weil du eine gebrochene Hand hast, du Dummkopf. Schon vergessen?“ Demonstrativ schnipse ich ihm gegen den dicken Gips.

 

„Nein, ich meine, das ist mir klar, aber…“

 

„Tom“, unterbreche ich ihn harsch, „Nimm es doch einfach an.“ Und weil er mich nun anguckt wie ein verletztes Rehkitz füge ich hinzu: „Bitte.“

 

Erst plustert er seine Wangen auf, als wäre er schrecklich unzufrieden damit, und ich fürchte, dass er davon nicht ablassen wird, aber dann seufzt er und lächelt mich dankbar an. „Das ist super lieb von dir. Lisa hat mir ein paar Sachen kopiert, aber nicht alles. Dankeschön!“

 

„Schon gut“, erwidere ich dumpf, „Das ist das Mindeste, nachdem was ich…“

 

„Sag mal“, würgt Tom mich plötzlich ab und mustert mich skeptisch, „Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“

 

Unschuldig kratze ich mich am Kinn. „Was? Woher ich das weiß? Tja, also, ich stalke dich. Ich folge dir jeden Tag nach der Schule heimlich nach Hause. Als guter Stalker muss man das wissen.“

 

Tom schmunzelt und verdreht die Augen. „Ja, klar. Du hast ins Klassenbuch geguckt, oder?“

 

Ich zwinkere ihm zu. „Das wird für immer mein Geheimnis bleiben.“

 

„Du hast ins Klassenbuch geguckt.“

 

„Geheimnis!“

 

Tom fragt mich schließlich, ob ich reinkommen will, was ich höflich verneine. Man muss es ja nicht gleich übertrieben. Tatsächlich hat er deswegen fast etwas … enttäuscht gewirkt. Das habe ich sicher überinterpretiert. Jedenfalls will ich nicht unbedingt Frau Krämer begegnen und zum Abendessen Zuhause sein. Ausnahmsweise schaffen wir es heute zeitlich, als Familie gemeinsam zu essen. Eine nette Seltenheit.

 

Als wir uns verabschieden, zuckt Tom kurz in meine Richtung, als würde er mich umarmen wollen, aber er hält sich zurück und bedankt sich nochmals. Merkwürdigerweise hätte ich die Umarmung begrüßt. Keinen Plan, was mir da durch den Kopf geschossen ist. Bloß, dass es ok gewesen wäre.

 

Ich bin nett zu ihm geworden, unnatürlich nett. Ich hasse es zu sehen, wenn andere sich über ihn lustig machen. Ich passe für ihn im Unterricht auf und schreibe mit. Ich will mit ihm reden, ich will ihn lächeln sehen. Aber vor allem denke ich, dass er mich als einziger versteht und akzeptiert.

 

Bedeutet das, dass Tom und ich irgendwie Freunde geworden sind? Wahrscheinlich. Seltsam … es fühlt sich nicht an wie eine Freundschaft. Das ist nicht das gleiche wie bei Felix und mir.

 

Was genau will ich? Mein Gewissen besänftigen? Doch es ist nicht mein Gewissen, das in mir Unruhe verursacht. Ich kann nicht mehr zuordnen, was die Löcher in meine gefasste Fassade reißt.

 

Vielleicht vergeht das alles, wenn ich mich endlich bei Tom entschuldigt habe. Das sollte die Dinge klären, oder?

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Tag der Veröffentlichung: 27.05.2018

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