Die Spedition lädt die letzten Kisten in den Umzugswagen. Einlagern werden sie alles, mein Leben verpackt in Kisten. Vor zwei Monaten saß ich genau hier, auf meiner Gartenliege, umgeben von unserem kleinen Paradies. Die ersten Sommertage lockten uns hinaus, grillen mit Freunden, oder nur zu zweit den Tag ausklingen lassen. Da war die Welt noch in Ordnung, oder eigentlich auch nicht, nur damals wusste ich es nicht. Am Anfang des Sommers haben wir uns hier noch geküsst, in den Armen gehalten. Die lauen Sonnenabende, aber brachten Gefühlskälte und Gewitterwolken mit sich. Noch einmal zurück, zurück in die heile Welt von gestern. Ich lasse mich nach hinten sinken, die Sonne blendet, wird stur ignoriert. Der Duft von Jasmin dringt an meine Nase, wann haben wir ihn gesetzt – noch keine zwei Jahre. Lächelnd lausche ich dem Zwitschern der Vögel - unbeschwert und frei, welch eine Illusion. Kopfschüttelnd blicke ich mich um. Zu Hause bin ich hier nicht länger, selbst dieses wurde ersetzt, ersetzt durch eine kleine, dunkle Zweizimmerwohnung. Lasse meine Gedanken treiben.
Die Gedanken sie zerplatzen, wie eine Seifenblase im Wind. Alles um mich herum verschwimmt, wird aufgesogen, vom dumpfen Nebel vereinnahmt. Die Geräusche entfernen sich, rücken von mir ab. Doch das Licht, grell und warm, es blendet. Blinzelnd öffne ich meine Augen, verberge sie zum Schutz hinter meiner Hand. Verwirrt blicke ich mich um. Folge der Seifenblase, davongetragen in die Ferne, sehe wie sie an der Wand zerspringt. An der Wand? Langsam erhebe ich mich von meiner Liege, laufe hinüber. An der Wand stehen Worte, reihen sich unzählige Sätze aneinander - geschnörkelt und geschwungen, eckig und hart, verblasst und verschwommen - jede Zeile in einer anderen Schrift. Mein Leben steht hier geschrieben, in einer geraden Linie.
Ich folge den Worten, schreite mein Leben entlang. Immer schneller werden meine Schritte, will endlich wissen, wo es begonnen hat. Wo hat all das seinen Anfang? Im Schatten verborgen keimt der Zweifel, stellt sich mir in den Weg, mahnt ich sollte vor Angst davonlaufen. Ich ignoriere ihn, laufe weiter, renne meiner Verworrenheit entgegen. Da versinkt alles, zerfließen die Worte vor meinen Augen, zu einem Strudel und reißen mich hinab in die Tiefe. Recke meinen Kopf in die Höhe, versinken will ich nicht. Die Kontrolle ist mir längst entrissen, treibe auf den Wellen entlang, direkt in einen Garten. Ich schaue mich um, gehe zögerliche Schritte. Mein Garten umgeben von Mauern, dazwischen türmen sich Wände hoch auf, doch es ist mein Garten.
Ein Irrgarten ist daraus geworden, ein Spiegel meiner selbst. Verworren, undurchdringlich sieht er aus, reflektiert meine Gefühle, ich will hier gerne raus. Zu drängend offenbart sich die Wahrheit, schlägt mir ins Gesicht, was ich all die Jahre nicht sehen wollte. Die Mauern - mein Alltag, ein Gefängnis selbst gebaut. Errichtet aus Verpflichtung, Aufgaben und gestützt von unzähligen Kompromissen. Alles türmt sich zu meinen Seiten, sperrt und zwängt mich ein. Ich drehe mich um, will zurück, pralle gegen eine Wand. Sie schwankt und bröckelt, der Putz fällt leise ab, ganz wie in meinem Inneren, die Fassade wankt. Schleichend gehe ich an der Mauer entlang, einer Mauer von vielen. Gehe um sie herum, winde und recke mich, will nichts mehr berühren. Ohne die Berührung, ohne ein Gefühl dafür bleibt es surreal, kann ich es auf Abstand halten – denke ich.
Meine Gedanken schweifen ab, gleichwohl ich in meiner Gedankenwelt gefangen bin. Wo ist das Vogelgezwitscher? Die Sonne? Wo ist mein Leben geblieben? Das Leben das ich leben wollte, dass ich mir früher ausgemalt hatte. Ich hatte einst Ziele, Hoffnungen - wie weggeblasen. All die farbenfrohen Bilder – weg. So sehr bin ich von meinem Weg abgekommen, habe mich weit von mir selbst entfernt. Ist da noch ein Stück meines alten Ichs? Laufe weiter, setze einen Fuß vor den anderen. Umgehe unzählige Hindernisse – große und kleine – manche meterdick, andere schmal und instabil. Alle lasse ich hinter mir. Folge meinem Bauchgefühl, orientierungslos vertraue ich darauf. Vertrauen, welch Widerspruch. Ich habe zu lange auf Vertrauen gebaut, doch nicht auf meins – nein, das anderer. Und wo hat es mich hingeführt? Meine Existenz liegt als Scherbenhaufen vor mir.
Die Luft flirrt, es knistert wie an einem heißen Sommertag. Silhouetten verformen sich, zerbrechen, fügen sich neu zusammen. Binnen Sekunden stehe ich auf einer weiten Wiese, saftiges grün umgibt mich, der Himmel strahlt blau auf mich nieder. Ich halte inne, suche eine Verbindung in meinem Geist. Seltsam bekannt ist dieser Ort, aus früherer Zeit. Früher war alles besser. Wie oft habe ich diesen Satz belächelt. Womöglich stimmt es, doch liegt es lange hinter mir. Ohne dieses frühere Leben, wäre ich heute nicht… ja, wo eigentlich? An einem Wendepunkt, in einer Sackgasse oder gar am Ende? Ich weiß es nicht. Die Weite um mich herum lässt mich durchatmen, befreit von all der Enge zuvor, ein gutes Gefühl. Ein einsamer Baum, mitten auf einer kleinen Anhöhe, erhaben steht er dort. Ich laufe weiter, halte darauf zu.
Die Schritte klingen dumpf im Gras, schneller und schneller treten meine Füße auf. Ich renne - wieder – Distanzen verschieben sich, alles rückt in unerreichbare Ferne. Bin längst außer Atem, will nicht aufgeben – beschleunige - das Ziel so nah vor Augen. Meine Kräfte schwinden, träges Stapfen ersetzt den Laufschritt, alles bleibt stehen. Schleppe mich die letzten Meter und sinke am Stamm hinab. Mich anlehnen, Halt finden – all das wollte ich in meiner Partnerschaft, fand jedoch den freien Fall, stehe wieder alleine da. Geblendet kneife ich die Augen zu, suche tastend nach der Quelle. Kalt und glatt erspüren meine Finger einen Gegenstand im Gras, greifen danach. Senke meinen Kopf herab, halte einen Spiegel in Händen. Zögernd, was kommen mag, blicke ich hinein.
Blicke in mein Spiegelbild, betrachte mich einen Moment. Suche nach einer Veränderung, einer Spur die meine Reise hinterlassen hat, kann aber nichts entdecken. Verwirrt, ein wenig enttäuscht, drehe und wende ich den Spiegel, warte einen Augenblick. Nichts ändert sich, ganz gleich was ich auch Versuche – ich sehe nur mich selbst. Resigniert senke ich meine Hände herab, lege sie mitsamt Spiegel in meinen Schoß. Hatte mein Zögern den Spiegel entzaubert? War meine Reise am Ende gar umsonst? Fragend kreisen meine Gedanken, während eine bleierne Müdigkeit mich umringt. Möchte dagegen ankämpfen, nicht hilflos sein an diesem seltsamen Ort. Irgendwann gebe ich erschöpft nach, spüre die Schwere in meinen Gliedern. Mein Kopf wird schwer und ich schließe meine Augen.
Das Zwitschern der Vögel dringt an meine Ohren, die Sonne blendet mich und der Wind treibt einen Hauch von Jasmin zu mir herüber. Ich drehe mich zur Seite, spüre die Liege unter mir, öffne meine Augen. Der Garten – mein Garten – ich bin wieder zurück, oder war ich gar nicht weg. Kopfschüttelnd setze ich mich auf, lasse meinen Blick schweifen, kneife mich in den Arm. Ich bin wach, doch habe ich geträumt? Ich schließe - diesmal bewusst – meine Augen. All die Gefühle schienen real, fühle in mich hinein – spüre mich selbst. Seit langem nehme ich mich selbst wieder wahr. Ich wollte zurück in die heile Welt, sah all die mir aufgelastete Bürden der vergangen Jahre. Trotze den Wirrungen und gelangte an Ziel. Das Ziel war ich selbst, der Spiegel funktionierte, war nicht entzaubert. Die Antwort lag mir die ganze Zeit vor Augen, nein vielmehr ruhte sie unerkannt in meinem Inneren.
Sanft wie Kuss hat mein Traum, meine Reise, mich erweckt – mir gezeigt, dass es allein in meinen Händen liegt. Lächelnd lasse ich mich auf der Gartenliege zurücksinken, nehme Abschied von vergangenen Tagen, lasse meinen Ballast genau hier zurück. Ein Ende setzen, aus der selbstgebauten Sackgasse heraustreten, den Wendepunkt passieren und einen Neuanfang wagen. Unbeschwert und frei - keine Illusion, sondern meine neu gewonnene Erkenntnis – so möchte ich meinen weiteren Weg beginnen. Ob es mir gelingt kann ich nicht sagen, doch vielleicht trete ich eine neue Reise an – zur rechten Zeit, irgendwann, vielleicht.
Texte: Aluma Lugenje
Bildmaterialien: Aluma Lugenje unter Verwendung von Bildmaterialien von Pixabay (person-mensch-weiblich-mädchen-weg-942563; tunnel-weg-licht-dunkel-ziel-gang-852565; wort-wolke-wolke-tag-cloud-679919)
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2016
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