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Einst...

 

…verließen die Menschen ihre Heimat, die Erde.

Stürme, Beben und andere Katastrophen hatten ihre Kultur heimgesucht, nach dem ihre Rasse selbst ihren Planeten zerstört hatte. Sie hatten mit ihren Maschinen und Fabriken die Luft verpestet, die sie atmeten und das Wasser vergiftet, das sie tranken, quälten Tiere und töteten sie in Massen.

Schließlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich einen neuen Planeten zu suchen.

Einhunderttausend Menschen wurden auf fünf Raumschiffen zum kleinsten Mond von Alpha-45BZ transportiert, genannt Jade1. Die Reise dauerte ganze sechsundsiebzig Jahre und nur drei der Schiffe erreichten ihr Ziel.

Was die Menschen hier erwartete war eine ungezähmte Wildnis, besiedelt von unbekannten Kreaturen und durchzogen von verborgenen Gefahren, die noch vielen hunderten von ihnen das Leben kosten sollten.

Doch nicht nur die Natur ihrer neuen Heimat machte ihnen zu schaffen. Offensichtlich hatten die Menschen nichts aus ihren Fehlern auf der Erde gelernt. Immer noch gab es Unterschiede zwischen den Reichen, den Nachkommen derer, die auf dem alten Planeten Millionäre, vielleicht sogar Milliardäre gewesen waren, und den Armen, die es nur ihrer Arbeitskraft zu verdanken hatten, dass sie es überhaupt auf Jade geschafft hatten.

Das anfängliche Aufbäumen und die Empörung der armen Bevölkerung wurden bald mit Waffengewalt im Keim erstickt, diejenigen, die es gewagt hatten für ihre Rechte zu kämpfen wurden aus den drei großen kolonialen Städten verbannt und bildeten, dicht an die Stadtmauern gedrängt, die die Menschen vor den wilden Bestien von Jade schützen sollten, Slums und Dörfer in denen sie um ihr Überleben kämpfen mussten. Einen harten, unbarmherzigen Kampf.

 

 

 

 

 

Nachts...

 

.... fühlte ich mich immer besonders schlimm. Das war die Zeit in der Buc schlief und ich über ihn wachte und gleichzeitig versuchte meine Gedanken auf etwas anderes zu richten als auf die Einsamkeit, die meine Eltern bei ihrem Tod hinterlassen hatten. Es war noch nicht so lange her, da hatten ihr Lachen und ihre Wärme noch den Wohnraum der Hütte erfüllt, in der ich nun mit meinem kleinen Bruder allein lebte. Jetzt wirkte sie nur noch schäbig und dem Verfall geweiht.

Gähnend wandte ich meinen Blick auf das Bündel in meinen Armen. Obwohl der Kleine erst einen Monat alt war, hatte er bemerkt, dass sich etwas verändert hatte. Er schlief nicht mehr in seinem Körbchen, das Mutter vor seiner Geburt extra für ihn gefertigt und mit weichen Tüchern ausgepolstert hatte. Genau wie mir, fehlte auch ihm die Nähe und Liebe unserer Mutter und der Schutz von Vater.

Buc hatte allerdings das Glück, dass er sich an den Verlust später nicht würde erinnern können. Er würde sie nie so vermissen müssen wie ich es tat, weil er sie niemals gekannt hatte. Ich würde ihm allerhöchstens Geschichten von ihnen erzählen können.

Seufzend sah ich aus dem kleinen Guckloch in der Wand, kaum größer als mein Arm dick war. Allmählich verdrängte die Dämmerung die Schwärze der Nacht und überzog alles mit einem stumpfen Grau. Bald würde die Sonne aufgehen und die Kreaturen des Urwaldes, die nach Sonnenuntergang aus ihren Verstecken schlichen und in den Dörfern auf Beutefang gingen, wieder ins Unterholz zurücktreiben. Bis es allerdings so weit war, würde uns hoffentlich das Metallgitter, in das die Hütte gewickelt war und das die ganze Nacht über unter Strom stand, Schutz bieten. Zumindest blieb mir nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, dass es das tat.

 

~

 

Eine kühle Brise wehte mir eine Strähne meiner blonden Haare ins Gesicht. Genervt strich ich sie wieder hinters Ohr. Es war früh am Vormittag und in einigen Stunden würde es in der Sonne unerträglich werden. Nur ein Grund, weshalb es mich so früh auf das kleine Feld hinter unserer Hütte gezogen hatte.

Die Früchte waren reif - eigentlich schon fast überreif. Es war an der Zeit, sie auszugraben und dann so schnell wie möglich auf dem Markt zu verkaufen. Langsam ging mir das Geld aus. Kein Geld bedeutete keinen Strom und ohne Strom war ein Leben außerhalb der Stadtmauern praktisch tödlich.

Buc hatte ich in seinem Körbchen am Rande des Feldes in den Schatten eines Strauches gestellt, so dass ich ihn auch während der Arbeit im Auge behalten konnte.

"Catalin!" Ich zuckte beim Klang meines Namens zusammen. Seit Mutter und Vater tot waren, sprach mich so selten jemand an. "Hey, Catalin!"

Erst jetzt erkannte ich die Stimme, richtete mich auf und schaute mich nach dem Erzeuger der Rufe um. Lange musste ich nicht nach ihm suchen.

Rahel, der Nachbarsjunge, kam mit einem Mordstempo den sanften Hügel herunter gelaufen. Seine schulterlangen, braunen Haare flatterten um seinen Kopf herum wie die Flügel einiger Nektartrinker um ihre Körper.

"Warum so eilig?", fragte ich, sobald er schlitternd vor mir zum Stehen gekommen war und beäugte ihn. Genau wie ich trug auch er keine Schuhe. Sein Hemd mochte einmal weiß gewesen sein, hatte mittlerweile aber einen blassbraunen Ton angenommen und die obersten Knöpfe waren offen. Seine kurze Hose war, genau wie meine, von Erdflecken übersäht. Es schien, als hätte er selbst bis vor ein paar Minuten noch Früchte aus der Erde ausgegraben.

"Wie geht es dir? Ich warte schon seit Tagen darauf, dass du dich endlich sehen lässt", ignorierte er meine Frage und musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet. Er schien besorgt zu sein.

"Wie soll es mir schon gehen?", gab ich schulterzuckend zurück und bückte mich wieder, um die nächste Frucht, die ungefähr doppelt so groß war wie eine Faust, aus dem Boden zu ziehen.

"Du siehst nicht gut aus", gestand er nachdem sich für einige Sekunden drückendes Schweigen zwischen uns ausgebreitet hatte. Seufzend gab ich den Versuch auf meiner Arbeit weiter nachzugehen und richtete mich erneut auf.

"Danke, du bist heute wirklich sehr charmant." Ich konnte nicht verhindern, dass ich unfreundlich klang. Dabei mochte ich Rahel eigentlich. Ich kannte ihn schon seit ich noch ein ganz kleines Kind gewesen war. Wir hatten damals zusammen auf dem Feld gespielt. Wenn ich so darüber nachdachte war er der einzige Mensch, der sich nun noch für mich und mein Leben interessierte. Seitdem meine Eltern nicht mehr nachhause zurückgekehrt waren und ein Junge ihre toten Körper am nächsten Morgen am Rande des Waldes gefunden hatte, war er der Einzige, der mich besuchte - manchmal sogar täglich.

"Du weißt, dass ich dir helfe. Du musst mich nur darum bitten." Rahel hatte verlegen den Kopf gesenkt, so dass ihm nun seine dunklen Haare ins Gesicht fielen. Ich konnte seine Augen nicht mehr sehen.

"Ich komme schon klar", murmelte ich und warf einen Blick zu Bucs Körbchen hinüber. Ein Knoten bildete sich in meinem Hals. Die Erinnerung an meine Eltern würde vielleicht mit der Zeit verblassen, doch dank ihm würde ich sie nie ganz vergessen.

"Du bist so abwesend. Bist du sicher, dass du hier bleiben willst? Du kannst auch bei mir wohnen. Mutter hat sicher nichts dagegen..." Er kratzte sich im Nacken, schaute mich aber immer noch nicht an.

Ich schüttelte stumm den Kopf. Die Hütte zu verlassen die mein Vater eigenhändig gebaut hatte und nur ein paar Meter weiter zu wohnen ohne wirklich hier zu sein, könnte ich nicht ertragen. Entweder verließ ich diesen Ort ganz oder gar nicht.

"Das kann ich nicht", nuschelte ich eher für mich, als für Rahel.

"Verstehe." Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber für einen kurzen Moment sah es aus als hätte er bedauernd den Kopf geschüttelt. "Wie geht es Buc?", wechselte er so abrupt das Thema, dass es beinahe zu auffällig war. Nur zu gerne spielte ich mit.

"Ich denke er merkt, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück kapiert er noch nicht, wie ernst es ist." Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Wieder fiel mir eine Strähne in die Stirn, doch dieses Mal wischte ich sie nicht weg.

"Es ist das Geld, nicht wahr?" Wieder seufzte ich. Er kannte mich zu gut. Es war, als könnte er in meinen Kopf schauen. Genauso wie ich wusste, dass ich mit diesen Früchten nicht genug verdienen konnte, um den Strom für die nächsten Wochen zu bezahlen, wusste auch er es.

"Was wirst du jetzt tun?" Jetzt sah er mich offen an. Sorge und noch etwas Anderes lag in seinem Blick. Sanft strich er mir meine Haare hinters Ohr.

Kopfschüttelnd wandte ich mich von ihm ab. Ich wusste nicht was ich tun sollte. In diesem Dorf gab es keine Familie, die mich und Buc aufnehmen würde - dafür war ich einfach schon zu alt. Ich würde es aber genauso wenig übers Herz bringen Buc allein hier bei Fremden zurückzulassen.

Plötzlich spürte ich warme Hände auf meinen Schultern. Vorsichtig, als wäre ich besonders zerbrechlich, drehte Rahel mich zu sich herum. Er stand näher vor mir als zuvor.

"Catalin, was auch immer du vorhast, bitte versprich mir, dass du es mir sagst." Eindringlich bohrten sich seine blauen Augen in meine, sein Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Ich schaffte es nicht zu antworten. Stattdessen nickte ich nur und schüttelte Rahel mit einer kurzen Bewegung meiner Arme ab.

"Gut, ich muss jetzt gehen. Sehen wir uns bald wieder?"

"Klar, richte deiner Mutter Grüße von mir aus."

Erst jetzt lächelte er wieder. "Das werde ich."

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging den Hügel hinauf, bis er hinter der Kuppe verschwand. Erleichtert atmete ich aus.

Rahel war in Ordnung. Ich wusste, dass er sich nur um mich sorgte. Trotzdem hatte ich ein merkwürdiges Gefühl beim Gedanken daran, wie er mich gerade angesehen hatte. Etwas stimmte nicht.

Kopfschüttelnd brachte ich die Stimme, die mir immer und immer wieder sagen wollte, dass sich etwas verändert hatte, zum Schweigen und machte mich wieder an die Arbeit.

 

~

 

Der volle Korb auf meinem Rücken und Buc in meinen Armen machten jeden Schritt zu einem Kampf. Ich war extra früh aufgestanden und hatte alles vorbereitet, um möglichst bald auf dem Markt sein zu können, trotzdem stand die Sonne schon hoch am Himmel, als ich den kreisrunden Platz, umringt von einigen stabiler gebauten Hütten, erreichte. Wie ich es schon befürchtet hatte, waren all die guten Plätze in der Mitte längst besetzt. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig als mich ganz am Rande im Schatten eines Baumes niederzulassen.

Von überall drangen Stimmen auf mich ein. Ich spürte, wie Buc sich unruhig hin und her wandte.

"Ist schon gut, Kleiner. Hier tut dir niemand etwas." Sachte wog ich ihn einige Male hin und her, stupste meine Nase an seine und gab ihm ein Küsschen auf die Stirn.

Immer noch meinen kleinen Bruder auf dem Arm haltend breitete ich die Früchte, die ich am Tag zuvor geerntet hatte, auf einem Tuch aus und setzte mich anschließend dahinter in den Staub.

Einige Menschen liefen einfach an mir vorbei. Manche von ihnen warfen kurz einen abschätzenden Blick auf die angebotenen Waren, schienen aber nicht sonderlich beeindruckt und versuchten ihr Glück lieber anderswo. Erst nach einer kleinen Ewigkeit kaufte eine buckelige Alte mir drei kleinere Exemplare für einen lächerlich niedrigen Preis ab. Es war zum Verrücktwerden.

"Kein Glück, was?", sprach mich plötzlich jemand an. Erschrocken schnellte ich halb sitzend herum, nur um festzustellen, dass Rahel sich lässig mit der Schulter gegen den Baum gelehnt hatte. Er sah mich entschuldigend aus seinen blauen Augen an, dann löste er sich vom Stamm.

"Wieviel hast du schon verkauft?", hakte er nach, noch bevor ich seine vorherige Frage überhaupt beantworten konnte.

Ich zuckte die Schultern. "Drei Stück. Nicht besonders viel, aber das weißt du ja schon."

"Woher willst du wissen, dass ich mitbekommen habe, dass die alte Ivy dir deine hart erarbeitete Ernte für ein paar lumpige Münzen abknöpft?" Sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen, doch seine Augen blieben ernst.

"Bis eben wusste ich es nicht." Ich schlug ihm freundschaftlich gegen die Schulter und musste nun ebenfalls grinsen - zum ersten Mal seit langer Zeit - , obwohl ich wusste, wie ernst meine Situation war.

"Du wirst weggehen, nicht wahr?" Plötzlich war die Wärme aus seiner Stimme verschwunden. Er sah aus, als hätte ihn gerade jemand geschlagen.

Seine Worte versetzten mir einen Stich ins Herz. Würde ich fortgehen? Würde ich das wirklich über mich bringen? Immerhin war dies hier der Ort, an dem ich aufgewachsen war. Der Ort, an dem schon meine Eltern aufgewachsen waren.

"Das kann ich..."

"Catalin, bitte sei ehrlich. Du weißt ich sehe es, wenn du lügst", unterbrach Rahel mich, bevor ich aussprechen konnte. Wie selbstverständlich streckte er seine Hände nach Buc aus. Schweigend reichte ich ihm meinen Bruder.

"Mir wird nichts anderes übrig bleiben als zu gehen. Ich kann den Strom nicht bezahlen, aber ich kann auch nicht in die Stadt ziehen. Selbst wenn ich es dürfte, wäre es dort viel zu teuer." Nun, da ich es ausgesprochen hatte, schlug die Verzweiflung über mir zusammen wie eine riesige Welle. Ich war am Ende. Wo sollte ich denn nur hin? Noch dazu mit einem so kleinen Kind wie Buc. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich senkte den Blick, damit Rahel es nicht sah.

"Im Süden soll alles anders sein", hörte ich ihn murmeln. Ich war mir nicht sicher, ob diese Worte überhaupt für mich bestimmt waren, so abwesend hatte er geklungen.

"Wie meinst du das?" Zu spät bemerkte ich die Träne, die sich aus meinem Augenwinkel gestohlen hatte und nun meine Wange hinunter rann.

Rahel war schneller als ich. Mit dem Zeigefinger wischte er den salzigen Tropfen von meiner Haut, betrachtete ihn eine Sekunde lang und senkte dann seine Hand.

"In Pao. Dort sollen die Leute es nicht so eng sehen mit dem Verstoß aus den Städten." Sacht wischte er Buc über den Flaum auf seinem Kopf.

"Wie soll ich denn nach Pao kommen?" Pao, der südlichen Kontinent, war von Diamon, dem nördlichen, durch einen Ozean getrennt. Ein Ticket für eine Überfahrt kostete schon für eine Person ein kleines Vermögen.

"Ich finde eine Möglichkeit..." Die Entschlossenheit in Rahels Stimme ließ mich zusammenzucken.

"Du kannst mich nicht begleiten", platzte es aus mir heraus. Natürlich, ich wollte nicht allein weggehen, noch dazu auf einen anderen Kontinent, aber Rahel durfte mir nicht folgen.

"Warum nicht?" Jetzt klang er entrüstet, fast so, als hätte ich ihm eine Beleidigung an den Kopf geworfen. Buc fing an zu wimmern.

"Du wirst hier gebraucht. Was soll deine Mutter tun, wenn du fortgehst?" Entschlossen stand ich auf und stemmte die Hände in die Hüften, so dass ich nun auf ihn hinab blickte. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass seine Mutter ihren Sohn verlor.

"Sie kommt schon klar und ich bin alt genug um zu wissen..."

"Du gehörst hierher!", fuhr ich dazwischen, bückte mich und nahm ihm Buc ab, der jetzt leise anfing zu schreien. Sobald er merkte, dass ich es war, die ihn hielt, beruhigte er sich schlagartig und gab ein zufriedenes Schmatzen von sich.

Rahel erhob sich ebenfalls. Er war nicht viel größer als ich, trotzdem ließ mich sein Anblick in diesem Moment einen Schritt zurückweichen.

"Wir werden ja sehen." Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und verschwand zwischen den Menschen auf dem Platz.

Mein Herzschlag raste wie wild. Wenn er irgendetwas Dummes tat, wäre ich dafür verantwortlich. Ich alleine.

 

~

 

Wie man diesen Tag am besten beschreiben konnte? Einfach nur zutiefst enttäuschend.

Ich hatte gehofft zumindest die Hälfte der Früchte loszuwerden, aber nein. Die alte Frau blieb die einzige Käuferin.

Frustriert wuchtete ich den Korb in die Ecke der Hütte und ließ mich dann neben die leere Feuerstelle fallen. Buc war auf dem Nachhauseweg eingeschlafen. Es war auch für ihn ein anstrengender Tag gewesen.

"Schlaf schön, Brüderchen." Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn und bettete ihn in sein Körbchen. Vielleicht würde er ja durchschlafen.

Ein Blick nach draußen sagte mir, dass es langsam Zeit würde mich auf die Nacht vorzubereiten. So leise wie möglich zog ich die Tür ins Schloss. Ich wollte gerade einen dicken Riegel vorschieben - als zusätzliche Sicherheit, denn die Tür war der Schwachpunkt, da sie als einziger Teil der Hütte nicht mit unter Strom stehenden Metallgittern gesichert werden konnte - da pochte etwas zweimal dumpf gegen das fasrige Holz.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Die meisten Dorfbewohner sollten im Augenblick selbst damit beschäftigt sein, ihre Heime für die Nacht zu sichern. Wenn jemand um diese Tageszeit vor der Tür stand konnte dies auf keinen Fall ein gutes Zeichen sein.

Für einige Sekunden blieb ich still stehen und lauschte. Entfernte sich der Besucher von der Hütte? Ich hörte keine Schritte.

"Wer ist da?", fragte ich schließlich, so leise, dass ich Buc nicht aufweckte, aber laut genug, dass die Person hinter der Tür mich ganz sicher hören konnte.

"Ich bin es, Rahel. Lass mich rein bevor ich hier bis auf die Knochen abgenagt werde!", forderte er mich auf.

Eine Woge der Erleichterung breitete sich in mir aus. Es war nur Rahel. Der gute alte Rahel.

Eilig zog ich den Riegel wieder beiseite und öffnete.

Rahels Haar war komplett zerzaust, als wäre er schon wieder gerannt.

"Hallo", grüßte ich, als er durch die Öffnung herein schlüpfte. Sofort schloss ich uns wieder ein. 

"Na, wie lief es? Konntest du noch etwas Geld verdienen?" Ganz selbstverständlich fing er an kleine Stöckchen in der Feuerstelle aufzutürmen. Dann entzündete er sie. Knisternd fraßen die Flammen das Holz auf. 

"Es ist hoffnungslos. Die Batterien reichen vielleicht noch eine Woche. Falls überhaupt...", gestand ich und legte den Schalter um, der den Strom zum Fließen bringen würde.

"Ich kann dir kein Geld geben, Catalin. So gerne ich das auch würde."

"Ich würde es auch nicht annehmen." Kopfschüttelnd setzte ich mich neben ihn und beobachtete das Gelb, Rot und Orange der Flammen.

"War mir klar." Mit gesenktem Kopf starrte er vor sich zu Boden. Er wich meinem Blick aus.

"Weshalb bist du hier? Dir ist klar, dass du es heute nicht mehr nach Hause schaffst, die Sonne wird bald untergehen." Ich wollte nicht mehr länger über Geld sprechen, das ich gar nicht hatte - vermutlich auch niemals haben würde.  

"Ich bleibe hier. Vielleicht bekommst du dann wenigstens heute etwas Schlaf." Schulterzuckend drehte er sich in meine Richtung und wischte sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. In seinen Augen lag schon wieder Sorge.

"Wie kommst du auf die Idee, dass ich wenig schlafe?" Nun war ich es, die den Blick abwandte. Mir war klar, dass ich genauso aussah wie ich mich fühlte - fix und fertig.

"Deine Augenringe können sich inzwischen schon echt sehen lassen", kommentierte er nur beiläufig, als würde es ihn gar nichts angehen, aber ich spürte, dass er mich immer noch ansah. Reflexartig fuhr ich mit den Fingerspitzen über die Haut unter meinem rechten Auge.

"Kein Grund sich zu schämen. Du machst gerade eine schwere Zeit durch, da ist es selbstverständlich, dass du nicht besonders gut schläfst..." Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und drückte sie leicht.

"Gar nicht."

"Was?"

Ich musste schlucken. Schon zum wiederholten Mal an diesem Tag hatte ich Tränen in den Augen. "Ich habe die vergangenen Nächte gar nicht geschlafen", wiederholte ich.

Seufzend legte Rahel mir den Arm um die Schulter und zog mich an sich. Ich lehnte meinen Kopf an ihn und war nur wenige Herzschläge später eingeschlafen.

 

~

 

Drei Tage später stand Rahel erneut gegen Abend vor der Tür. Er war völlig außer Atem, seine Hose und sein Hemd waren fleckig von der Erde.

"Was ist los?", wollte ich wissen und reichte ihm eine Schale mit Sirup, die er gierig leerte.

"Ich habe einen Plan... für dich."

Verwirrt sah ich ihn an. Erst nach einigen Augenblicken kam mir unser Gespräch auf dem Markt wieder in den Sinn.

"Ehrlichgesagt bin ich nicht sicher, ob ich ihn überhaupt hören will, Rahel", bremste ich ihn ab, bevor er loslegen konnte. Trotzig schob er seine Unterlippe vor und ließ sich auf seinen gewohnten Platz am Feuer fallen. Ich verschloss eilig die Tür und gesellte mich anschließend zu ihm.

"Na schön, sag schon. Aber ich warne dich, solltest du auf die Idee kommen mir zu folgen werde ich alles deiner Mutter erzählen." Damit sollte ich ihn wenigstens fürs Erste abgeschreckt haben - dachte ich zumindest.

"Ich war heute in der Stadt", begann Rahel, kaum, dass ich ausgesprochen hatte. Meine Drohung ignorierte er vollkommen. "Am Hafen, um genau zu sein." Abwartend sah er mich aus seinen blauen Augen an, als würde er sichergehen wollen, dass ich ihm auch ja zuhörte.

"Was zu Hölle hast du am Hafen gemacht? Du weißt, dass wir dort nicht gern gesehen sind." Und das war die reine Wahrheit. Menschen aus den Dörfern waren allgemein in der Stadt nicht besonders willkommen. Wir hatten kaum Geld, das wir dort ausgeben konnten, arbeiteten nicht für die Stadtbewohner und trugen nichts zu ihrem System bei - wie denn auch, wir waren ja vor langer Zeit verbannt worden. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

"Am besten schleichen wir uns auf einen Frachter nach Pao..."

"Rahel!", schnitt ich ihm das Wort ab. "Habe ich mich falsch ausgedrückt? Du bleibst hier!" Langsam wurde ich wütend. Es wäre schön jemanden auf dieser Reise bei mir zu haben, den ich kannte - ausgenommen von Buc natürlich - aber seine Mutter war nicht mehr die Jüngste. Sie brauchte seine Hilfe dringender als ich.

"Ja, bleib ruhig. Du schleichst dich am besten auf einen Frachter", verbesserte er sich und starrte auf den staubigen Boden vor sich. Er wirkte traurig.

Ihn so zu sehen, tat mir weh. Gleichzeitig war mir klar, dass es sinnlos war ihm immer wieder aufs Neue einbläuen zu wollen, dass er nicht mit mir kommen konnte. Er war ein Sturkopf, fast so schlimm wie ich selbst. Das hier war ein aussichtsloser Kampf.

"Du hast gewonnen", gab ich seufzend auf und legte mich auf den Rücken. Das Feuer neben mir knisterte unentwegt weiter.

Nun grinsend sprach Rahel weiter. "Es gibt zwei Schiffe, die jede Woche Güter von Diamon nach Pao bringen und umgekehrt. Ich habe mir eines davon angesehen, dürfte ein Kinderspiel sein, an Bord zu kommen."

"Und wenn wir an Bord sind?" Ich legte mir meinen Unterarm über die Augen. Allein der Gedanke daran, dieses Dorf zu verlassen - selbst wenn ich hier unter den widrigsten Umständen leben musste - tat mir im Herzen weh.

"Was meinst du?" Ich hörte, wie Rahel sein Gewicht verlagerte. Plötzlich spürte ich seinen Zeigefinger auf meinem Arm. Er malte Muster auf meine Haut.

"Wenn man uns erwischt ist es vorbei." Wieder seufzte ich. Konnte ich Buc, meinem kleinen Bruder, solch ein hohes Risiko wirklich zumuten? Wer wusste was man uns antun würde, wenn man uns auf diesem Schiff in die Finger bekam.

"Wir verstecken uns zwischen den Containern. Es gibt nur drei Crewmitglieder - den Kapitän und zwei Arbeiter - auf dem Schiff. Die schaffen es niemals alles zu überwachen."

"Und was, wenn es Kameras gibt?", äußerte ich meine Bedenken. Ich hatte ganz und gar kein gutes Gefühl bei dem Gedanken mich illegal auf ein Schiff zu schmuggeln. So viel konnte schiefgehen.

"Gibt es nicht." Rahel hatte für meinen Geschmack etwas zu schnell geantwortet. Ich war mir nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte, oder ob er mich nur beruhigen wollte. Mir blieb allerdings nicht wirklich eine andere Möglichkeit als ihm zu vertrauen.

"Na schön." Ich wusste, dass sich mit meiner Einwilligung alles ändern würde. Nichts würde mehr so sein, wie ich es kannte.

"Gut, in drei Tagen gehts los."

 

~

 

Meine Knie zitterten, mit meinen Armen umklammerte ich Buc so fest ich konnte, ohne ihm wehzutun.

"Wir kriegen das schon hin, Catalin." Rahels Hand lag beruhigend auf meiner Schulter. Wir standen vor dem Haupttor zur Stadt. Nicht, dass ich sie heute zum ersten Mal betreten hätte - ich war sogar schon oft auf dem großen Markt gewesen um neue Batterien zu kaufen - trotzdem war das hier etwas ganz Anderes.

Ich würde wahrscheinlich auf diesem Weg niemals wieder in die Stadt kommen.

Rahel schob mich sachte vorwärts. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich längst umgekehrt wäre, wäre er nicht bei mir. Fast tat es mir leid, dass ich ihm anfangs verbieten wollte mich zu begleiten.

Tränen verschleierten mir den Blick. Buc wimmerte leise an meiner Brust. "Rahel, warte!" Mit einer hastigen Bewegung schüttelte ich seine Hand ab und drehte mich zu ihm um. "Ich bin noch nicht so weit."

Rahels Blick wurde weich. Er wusste wohl, was in diesem Moment in mir vorging. Vielleicht ging es ihm sogar ähnlich.

"Glaub mir, ich habe genauso viel Angst wie du. Aber ich schwöre, dass euch nichts passiert. Ich werde das niemals zulassen." So schnell, dass ich gar nicht wirklich darauf reagieren konnte, zog er mich in seine Arme und drückte mich an sich. Ich konnte deutlich sein Herz pochen spüren - mindestens so schnell wie mein eigenes. Für ein paar Sekunden standen wir so aneinandergedrängt da. Buc beruhigte sich allmählich, doch ich selbst wurde immer nervöser. Es war eigentlich viel zu gefährlich. Zugleich war mir bewusst, dass hier weder ich, noch mein Bruder eine Zukunft haben würden. Wir konnten uns den Strom nicht leisten, der uns schützte.

Mein Blick wanderte an der hohen Mauer entlang, die die Stadt vom umliegenden Land abgrenzte. Metallplatten, so groß wie unsere Hütte, waren daran befestigt. Das Surren des Stroms, der auch tagsüber durch sie floss, konnte ich bis zu mir herüber hören.

Ja, innerhalb einer Stadtmauer würden wir sicher sein, selbst dann, wenn wir kein Dach über dem Kopf hätten. Alles war besser als von den wilden Bestien zerfleischt zu werden.

Noch einmal atmete ich tief ein. "Gut, lass uns gehen", hörte ich mich dann selbst wie aus weiter Ferne flüstern.

Rahel löste sich von mir, nahm aber meine Hand in seine. Schulter an Schulter durchschritten wir das Tor, wie es viele andere im selben Moment ebenfalls taten.

Den Lärm und das Stimmengewirr, das hier zwischen den viel größeren Häusern herrschte, hatte man von draußen nur erahnen können. Jetzt schlug er wie eine Welle über uns zusammen. Buc fing an zu schluchzen. Mit meinem freien Arm wog ihn ihn sanft hin und her während ich mich mit der anderen Hand immer noch an Rahel festklammerte. Ich wollte auf keinen Fall von ihm getrennt werden.

Jemand stieß mich unsanft mit der Schulter an. Beinahe wäre ich ins Taumeln geraten, doch Rahel zog mich weiter - weg vom Tor und meinem alten Zuhause. Meine wenigen Habseligkeiten und das bisschen Geld, das ich hatte, hatte ich in ein Tuch gewickelt und um meine Schultern gebunden. Immer wieder blieb ich mit meinem improvisierten Rucksack an irgendjemandem hängen und erntete dafür so einige Beschimpfungen, wohl auch deshalb, weil man mir ansah, dass ich nicht in der Stadt lebte.

Rahel und ich waren, bis auf ein paar Leute, die offensichtlich ebenfalls aus dem Dorf kamen, die einzigen, die keine Schuhe trugen. Dazu kam, dass unsere Kleidung abgetragen und schmutzig wirkte. Es war sinnlos sich vormachen zu wollen, dass wir hier nicht auffielen. Ich konnte die Blicke in meinem Rücken ganz deutlich spüren - als würden mich tausend kleine Nadeln stechen. Ob es Rahel auch so erging?

Ich richtete meinen Blick auf seinen Hinterkopf. Sein Körper schien bis aufs Letzte angespannt zu sein und er achtete sehr genau darauf, wohin er seine Schritte setzte.

Ein Ellbogen wurde mir hart in die Seite gestoßen. Ich schnappte nach Luft und presste Buc reflexartig noch fester an mich. Nun fing er endgültig an zu schreien. Sofort blieb Rahel stehen und drehte sich zu mir um.

"Geht es dir gut?" Besorgt waren seine Augen auf mich gerichtet. Ich nickte stumm, dieser Stoß hatte mir für einen Augenblick den Atem genommen.

"Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als er immer noch keine Anstalten machte weiter zu gehen. Entschlossen schob ich mich an ihm vorbei und gemeinsam drängten wir uns durch die Menschenmengen auf der Straße.

"Catalin, hier müssen wir nach rechts", hörte ich Rahels Stimme nach kurzer Zeit. Beinahe hätte ich ihn zwischen all dem Lärm überhört. Ich wurde erst auf ihn aufmerksam, als er kurz an meinem Handgelenk zog.

Von nun an übernahm er wieder die Führung. Zielstrebig dirigierte er mich durch enge, dafür fast menschenleere Gassen und dann wieder über überfüllte Plätze und Straßen. Man merkte sofort, dass er sich hier sehr gut auskannte - viel besser als ich das nach meinen paar bisherigen Besuchen gekonnt hätte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit in der ich vergeblich versuchte Buc zu beruhigen und hunderten böser Blicke auf mir, stieg mir der Geruch nach Wasser und Meerespflanzen in die Nase.

Wir befanden uns auf einer Art Promenade. In der Mitte des Weges waren Bäume, Büsche und Pflanzen in große Töpfe und ausladende Schüsseln gesetzt worden - Dinge, auf die man draußen im Dorf keinen Wert legte. Im Vorbeigehen stieg mir der süßliche Duft einiger rosa Blüten in die Nase, die sich einen Stamm hinauf rankten. Auch so etwas gab es auf der anderen Seite der Stadtmauern höchstens tief in den Wäldern, doch wer sich in den Schatten der Bäume wagte, der war dem Tode geweiht. Beim Anblick der farbenprächtigen Pflanzen, die, obwohl sie im Sonnenlicht zu strahlen schienen, nicht mit den Gewändern einiger Bürger konkurrieren konnten, konnte ich mir gut vorstellen, dass die Menschen hier die Gefahr vergaßen, die es da draußen gab. Möglicherweise wussten einige von ihnen nicht einmal davon, dass beinahe täglich Leute aus den Dörfern verschwanden. Dass man ihre zerfetzten Körper dann -falls überhaupt - irgendwo am Rande der Wälder fand.

Allein der Gedanke versetzte mir einen Stich in die Brust. Die Stadtbewohner hatten keine Ahnung, auf welche Art und Weise meine Eltern ums Leben gekommen waren.

Ich schluckte die Tränen hinunter. Hier, umgeben von so vielen Fremden, wollte ich mir nicht die Blöße geben und anfangen zu heulen wie ein kleines Kind. Ich musste jetzt sowohl für mich selbst, als auch für Buc stark bleiben.

In Gedanken versunken war mir nicht aufgefallen, dass Rahel längst stehengeblieben war. Beinahe wäre ich mit ihm zusammengestoßen, schaffte es aber noch in der letzten Sekunde mich zur Seite zu drehen und so auszuweichen.

"Von jetzt an müssen wir uns unauffällig verhalten", hörte ich ihn direkt an meinem Ohr flüstern. Ich wusste nicht ob ich weinen oder lachen sollte. Wir waren alles andere als unauffällig. Zwischen all den Farben wirkten wir mit unseren abgetragenen Klamotten, als wäre ein riesiger Scheinwerfer auf uns gerichtet.

"Rahel.." Ich drängte mich noch enger an ihn, um einer pummeligen Frau - etwas, das man außerhalb der Stadt ebenfalls eher selten zu sehen bekam - Platz zu machen, die sich schimpfend und fluchend ihren Weg durch die Menge bahnte.

"Was?" Nun war ich so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte.

"Das schaffen wir niemals, ohne, dass man uns sieht!" Ein Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich war mir verdammt sicher, dass ich recht behalten würde.

"Vertrau mir einfach." Mehr sagte er nicht. 

 

Sterne...

 

...funkelten hoch über mir am Himmel. Ich hatte sie noch nie in meinem Leben für so lange Zeit betrachten können. Die Nacht war eigentlich die Zeit des Tages um sich zu verstecken und in Sicherheit zu bringen. Jetzt im Freien zu stehen, einen kühlen Wind über meine Haut streichen zu spüren und zu sehen, wie er mit meinem hellen Haar spielte, war etwas Besonderes.

Rahel lehnte an der Wand neben mir. Wachsam überblickte er die nun leer gewordene Straße. Buc, den er auf dem Arm hatte, schlief schon seit Stunden - genauer gesagt war er eingeschlafen, nachdem ich ihm ein paar Bissen zu essen gegeben hatte.

"Ich glaube, wir können es wagen."

"Du glaubst?" Ich musste mich konzentrieren um nicht zu laut zu werden. Das Letzte, was wir jetzt brauchen konnten waren ein paar aus dem Schlaf gerissene, verärgerte Anwohner.

"Eine bessere Chance bekommen wir nicht." Er zuckte mit den Schultern, was ich in dem trüben Licht, das die Straßenlaterne ein Stückchen von uns entfernt spendete, kaum sehen konnte. "Die Besatzung ist vor knapp einer Stunde von Bord gegangen." Er nickte kurz in Richtung des riesigen Schiffes, dessen gewaltige Ausmaße in der Dunkelheit der Nacht nur zu erahnen waren. Ich schluckte.

"Komm schon." Mit diesen Worten stieß er sich von dem Mauerwerk hinter uns ab undbewegte sich so gut wie lautlos auf eine schmale Treppe zu, die vom Gehweg hinunter zum Industriehafen führte. Ich war mir sicher, dass ich seine leisen Schritte nur hörte, weil ich wusste, dass er da war. Kurz verschwand er aus dem Lichtkegel der Laterne, dann tauchte er an der Hafenmauer wieder auf. Er hob seine freie Hand. Das war mein Zeichen.

Ich vergewisserte mich noch einmal, dass sich außer mir niemand auf dem Weg befand, dann folgte ich ihm. Die Stufen waren rutschig unter meinen nackten Füßen. Ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Als ich Rahel erreichte, bot er mir seinen Arm an. Anscheinend hatte er mitbekommen, wie es mir ergangen war. Dankbar hielt ich mich an ihm fest.

"Es gibt eine Lucke hinten am Schiff. Sie liegt etwa zweieinhalb Meter über dem Boden, ist aber nicht gesichert. Von dort aus kommt man über eine Leiter direkt auf das Deck." Rahel sprach so leise, dass ich größte Mühe hatte, ihn über das gleichmäßige Wogen der Wellen gegen den Stein überhaupt zu verstehen.

Ich wollte gerade den Mund öffnen, da redete er weiter. "Keine Bange, ich helfe dir."

Ohne mich zu Wort kommen zu lassen, bewegte er sich langsam am Rand des Hafenbeckens entlang und entfernte sich dabei immer weiter vom Licht der Straßenlaternen. Bald konnte ich die Hand vor Augen nicht mehr sehen, darum war ich umso erleichterter, dass ich Rahels Arm immer noch umklammerte. Nach einiger Zeit blieb er stehen. Ich spürte, wie er vor mir in die Knie ging. Ein metallisches Klirren war zu hören, doch ich konnte den Ursprung in der Dunkelheit nicht ausmachen. Aus einem Reflex heraus, versuchte ich in der Nacht herauszufinden, woher das Geräusch kam. Meine erste Befürchtung, dass man uns bereits jetzt entdeckt haben könnte, verflog relativ schnell, als Rahel sich in aller Seelenruhe wieder vor mir aufrichtete und mir seine Hand auf die Schulter legte.

"Wir sind gleich da. Dieser Zaun hier ist praktisch das einzige Hindernis. Es gibt schon lange ein Loch in dem Draht, ich werde das Gitter hochheben, dann kannst du

durchkriechen. Ich gebe dir Buc, sobald du drüben bist." Wieder ließ er mir nicht einmal den Hauch einer Möglichkeit um etwas zu sagen. Stattdessen drückte er mich sanft an der Schulter zu Boden. Meine Finger ertasteten nassen, kalten Stein, teilweise von einer schleimigen Schicht überzogen. Krabbelnd bewegte ich mich auf die Stelle zu, wo ich den Zaun vermutete, bis sich meine Haare in einer Masche des Drahtgitters verhedderten.

"Autsch!" Leise fluchend befreite ich die Strähnen durch Ziehen und Zerren, bis meine Kopfhaut schmerzte.

"Ruhig, Catalin! Wir dürfen keine Aufmerksamkeit auf uns lenken", flüsterte plötzlich Rahel an meiner Seite. Offenbar war er ebenfalls auf die Knie gesunken.

"Entschuldige..." Schnell schob ich mich weiter unter dem Zaun hindurch, bis ich mir sicher war, dass ich mich nicht erneut darin verfangen würde.

"Gut angekommen?" hörte ich Rahels Stimme, nun etwas leiser. Ich nickte, bis ich kapierte, dass er mich gar nicht sehen konnte.

"Bin da, du kannst ihn mir jetzt geben." Ich drehte mich zu dem Durchschlupf um und streckte meine Arme soweit ich konnte durch die Öffnung. Ein brennender Schmerz entlang meines linken Unterarms verriet mir, dass ich mich an dem scharfkantigen Metall geschnitten hatte.

Kommentarlos überreichte Rahel mir meinen kleinen Bruder. Vorsichtig zog ich ihn an mich und konnte nur hoffen, dass ich ihn nicht unwissentlich verletzte.

"Okay, jetzt halte das Gitter hoch, damit ich rüber kommen kann", kommandierte mein Begleiter nun und schob das lose Ende des Zauns vor sich durch das Loch. Wieder spürte ich einen Schmerz als ich meine Finger um eine der Drahtmaschen schloss, doch ich machte keinen Mucks.

Das Rascheln von Kleidung und das leise Patschen von Händen auf dem nassen Steinboden waren zu hören, dann stand Rahel auch schon neben mir.

"Gut gemacht."

"Ich bin doch kein kleines Kind mehr!", schnaubte ich empört. Er redete mit mir als würde ich noch aufs Töpfchen gehen.

"Ist ja schon gut." Freundschaftlich verwuschelte er mir die Haare, dann legte er mir einen Arm um die Taille und zog mich weiter.

Woher er wusste wohin er gehen musste? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Hier war es so dunkel, ich hätte mich niemals zurecht gefunden.

"Wie oft warst du hier?" Ich verlangsamte meine Schritte und drehte meinen Kopf in die Richtung, in der ich Rahels Gesicht vermutete.

"Seit dem Tod deiner Eltern... jeden Tag." Er hatte das alles also schon lange geplant. Seine Stimme war leise, aber ich konnte hören wie sehr er sich konzentrierte - auf den Weg und auf jede mögliche Gefahrenquelle, die uns in die Quere kommen könnte.

"Das hättest du nicht tun sollen." Nervös kaute ich auf meiner Lippe. Es war so schon gefährlich für Leute wie uns die Stadt zu betreten, sich ohne Erlaubnis auf gesperrtem Gelände herum zu treiben war geradezu selbstmörderisch. "Man hätte dich fassen können."

"Hätte ich es nicht getan, wären wir schon längst im Hafenwasser gelandet oder hätten es nicht einmal durch den Zaun geschafft", gab er zur Antwort. Ich hatte das Gefühl, dass er genervt war. Also hielt ich von diesem Zeitpunkt an lieber den Mund.

Eine kleine Unendlichkeit lang führte Rahel mich durch die pechschwarze Nacht, ohne dass ich wusste, wohin wir überhaupt gingen. Irgendwann blieb er stehen und lies mich los. Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung kaum über das Schwappen des Wassers im Hafenbecken, doch ich spürte die Bewegung neben mir, so nahe stand er bei mir.

"Wir sind jetzt da", sagte er schließlich. Allen Anscheins nach hatte er sich vergewissert, dass er auch die richtige Stelle erwischt hatte.

"Und jetzt?" Ich drückte meinen kleinen Bruder fester an mich. Ging etwas schief, während wir auf das Schiff kletterten, konnte er schlimmstenfalls sogar im Wasser landen. Dann wäre er in dieser Dunkelheit verloren.

"Zuerst werden wir unsere Sachen hinauf werfen." Wieder dasselbe Rascheln, er legte das bisschen Gepäck das er hatte und das er, genau wie ich, am Rücken trug, ab. "Gib mir Buc."

Schweigend drückte ich ihm das kleine Bündel in die Arme, um es ihm gleichzutun und die Knoten zu öffnen, mit denen ich meine Habe befestigt hatte.

"So, jetzt nimm ihn wieder." Tastend suchte ich nach meinem Bruder, erwischte aber stattdessen Rahels Oberarm - er war um einiges muskulöser, als ich es in Erinnerung gehabt hatte -, den ich hinunter fuhr, bis ich Bucs winzigen Kopf unter meinen Fingerspitzen erspürte.

Kaum, dass Rahel mir den Kleinen wieder übergeben hatte, hörte ich, wie er mit reichlich Schwung erst seine, dann meine Habseligkeiten durch die Öffnung warf, die ich nicht einmal sehen konnte. Ich musste schlucken. Wie sollten wir nur auf diesen verdammten Frachter kommen?

Rahel wusste vielleicht, wo er hinmusste, aber ich hatte noch weniger als keine Ahnung. Er hatte mir vorhin gesagt, dass sich der Einstieg zwei Meter über dem Boden befand. Ich würde springen müssen, was bedeutete, dass ich gegen die Schiffswand knallen und ins Wasser fallen würde, wenn ich daneben zielte.

"Okay, jetzt du..."

Diese Worte verursachten einen festen Knoten in meinem Magen. Ich konnte schwimmen - zumindest theoretisch. In tiefem Wasser, noch dazu in der schwärzesten Nacht, war das allerdings noch einmal etwas vollkommen Anderes. Zumal ich mir nicht auch noch vorstellen wollte, welche Wesen sich unter dem Bug des Frachters tummelten.

"Ich weiß nicht, wohin ich springen muss. Wenn ich abrutsche oder nicht hoch genug komme, dann lande ich im Wasser." Schluckend legte ich meinen Kopf in den Nacken und versuchte die Luke auszumachen. Erfolglos.

"Keine Sorge, ich lasse dich schon nicht absaufen." Ganz selbstverständlich fand seine Hand meine und drückte sie kurz, bevor er mich einen Schritt nach rechts zog. Dann spürte ich, wie er mich an den Schultern leicht von sich weg drehte.

"Lauf gerade aus. Nimm so viel Schwung du kannst. Der Spalt zwischen der Mauer und dem Schiff ist nur ungefähr einen halben Meter breit, du wirst nicht hineinfallen, das verspreche ich dir."

Ich atmete tief ein. Jetzt waren wir hier, aufzugeben und umzukehren wäre falsch gewesen. Rahel hatte viel riskiert, um einen geeigneten Weg auf den Frachter zu finden. Ich schüttelte seine Hände ab.

Dann rannte ich los. Ich wusste nicht einmal, wie weit ich vom Rand des Hafenbeckens entfernt war, oder wann ich mich abstoßen musste. Einen Schritt nach dem anderen machte ich auf den schleimigen, rutschigen Stein. Ich wurde immer schneller.

Und dann war die Kälte des Bodens unter meinen Zehenspitzen verschwunden. Ich hatte den Rand der Mauer erreicht und stieß mich mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, ab. Im gleichen Augenblick riss ich meine Arme nach oben und griff ins Nichts. Im nächsten Moment baumelte ich nur an den Fingern an der Außenwand des Schiffes. Ich spürte, dass die Wunden, die schon der Zaun in meine Haut geschlagen hatte, durch mein eigenes Gewicht, immer weiter aufrissen. Ächzend zog ich mich hoch. Todesangst durchflutete meinen Körper. Ich wollte nicht hier sterben. Nicht in diesem Hafen in einer stockfinsteren Nacht. Nicht allein.

 

~

 

Drei lange Tage hatte es durchgehend geschüttet. Nicht, dass dieses Wetter ungewöhnlich für die Jahreszeit gewesen wäre, es war allerdings schon ein ziemlich seltsamer Zufall, dass es nach einigen Wochen durchgehenden Sonnenscheins plötzlich wie aus Kübeln goss. Und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem wir so schon genug Probleme hatten.

"Catalin, gibst du mir mal bitte ein Tuch... Buc hat", Rahel zog die Nase kraus, "nun ja, er hat mich vollgesabbert."

Ich unterdrückte ein Kichern.

Seit wir uns auf den Frachter geschlichen hatten, kümmerte Rahel sich um meinen kleinen Bruder, als wäre er sein Vater. Am Vorabend hatte er ihn sogar gewickelt, obwohl ich genau wusste, dass ihm diese Arbeit seit jeher missfiel.

"Stell dich nicht so an, ich möchte lieber erst gar nicht wissen, wie oft du deine Mutter vollgesabbert hast." Lautlos warf ich ein zerknülltes, bräunliches Stück Stoff in seine Richtung, das er mühelos mit einer Hand auffing. Kommentarlos wischte er erst den dünnen, kaum sichtbaren Speichelfaden von Bucs rundem Kinn, um sich gleich darauf das Hemd trocken zu tupfen.

Es war merkwürdig zu wissen, dass man sich auf einem riesigen Schiff befand, auf dem Weg zu einem anderen Kontinent, ohne, dass man etwas von dem Seegang und den Wellen mitbekam. Rahel hatte uns ein Versteck in der Mitte des riesigen Containercanyons ausgesucht, wo wir vor Wind und Regen geschützt waren - und vor den Blicken der Besatzung. Überhaupt, hatten wir erst einmal kurz einen der beiden Arbeiter auf dem Frachter zu Gesicht bekommen, und das auch nur, weil weiter vorne an Deck eine Welle über dem Schiffsrumpf zusammengeschlagen war und einige der Container knöcheltief unter Wasser gestanden hatten.

Seufzend lehnte ich mich gegen das, was auf unserem Weg zum Hafen mein Rucksack gewesen war. Ich hatte Buc und mich in zusätzliche Decken wickeln müssen, denn obwohl wir uns - auf Anraten Rahels - schon um einiges wärmere Kleidung angezogen hatten, als wir es eigentlich gewohnt waren, war es auf See besonders nachts klirrend kalt. Meine nackten Füße bekamen diese Tatsache in jeder einzelnen Sekunde zu spüren.

"Könntest du ihn mal nehmen, ich versuche etwas zu Essen aufzutreiben", abwartend hielt Rahel mir meinen kleinen Bruder hin. Der Kleine gab ein fast vergnügt klingendes Quietschen von sich, als ich ihn an mich nahm und zu mir unter die Decke legte.

"Pass auf, lass dich nicht erwischen." Mir war ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass mein bester Freund unser sicheres Versteck verlassen wollte. Trotzdem, mir war gleichzeitig klar, dass wir Nahrung brauchten. Unsere spärlichen Vorräte, die wir von zuhause mitgenommen hatten, waren am Vortag zu Ende gegangen. Schon davor hatte Rahel einige Ausflüge an Deck unternommen, um auszuspähen, woher er etwas Essbares bekommen könnte. Und er hatte eine nützliche Entdeckung gemacht: auf den Containern, in denen sich Essen befand, war eine Markierung aus drei verschiedenen Zeichen angebracht. Weder Rahel, noch ich hatten jemals gelernt zu lesen oder gar zu schreiben, doch er hatte sie mir beschrieben: zwei Kreise, die sich an einem Punkt berührten, etwas das aussah wie ein auf den Kopf gedrehter Stuhl und ein großer Kreis. Immer wieder, wenn Buc gerade schlief oder Rahel unterwegs war, betete ich flüsternd diese drei Zeichen herunter. Wir durften sie nicht vergessen, denn wo sie waren, war auch unsere nächste Mahlzeit.

"Keine Sorge, das Schiff ist groß und die Besatzung unaufmerksam. Ich werde mich nicht sehen lassen." In einer beruhigenden Geste legte er mir für einen Augenblick die Hand auf die Schulter, im nächsten war er auch schon verschwunden.

Jedes Mal, wenn er weg war, fühlte ich mich eigenartig leer. Ich wusste nicht ob es vielleicht das schlechte Gewissen war, das an mir nagte, immerhin begab er sich nur meinetwegen in Lebensgefahr - wer wusste, was die Seeleute mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn zu fassen bekamen. Es war auch meine Schuld, dass er überhaupt von daheim weggegangen war. Ich hätte ihn aufhalten müssen, irgendwie. Wenn seine Mutter wüsste, dass ich der Grund für sein plötzliches Verschwinden war... Ich konnte nur hoffen, dass er ihr nicht erzählt hatte, dass er mich begleitete. Ich wollte nicht, dass die alte Frau einen schlechten Eindruck von mir bekam, irgendwie hatte ich sie immer gemocht.

Buc fing leise an zu wimmern. Es schien, als merkte er, dass mich etwas bedrückte.

"Alles gut, mein Kleiner. Rahel ist bald mit etwas ganz Leckerem für dich zurück. Wie hört sich das an?" Eine Strähne meines Haares fiel mir über die Schulter und kitzelte Buc an der Nase. Er quiekte vor Lachen und versuchte danach zu greifen.

Nun ebenfalls lächelnd drückte ich meinen kleinen Bruder enger an mich und wog ihn sanft hin und her, bis er schließlich friedlich einschlief. Wie gut, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht begriff in welcher Gefahr wir schwebten - und ich auch nicht.

 

~

 

Ein ohrenbetäubender Knall ließ mich mitten in der Nacht hochfahren. Buc, den meine abrupte Bewegung sowie der Lärm ebenfalls aufgeschreckt hatten, fing augenblicklich an lauthals zu schreien. Beruhigend legte ich meine Hand an seine Wange und streichelte sie sanft. Er schrie ununterbrochen weiter.

Erst jetzt bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Rahel, der eigentlich neben mir gelegen hatte, war verschwunden. Suchend blickte ich mich um, doch es war tiefste Nacht und das Deck nur vereinzelt von Leuchtstoffröhren erhellt.

"Rahel?" Ich war aufgestanden, Buc hatte ich mit einem Tuch vorne an mich gebunden. Tastend suchte ich einen Weg aus unserem Versteck. Es war nach dem Knall erstaunlich ruhig geworden. Eigentlich schon zu ruhig.

So geräuschlos wie ich konnte, arbeitete ich mich durch die Schluchten der Container, doch von Rahel keine Spur. Natürlich nicht, vermutlich hatte er auch hier schon Schleichwege gefunden, über die er sich ungesehen von einem Ende des Schiffes zum anderen bewegen konnte. Ich dagegen war hier, wo es praktisch keine Schlupfwinkel oder Möglichkeiten gab, sich zu verstecken, für jeden, der zufällig vorbeikam, gut sichtbar. Schluckend legte ich meine Arme um Bucs vor Angst zitternden Körper und beschleunigte meine Schritte. Wo auch immer Rahel war, ich musste ihn finden und dann nichts wie zurück in unseren Unterschlupf.

Ich zuckte erschreckt zusammen, als ein weiterer Knall ertönte. Diesmal war er näher, und es sollte nicht der letzte bleiben. Nur Sekunden, nachdem er verstummt war, folgte eine ganze Salve, die ratternd und metallisch die Nachtluft erfüllte.

Ich presste mich gegen die Seitenwand eines Containers und schob mich daran weiter. Hier war etwas faul.

Angst kroch durch meine Adern, mein Herz hämmerte in meiner Brust, als wollte es geradewegs herausspringen und das Blut schoss so schnell durch meine Adern, dass ich den Lärm durch ein Rauschen in meinen Ohren nur sehr dumpf wahrnahm.

Dies waren keine Geräusche, die es auf einem Schiff geben sollte, so viel war klar, denn ich hatte erkannt, um was es sich handelte: Schüsse.

Lautes Poltern auf dem metallenen Deck ließ mich herumfahren. Jemand kam in meine Richtung - und zwar schnell. Ich rannte los, erreichte eine Abbiegung und versuchte so oft die Richtung zu wechseln, wie ich nur konnte.

Schließlich landete ich in einer Sackgasse, umgeben von meterhohen Wänden. Ich saß in der Falle. Wenn, wer auch immer es hier so eilig hatte, diesen Gang jetzt erreichen sollte, wäre ich geliefert. Suchend schaute ich mich um. Wenn man mich schon fand, sollte wenigstens Buc in Sicherheit sein.

Ich war mir relativ sicher, dass man Rahel nicht gefunden hatte. Er war schnell, beweglich und unglaublich einfallsreich, noch dazu kannte er den Frachter in der Zwischenzeit wie seine Westentasche. Nein, so jemanden setzte man nicht einfach in einer Sackgasse fest - ganz anders als mich.

Schließlich entdeckte ich einen schmalen Spalt. Die Hafenarbeiter hatten die Container an dieser Stelle nicht so weit zusammengeschoben, wie sie es sonst machten, so dass ein kleiner Freiraum entstanden war, zwar nicht groß genug für mich, aber für Buc sollte es allemal reichen.

Ich beeilte mich, ihn von mir loszumachen, wickelte das zusätzliche Tuch um seinen Körper und schob ihn in sein Versteck. Wimmernd ließ er es über sich ergehen, hatte aber anscheinend begriffen, dass er nun leise sein musste. Er durfte nicht gefunden werden.

Jetzt war es an mir, für mich selbst ein Versteck zu finden - aussichtslos. Schließlich rannte ich zurück zur letzten Abbiegung, wo ich noch einen letzten Blick auf Bucs Versteck warf, bevor ich lospreschte.

Inzwischen schmerzten meine Ohren schon von den Schüssen, die immer noch stoßweise über das Deck des Frachtschiffs hallten. Mein Atem rauschte durch meine Lungen, als ich an unserem Unterschlupf vorbei kam - Rahel war noch nicht zurückgekommen.

Plötzlich waren da wieder diese Schritte, so laut, dass ich dachte die Person zu der sie gehörten, müsste schon direkt hinter mir laufen. Doch als ich mich umdrehte, war da niemand. Kurz strauchelte ich, als ich um eine Ecke bog und einen Schatten einen Gang vor mir queren sah.

Hatte derjenige mich ebenfalls gesehen? Suchten diese Personen - denn es mussten ohne Zweifel mehrere sein - etwa nach mir? Oder jagten sie gerade Rahel... und schossen auf ihn?

Der Gedanke alleine reichte aus um mir den Magen überzudrehen. Wenn ihm etwas zustieß, war ich dafür verantwortlich. Von einer Sekunde auf die andere hörte ich wieder die Schritte, diesmal waren sie definitiv nah. Ich schaute mich um, Panik stieg in mir auf. Es war niemand zu sehen, doch die Schritte wurden lauter und lauter, schienen mich zu umkreisen - genau wie es die Kadaverfresser über den Wäldern taten, wenn über Nacht wieder einmal jemand aus dem Dorf verschwunden war. Doch links und rechts von mir blieben die Gänge menschenleer.

Ich kapierte erst, dass ich einen gravierenden Denkfehler gemacht hatte, als es bereits viel zu spät war. Wie Galgen wurden plötzlich auf der Länge des ganzen Ganges Stricke die Container herunter gelassen. Dumpf schlugen sie gegen das Metall und erzeugten einen Trommelwirbel - mit mir in seinem Zentrum.

Als nächstes glitten Schatten, in dunkelblau oder schwarz gekleidet, herab. Knallend setzten ihre Stiefel auf dem Boden auf. Ihre Gesichter waren allesamt verhüllt, hier und da lugte ein Büschel Haar unter ihren Kappen, Kapuzen und Mützen hervor, ansonsten hätte man den einen vom anderen nicht unterscheiden können.

Mit wild hämmernden Herzen und obwohl ich wusste, dass es aussichtslos war, rannte ich los. Ich versuchte den Männern - und ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei den Gestalten ausnahmslos um Männer handelte - auszuweichen, doch ich schaffte es gerade einmal beim Ersten vorbei, da erwischte mich auch schon einer an der Schulter und stieß mich unsanft gegen die nächstgelegene Wand. Mit voller Wucht knallte ich mit dem Kopf gegen das kalte Blech und sackte, vom Aufprall benommen, zu Boden.

"Na, wenn das nicht eine erfreuliche Überraschung ist", hörte ich irgendwo über mir die abgedumpfte Stimme eines der Typen. Mit verschleiertem Blick versuchte ich auszumachen, wer da gesprochen hatte, doch ich sah alles doppelt.

"Was für eine Schöne, wir werden bestimmt noch eine Menge Spaß mit ihr haben." Gelächter folgte auf diese Worte. Ich hätte nicht sagen können, ob dieselbe Person erneut gesprochen hatte, oder ob es eine andere gewesen war. Heiße Tränen liefen über meine Wangen.

In den Dörfern außerhalb der Stadtmauern war Gewalt Frauen gegenüber bei Leibe keine Seltenheit. Nicht nur einmal hatte ich junge Mädchen gesehen, die sich mit heruntergerissener Kleidung oder blutverschmiert zu ihren Hütten zurückgeschleppt hatten, nur um dort zusammenzubrechen. Beim Gedanken daran wurde mir übel.

Ich versuchte aufzustehen, doch meine Beine gaben unter meinem eigenen Gewicht nach. Es wäre so oder so ein aussichtsloses Unternehmen gewesen, gegen auch nur einen dieser Männer kämpfen zu wollen. Selbst einzeln waren sie mir haushoch überlegen. Dass ich gegen alle zusammen nicht den leisesten Hauch einer Chance gehabt hätte, musste wohl nicht extra erwähnt werden.

Von hinten wurde mir ohne Vorwarnung ein dünneres Seil um den Hals gelegt. Panisch versuchte ich mich aus der Schlinge zu befreien, hatte aber keinen Erfolg.

"Je mehr du dich dagegen wehrst, desto mehr würgt es dich", warnte mich eine Stimme hinter mir, trotzdem konnte ich den Reflex nicht unterdrücken mich befreien zu wollen.

Mit einer groben Bewegung wurde ich am Hals in die Höhe gerissen. Wieder sah ich nur Sterne. Ich konnte weder sagen, wohin ich gebracht wurde, noch was um mich herum eigentlich geschah.

Die ganze Zeit hatte ich nur eine Frage im Kopf: Was hatten diese Leute auf dem Schiff verloren? Es gab nur drei Besatzungsmitglieder, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht unter den Männern waren, die mich gefangen genommen hatten.

Taumelnd schleiften sie mich weiter. Wir ließen die Containerreihen hinter uns und steuerten auf die Brücke zu, so viel bekam ich mit. Taumelnd kam ich zum Stehen, als der Mann, der mich wortwörtlich an der Leine hatte, anhielt und kurz an den Strick zog.

"Bindet sie da hinten an der Treppe fest. Wir kümmern uns zuerst um die anderen." Meine Knie gaben nach, als ich auf eine graue Treppe zugezogen wurde. Dort, wo das Seil in meine Haut schnitt, breitete sich langsam ein taubes, aber gleichzeitig brennendes Gefühl aus. Wieder zerrte ich daran, nur um feststellen zu müssen, dass die Schlaufe immer enger zu werden schien.

Der Mann, der mich die ganze Zeit über festgehalten hatte, drückte mich unsanft zu Boden, so dass ich hart mit den Knien auf dem Blech aufschlug. Ein Brennen verriet mir, dass ich mir das Bein aufgeschlagen hatte. Grob packte er meine Handgelenke und legte sie übereinander. Ich versuchte mich aus seinem Griff zu entwinden, doch weder reichte meine Kraft aus, noch erlaubte mir mein benebelter Verstand irgendeine Art von halbwegs koordinierter Bewegung.

"Mach es dir nicht schwerer, Mädchen. Du wirst in nächster Zeit noch genug andere Probleme bekommen", riet mir der Mann, dessen Gesicht ich hinter der Maske immer noch nicht erkennen konnte. Gekonnt wickelte er ein dickes Stoffband um meine Arme und befestigte dieses mit einem Knoten, den ich nicht einmal kannte, an der Treppe.  

Ich schluckte - zumindest versuchte ich es. Im nächsten Moment war der Strick um meinen Hals verschwunden. Aus einem Reflex heraus, schnappte ich nach Luft. Mein Kopf sackte gegen eine der Metallstreben, an denen man mich festgebunden hatte wie ein Tier. Langsam klärte sich mein Blick.

Auf der freien Fläche zwischen Brücke und Containern hatte sich eine ganze Horde Maskierter eingefunden. Sie bildeten eine Art Kreis um etwas, das ich von meinem Punkt aus nicht erkennen konnte, anscheinend befand es sich aber am Boden, denn alle Blicke wiesen nach unten.

Ich reckte meinen Hals um sehen zu können, was ihre Aufmerksamkeit von mir abgelenkt hatte. Als ich erkannte, was es war, zog sich mein Magen krampfhaft zusammen.

Zwei weitere Männer knieten zwischen den anderen am Boden. Über ihre Köpfe waren schwarze Säcke gestülpt und so wie es aussah waren sie - genau wie ich - an den Händen gefesselt.

Einige Sekunden verstrichen, ohne, dass etwas geschah. Die Maskierten unterhielten sich, einige stießen sogar ein raues Lachen aus, doch ich konnte nicht verstehen, um was es ging - dafür war ich zu weit entfernt. Zwischen ihre Beine hindurch erhaschte ich immer wieder einen Blick auf die beiden Gefangenen. Beim Anblick des schmächtigeren von ihnen, setzte mein Herz einen Schlag aus. War es Rahel? Der Körperstatur nach zu urteilen ja.

Allerdings trug dieser Mann dort Schuhe mit dicken Sohlen und einen dunkelgrauen Overall. Es konnte nicht Rahel sein. Oder doch? War es möglich, dass er das Gewand geklaut hatte, um sich unauffällig an Deck bewegen zu können? Ich wusste nicht, wie die beiden Arbeiter aussahen - zumindest nicht genau - daher konnte ich auch nicht sagen, ob Rahel so starke Ähnlichkeit mit einem der beiden aufwies, dass er, zumindest aus der Ferne betrachtet, als Doppelgänger durchging.

Mein Puls raste, während ich die verschiedensten, teilweise unrealistischsten Möglichkeiten abwog, bis ich zu dem Schluss kam, dass es sich nicht um Rahel handeln konnte. Er war flink und kannte alle Verstecke, die es auf einem Frachtschiff überhaupt zu finden gab. So schnell wie mich fand man ihn bestimmt nicht.

Nach einer kleinen Unendlichkeit stieß ein weiterer Trupp maskierter Männer zu ihren Genossen.

"Habt ihr sie?", hallte eine kräftige Stimme zu mir herüber, bei der mir das Blut in den Adern gefror. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. In Panik zog und zerrte ich ein weiteres Mal an meinen Fesseln - natürlich wieder ohne Erfolg.

Die Antwort auf diese Frage ging im Gemurmel der Männer unter, doch ich spürte, dass plötzlich alle Augen wieder auf mich gerichtet waren. Trotzig schob ich das Kinn vor und senkte den Blick. Ich musste einen Weg finden, mich loszumachen, Buc zu holen und mich dann irgendwo zu verstecken.

Buc! Mir wurde übel. Wenn Rahel es nicht schaffte, zu entkommen, wäre Buc allein in seinem Versteck - ohne Aussicht jemals von jemandem gefunden zu werden. Er würde verhungern oder erfrieren.

Aber er musste leben! Er war alles, was mir von meinen Eltern geblieben war. Wenn er starb hatte ich nichts mehr, an dem ich mich festhalten konnte. Er durfte nicht sterben.

Ich riss an den Fesseln, warf mich dagegen, bis meine Handgelenke bluteten. Es half alles nichts. Keuchend und mit Tränen in den Augen sank ich zu Boden.

Zwei ohrenbetäubende Schüsse ganz in meiner Nähe ließen mich hochfahren. Der Ursprung war schnell gefunden: die Maskierten hatten auf die beiden am Boden knienden Männer geschossen. Leblos kippten diese nach hinten oder zur Seite um.

Ohne Vorwarnung musste ich mich übergeben. Immer wieder krampfte sich mein Magen zusammen und hörte selbst dann nicht auf, als er sich bereits vollkommen entleert hatte.

So viel Grausamkeit hatte ich in meinem Leben schon gesehen, hatte gesehen wie Männer in schlechten Zeiten gegeneinander kämpften, nur um etwas Essbares für ihre Familien aufzutreiben, wie verletzte Frauen gerade so den Weg nach Hause schafften. Ich hatte sogar schon Menschen gesehen, die es vor Einbruch der Dunkelheit nicht in ihre Hütten geschafft hatten und den Bestien des Waldes zum Opfer gefallen waren. Doch all das war nichts im Vergleich zu der Kaltblütigkeit, mit der diese Gefangenen gerade hingerichtet worden waren.

Ich zitterte am ganzen Körper, wollte mich nur noch verkriechen, aber ich konnte mich nicht bewegen vor Angst. War ich die Nächste? Sollte ich dasselbe Schicksal teilen?

"Ich muss atmen", flüsterte ich mir selbst zu, als würde es helfen. Warum atmen, wenn jeder Atemzug der letzte sein konnte? Ich merkte, wie die Panik gleichzeitig mein Herz rasen ließ und doch dafür sorgte, dass sich die Welt um mich herum anfühlte, als wäre sie stumpf und matt geworden.

Dass sich jemand näherte und meinen Kopf grob in seine Richtung zog, bekam ich nur verzögert mit.

"Sieh an, sieh an. Ein hübsches, kleines Vögelchen haben wir da gefangen." Meine Augen, die ich zu schmalen Schlitzen zusammengepresst hatte, nahmen alles nur noch sehr verschwommen war. Ich sah zwar, dass der Mann, der sich vor mir auf ein Knie niedergelassen hatte, im Gegensatz zu seinen Kollegen keine Maske trug, Details konnte ich aber nicht wahrnehmen.

"Packt sie ein und nehmt sie mit." Und schon war er wieder aus meinem Blickfeld verschwunden. Mich mitnehmen? Wohin? Und warum?

Falls möglich beschleunigte mein Herzschlag noch einmal. Den Schlag auf meinen Hinterkopf bekam ich eigentlich gar nicht mehr mit.

Dunkelheit...

...umgab mich. Ich hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung wo ich mich befand, alles was ich wusste war, dass mein Körper schmerzte - vom Kopf, bis zu den Zehenspitzen. Mein Schädel brummte dumpf vor sich hin, mein Hals kratzte, Arme und Handgelenke waren wund von den Fesseln.

Moment! Fesseln?!

Ich riss meine Augen auf. Warmes, flackerndes Licht erhellte den kleinen, kreisrunden Raum, in dem ich mich befand. Vor mir war eine dreieckige Öffnung in der schrägen Wand, durch die ich auf ein kleines Feuer blickte. Mit dem Rücken war ich an eine Art Stange im Zentrum des Raumes gebunden. War das hier ein Zelt? Ich war noch nie in einem gewesen, doch mein Vater hatte mir einmal ein Bild von Menschen gezeigt, die in solchen Dingern hausten - oder gehaust haben -, damals, auf dem alten Planeten.

Vorsichtig versuchte ich mich etwas aufzurichten, doch ein Strick, der sowohl um meinen Oberkörper, als auch um die Stange geschlungen war, machte Bewegungen praktisch unmöglich. Was war nur passiert? Mein Gehirn arbeitete so langsam, als hätte man es mir herausgenommen, kräftig durchgeschüttelt und dann verkehrt herum wieder in meinen Kopf zurück gesetzt. Nur sehr schrittweise realisierte ich, dass ich mich nicht mehr auf einem Frachter auf dem Weg nach Pao befand. Etwas war schiefgelaufen.

Bilder von maskierten Gestalten blitzten in meinen Erinnerungen auf. Warum waren sie auf dem Schiff gewesen? Wieso hatten sie die beiden Männer getötet, mich aber nicht? Und wo waren Rahel und Buc?

Die letzte Frage jagte mir einen Schauer über Rücken und Arme. Mein Herz beschleunigte, als würde es Anlauf nehmen und aus mir herausspringen wollen. Waren die beiden wohlauf? Eine Träne kullerte mir über die Wange und tropfte von meinem Kinn. Sie mussten es einfach geschafft haben, anders durfte es nicht sein. Rahel war klug genug um ein passendes Versteck für sie zu finden. Ich wurde aus meinen verzweifelten Gedanken gerissen, als ein Schatten über die Außenwand glitt. Jemand kam. Ich hielt den Atem an. Die Person glitt beinahe lautlos um das Zelt herum, bis sie den Eingang verdunkelte. Ich kniff die Augen zusammen, um zu erkennen wer vor mir stand, doch der Kontrast zwischen hell und dunkel war zu stark. Zitternd presste ich meinen Rücken gegen das Holz hinter mir.

"Aren, sie ist wach!", durchschnitt die Stimme des Mannes die Ruhe. Erschrocken zuckte ich zusammen. Was wollten diese Leute von mir? Wer war Aren? Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich die Antworten auf diese Fragen überhaupt wissen wollte.

Draußen hörte ich Schritte die sich näherten. Etwas an der Art, wie sich derjenige bewegte, zu dem sie gehörten, gefiel mir ganz und gar nicht. Wie ein Raubtier, das sich anpirscht und einen dann aus dem Hinterhalt überfällt und in klitzekleine Stückchen zerfetzt. Erneut kroch mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Der Mann verschwand aus meinem Blickfeld und ein anderer trat an seinen Platz. In geduckter Haltung schlüpfte er in das Zelt und baute sich vor mir auf. Ich war mir nicht sicher, ob er tatsächlich so groß war, oder ob er mir nur so vorkam, weil er direkt vor mir stand. Auf jeden Fall musste ich meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen.

"Wie schön, unser Vögelchen ist aufgewacht." Seine Stimme war tief, hatte aber gleichzeitig etwas Schnurrendes an sich. Mein Magen verkrampfte sich und mein Fluchtinstinkt erwachte. Ich hatte seine Stimme schon einmal gehört, doch mir wollte einfach nicht einfallen, wo.

"Sag mal, Vögelchen, kannst du sprechen?" Wie in Zeitlupe ging er vor mir in die Hocke. Nun waren wir beinahe auf Augenhöhe, doch das verbesserte meine Situation keinesfalls.

Er musste ungefähr in dem Alter sein, in dem mein Vater vor seinem Tod gewesen war. Seine Haut

war sonnengebräunt und um die wachsamen und gleichzeitig kalten, blauen Augen hatten sich bereits einige Falten gebildet. Zuletzt blieb ich an einer Reihe schwarzer Streifen hängen, die sich waagrecht unter seinem Ohr aneinanderreihten und weiter unten hinter dem Kragen seiner Jacke verschwanden.

"Bist du vielleicht auch taub?", fragte er nun etwas lauter. Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. Sollte ich besser antworten? Wer wusste, was er mit mir anstellte, wenn ich es nicht tat. Andererseits, wer wusste was er mit mir anstellte, wenn ich antwortete...

"Was habt ihr mit mir vor?!", presste ich zwischen halb geschlossenen Lippen hervor. Ich versuchte bedrohlich oder wenigstens tapfer zu wirken, aber allein die Andeutung eines teuflischen Grinsens auf dem Gesicht des Mannes zeigte mir, dass ich kläglich versagte.

"Das Vögelchen zwitschert ja!", rief er erfreut aus. Draußen vor der Öffnung ertönte ein lautes Lachen als Reaktion auf seine Worte. "Möchtest du mir nicht erzählen, was eine junge Schönheit wie du so ganz allein und verlassen auf einem Frachter zu suchen hat?"

Hatte er gerade gesagt, ich wäre allein gewesen? Mein Herz setzte einen Schlag aus. Bedeutete das, dass sie Rahel und Buc nicht gefunden hatten? Gut möglich... Auf der anderen Seite konnte es immer noch sein, dass der Kerl bluffte. Vielleicht versuchte er ja auf diese Weise aus mir herauszubekommen, ob sich außer mir noch jemand an Bord befunden hatte. Na wenn das so war...

"Das geht dich einen feuchten Scheiß an!", schnauzte ich ihn an. Bei meinen Worten blitzten seine eisblauen Augen amüsiert auf.

"Sehr gut, du redest ja doch noch." Der Ausdruck in seinem Gesicht reichte aus und ich wünschte mir der Boden möge sich unter mir auftun und mich mit Haut und Haar verschlingen. Dieser Blick konnte nichts Gutes bedeuten.

"Sag mal, Vögelchen: warst du überhaupt allein an Bord, oder hattest du noch Freunde dabei?" Ich hatte es geahnt! Er wollte mich benutzten, um an Buc und Rahel heran zu kommen. Nur über meine Leiche!

"Ich war allein!" Meine Augen waren starr auf seine gerichtet. Er durfte nicht einmal auf die Idee kommen, dass sich außer mir noch jemand auf dem Schiff befunden hatte.

"Lüge!" Mit diesem Wort stand er auf, drehte sich um und ging. Mein Herz schien stehengeblieben zu sein. Was hatte mich nur verraten? Ich merkte wie ich nach Luft schnappte - immer und immer wieder.

"Seht zu, dass die Jungs sie nicht in die Finger kriegen - noch nicht. Ich habe noch etwas mit ihr vor..." Arens Stimme verklang langsam draußen vor dem Zelt und ließ mich in einer Art von Kälte zurück, die ich noch nie gespürt hatte.

Ich wusste nicht, ob ich mehr Angst um mich selbst hatte, um meinen kleinen Bruder, oder um meinen besten Freund. Es wäre unverzeihlich gewesen, wenn ihnen etwas zustieß...

Auf der anderen Seite konnte ich ihnen in meiner momentanen Situation nicht helfen - selbst dann nicht, wenn diese Männer sie direkt hierher brachten. Ich musste es irgendwie schaffen, mich zu befreien.

So leise ich konnte begann ich mich hin und her zu winden, eine schwierige Angelegenheit, wenn man bedachte, dass der Strich extrem eng um meinen Körper gewickelt worden war. Immer wieder wiederholte ich diesen Vorgang, bis ich einsehen musste, dass es aussichtslos war. Tränen der Wut und der Angst kullerten über meine Wangen. Ich war vollkommen nutz- und hilflos.

Jeden Moment konnte dieser Aren oder ein anderer Typ zurückkommen und sonst was mit mir anstellen. Mein Körper erzitterte bei diesem Gedanken.

Was ich jetzt tun sollte? Ich wusste es nicht. Es war, als wäre mein Kopf leer gefegt.  Alles was ich wusste war, dass mir das Wasser bis zum Hals stand - und Buc und Rahel ebenso.

 

~

 

Wie lange ich in diesem Zelt war wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich konzentriert versuchte meinen knurrenden Magen und meinen trockenen Mund zu ignorieren. Gleichzeitig versuchte ich nicht daran zu denken, dass ich inzwischen in meinem eigenen Dreck saß.

Ich fühlte mich schwach, konnte kaum noch unterscheiden ob draußen Tag oder Nacht herrschte. Schien die Sonne oder ging ein Regenschauer nieder? 

Ich bekam nicht einmal richtig mit, als eine Person das Zelt betrat. Grob wurde ich von meinen Fesseln befreit und hinaus ins grelle Tageslicht gezerrt. Meine Augen waren nicht an die hellen Sonnenstrahlen gewöhnt, die an dieser Stelle durch ein Loch im Blätterdach drangen. Die Person zog mich einen schmalen, ausgetretenen Pfad entlang.

Wurzeln und heruntergefallene Äste und Zweige brachten mich immer wieder ins Stolpern, doch man schleifte mich rücksichtslos weiter. Selbst als ein spitzer Stein, der sich mir in die nackte Fußsohle bohrte, mir ein schmerzerfülltes Wimmern entlockte, schubste derjenige mich gnadenlos weiter. Wir näherten uns offensichtlich einer Siedlung, denn je weiter wir gingen, desto lauter wurde es um mich.

Schließlich traten wir hinter der letzten Wegbiegung zwischen zwei struppigen Büschen auf eine Lichtung, die von Holzhütten gesäumt war. Überall standen Menschen - hauptsächlich Männer -, doch ich erkannte ihre Gesichter nicht. Ich sah alles verschwommen und allein der Versuch mich auf einen dieser Leute zu konzentrieren, führte dazu, dass mir noch schwindliger wurde.

"Versuch erst gar nicht abzuhauen, sonst wirst du dein blaues Wunder erleben!", drohte mein Begleiter, der eindeutig ebenfalls männlich war. Er drückte mich an den Schultern zu Boden, so dass sich feine Steinchen und Holzspieße von den Bäumen rings herum in die Haut an meinen Knien und Schienbeinen bohrten. Ich unterdrückte ein Schluchzen und drängte die Tränen zurück, die mir in die Augen steigen wollten. Ob ich überhaupt weinen hätte können war zwar fraglich, nachdem ich tagelang keinen einzigen Tropfen Wasser gesehen hatte, trotzdem wollte ich es nicht riskieren. Wenn ich hier schon sterben sollte, dann bestimmt nicht wie ein heulendes Baby.

Einige der Hüttenbewohner - zumindest glaubte ich, dass sie dort wohnten - wandten ihre Köpfe in meine Richtung oder reckten vor Neugierde den Hals, doch es kam keiner näher. Niemand versuchte mir wehzutun, zumindest im Moment nicht.

"Wascht das Vögelchen und bringt sie dann zu mir. Sie wird bestimmt ihren Zweck erfüllen", trug von irgendwo eine leichte Brise Arens schnurrend-schneidende Stimme zu mir herüber. Wenn ich nur an ihn dachte, krampfte sich mein Magen schmerzhaft zusammen.

Kurz darauf näherten sich mir Schritte auf dem Kiesboden. Ich hörte deutlich das Knirschen von festen Schuhsohlen auf den Steinen und machte mich darauf gefasst wieder brutal in die Höhe gezogen oder gestoßen zu werden. Umso verblüffter war ich, als sich plötzlich schmale, weiche Hände auf meine Schultern legten. Vorsichtig griffen sie mir unter die Arme und zogen mich auf die Beine. Was sollte das?

Sehr langsam führte mich die Person, die ich noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, auf ein kleineres Gebäude zu meiner rechten zu. Aus seinem Inneren hörte ich schon von weitem leises Gelächter und Stimmen, die sich fast freundlich anhörten.

In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Was war hier los? Zuerst behandelte man mich wie den letzten Dreck, ließ mich fast verhungern und verdursten und jetzt auf einmal ging man mit mir um als wäre ich aus irgendeinem zerbrechlichen Material? Ich kam einfach nicht mehr mit.

Es wurde sogar noch seltsamer, als ich sah, was in dem Gebäude vorging. Die Wände waren mit Regalen vollgestellt, in denen Bündel aus Stoff in den verschiedensten Farben lagen. In der hinteren Ecke trennte ein gelblicher Vorhang, der von der Decke herab hing, einen kleinen Bereich des Raumes ab. Der Boden war, genau wie der Rest des Gebäudes, aus groben Holzbrettern gefertigt, deren Oberfläche im fahlen Licht trüb schimmerte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Bottich - ebenfalls aus Holz, das durch einen Metallring zusammengehalten wurde - in dem bis knapp unteren den Rand eine grünliche, leicht schäumende Flüssigkeit schwappte. Zwei Frauen standen links neben dem Eingang. Ich glaubte zu erkennen, dass sie mir zunickten, als ich herein kam. Zitternd ließ ich mich zu der Holzwanne führen. Was auch immer hier vor sich ging, ich war mir sicher, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.

Die Person, die mich hierher geführt hatte, schien anscheinend meine Angst zu spüren, denn sie strich mir ein paar Mal beruhigend über den Rücken. Die beiden Frauen, die ich beim Eintreten schon gesehen hatte, kamen herbei und fingen ohne zu zögern an, mich aus meinen verdreckten Gewändern zu schälen. Panik stieg in mir auf. Ich versuchte mich zu befreien, wandte mich aus dem Griff des Menschen, der mich bis vor ein paar Sekunden noch beruhigen wollte.

"Es ist alles in Ordnung, Mädchen. Hier tut dir niemand etwas", versicherte mir eine sanfte, leise Frauenstimme direkt an meinem Ohr. Wie gerne hätte ich ihr geglaubt. Es wäre so schön gewesen, sich einfach fallen zu lassen und keine Angst vor dem Ungewissen zu haben.

Aber ich sollte nicht hier sein. Ich sollte auf dem Schiff sein, zusammen mit meinem Bruder und Rahel. Ich sollte sie beide bei mir haben. Stattdessen wusste ich nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben waren.

"Wir wollen dich nur sauber machen, hab’ keine Angst." Wieder griffen diese Fremden nach mir, zogen mir das löchrige, braune Oberteil und die ausgefranste Hose aus. Nicht nur, dass ich mich nackt fühlte - jetzt war ich es auch noch! Beschämt schlang ich meine Arme um meinen Körper und starrte zu Boden. Selbst wenn ich nicht alles doppelt gesehen hätte, hätte ich die Frauen, die mich nun mit sanfter Gewalt unter Wasser tauchten nicht sehen wollen. Die letzte Person, die mich jemals nackt gesehen hatte, war meine Mutter gewesen - und selbst das war inzwischen viele Jahre her.

Kaum, dass ich bis zu den Schultern in dem duftenden Badewasser saß, entspannte sich mein Körper merklich. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte ich, dass es, nicht wie bei uns zuhause immer kalt, sondern angenehm warm, ja fast schon heiß, war. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, dass jetzt vielleicht doch alles wieder gut werden konnte. Allerdings währte dieser Moment nicht allzu lang, denn kaum fingen die Frauen an, mich mit Bürsten und weichen Schwämmen abzureiben, hörte ich auch schon polternde Schritte. Vier Männer, allesamt gut einen Kopf größer als die anwesenden Frauen, stürmten in den Raum. Obwohl sie keine Masken trugen, war ich mir ziemlich sicher, dass sie zu den Kerlen gehörten, die mich auf dem Schiff gefunden und gefangen genommen hatten. Sie waren diejenigen, die die beiden wehrlosen Männer getötet hatten...

"Aufgepasst Mädels, jetzt übernehmen wir!", krächzte einer von ihnen und machte eine gebieterische Handbewegung. Wie Tiere, denen man ein Kunststück beigebracht hatte, wichen die Frauen von mir zurück. Nur diejenige, die mich hierher gebracht hatte blieb steinern hinter mir stehen.

"Wir haben Befehl von Aren!", erklang ihre Stimme, zwar immer noch zart, aber diesmal eindeutig unfreundlich. Schützend legte sie mir die Hand auf die Schulter. Ich kannte diese Frau nicht und ich hatte auch ihr Gesicht noch nicht gesehen, aber in diesem Moment war ich ihr einfach nur dankbar. Diese Männer hatten nichts Gutes im Sinn.

"Und wir haben Langeweile, also hau ab." Mir wurde übel. Selbst wenn ich nicht so geschwächt gewesen wäre, hätte ich es mit keinem von ihnen aufnehmen können. Ich konnte nur hoffen, dass diese tapfere Frau mich nicht einfach hängen ließ.

Bedrohlich bauten sich die vier Männer vor uns auf. Ich versank immer weiter in den Bottich, bis die Wasseroberfläche mein Kinn berührte und schlang die Arme um meinen Körper. Ruhig, ruhig bleiben, ermahnte ich mich selbst. Es half wenig.

"Holt Aren, schnell!", forderte meine Beschützerin die beiden anderen Frauen auf, die erst nach einigem Zögern gehorchten und an den Männern vorbei ins Freie schlüpften. Einer von ihnen wandte sich um und folgte ihnen. Ich hörte bald darauf einen dumpfen Schrei durch die Holzwände ins Innere des Gebäudes dringen. Etwas in meinem Inneren verkrampfte sich. Was hatte er ihnen angetan? War es nur meinetwegen?

"Vielleicht solltest du jetzt besser gehen", bot der Mann noch einmal an und blickte dabei starr über mich hinweg. Ich wurde immer kleiner. Sie musste, genau wie ich, mitbekommen haben, dass den anderen etwas zugestoßen war. Sie würde sich nicht einer Übermacht in den Weg stellen, wenn sie wusste, dass sie nicht gewinnen konnte - schon gar nicht für eine Fremde wie mich.

"Nein." Ihre Stimme war kalt geworden und durchschnitt die Luft wie ein Messer. Ich befand mich zwischen den Fronten und würde gleichzeitig das Opfer sein, denn egal wie standhaft diese Frau auch war, sie würde gehen oder leiden müssen.

"Schön." Er wandte sich halb zu seinen Kumpanen zu seiner Rechten. "Pin, du hältst sie fest. Jaho, sieh nach, dass niemand kommt. Ich schnappe mir das Mädchen."

Adrenalin schoss durch meine Adern. Als würde mein Körper seine letzten Kraftreserven mobilisieren, sah ich alles plötzlich wieder gestochen scharf. Derjenige, der die ganze Zeit über gesprochen hatte, war der kräftigste von ihnen. Langsam aber mit einem siegessicheren Grinsen kam er auf mich zu. Der Andere, Pin, hatte die Frau hinter mir ins Visier genommen. Immer noch lag ihre Hand beruhigend auf meiner Schulter, doch nun zitterte sie.

Was sollte ich jetzt tun? Wenn ich im Wasser blieb konnte ich mich kaum wehren, stand ich allerdings auf bot ich diesem Kerl eine zu große Angriffsfläche. Wie ich es auch drehte und wendete, es sah nicht gut aus.

Der grinsende Mann kam näher. Mein Herz raste und ich spürte, wie sich meine eigenen Fingernägel in meine Handflächen bohrten. Es war vorbei, ich saß in der Falle.

Von draußen drang ein erwürgter Schrei an mein Ohr. Ich konnte nicht einmal sagen ob er menschlich oder tierisch war. Es war mir auch egal. Ich sah nur noch diesen irren Blick vor mir, der unausweichlich immer näher kam. Es gab keinen Ausweg.

"Was soll das?!" Eine tiefe Stimme hallte durch den Raum. Es war als hätte jemand die Zeit angehalten, denn beide Männer hielten auf der Stelle inne. Als stünden sie einem wilden Raubtier gegenüber, das sie auf keinen Fall reizen wollten, wandten sie sich um, bedacht darauf bloß keine überflüssigen Laute zu verursachen.

"Was soll das werden?" Ich erzitterte bei der Wiederholung der Frage. Zwar konnte ich denjenigen, der sie gestellt hatte, nicht sehen, aber ich war verdammt dankbar, dass er aufgekreuzt war. Vorsichtig lehnte ich mich etwas aus der Wanne, um an den Kerlen vorbei zu spähen.

Ein weiterer Mann hatte den Raum betreten. Er stand den anderen in Sachen Größe in nichts nach, obwohl sein Körperbau etwas schlanker und drahtiger wirkte. Er war ganz in schwarz gekleidet, ein Großteil seines Gesichts verschwand hinter einer ebenfalls schwarzen Maske, die knapp unter seinen stahlgrauen Augen endete. Zwischen den Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet.

"Milan, du hier?", säuselte Pin und duckte sich, als erwartete er, dass dieser Fremde, Milan, etwas nach ihm werfen würde.

"Die eigentliche Frage ist, was du hier machst." Nun war sein Blick auf Pin gerichtet. Es wunderte mich, dass dieser nicht auf der Stelle tot umfiel.

Der andere Mann, der, der es auf mich abgesehen hatte, fing sich allen Anscheins nach vor seinem Begleiter.

"Warum mischst du dich in Angelegenheiten, die dich nichts angehen?", presste er hervor und ging in eine Art Angriffshaltung.

"Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das hier mich nichts angeht", konterte der Neuankömmling. Er ließ keinen seiner Kontrahenten auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen.

"Wer sagt das?" Nun kehrte auch Pins Mut zurück. Er baute sich neben seinem Kollegen zu seiner vollen Größe auf. Für mich wurde es so unmöglich, den Neuen noch länger im Auge zu behalten, die beiden standen mir schlicht und ergreifend im Weg.

"Ich. Sie gehört mir."

Ich zuckte zusammen. Was sollte das bedeuten? Wollte er mich nur vor diesen Typen retten, damit er danach selbst seinen Spaß haben konnte? Mein Magen verkrampfte sich. Die Frau hinter mir schien das alles etwas entspannter zu sehen. Sie hatte ihren verkrampften Griff von meiner Schulter gelöst und war neben mich getreten. Ich war verwirrt.

Ein Urinstinkt wollte mir einreden, dass ich jetzt in Sicherheit war - was mir die Reaktion der Frau bestätigt hätte. In meinem Kopf schrie aber alles: Lauf so schnell du kannst, sieh zu, dass du Land gewinnst!

Verunsichert versuchte ich in dem Gesicht der Frau neben mir - das ich in diesem Moment zum ersten Mal sah - zu erkennen, was hier vor sich ging. War ich nun gerettet oder endgültig verloren?

Um ihren Mund hatten sich feine Fältchen gebildete, ich glaubte die Andeutung eines Lächelns zu sehen. Zugleich waren da aber auch diese Furchen auf ihrer Stirn. Ihre braunen Augen waren wachsam auf die drei Männer gerichtet, die sich abwartend gegenüber standen.

Die beiden, die mir den Rücken zugedreht hatten, traten nun langsam auseinander. Offensichtlich versuchten sie den Maskierten einzukreisen. Der allerdings, ließ sich davon in keiner Weise einschüchtern. Ganz entspannt fuhr er sich mit einer Hand durch sein kurzes, schwarzes Haar.

Ohne Vorwarnung donnerten zwei Schüsse. Ich schrie erschrocken auf. Wasser wog über den Rand des Bottichs und ergoss sich über den Holzboden. Einen Sekundenbruchteil später, lagen zwei der drei Männer mit dem Gesicht nach unten da. Keiner von ihnen rührte sich noch. Die Frau neben mir, war stehengeblieben, als wäre es das Normalste auf der Welt das in ihrer unmittelbaren Nähe geschossen wurde. Ich dagegen glaubte, dass mein Herz entweder zerspringen müsste, weil es so schnell schlug, oder aber bald ganz stehenblieb.

Mit einer fast elegant wirkenden Bewegung wischte sich der Maskierte noch einmal seine widerspenstigen Haare aus der Stirn, bevor er die Pistole zurück in ihr Halfter steckte.

"Anua, bring das Mädchen hier raus. Und sorg dafür, dass man die Leichen weg schafft." Kaum hatte er ausgesprochen, drehte er sich auch schon auf dem Absatz um und verschwand durch die Tür nach draußen.

Anua, die immer noch neben mir stand, wandte sich nun mir zu. In ihrem Gesicht las ich Erleichterung, schon fast Freude. Ich fragte mich, ob sie überhaupt mitbekommen hatte, dass dieser Typ vor unseren Augen gerade zwei Männer - selbst wenn sie noch so unmenschlich gewesen waren - erschossen hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

"Komm raus, ich suche dir etwas zum Anziehen." Sie hielt mir ein weiches, hellgelbes Tuch hin. Nur zögernd griff ich danach. Konnte ich ihr vertrauen? Vorerst: nein. Trotzdem beschloss ich zu tun, was man von mir verlangte, stieg aus dem Wasser und trocknete mich ab. Anua huschte in der Zwischenzeit im Raum auf und ab, griff einmal hier, einmal da in die Regale und kam schlussendlich mit einem ansehnlichen Stapel bunten Stoffes zu mir zurück.

"Hier bitte", mit diesen Worten drückte sie mir das Bündel in die Hände und führte mich in den hinteren Teil des Raumes, zu dem durch einen Vorhang abgetrennten Abteil. Sanft schob sie mich hinein und zog den Vorhang hinter mir zu.

"Zieh dich an!", hörte ich ihre Stimme von der anderen Seite aus. Zögerlich faltete ich die Gewänder auseinander und nahm sie genauer in Augenschein. Sie waren allesamt aus sehr feinem Material gefertigt, das sich angenehm weich unter meinen Fingerspitzen anfühlte und dessen Farben beinahe zu leuchten schienen. Mein Blick wanderte an mir hinunter. Jetzt, wo ich gebadet war, sah ich beinahe wieder aus wie ein Mensch. Trotzdem fühlte ich mich keineswegs so.

Ich war eine Gefangene, hatte meine Eltern, vermutlich auch meinen kleinen Bruder verloren und das Leben meines besten Freundes noch dazu verspielt. Mein Leben war im Grunde genommen nichts mehr wert.

Mit zitternden Händen entledigte ich mich des Handtuches und zog mir das Oberteil über den Kopf, das mir fast bis zu den Knien reichte und eine seltsam grünliche Farbe hatte. Die Hose hingegen war in einem blassen Blauton gehalten. Meine Füße landeten in flauschigen Dingern, die zwar aussahen wie Schuhe, allerdings keine so dicken Sohlen hatten wie die Stiefel, die ich in letzter Zeit öfters zu Gesicht bekommen hatte.

Anua riss den Vorhang genau in dem Augenblick zur Seite, als ich mich gerade aufgerichtet hatte und noch einmal den Stoff glattstrich. Sie schien mit ihrer Auswahl hochzufrieden, denn auf ihrem Gesicht breitete sich ein erfreutes Lächeln aus. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie ganz ähnliche Kleidung trug wie ich.

"Sehr schön, jetzt lass uns gehen. Aren wartet nicht gerne." Sie wollte mir die Hände auf die Schultern legen und mich nach draußen schieben, doch ich schüttelte sie ab. Sie würde mich zu Aren bringen. Ich vertraute diesem Kerl keinen Meter. Am liebsten wäre ich ihm aus dem Weg gegangen, aber was hatte ich schon für Möglichkeiten? Mein Herz begann zu rasen.

Ich musste die Gelegenheit nutzen, sobald sie sich zeigte. Anua wirkte nicht sonderlich kräftig, bestimmt konnte ich mich von ihr losreißen, wenn ich es irgendwie schaffte sie abzulenken.

In Gedanken versunken ließ ich mich ohne weiteren Widerstand von Anua an den beiden Toten vorbei ins Freie führen. Immer noch standen vereinzelt Männer unter den Dächern einiger Hütten, doch es war um einiges ruhiger geworden. Ich erntete scharfe, fast schon gehässige Blicke, als ich an ihnen vorbei ging.

Anua schob mich den Kiesweg entlang, der zwischen den Holzhäusern hindurch führte. Hier und da rankte sich Vegetation eine Wand hinauf oder überwucherte einen der schmalen Pfade, die zu den Eingängen führten, ansonsten schien alles sehr gepflegt, als würde jemand großen Wert darauf legen, dass die Pflanzen nicht Überhand gewannen.

Gerade kamen wir an einer Art Garten vorbei in dem die verschiedensten Früchte wuchsen, als ich hinter dem Zaun, der die Anbaufläche vom Wald dahinter abtrennte, einen gestaltlosen Schatten entlanghuschen sah. Mein Herz machte einen Satz.

Ich wusste nicht wo genau ich mich hier aus geografischer Sicht befand und selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte es mir nicht viel gebracht. In meinem bisherigen Leben hatte ich nicht wirklich genug Zeit gehabt mich über die Monster aus den Wäldern zu informieren, teilweise kannte ich nicht einmal die Namen derer, die unser Dorf heimgesucht hatten. Es war auch nicht wichtig gewesen, immerhin war eine Begegnung mit einem dieser Geschöpfe wenig wünschenswert und falls es doch dazu kam höchstwahrscheinlich tödlich.

Jetzt stellte sich mir allerdings eine Frage: Gab es hier ebenfalls solche Bestien? Die Menschen, die ich bisher gesehen hatte, hatten nicht den Eindruck gemacht, dass sie in Angst lebten oder fürchteten, dass sie jeden Moment etwas aus dem dichten Gebüsch, das direkt an die Wohngebäude angrenzte, anspringen könnte. Auf der anderen Seite hatte dieser seltsame Schatten eben Alarm bei mir ausgelöst.

"Alles okay, dir passiert schon nichts", beruhigte mich plötzlich Anua. Mir war nicht aufgefallen, dass ich stehengeblieben war. Prüfend wanderte mein Blick wieder und wieder über die Stelle, wo ich das vermeintliche Monster zu sehen geglaubt hatte.

"Welche Tiere leben in diesen Wäldern?" Meine Stimme klang kratzig und rau. Ich erkannte sie selbst kaum wieder. Ein kaum merkliches Zittern ging durch meinen Körper.

Ich hörte Anua dicht hinter mir seufzen. "Ihr Leute vom Festland. Immer diese Angst vor irgendwelchen Viechern, die euch auffressen wollen. Keine Bange, so etwas läuft hier nicht frei herum." Sie griff nach meinem Handgelenk, aber wie aus einem Reflex zuckte ich vor ihr zurück.

Das hier war die Gelegenheit! Alles in meinem Körper schrie mir auf einmal zu: Lauf! Und ich lief so schnell mich meine Beine trugen.

Mit einem einzigen Satz war ich über den niedrigen Zaun gesprungen und stolperte durch die Beete. Unter meinen neuen Schuhen gaben die Früchte nach, die ich als Matschspur hinter mir zurücklies. Ein weiterer Sprung und ich hatte auch die Abgrenzung zwischen Feld und Unterholz hinter mir gelassen. Ich tauchte ein in eine Welt, die mir so fremd erschien, als befände ich mich auf einem anderen Planeten.

Strauchelnd kam ich zum Stehen, kaum, dass ich die ersten Bäume hinter mir gelassen hatte. Wohin jetzt? Hektisch versuchte ich mir einen Überblick zu verschaffen - vollkommen aussichtslos. Baumstämme standen einmal mehr, einmal weniger dicht aneinander gedrängt da. Von ihren Ästen hingen lose Pflanzenfasern herab, die, in Kombination mit dem trüben Licht, das stellenweise durch das Blätterdach fiel, teils fantastische Gebildete erzeugten. Der Boden war von einer weichen, leicht bläulich schimmernden Moosschicht überzogen, der sich selbst durch die Schuhe hindurch angenehm weich anfühlte. Kurz dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre hier barfuß entlang zu laufen.

Knackende Geräusche hinter mir holten mich abrupt in die Realität zurück. Ich war immer noch auf der Flucht! Ohne länger nachzudenken wandte ich mich nach links und beschleunigte, wobei ich darauf achtete nicht gegen einen besonders tiefhängenden Ast zu knallen oder mich in den Fasern zu verfangen. Jemand hinter mir rief ich solle stehenbleiben, ich glaubte Anuas Stimme zu erkennen. Dennoch dachte ich nicht einmal daran anzuhalten. Ich musste mich verstecken, warten, bis man nicht mehr nach mir suchte und dann schleunigst versuchen Buc und Rahel zu finden - falls sie noch lebten.

Keuchend umrundete ich einen gigantischen Baumstamm - vermutlich hätten zehn Menschen, die sich an den Händen hielten nicht ausgereicht, um einen Kreis um ihn zu bilden. Ich war noch nicht lang auf der Flucht, aber schon jetzt brannte meine Lunge wie Feuer. Meine Beine rebellierten bei jedem Schritt, was sowohl damit zu tun hatte, dass ich tagelang im Sitzen verbracht hatte, als auch damit, dass ich viel zu lange nichts mehr gegessen hatte. Von Wasser einmal ganz abgesehen. Schon bald drehte sich der Wald um mich und ich kam nur noch voran, indem ich mich an Bäumen und Felsen abstützte.

Schließlich verließen mich die Kräfte. Am Fuße eines knorrigen Baumes brach ich zusammen. Mein Gesicht landete hart auf einer Wurzel, ein brennender Schmerz breitete sich von der Stelle ausgehend aus, wo die Haut aufgeschürft wurde. Ich schnappte nach Luft, aber meine Lungen blieben seltsam leer.

Um mich herum war es merkwürdig still, nur das Rauschen des Blattwerks hoch über mir war zu hören. Hatte ich Anua abgehängt? Ich konnte es nicht glauben, aber es schien tatsächlich als wäre ich allein. Viel zu spät merkte ich am Boden liegend, dass ich beobachtet wurde.

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Charly Swift
Bildmaterialien: Charly Swift
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2013

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