Vorwort
Unser aller Leben ist ein Schmelztiegel verschiedenster Geschichten. Oft bleiben sie uns verborgen, denn wir betreten und verlassen sie, ohne es zu merken. Zwischen Buchseiten aber haben Geschichten Anfang und Ende - auf den ersten Blick. Wie im echten Leben auch, beginnen sie jedoch nicht mit dem ersten und enden nie mit dem letzten Wort.
Wir, die Leser, lassen sie lebendig werden indem wir ihnen Zeit schenken. Sie verzaubern uns, weil wir uns auf sie einlassen und ihren Ideen Glauben schenken. Jeder auf seine Weise.
In dieser spannenden Anthologie sind die Siegergeschichten des Ideenzaubers versammelt. Autor*innen verschiedenen Alters haben ihre Phantasie spielen lassen und im Rahmen dieses Schreibwettbewerbes auf Wattpad Fabelhaftes in Worte gegossen.
Ihre Geschichten entführen Dich in (alp)traumhafte Welten, feiern das Unheimliche und spielen mit Menschlichkeiten. Sie geben der Furcht ein Gesicht, aber auch der Leidenschaft. Was auch immer das Thema ist, sie werden Dich überraschen.
So viel ist sicher.
Danken möchte ich an dieser Stelle den vielen wunderbaren Teilnehmer/-innen des Ideenzaubers – für ihre Zeit, ihren Mut und ihre Kreativität.
Besonders dankbar bin ich Tobias K. für den Entwurf des wundervollen Covers und J. M. Weimer für die Erstellung des Klappentextes.
Keah Rieger - Traumverloren
I.
Als Christina die Tür öffnete, stand sie davor und für einen kurzen Augenblick blieb Christinas Herz stehen.
Eine Sekunde.
Zwei Sekunden.
Dann begann es wieder zu schlagen, langsam zunächst, dann immer schneller, wumm, wumm, wumm, wie ein altersschwacher Motor, der ein paar Anläufe brauchte, um wieder in die Gänge zu kommen. Immer heftiger hämmerte es in ihrer Brust, bis es so hart gegen ihre Rippen pochte, dass sie sich sicher war, sie würde es hören können.
»Guten Abend, Frau Abelein«, sagte Amina höflich und Christina hasste es, dass die junge Frau sie immer so nannte. Es hörte sich alt an und streng, viel zu spießig, und obwohl Aminas tiefe Stimme sanft und entspannt klang, konnte man heraushören, dass sie einen Respekt vor Christina hatte, den diese nicht von ihr annehmen wollte.
»Bitte, nenn mich doch Christina«, sagte sie und lächelte. Sie wunderte sich selbst darüber, dass ihre Stimme so ruhig klang, als sie einen Schritt zur Seite trat und Amina ins Haus ließ. Ihr Haus, das sie vor so vielen Jahren, in einem komplett anderen Leben, wie es schien, gemeinsam mit Sebastian gebaut hatte. »Lily wartet schon ganz sehnsüchtig auf dich.«
»Ich musste noch kurz was beim Tierheim abgeben, deshalb wurde es ein wenig später«, entschuldigte sich Amina, zog ihre Jacke aus und streifte sich an der Garderobe die weißen Turnschuhe von den Füßen.
Christina sah, dass sie pinke Socken mit kleinen Kätzchen darauf trug, unschuldig, kindlich, und sofort verknotete sich ihr Herz bei dem Anblick. Es erinnerte sie schmerzhaft daran, wer Amina eigentlich war. Wie alt sie war. Wer sie selbst war.
»Ich hoffe, das macht Ihnen keine Umstände«, riss Aminas Stimme sie aus ihren Gedanken.
»Du«, erinnerte Christina sie mit einem Lächeln und versuchte den spitzen Stich in ihrer Brust zu ignorieren, der sich immer dann bemerkbar machte, wenn Amina das Angebot, sie beim Vornamen zu nennen, höflich ausschlug.
»Und nein, es macht uns keine Umstände. Wir essen erst in einer halben Stunde. Geh ruhig erstmal rauf und stell deine Sachen ab, komm erstmal an.«
Amina nickte, ging an ihr vorbei und steuerte auf die Treppe zu. Ihr langer Pferdeschwanz wippte, als sie unbeschwert die Stufen hin- aufhüpfte. Aus dem Augenwinkel sah Christina ihr hinterher. Dieses Mädchen war wunderschön, dachte sie. Natürlich war auch Lily schön, aber auf eine andere Art. Amina war besonders, mit ihren schwarzen Locken, den dichten langen Wimpern, ihren Glutaugen und der karamellfarbenen Haut, die so sehr an dunkle Seide erinnerte …
Energisch schüttelte Christina den Gedanken ab, wischte sich die feuchten Handflächen am Stoff ihrer Jeans ab und schloss die Haustür. Danach ging sie zurück in die Küche, um das Abendessen weiterzukochen. Es sollte Falafel geben, sie hatte das Rezept extra für Amina herausgesucht und hoffte, dass sie alles richtig machte und sich vor der jungen Frau nicht blamieren würde.
Während sie die Zwiebeln für den Teig schnitt, schweiften ihre Gedanken wieder ab.
Was Amina und Lily in ihrem Zimmer wohl gerade taten? Wahrscheinlich saßen sie im Schneidersitz auf Lilys Bett und tratschten über Jungs. Ein Lächeln stahl sich auf Christinas Lippen, als sie daran dachte, wie sie selbst das Gleiche vor zwanzig Jahren mit ihren Freundinnen getan hatte. Wie unbeschwert sie doch gewesen war, wie frei und voller Zuversicht. Bis ihre Jugend mit achtzehn ein so abruptes Ende fand.
Sie merkte gar nicht, dass ihre Hand mit dem Messer immer energischer auf das Gemüse vor ihr niederfuhr.
Zack!
Zack!
Zack!
Dabei machte sie niemandem einen Vorwurf, oh nein. Lily am allerwenigsten, so eine war sie nicht, sie verabscheute diese Mütter zutiefst. Auch Sebastian traf keine Schuld … Na ja, vielleicht ein kleines bisschen, immerhin gehörten immer zwei dazu. Doch am Ende war sie selbst es gewesen, die die Entscheidung getroffen hatte.
Noch heute hallten ihr Sebastians Worte in den Ohren.
»Willst du es behalten?«
Niemals würde sie sich wünschen, diese Frage anders beantwortet zu haben. Wie könnte sie denn auch? Lily war ein wundervolles Kind gewesen, fröhlich und sanftmütig, ein »Anfängerbaby«, wie man so schön sagte. Weder die Trotzphase noch die Pubertät waren besonders fordernd gewesen. Schon früh hatte sie durchgeschlafen, durch- gebrüllte Nächte und schwere Kinderkrankheiten kannte Christina nur aus Erzählungen von anderen Müttern, deren Anerkennung sie sich jedoch hart erkämpfen musste. Eine achtzehnjährige Mutter war weder auf dem Spielplatz noch im Kindergarten gern gesehen, das hatte sie damals sehr schnell feststellen müssen, und auch, dass die anderen über sie redeten, sobald sie den Blick abwandte.
Doch sie gewöhnte sich daran, wie sie sich daran gewöhnte, dass man im Dorf über sie und Sebastian sprach. Ihre Haut wurde dicker und sie ließ sich nichts anmerken, doch nachts plagten sie Schuldge- fühle und Versagensängste und sie weinte sich in den Schlaf.
»Das schaffen die niemals, die sind ja selbst noch Kinder«, flüsterten die Frauen am Sonntagmorgen beim Bäcker hinter vorgehaltenen Händen.
»Um Himmels willen. Was wollen die ihrer Tochter bieten? Sie sollten sie weggeben«, tuschelten die Nachbarn bei ihrem täglichen Plausch am Gartenzaun.
»Das passiert eben, wenn man nicht aufpasst. Sebastian ist selber schuld, dass er sich nun sein Leben verbaut hat«, lästerten die Männer am Samstagnachmittag auf dem Fußballplatz.
»Schlampe!«, hallte es in Christinas Ohren.
»Asoziale.«
»Das arme Kind.«
Sie beide verloren nie ein Wort darüber. Es war, als hätte es eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen gegeben, alle Zweifler vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Nun, das hatten sie geschafft! Sie hatten etwas aus ihrem Leben gemacht, mehr als viele andere, die so freimütig über sie geurteilt hatten. Trotz der widrigen Umstände hatte Christina ihr Abitur geschafft, trotz all der starrenden Mädchen in ihrer Klasse, trotz der spottenden Leute auf der Straße, trotz all des Ärgers mit ihren Eltern. Hochschwanger hatte sie damals in den Abschlussprüfungen gesessen und hatte am Ende zu einer der Besten ihres Jahrgangs gehört.
Sebastian hatte eine Ausbildung in einem Steuerbüro gemacht, Jahre später konnte er sich als Steuerberater selbständig machen. Heute verdiente er gutes Geld. Sie hatten sich ein kleines Haus bauen können, hatten einen hübschen Rasen, Pfingstrosen im Garten und ein neues Auto auf dem Hof. Jeden Sommer flogen sie nach Spanien. Lily ging aufs Gymnasium und würde nächstes Jahr das Abitur machen. Sie war auch heute noch ein Musterkind, hatte immer gute Noten und war nie in unangenehme Dinge verwickelt. Ja, Christina konnte stolz auf ihre Tochter und ihr Leben sein. Sie hatten alles richtig gemacht, sie hatten es allen Zweiflern gezeigt. Nein, niemals würde sie sich wünschen, anders entschieden zu haben! Nie!
Energisch wischte sie mit dem Handrücken die Tränen von ihren Wangen. Die kamen mit Sicherheit nur von den Zwiebeln.
II
Eine halbe Stunde später kamen Lily und Amina in die Küche.
Die Teller standen bereits auf dem Tisch und Christina hatte es sogar noch geschafft, sich umzuziehen und im Bad ein wenig frisch zu machen. Den altmodischen Pullover hatte sie gegen die dünne weiße Bluse getauscht, für die sie immer so viele Komplimente bekam und die sie jünger aussehen ließ. Trotzdem wurde sie sich jedem einzelnen grauen Haar, auch wenn es nicht viele waren, und jeder kleinen Falte in ihrem Gesicht nur überdeutlich bewusst, in dem Moment, als Amina den Raum betrat.
»Wow, das riecht ja mega-gut!«, sagte diese und Christina fühlte ihre Wangen warm werden. Verlegen strich sie sich eine blonde Strähne hinter das Ohr.
»Danke, aber warte erstmal ab, wie es schmeckt.«
»Wegen mir hätten Sie nicht marokkanisch kochen müssen«, erklärte Amina, doch ihre leuchtenden Augen sagten etwas anderes.
»Ich esse so ziemlich alles.«
»Ja, aber kein Fleisch«, entgegnete Christina lächelnd, während sie die Kichererbsenbällchen und den Bulgursalat auf den Tisch stellte. »Ich habe zugehört. Und ich wollte es sowieso mal ausprobieren, also keine Sorge.«
»Sehr nett jedenfalls, danke.« Lily und Amina nahmen am Tisch Platz und Christina begann, die Teller zu beladen.
»Was ist mit Papa, kommt er nicht?«, fragte Lily, ohne jedoch von ihrem Smartphone aufzusehen, auf dem sie herumtippte. Christina warf einen Blick auf die Uhr über der Küchentür und seufzte.
»Er hat nichts gesagt, aber ich würde nicht auf ihn warten. Du kennst ihn doch.«
Lily gab ein Geräusch von sich, das sowohl Zustimmung als auch Widerspruch sein konnte und steckte ihr Handy in die Hosentasche. Natürlich hatte auch sie bereits gemerkt, dass ihr Vater in letzter Zeit immer mehr Überstunden in der Kanzlei machte. Dabei war sich Christina nicht ganz sicher, ob die Überstunden wirklich nötig waren, oder ob sie für ihn eine Art Flucht von zuhause darstellten. Übelnehmen konnte sie es ihm nicht. Um ehrlich zu sein, so gut lief es zwischen ihnen schon eine ganze Weile nicht mehr. Nicht, dass irgendwas Besonderes vorgefallen wäre. Obwohl sie noch so jung gewesen waren und ihre Beziehung mit der frühen Elternschaft und kurz darauf dem Tod von Sebastians Vater auf eine harte Probe gestellt worden war, hatte es niemals ernsthaften Streit zwischen ihnen gegeben. Sie hatten einander geliebt, sie hatten einander bedingungslos vertraut und sich gegenseitig gestützt. Nicht eine einzige Sekunde lang hatte Christina an Sebastians Loyalität gezweifelt, denn er hatte ihr niemals auch nur den kleinsten Grund dafür geliefert. Er hatte sich für sie und Lily entschieden und er war jemand, der zu seinem Wort stand – genau wie sie. Damals hatte sie geglaubt, nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten, gab es nichts mehr, was ihre Beziehung und ihre Liebe zueinander noch erschüttern könnte.
Wie sehr sie sich doch getäuscht hatte.
Doch wer hätte auch ahnen können, dass die Eintönigkeit des Alltags so viel brutaler sein konnte als jeder schwere Schicksalsschlag? Heute redeten sie und Sebastian kaum noch miteinander. Sie stritten nicht, denn Streit erforderte eine gewisse Leidenschaft und manchmal schien es Christina, als wäre diese Flamme vor langer Zeit erloschen. An anderen Tagen war sie sich nicht sicher, ob sie jemals da gewesen war und wenn sie länger darüber nachdachte, kam sie jedes Mal zu dem Schluss, dass es niemals ein richtiges Feuer zwischen ihnen gegeben hatte. Vielleicht waren es ein paar zarte Funken gewe- sen, damals, mit siebzehn, doch diese waren bereits erstickt worden, bevor auch nur eine kleine Flamme daraus entstehen konnte. Aber war das denn auch wichtig? Waren Vertrauen und Zuverlässigkeit nicht tausendmal mehr wert als ein unkontrollierbarer Waldbrand? Doch inzwischen war sie sich Sebastians uneingeschränkter Ehrlichkeit nicht mehr ganz sicher. Sie wusste nicht, ob er tatsächlich Überstunden machte oder ob seine bedingungslose Loyalität vielleicht Risse bekommen hatte. Doch was noch schlimmer war: Sie war sich nicht sicher, ob es ihr wichtig war.
Hatte er eine Affäre? Christina hatte schon oft darüber nachgedacht, wie sie sich fühlen würde, falls dies der Fall sein würde. Wäre sie traurig? Oder vielmehr erleichtert?
Wenn Sebastian pünktlich nach Hause kam, redeten sie beim Abendessen über Belanglosigkeiten, doch wenn Lily abends bei einer Freundin war und sie beide miteinander allein waren, war es oft totenstill. Manchmal kam es Christina so vor, als seien sie zwei Fremde, die einander nichts zu sagen hatten und sie beide waren jedes Mal froh, wenn das Abendessen überstanden war und die peinlich berührte Stille ein Ende hatte. Dann schalteten sie den Fernseher ein oder Sebastian verschwand in sein Arbeitszimmer, wo er bis spät in die Nacht über seinen Unterlagen brütete und Christina ihn in Ruhe ließ.
Sex hatten sie durchaus, doch er war zu einer routinemäßigen Erledigung geworden, wie die Wäsche am Samstagnachmittag oder der wöchentliche Einkauf bei Denns. Er war in Ordnung, doch sie war nicht mit der Seele dabei und sie fürchtete, dass es Sebastian nicht anders erging.
Mehr als nur einmal hatte sie sich bereits gefragt, wo sie einander verloren hatten. Wann war es geschehen? Warum war es geschehen? Hatte es einen ganz bestimmten Moment gegeben, eine Situation, die sie auseinanderriss, ohne dass sie es direkt gemerkt hatten? Oder war es langsam passiert, über Wochen, Monate, Jahre hinweg?
Sie suchte und suchte, doch eine Antwort fand sie nicht.
III
»Und, was steht bei euch heute so an? Girlstalk?«, scherzte Christina, nur um ihre betont jugendliche Wortwahl im nächsten Moment zu bereuen. Verdammt, wie peinlich war das denn? Was war denn nur los mit ihr? Sie spürte, wie sich feine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Amina lächelte, doch Lily zog eine Augenbraue nach oben, als wollte sie fragen: Echt jetzt, Mama?
Glücklicherweise sparte sie sich jeglichen Kommentar.
»Amina hat heute Abend ausnahmsweise mal frei und wir wol- len die Bögen für die theoretische Führerscheinprüfung zusammen durchgehen«, sagte sie stattdessen und schob sich im nächsten Moment einen Löffel mit Bulgur in den Mund. »Ist ja bald soweit.«
Lily hatte Amina in der Fahrschule kennen gelernt und so kannte auch Christina die junge Frau erst seit wenigen Monaten. Dennoch kam es ihr so vor, als würden sie sich schon ewig kennen. Ob es Amina auch so ging?
»Wahnsinn, wie die Zeit vergeht«, seufzte Christina in einem kurzen Anflug von Nostalgie, fing sich jedoch im nächsten Moment wieder. Jetzt nur nicht melodramatisch werden, Lily hasste es, wenn sie davon anfing, wie schnell sie groß geworden war. Dabei stimmte es. Gestern noch ein Baby, heute schon fast erwachsen. Wo waren die ganzen Jahre geblieben? »Ihr beide schafft das mit links«, sagte sie.
»Kommt stark darauf an, welchen Prüfer man hat«, sagte Amina und verzog das Gesicht. »Meine Schwester hatte ein richtiges Arschloch, entschuldigen Sie die Wortwahl. Er hat sie so oft rückwärts einparken lassen und über den Rückspiegel böse angeschaut, dass sie sich nicht mehr getraut hat, nach hinten zu sehen. Und dann ist sie wegen fehlendem Schulterblick durchgefallen.«
»Ich bin mir sicher, das sind Einzelfälle. Zumindest über die Theorieprüfung müsst ihr euch keine Gedanken machen, ihr werden sehen, es ist ganz einfach. Viele Fragen lassen sich mit gesundem Menschenverstand beantworten.«
»Das stimmt allerdings«, sagte Lily.
»Wie läuft es denn bei dir im Tierheim?«, fragte Christina Amina.
»Wir haben einen neuen Kater bekommen«, erzählte diese. »Noch ganz klein, wurde ausgesetzt und angefahren … aber das Schlimmste ist überstanden. Ich werde niemals verstehen, wie man Tieren sowas antun kann. Ein bisschen bin ich traurig darüber, dass es bald vorbei sein wird.«
»Wie lange hast du denn noch?«
»Nur noch bis zum Juni, ich gönne mir dann zwei Monate Pause. Ich möchte zu meiner Familie nach Marokko reisen und im September steht dann der Umzug nach München an.«
»Ich find’s echt unglaublich, dass es endlich geklappt hat«, sagte Lily. »Ich freu mich riesig für dich.«
»Nach München?«, fragte Christina. »Das ist ja ziemlich weit weg, macht es deinen Eltern nichts aus?«
»Wenn man Tiermedizin studieren will, muss man nehmen, was man kriegt«, sagte Amina und zuckte die Achseln. Ihre dunklen Brauen hatten sich ein wenig zusammengezogen, was ihrem Gesicht einen konzentrierten Ausdruck verlieh. Gott, wie schön sie war, selbst, wenn sie so ernst guckte. »Ich habe ohnehin Glück gehabt, dass es so schnell geklappt hat. Manche warten jahrelang oder gehen zum Studieren ins Ausland.«
»Ja, da hast du recht«, sagte Christina, die sich schmerzhaft an ihre eigenen Pläne erinnerte. »Als ich so alt war wie du, wollte ich auch Tiermedizin studieren.«
»Ehrlich? Warum haben Sie es nicht gemacht? Hat Ihr Schnitt nicht gereicht?«
»Na ja, nicht sofort. Aber mit ein oder zwei Wartesemestern wäre es gegangen. Das Problem war eher, dass ich schwanger war und deswegen auf ein Studium verzichtet habe.«
»Und später? Warum haben Sie später nicht studiert?« Amina betrachtete sie mit aufrichtigem Interesse in ihren klugen,
aufmerksamen Augen, doch aus irgendeinem Grund fühlte Christina sich durch die Fragen der jungen Frau angegriffen. Was wusste sie denn schon? Als ob es so einfach gewesen wäre.
»Das war nicht so leicht«, sagte sie schließlich. »Dafür hätten wir in eine große Stadt ziehen müssen, an der es eine Universität gibt, die das Studium anbietet. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit Lily in eine Großstadt zu ziehen. Unsere Familie lebt schließlich hier, Kinder brauchen ihre Familie und sie brauchen Natur um sich herum. Außerdem wollte ich sie auch nicht den ganzen Tag in Fremdbetreuung geben, das finde ich nicht gut. Und wir haben ja auch Geld gebraucht, ein Studium bringt kein Geld, sondern es kostet, und das über Jahre. Wir hatten keine finanzielle Unterstützung von unseren Eltern und
…« Sie merkte selbst, wie sie in einen Rechtfertigungsmodus verfiel und zwang sich, den Mund zu halten. Etwas hatte Aminas Frage in ihr aufgewühlt.
Natürlich war es eine blödsinnige Frage gewesen, wie hätten sie bitte ein Studium schaffen sollen? Auch Sebastian hätte gerne stu- diert und hatte darauf verzichten müssen. Wenn man ein Kind hatte, musste man eben gewisse Opfer bringen. Wenn man ein Kind hatte, war das nicht nur das Wichtigste auf der ganzen Welt – es war das Einzige auf der ganzen Welt. Kinder und Selbstverwirklichung vertrugen sich nun einmal nicht miteinander. Lily zuliebe hatten sie eine Wahl getroffen. Christina blieb die ersten Jahre zuhause und Sebastian machte eine Ausbildung. Erst, als Lily mit vier in den Kindergarten kam, machte Christina sich Gedanken über ihre berufliche Zukunft.
»Und dann haben Sie angefangen, in einer Metzgerei zu arbeiten?«, sagte Amina und lachte. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist ein krasser Kontrast – vom Veterinärstudium zur Fleischtheke.«
»Na ja, man hat nicht immer eine Wahl«, sagte Christina säuerlich und begann, den Tisch abzuräumen. Oh, wie sehr erinnerte Amina sie an ihr eigenes, ihr jüngeres Ich. So naiv, so unbeschwert. Christina ärgerte sich über ihre Fragen, doch sie konnte sie ihr nicht wirklich übelnehmen. Woher hätte sie es denn auch wissen sollen? Sie hoffte nur, dass Amina niemals so vom Leben enttäuscht sein würde, wie sie es bisweilen war. Doch … nein, war sie das? Warum denn? Es gab überhaupt keinen Grund, enttäuscht zu sein. Ihr Leben war doch gut. Nur, weil es mit dem Studium nicht geklappt hatte, war ihr Leben nicht schlecht. Sie hatten genug Geld, einen hübschen Rasen, Pfingstrosen im Garten und ein neues Auto auf dem Hof. Jeden Sommer flogen sie nach Spanien.
Nur, weil es anders gelaufen war, hieß das ja nicht, dass es schlecht war.
»Brauchst du noch Hilfe, Mum?«, riss Lily sie aus ihren Gedanken.
»Nein, nein«, sagte Christina automatisch.
»Dann gehen wir jetzt wieder nach oben, ja?«
»Alles klar, macht euch einen schönen Abend, ihr beiden«, sagte sie. Sie sah auf die Uhr, es war bereits halb acht und Sebastian war immer noch nicht zuhause.
IV
Es war halb zehn und Christina hatte es sich mit einer Flasche
Wein auf der Couch bequem gemacht. Der Fernseher lief, doch obwohl ihr Blick auf den Bildschirm gerichtet war, nahm sie nicht in sich auf, was sie dort sah. Der Wein war bereits halb leer und Sebastian war noch immer nicht zuhause. Zwischendurch hatte er ihr eine Sprachnachricht geschickt, dass es später werden würde und dass sie nicht auf ihn warten sollte. Nicht, dass sie das getan hätte.
Es war ein Abend wie viele andere, und doch fühlte sie sich an diesem Tag einsamer als sonst. Von den Mädchen war nichts zu sehen oder zu hören, nur einmal hatte oben die Tür von Lilys Zimmer geknarzt, als eine von beiden zur Toilette gegangen war. Christina vermisste die Tage, als sie noch die Nummer eins in Lilys Leben war. Obwohl ihre Tochter kein schwieriges Kind gewesen war, hatte Christina es oft als anstrengend empfunden, immer verfügbar sein zu müssen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, einfach mal ein paar Minuten allein sein zu können? Samstagmorgens auszuschlafen? Wie oft war sie genervt gewesen, wenn Lily einfach nicht einschlafen wollte oder Christina sogar auf der Toilette am Rockzipfel hing?
Nun dachte sie voller Wehmut an diese Zeiten zurück. Doch gleichzeitig fragte sie sich immer häufiger, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte es Lily niemals gegeben. Dann wäre sie heute nicht wehmütig. Was man nicht kannte, konnte man schließlich auch nicht vermissen. Wie kam es nur, dass sie in letzter Zeit immer häufiger wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen? Lag es an Amina? Lily war ihre Tochter und solange sie klein war, gab es eine enge Bindung zwischen ihnen beiden. Doch je älter sie wurde, desto dünner wurde dieses Band.
Natürlich standen sie sich trotzdem nahe, schließlich war Christina ihre Mutter, doch auf gewisse Weise war Lily ihr mit den Jahren fremd geworden. Sie war eindeutig Sebastians Tochter. Sie hatte seine breite Nase, sein charmantes Lächeln und das störrische braune Haar. Sie hatte seine Ernsthaftigkeit, seine Bodenständigkeit und sein Talent für das Logische. Sebastian hätte sie niemals verleugnen können, doch wenn Christina nicht bei ihrer Geburt dabei gewesen wäre, so hätte sie manchmal bezweifelt, dass Lily wirklich ihre Tochter war. Diesen Gedanken sprach sie jedoch niemals aus. Wem hätte sie das auch sagen können? Man würde sie für verrückt halten oder für eine schlechte Mutter. Dennoch, sie konnte zwischen sich und ihrer Tochter kaum Gemeinsamkeiten feststellen.
Lily hatte nichts von ihrem Sinn für das Schöne, für die Kunst. Musik empfand sie meist als anstrengend und sie hatte nichts für Tiere übrig. Es war nicht so, dass sie sie hasste, doch sie empfand auch keine besondere Zuneigung zu ihnen, sie waren ihr schlicht egal. Sebastian hatte sich immer gegen ein Haustier gewehrt (denn Haustiere kosteten Geld und sie hatten ohnehin schon mehr Verpflichtungen, als sie je haben wollten), doch als Lily noch jünger gewesen war, hatte Christina jahrelang darauf gewartet, dass ihre Tochter irgendwann den Wunsch äußern würde. Sie hatte sie in den Zoo geschleppt, in Tierparks, in Tierheime, in der leisen Hoffnung, dass Lily sich eines Tages einen Hund oder eine Katze wünschen würde und Sebastian seiner kleinen Prinzessin den Wunsch nicht ausschlagen konnte. Doch vergeblich, der Wunsch kam nicht.
Stattdessen wurde Lily bereits mit acht Jahren Mitglied in einem Debattierclub und mit zwölf bekam sie eine Auszeichnung für ein Physikprojekt an ihrer Schule. Sie war einfach so anders, so völlig anders, und auch ihre Freunde waren anders. Christina fand niemals einen Bezug zu ihnen und irgendwann akzeptierte sie, dass sie das vielleicht auch überhaupt nicht musste. Sie war nicht Lilys Freundin, auch, wenn sie sich das noch so sehr wünschte. Sie war ihre Mutter. Vielleicht war es einfach das Schicksal einer Mutter, jemanden so schmerzhaft zu lieben und sich immerzu Sorgen zu machen, ohne dass diese Gefühle auf dieselbe Weise jemals erwidert wurden.
Wie erfrischend war es da gewesen, als Lily vor einigen Monaten Amina kennen lernte und mit nach Hause brachte, denn in Amina konnte Christina sich selbst wiederfinden. Die junge Frau war unbeschwert und voller Leben, sie lachte oft und nahm die Dinge leicht, doch vor allem hatte sie Träume, mit denen Christina sich identifizieren konnte. Plötzlich wurde ihr voller Schmerz bewusst, dass sie nicht nur Sebastian über die Jahre verloren hatte, sondern auch sich selbst. Sie ertappte sich dabei, wie sie abends bei einer Flasche Rotwein im Internet nach Universitäten recherchierte, an denen sie ihren Traum vom Studium vielleicht doch noch wahrnehmen konnte. Sie erwischte sich selbst dabei, wie sie nach kleinen Appartements in der nächsten Großstadt suchte und nach Anzeigen für Studentenjobs, mit denen man sich ein solches neben einem aufwendigen Studium leisten konnte. Doch am Ende des Tages klappte sie ihren Laptop wieder zu, schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf und fragte sich, wem sie denn etwas vormachen wollte.
Selbst, wenn Lily bald erwachsen war, Christina würde nicht mehr studieren. Sie war Mitte dreißig, in diesem Alter studierte man eben nicht mehr. Die anderen würden sie auslachen, die Leute im Dorf, ihre Eltern, ihre Kommilitonen.
Wenn sie ins Bett ging und endlich einschlief, Körper und Seele schwer vom Alkohol, träumte sie von einem Leben, das niemals stattgefunden hatte. Sie träumte von einer jungen Christina in einem vollen Hörsaal und von einer Amina im selben Alter. Sie träumte von wilden Studentenpartys und ganzen Nächten in der Unibibliothek, von schmerzenden Füßen und rauchenden Köpfen, von lebhaften Diskussionen und bestandenen Prüfungen, vom Leben in einer WG mit einem Mädchen wie Amina. Vom Ausprobieren, vom Scheitern, vom Weitermachen und von dem großen Stolz, der eine jede kleine Errungenschaft begleiten würde.
Und einmal träumte sie sogar davon, wie sie Amina küsste. Es war ein schöner Traum und als sie aufwachte, waren ihre Wangen nass.
V
Sebastian kam nie in ihren Träumen vor. Dabei war es nicht so, dass er ihr gleichgültig war. Was sie beide verband, war keine Romantik, es war vielleicht sogar mehr als das: Eine innige Verbundenheit, Zuneigung, grenzenloses Vertrauen. Wenn man so viel zusammen gemeistert hatte wie sie beide, konnte einem der andere nicht gleichgültig sein, obwohl Christina manchmal das Gefühl hatte, dass ihr Mann das anders sehen würde.
Doch wenn sie ehrlich war … war nicht sie diejenige gewesen, die sich von ihm distanziert hatte?
In den letzten Monaten hatte sie Sebastian im Stillen Vorwürfe gemacht. Sie fühlte sich vom Leben verraten, hatte ihren Sinn verloren und war auf der Suche nach einem Schuldigen. Wer wäre für diese Rolle besser geeignet gewesen als der Mann, der sie in jungen Jahren geschwängert und damit all ihrer Träume beraubt hatte? Er hatte sein Leben immerhin normal weiterleben können, hatte keine Opfer bringen müssen. Hatte eine gute Ausbildung gemacht, war die Karriereleiter hinaufgestiegen, konnte sich selbst verwirklichen, wie es so schön hieß, während sie sich mit dreckigen Windeln und noch dreckigeren Kompromissen hatte zufriedengeben müssen.
Doch nun brannte ihr noch eine andere Frage unter den Nägeln, und sie fraß sich tief in ihre Haut, bis in ihre Seele hinein, und ließ sie nicht mehr los.
Warum haben Sie später nicht studiert?
Aminas Frage hallte ihr schon den ganzen Abend in den Ohren nach und sie ärgerte sich darüber. Sie mochte die junge Frau, vermut- lich mehr, als sie sollte, doch zum ersten Mal seit vielen Monaten fragte sie sich, ob es wirklich Amina war, in die sie sich verliebt hatte. War es wirklich dieses optimistische, naive Mädchen – oder hatte Christina ihr Herz an eine Illusion verloren, an eine Erinnerung, an ein Was-wäre-gewesen-wenn-Szenario?
Was, wenn all das überhaupt nicht stimmte? Wenn es gar nicht Sebastian war, der ihr die Träume geraubt hatte, wenn es gar nicht Lily war, sondern sie selbst? Was, wenn sie sich nicht aus Alternativlosigkeit für dieses Leben entschieden hätte, sondern aus Feigheit?
Wo ein Wille ist, ist ein Weg, hieß es doch.
Oder: Wer will, findet eine Lösung. Wer nicht will, findet eine Ausrede.
Waren Sebastian und Lily ihre Ausrede gewesen?
Dieser Gedanke zog ihr für einen kurzen Augenblick den Boden unter den Füßen weg und sie schnappte nach Luft. Mit zitternden Fingern nahm sie das Weinglas in die Hand und leerte den Rest der Flasche hinein. Die Kirchturmuhr im Dorf schlug elf. Christina starrte an die Wand. Ihre Sicht war bereits verschwommen, doch sie hatte das Gefühl, klarer zu sehen, als je zuvor. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob es überhaupt stimmte, dass Sebastian auf nichts hatte verzichten müssen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Hatte er nicht auch Träume gehabt? Hatte er nicht immer die Welt bereisen wollen? Es war zu lange her, sie wusste es nicht mehr …
Doch Amina hatte etwas verändert, auch, wenn sie das selbst nicht wusste. Die junge Frau hatte einen Samen gesetzt und nun lag es an Christina, diesen auch zu gießen, das wurde ihr jetzt klar. Nein, es war nicht zu spät. Es war nie zu spät.
Entschlossen stellte sie das leere Glas auf den Tisch und streckte sich auf der Couch aus. Sie gähnte herzhaft. Sie würde es Sebastian sagen, dachte sie schläfrig. Gleich morgen. Sie würden darüber reden. Vielleicht konnten sie wieder anfangen, gemeinsam zu träumen. Einen Neuanfang wagen. Vielleicht hatten sie noch eine Chance.
Als Sebastian nach Hause kam, schlief sie bereits tief und fest. Sie bekam nicht mit, wie er die Decke über ihr ausbreitete und sie sanft auf die Stirn küsste.
Sie war so schön, dachte er. Morgen würde er endlich mit ihr reden.
Michael Jonak (alias Kami No Yona) - Heldengott aus Dämmerland - Einmal Hölle und zurück (ohne Zahnfee)
Prolog: Was zuvor geschah – Die Stimme
Lie-bes Ta-ge-buch...
Klingt irgendwie blöd! Was, wenn ich das nicht überlebe? Lie-bes ... Tes-ta-ment ...
Was für ein Schwachsinn! Trifft es eher, klingt aber ziemlich dumm! Ich hasse es, Anfänge von Geschichten schreiben zu müssen!
Es war ein-mal ...
Zu altbacken!
Am An-fang er-schuf ich ...
Um Gottes willen!
Lie-ber Le-ser ...
Leser? Dann müsste ich’s ja für die Roland-Emmerich-Verfilmung nur wieder ändern!
En-ter-preis, Stern-zeit ...
Hihi. – Verdammt! Schreibt man Enterprise so? Ach egal, den Einstieg ändere ich eh nochmal! Jedenfalls irgendwas, damit klar wird, wie dramatisch das Ganze ist. Persönlicher als ein Tagebuch; endgültiger als ein Testament; fantasievoller als jedes Märchen; theatralischer als die Bibel; filmreif und zeitlos muss er werden! Der Klassiker der Zukunft! Also ...
Hey, Moment! Der ist klassisch! Klassischer geht’s nicht! Ja, der ist gut! Also,
Freitag, der Dreizehnte
Noch drei der sieben Tage Gnadenfrist, die mir verkündet worden waren. Der Tag der Abrechnung rückt unaufhaltsam näher.
Mein Heldenmut ist nunmehr seit geschlagenen vier Tagen Zigaretten holen. Hätte ihm nicht vertrauen sollen. Er ist stiften gegangen. Feigling! Und zwar an jenem schicksalhaften letzten Montag. Der Tag, an dem mir die Stimme sagte, dass meine Uhr bald abläuft. Eine Uhr, die einst ein unsichtbarer Feind in mein Inneres pflanzte. Ein uralter Feind. Geißel der Menschheit; süßes Gift; unheiliger Dämon, den ich selbst heraufbeschwor. Schwarz seine Gestalt, fauliger Atem und schwer zu töten. Ein Feind, der – heiliger Stephen King, steh mir bei – den Namen Es trägt. Vorname: Carrie. Sechs Jahre stellte ich mich ihm entgegen.
Ich! – Heldengott aus Dämmerland, Letternschmied der Wörter- Esse, Fantast aus Schreibstadt-Schweig/Vielleichtge-Fels, geboren im sagenumwobenen Tal der Ahnungslosen.
Ahnungslos, wie vor einigen Wochen, als ich die letzte Schlacht verlor. Verloren, wie meine Gedanken an eben jenem unheilvollen letzten Montag. Der Tag, an dem mich die Stimme heimsuchte; mich daran erinnerte, dass mein Kampf verloren war; dass meine Dämonen-Uhr in einhundertsechsundachtzig Stunden ablief.
Unschuldig sah ich mir gerade die letzten Sekunden einer harmlosen Dokumentation über Brunnen an, als das Haus plötzlich begann, unter gewaltigem Beben ...
... das Haus also unter gewaltigem Vibrieren ...
– Ja, eigentlich war’s nur der Tisch
... der Tisch vibrierte also in geisterhaften Schüben, gleichmäßig wie der todbringende Atmen des Balrog von Morgoth. Panik durchstieß mir mit seinem vergifteten Speer brennend Herz und Hirn. Die eisigen Klauen des Grauens stahlen sich mordlüstern um meine Kehle …
– Ich bin dann ans Handy gegangen. –
›Sieben Tage ...‹, hatte die teuflische Stimme am Telefon gekrächzt.
›In sieben Tagen sind sie tot...‹ Dann das Geräusch, als würden Halswirbel blutröchelnd zerbersten. Würgen und erstickende Atemzüge voller …
– Gut, die Stimme räusperte sich. –
›Verzeihung. In sieben Tagen sind sie total glücklich, dass sie den Termin gemacht haben. Ich wollte sie bloß daran erinnern‹, hatte die Stimme dann verächtlich gelacht.
Welchen Fluch sie mir damit auferlegte, sollte ich dann von Dienstag bis heute zu spüren bekommen. Schlaflose Nächte, gepeinigt von Schmerzen, verfolgt von ihrem Echo, in dessen diabolischem Flüstern der Wahnsinn wogte, den ich nun in meinen Kieferknochen pulsieren fühlte.
Samstag, der Dreizehnte (plus eins)
Vielleicht habe ich einen Ausweg gefunden! – Dachte ich kurz. In der stürmischen Nacht, die mir dieses Mal nur bruchstückhaften Zugang zur jenseitigen Welt gewährte, ist es mir gelungen, meine Kontakte in Dämmerland zu erreichen. Mit der wohl heroischsten Ansprache, die das Universum je vernahm, appellierte ich an meine Truppen. Ein stehendes Heer, das weder Angst noch Skrupel kannte. Waffenstarrende Armeen aus Wesen jenseits aller Vorstellungskraft, durch mich erschaffen. Mir den Treueid bis in den Tod geschworen. Schlachterprobt und bereit, mir Folge zu leisten. Mächtig und … nicht da.
Ich konnte es nicht fassen. Meine Macht war zu erschöpft; die
Stimme meiner Imagination zu schwach. Ausgesaugt von den Blutegeln der Finsternis. Der Fluch der Stimme war weitreichender, als ich zuvor noch annahm. Toll! Also keine Unterstützung durch die Warlords von Dämmerland.
Ich bin am Arsch.
Knautschi, ich habe schlechte Nachrichten. Mein treuer Freund, wir werden keine Unterstützung bekommen. Wir müssen uns dem Bösen allein entgegenstellen.
Sonntag, der Dreizehnte (plus zwei)
Eine weitere schlaflose Nacht. Ein weiterer erfolgloser Versuch um Beistand für die bevorstehende Schlacht. Dämmerland hat mich verraten! Außer Knautschi, meinem treusten Kameraden und Wegbegleiter in so manch dunkelsten Stunden, gelang es mir nicht, auch nur einen einzigen weiteren Waffenbruder zu mobilisieren.
Ich war nicht am Arsch, ich war gef... ähm... gefährlich demotiviert.
Dreizehn Uhr. Ich bin so erschöpft, dass mir nun doch die Au- gen zufallen. Konzentration ist so hinüber, am Ende mancher Sätze benutze ich schon das falsche Erdbeere.
Knautschi komm, schlafen. Schnautschi, schafen ...
Schauschi ... schaf ... Schschi ... scha ...
Schischasch ...
... Schnarch.
I: Dämmerland
Gääääähn ...
Huch?! Wer bist du denn? Wie kommst du in meine Geschichte? Bist du die Zahnfee? Hab ich dich aus Versehen aus Dämmerland mitgebracht? – Was das ist? Boar, solch schwierige Fragen so kurz nach dem Wachwerden! Wer du bist, ist mir eigentlich auch ganz egal. Sicher nur wieder einer dieser Leser – sorry, oder Leserinnen. Seh’ ich ja nicht! Eine Aura hat nun mal keinen … du weißt schon was, oder keine … du weißt schon was.
Du hast nicht zufällig vor, einfach wieder zu verschwinden und mich noch ausschlafen zu lassen? Wär ja auch zu schön gewesen.
Bitte, dann erklär ich’s dir kurz. – Das hat man nun davon, Autor zu sein.
Ich liebe diese Zeitspanne zwischen Schlafen und Aufwachen. Im Dämmerzustand zwischen Traumprogramm und Realitäts-
modus existiere ich am liebsten. In meinen Träumen bin ich einfach viel zu göttlich – in der Realität viel zu armselig. Ja, Fantasie ist schon was Geiles und die Welt da draußen, oft einfach scheiße. Aber dazwischen ... dazwischen hab ich meine Ruhe. Hier mischt sich beides, so wie ich das will. Was ich durch das Portal der Unbestimmtheit mit auf die jeweils andere Seite schmuggele, obliegt ganz alleine mir! Ich würde es als regen Tauschhandel auf dem Schwarzmarkt des Geistes bezeichnen.
In den jenseitigen Landen versorge ich mich bei meinem Fan- tasy Dealer mit meiner täglichen Dosis Feen-Koks, Einhorn-Pilze oder von dem Zeug, was sich allmächtige Zauberer und glänzende Weltretter-Helden ständig spritzen. Ohne den Stoff könnte ich in meiner Welt keinen Tag überleben. Im Gegenzug bringe ich den Spinnern aus dem Diesseits immer das Zeug mit, ohne das diese wiederum nicht existieren könnten. Mal ein bis zwei Säcke voll Bullshit oder einen Stapel gestorbener Ideen, mal eine bunt gemischte Tüte mit Wut, Liebeskummer und Enttäuschung. Oder Resignation! Ja, Resignation und Sinnlosigkeit kommen bei denen immer gut an. Daraus quirlen sie dann den Kram zusammen, den ich brauche. Du siehst, es ist ein genialer Kreislauf.
Das, du neugieriger Eindringling – sorry, oder Eindringeline –, ist Dämmerland.
II: Später Sonntagmorgen
Na toll, jetzt hast du mich soweit wach gemacht, dass ich wieder hier in deiner unsäglichen Realität bin. Was soll’s. Mal sehen, was mir die Typen diesmal mitgegeben haben. – Wie spät ist es eigentlich? Ach, erst kurz vor neun. Verzeihung, einundzwanzig Uhr, meinte ich. Also die perfekte Zeit, um aufzustehen. Warte kurz, ich muss bloß mal schnell aufs Klo.
In der Zeit kannst du wenigstens schon mal Kaffee machen und hier nicht nur faul rumlesen.
∗ ∗ ∗
Da bin ich wieder. Hat etwas länger gedauert, musste noch vorsichtig Zähne putzen. Kann ich dir ’ne Kippe anbieten? So zum Kaffee? Nicht? Jetzt fang du nicht auch noch mit „Das ist aber ungesund!än. Mämämämämä! Weiß ich selbst. Sagt mir auch mein Hausarzt jedes Mal. Selbst meine ... Scheiße!
Hör auf zu lachen! Das ist nicht witzig! ... Zahnärztin, wollte ich sagen. Diese verfi... verflixten Zahnschmerzen. Die sind wohl das Einzige, gegen das keine Fantasie hilft. Ich weiß das ziemlich gut. Immerhin habe ich es seit geschätzten sechs Jahren im Selbstexperiment herausgefunden. Jetzt keine Moralpredigten! Verklemm’s dir einfach, ja? Immerhin wäre die Frage damit geklärt, warum du wahrscheinlich hier bist, auch wenn du nicht die dämliche Zahnfee bist. Um mir beim Leiden zuzusehen, stimmt’s? Du bist ganz schön pervers, wenn ich das mal sagen darf. Aber du kannst dich jetzt schon mal auf was gefasst machen. Denn meine Rache wird grausam sein! Was du näm- lich nicht bedacht hast: Eines habe ich aus der Welt der Imagination bereits vor Längerem mitgebracht. Die Macht der Geschichten! Und diese hier ist meine Welt! Hier bin ich Gott! Und ich nehme dich dahin mit, wo es mir gefällt. Was mein Wille dir gestattet, siehst du; was ich erlaube, darfst du fühlen.
Worin meine Rache besteht, willst du wissen? Muhahaaa! Ich werde dich jetzt einfach mit in die tiefste Tiefe der Hölle reißen! Ich hab um acht Uhr dort einen Termin.
Sind ja noch elf Stunden? Hast du das Wichtigste schon wieder vergessen? Du bist ganz schön ... naja, sagen wir ... begriffsstutzig. Nochmal zum Mitschreiben: ICH BIN HIER GOTT! Sehet und staunet!
Ich muss nur ehrfurchtgebietend einmal in die Hände klatschen
...
und es ist ...
III: Tag der Abrechnung
... sieben Uhr dreißig.
Na, beeindruckt? Wenn ich keine Gnadenfrist bekomme, warum dann du? Kaffee kannst du dir in die Haare schmieren! Hab ja schon Zähne geputzt.
∗ ∗ ∗
Und schon sind wir auf dem Bußgang zum Schafott. Schande! ... Schande! ... Schande! ... Schande! ... Schande! ... Ich bin extra etwas früher losgegangen, damit ich langsamer gehen kann. Wäre ja auch unpassend, dort hinzueilen, wo ich hin muss. So, als würde ich es nicht schnell genug erwarten können. Das wird schließlich kein einfacher Spaziergang durch den Streichelzoo-Ponyhof vom Schlaraffenland.
Mann, ist das arschkalt. Pisswetter und Wind. Was gäbe es passenderes zu diesem schweren Gang. Brrrrr.
Hab ich alles dabei? Eintrittskarte? – Check. Galgenhumor? – Check. Handy für Notfälle? – Check.
Mut? ... Mut? ... Hab ich natürlich neben meinen Nerven und der ganzen Coolness zu Hause vergessen. Schnuppe! Die wären mir nachher spätestes am Eingang eh aus der Tasche gefallen.
Guck mal, da rechts ... das alte Schlachthaus. Und gleich kommt links das Bestattungsinstitut. Direkt dahinter ist der Friedhof. Wenn ich an Omen glauben würde ... wenn ... dann würde auch das Lied
„Highway to Hell” von AC/DC , das der Typ im Auto da gerade hört, mir ernsthafte Sorgen machen. Komm, lass uns doch lieber etwas schneller gehen. Nur so ... nicht,
dass ich an sowas glauben würde!
Verdammt, dahinten ist es schon. Warte mal! Eigentlich könnte ich das doch lieber noch einmal verschieben. Mir ist grade eingefallen, dass ich heute doch eigentlich diese wichtige Sache machen wollte. Ach, verdammt! Wem mache ich hier was vor!? Zähne zusammenbeißen und ... FUCK, SHIT, Mist-kack-verdammte-Scheiße! Warum nehme ich mich selbst auch wörtlich!? Du blöder Idiot! Nein, Mann – Verzeihung, oder Frau –, ich meinte nicht dich! Da fällt mir ein: Können Auren eigentlich auch Schmerzen spüren?
Nur so. Wenn du noch gehen willst, tu dir keinen Zwang an. Ansonsten kannst du mal die Tür aufmachen, wir sind nämlich da.
Danke.
Spürst du den eisigen Hauch? Dieses seltsame Gefühl, das diese Tür sich für immer hinter uns schließen könnte? Verriegelt von den unsichtbaren Häschern irgendeiner finsteren Präsenz. Wir sollten nicht den Aufzug nehmen! Ich habe so ein seltsames Bauchgefühl.
∗ ∗ ∗
Und? Treppe war besser, oder? Irgendwie weniger beklemmend.
Nur meine Macke, Treppenstufen mitzuzählen, hat mir nicht erspart, drei Mal bis dreizehn zählen zu müssen. Drei mal dreizehn ist neununddreißig – Quersumme zwölf – plus die eine Stufe vor dem ersten Treppenabsatz: wieder dreizehn! So langsam bekomme ich doch Muffensausen.
Aber jetzt sind wir oben. Keine Panik. Das ist bloß eine stink- normale Tür. Gut, der Griff sieht aus, als hätten sich daran bereits hunderte meiner Vorgänger mit Krallen und Zähnen zur Wehr ge- setzt, dort hineingezerrt zu werden, aber sonst ... eine stinknormale Tür.
Also los! Es ist ganz einfach. Zittrige Hand – Türklinke – drücken – öffnen.
IV: Vorhof zur Hölle
Riechst du das? Das ist der Geruch von Desinfektionsmittel. Desinfektions- und Reinigungsmittel, die den Geruch von Angstschweiß überdecken sollen. Angstschweiß, der seit Anbeginn von jeder gierigen Pore dieser kalten Wände aufgesaugt, ja, eingeatmet wurde. Dasselbe Zeug benutzen auch Tatortreiniger, um Blut und den Gestank des Todes zu kaschieren. Und siehst du all das Weiß? Vom Neonlicht noch weißer strahlende Wände, Möbel und Pforten. Auch nur Ablenkung! Doch mich täuschen diese Fassaden nicht.
Mich! – Heldengott von Dämmerland! Niemals! Man kann einen Hort des Schmerzes und der Folter übertünchen wie man will, aber es ist und bleibt ein seelenleerer Pfuhl der Qualen. Selbst die Spiegel reflektieren nur Weiß.
Nur eines haben sie doch grade nicht reflektiert, oder? Das Wesen, das aussah wie eine ganz normale Frau. Die Frau in Weiß. Sie hatte kein Spiegelbild. Da bin ich mir sicher. Jetzt setzt sie sich hinter den Tresen. Verdammt, ich wusste es. Sie ist der Wächter, dessen Stimme ich bereits vernommen hatte. Sie war es, die mir die terminierte Einladung ausgesprochen hat. Sie ist es, mit der ich jetzt diesen unnatürlichen Pakt der Selbstkasteiung besiegeln werde. Hoffentlich bemerkt sie meine nackte Angst nicht, sonst ... Zu spät! Ihre Augen haben mich fixiert. Das Portal, das wir soeben durchschritten haben, wird längst versiegelt sein. Kein Zweifel. Flucht unmöglich.
Wo ... wo ... wo bist du? – Ach da. Warum versteckst du dich hinter mir? Du kommst jetzt schön mit zu dieser geisterhaften Gestalt. Ich muss meine Einladungskarte vorzeigen. Halt ja die Klappe, sonst bemerkt sie dich! Dann wär der Spaß für dich hier sofort vorbei. Also, pschscht!
Hallo. Natürlich. Bitte, hier meine Karte.
Jetzt ist sie weg. Und somit ist die erste Prozedur des Rituals bereits abgeschlossen. Mein Geist ist jetzt in einem gefährlichen Schwebezustand. Noch nicht in der Gewalt des großen Peinigers, aber auch nicht mehr in meinem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6719-0
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