Cover

KOKAINKANÄLE

Ron Robert Rosenberg

 

 

 

Das Buch:

Der peruanische Augustinernovize Sino ist verzweifelt. Sein Prior Bernado ist auf einer geheimnisvollen Reise nach Brunswick in Deutschland verschwunden. Sino setzt sich in die nächste Maschine und strandet im Hotelzimmer des Schriftstellers Lorimer Stark, der mit Geistern der Vergangenheit kämpft. Gemeinsam bleiben sie dem Rätsel auf der Spur, die sie zu einem Toten mit falschem Namen, krummen Machenschaften eines Geisterbeschwörers und der tschechischen Kokainmafia führt. Doch welches Mysterium umrankt einen Spucknapf aus der spanischen Kolonialzeit? Und welche Rolle spielt dabei Bernados Geheimmission? Lorimer Stark strauchelt an der Kante eines Abgrunds, in dem sowohl ein sagenhafter Schatz als auch tödliche Gefahren auf ihn lauern.

 

 

 

Über den Autor:

Ron Robert Rosenberg, Jahrgang 1972, lebt im ostfälischen Braunschweig, der Stadt Heinrichs des Löwen. Er ist verheiratet und Familienvater. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften und der Betriebswirtschaftslehre arbeitet er im mittleren Management eines Unternehmens.

Impressum

Ron Robert Rosenberg

 

KOKAINKANÄLE

 

Lorimer Stark erblickt den Glanz des Todes

 

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

1. Auflage, Juni 2021

© 2021 Ron Robert Rosenberg – alle Rechte vorbehalten.

Titelillustration: © 2021 Ron Robert Rosenberg

 

Ron Robert Rosenberg

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str.15

 

01237 Dresden

 

ronrobertrosenberg@gmx.de

Inhaltsverzeichnis

Der Kater bläst zum Morgenblues

Ein Koffer voller Sorgen

Das gemachte Grab

Im Mehltau zu Grabe

Lebewohl eines Verstorbenen

Das Rendezvous stirbt nie

Der sündige Pfad der Tugend

Fischverarbeitung

Aufstieg in das Tal des Schmerzes

Wenn Vögel singen

Dolchstoß ins Leere

Das Mühen der Liebenden

Beifang im Netz der großen Fische

Jagd auf einen Abtrünnigen

Hüttengaudi

Der Fluch der Inka

Ein zweifelhafter Epilog

Der (reale) Epilog

Anmerkungen des Autors

 

Der Kater bläst zum Morgenblues

Manche sind der Meinung, Gott habe einen furchtbaren linken Haken. Ich gehörte nie dazu, aber irgendein Schwinger hatte mich am Ende des Tages aus dem Gleichgewicht gebracht.

Als ich am Morgen gegen acht Uhr vom Klopfen geweckt wurde, fühlte ich mich wie das Inventar meines Hotelzimmers, etwa so schmuck wie die fransenbesetzte Stehleuchte in der Ecke oder die ambitionierte Bleistiftzeichnung eines hoffnungslosen Künstlers über dem Bett. Ich erwachte auf der Tischplatte des Sekretärs, den Kopf gebettet auf einem Zettelstapel und einem Laptop. Das Auge einer leeren Flasche stierte mich mit unverhohlenem Vorwurf an. Aus seinem Bauch entströmte das Aroma eines sündhaft teuren Whiskeys, der noch immer meinen Gaumen kitzelte. Das Bild glich einem in Seelennot geratenen Menschen, der zu seiner Rettung an der stümperhaften Bastelei einer Flaschenpost gescheitert war. Einiges davon kam mir vage bekannt vor.

Es klopfte an der Tür. Plötzlich erinnerte ich mich an den Traum, der wie Zuckerwatte im Regen dahinschmolz. Darin hatte ein zorniger Richter ein Todesurteil über mich gefällt. Meinen letzten Hoffnungsschimmer auf Begnadigung hatte er mit einem Holzhammer erschlagen. Dann waren aus dem Werkzeug ein Knüppel erwachsen und aus der richterlichen Ungeduld die blanke Wut eines Ungeheuers. Am Ende hatte er wild auf seine Kanzel gedroschen und das Holz war in tausend Stücke zersprungen. Die dumpfen Schläge hatten ein Echo erzeugt.

Ich grübelte, in welche Richtung es sich bewegte. Womöglich kam das Pochen von der Zimmertür und genauso möglich suchte mich das Traummonster heim.

Ich wischte mir die wattigen Traumfetzen aus den Bartstoppeln. Meine Zunge lag zusammengerollt in ihrer Höhle, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als die schlaffen Marionettenglieder hochzuhieven. Ein antiker Tiefseetaucher hätte sich galanter in der Vertikalen gehalten, als ich es mir gestattete, aber dann schaffte ich es ohne größere Verwüstungen. Ich öffnete und schob behutsam mein Kinn um das Türblatt herum.

Zuerst dachte ich an eine psychodelische Wirkung, weil sich jemand am Vorabend einen Scherz mit meiner Pizza Funghi erlaubt hatte. Doch die Halluzination hielt sich zu hartnäckig, um echt zu sein.

Vor mir im Hotelflur stand ein kleingewachsener, schwarzhaariger Indianer, gehüllt in einem buntgezackten Poncho. Auf dem Kopf thronte eine orange-rote Strickmütze mit Bommeln und rosa Federn. Mit dieser Folklore wirkte er, als wäre er einer Postkarte aus dem südamerikanischen Hochland entsprungen. In seiner Hand hielt er einen kleinen Ziegenlederkoffer mit Schnappverschlüssen.

„Ich brauche nichts“, sagte ich nach einer Ewigkeit und bemühte mich, die Tür zuzuklappen. Aber der kleine Kerl presste sich dagegen. Zwei kohlschwarze Augen in einem ovalen Gesicht von der Farbe eines gelungenen Café Melange musterten mich. An den Wangen war ein wenig Flaum wie mit feinen Pinselstrichen aufgetragen.

„Señor Bernado?“, fragte er mit engelweicher Stimme.

„No. Tut mir leid, ich kenne keinen Bernado.“

„Estoy buscando al señor Bernado. Verzeihen Sie, ich suche Señor Bernado.“ Plötzlich kam Leben in den Burschen. Seine flinken Hände flatterten wie verängstigte Tauben umher. Er deute auf den Türspalt. Die Mütze mit den langen Kordeln wippte bekräftigend. „Im Zimmer.“

„Sie müssen sich irren, hier gibt es keinen Bernado. Versuchen Sie es an der Rezeption“, sagte ich.

„Recepción del hotel?“

„Si, an der Hotelrezeption, unten. Abajo.“

Ich winkte, als verscheuchte ich eine farbenfrohe Motte. Aber seine Verzweiflung ließ mir keine Chance und er schlüpfte an mir vorbei.

„Ich war an der Recepción“, sagte er und hob die Schultern. „Sie helfen dort nicht.“

„Verdammt!“, rief ich. „Wer bist du?“

„Disculpe las molestias“, bat er um Entschuldigung. „Ich heiße Sino.“

Den Störenfried an die frische Luft zu setzen, wäre mir an einem anderen Tag wie eine Aufwärmübung vorgekommen. Mein zementgrauer Kater, der mir um den Kopf strich, verhinderte aber, dass ich unhöflich wurde. Der Besucher erweckte außerdem den Eindruck, ich hätte ein halbertränktes Kätzchen vor mir.

„Also schön. Was hat es mit diesem Bernado auf sich?“

Ich schloss die Tür. Sinos schwarze Knopfaugen flitzten wie frisch geteerte Kaminmäuse umher. Doch längst hatte seine Courage die Besorgnis vor einer drohenden Gefahr besiegt. Nur die Kraft floss ihm langsam aus dem schmächtigen Körper. Erschöpft sackte er auf meinen Stuhl. Ich pflanzte mich ihm gegenüber und ließ ein Bein seitlich von der Schreibtischkante baumeln. Gleichzeitig blieb ich auf der Hut.

„Señor Bernado ist mein Prior“, sagte Sino mit unterdrückter Resignation, der gelegentlich gestrandete Reisende auf abgeschiedenen Bahnhöfen anheimfielen.

„Dein Prior?“

„Wir sind Augustinermönche. Aus dem Kloster Pukamuqu in Cusco. Cusco ist eine bedeutende Stadt in Peru. Sie war früher sogar die Hauptstadt der Inka.“

Amen, dachte ich, nicht ohne Respekt vor Religionsgemeinschaften. Doch ich schloss nicht aus, dass der Koffer des kleinen Kerls randvoll mit Bibeln war und er auf die Gelegenheit wartete, mir eine anzudrehen.

„Langsam, Sino. Tragen Mönche für gewöhnlich nicht Kutten?“ Mein Zeigefinger mühte sich hilflos, seine Gesamterscheinung einzukreisen.

„Keine Sorge, Señor. Ich habe mein Mönchsgewand hier.“ Sino tätschelte den abgewetzten Koffer. „Unsere Ordnung gebietet mir, durch die Lebensführung zu gefallen, nicht durch die Kleidung.“

„Und für die Strapazen der Reise hast du dir etwas Unauffälliges gewählt.“

„Si. Dort, wo ich herkomme, tragen viele Peruano diese Ponchos.“

„Eine überzeugende Wahl.“ Meine Versicherung, dass seine Aufmachung hierzulande Argwohn erzeugte, hätte ihn gewiss gekränkt. Also ließ ich es. Immerhin brachte sie ihm keinen Rüffel der Klosterbrüder ein.

„Dieser Bernado ist ebenfalls in Brunswick?“, fragte ich.

„Si, Señor. Er kam vor zweieinhalb Monaten nach Deutschland. In einer streng vertraulichen Mission. Alto secreto“, flüsterte Sino.

Ich nickte aufmunternd. Gerne hätte ich mir eine Zigarette angesteckt, aber dieses Laster hielt ich für besiegt.

„Prior Bernado reiste mit dem Flugzeug“, sagte Sino. „Er wollte nach Würzburg, zu unseren Brüdern im Geiste. Sie sind Augustiner wie wir. Zunächst landete er in Frankfurt. Dann wollte er mit der Eisenbahn weiter. Er meldete sich, dass er gut angekommen sei. Zwei Wochen später, es war Ende Februar, rief er mich wieder an. Er klang sehr aufgebracht. Noch nie habe ich ihn so erlebt. Und ich bin sein Secretario, Señor. Der Konvent hat mich ihm als Novizen zugeteilt, bis ich die Priesterweihe empfange.“ In seiner Stimme schwang der Stolz einer tiefverwurzelten Überzeugung. Mir blieb auch seine gebildete Ausdrucksweise nicht verborgen. Es schien, je wohler er sich fühlte, desto weniger flüchtete er sich in seine Muttersprache.

„Der Konvent des Klosters Puma-wie?“, fragte ich.

„Pukamuqu. Der Konvent, das sind die Oberen. Sie führen unseren Orden. Prior Bernado ist sozusagen ihr Presidente.“

„Warum war Bernado so aufgebracht?“

„Ich sollte ihm so rasch wie möglich ein Documento schicken. Nur...“, er ließ den Gedanken im Raum hängen, genau wie den Geruch nach gerebeltem Oregano, der seiner Kleidung entströmte. „Er sagte mir, er riefe mich aus Brunswick an. Wahrscheinlich von hier, aus diesem Hotel. Ich durfte aber niemandem ein Wort darüber verraten. Er sei auf einer Missionsreise und bat um absolute Discreción.“

„Um was für ein Dokument handelte es sich?“

„Ein Certificado de autenticidad, verstehen Sie?“

„Warte! Du meinst ein Echtheitszertifikat. Wofür brauchte er das?“

„Ni idea. Wenn ich das bloß wüsste.“ Seine Brauen schoben sich zusammen, als flüsterten sie sich ihre Ratlosigkeit zu. „Prior Bernado hat mir strengstens verboten, darüber zu reden. Nicht einmal unsere Brüder in Pukamuqu durfte ich unterrichten.“

Er schlug ein Kreuz und murmelte mehrmals um Vergebung.

„Worum ging es in diesem Papier?“, fragte ich.

Er stierte betreten auf seine Fußspitzen. „Das weiß ich nicht. Der Prior hat mir verboten, es zu lesen. Es waren zwei Seiten. Ein Gutachten über etwas, das ausführlich beschrieben und für real erklärt wurde.“

„Aber dir muss doch etwas aufgefallen sein.“

Sino rutschte auf dem Polster herum, als brütete er ein Ei aus. „Ich habe mir nur das eine Wort gemerkt. Escupidera.“

„Was soll das sein?“

„Eine Antiguo. Etwas Antikes, Jahrhunderte alt. Aber, ich glaube, nicht sehr wertvoll. Es ist wie ein Topf, in dem man Tabaco spucken kann.“

Ein Spucknapf also, dachte ich. Sinos Blick fiel auf den Abfalleimer. Ich zügelte meine Vorstellung, dass er es mir vorführte. „In Ordnung. Wie hast du es ihm zugestellt?“

„Er wollte das Original Certificado haben. Ich sandte es ihm an die Adresse dieses Hotels, dem Bohéme. Auf den Umschlag sollte ich diese Zimmernummer schreiben.“

„312?“

„Tres-uno-dos, si. Ich hatte mir dabei nichts weiter gedacht und brachte das Documento zur Post. Das ist jetzt zwei Monate her. Sein Anruf war das Letzte, was ich von ihm hörte.“

Die Sache gefiel mir immer weniger. Unbeabsichtigt fühlte ich mich schuldig, als ob ich den Geistlichen unter meinem Bett versteckt hielt. Gleichzeitig hatte die seltsame Erzählung mein Interesse geweckt. Doch den Grund dafür bekam ich ebenso wenig zu greifen wie einen Aal im Schlick.

„Und du hast keine Kopie dieser Unterlage?“

„Nein. Es gibt nur das Original.“

„Was habt ihr unternommen, außer zu beten?“, fragte ich. Falls er meine Spitze verstand, überhörte er sie mit indianischem Gleichmut.

„Alle meine Brüder im Kloster sind sehr besorgt. Auch der Konvent. Wir haben natürlich in unserer peruanischen Botschaft nachgefragt und auch die Glaubensbrüder in Deutschland gebeten, etwas in Erfahrung zu bringen. Nur ist es nicht ganz einfach.“

„Das musst du mir näher erklären. Was ist seitdem passiert?“

„Wie gesagt, Prior Bernado ist incógnito gereist.“

„Hattest du ihm nicht als Sekretär die Reise organisiert?“

„Der Prior legte großen Wert darauf, sich selbst um alles zu kümmern. In den Kontoauszügen bemerkte ich, dass er neben seinem Flug eine Luftfracht über die Global Cargo and Logistics gebucht hatte.“

„Ein Sondertransport also. Ich nehme an, niemand weiß etwas über das Frachtgut.“

„Er ließ uns alle in Unkenntnis, sagte nur so viel, dass es seine ehrenvolle Aufgabe sei, unserem Orden zu neuer Hoffnung und nie dagewesenem Ruhm zu verhelfen. Natürlich dachten wir, er wolle neue Kontakte zu anderen Klöstern knüpfen.“

„Und niemand kennt sein Geheimnis?“

Sinos Schultern versackten im Versuch, dem Trübsinn zu entrinnen. „Selbst mir hat er nichts preisgegeben, obwohl ich ihm sehr vertraue. Er hat so viel Gutes für uns Augustiner in Pukamuqu erreicht. Ich muss ihn finden.“

„Was sagen die Brüder in Würzburg dazu?“

„Leider können die nicht helfen. Bernado habe sie gar nicht besucht, sagten sie mir. Die Spur führt dort nicht weiter.“

„Und jetzt sorgst du dich, dass Bernado etwas zugestoßen ist.“

Er senkte den Kopf. „Oh, Santa Maria, es ist entsetzlich. Er ist wie vom Erdboden verschluckt worden.“

„Wäre es nicht möglich, dass dein Prior auf seiner geheimnisvollen Reise, sagen wir mal, die irdischen Freuden höher schätzen gelernt hat, als ihm das Paradies bieten könnte?“

Sino wurde bleich. „Dios mio! Was denken Sie? Prior Bernado ist der beste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er hat im Vorort eine Schule bauen lassen und viel Gutes für Cusco erreicht. Niemals würde er einfach so weggehen.“

Ich sparte mir die Belehrung, dass selbst der ideale Mensch, den Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hatte, immer noch zur niederträchtigsten Spezies dieses Planeten gehöre. Stattdessen brummte ich: „Schon gut. Ich war nur neugierig. Warum kommst du dann erst jetzt, nach so vielen Wochen?“

Sino zwirbelte die Mützenbommel und kratzte sich an der Stirn. „Erst hatten wir immer wieder versucht, den Prior über das Smartphone zurückzurufen. Aber das war ausgeschaltet. Auch das Hotel lehnte eine Antwort ab. Man sagte mir nur, dass ein Señor Bernado hier nicht gewohnt habe, wir uns aber an die Polizei wenden könnten. Dies ließ nichts Gutes ahnen. Warum sollte er verschwinden, einfach so?“

Mir fielen ein Dutzend Gründe ein. Aber jeder einzelne war ein Verräter.

„Dann kontaktierten wir die Botschaft und Freunde des Klosters“, sagte Sino. „Die wollten jedoch genau wissen, was der Prior unternommen hatte. Aber es durfte ja keiner wissen, was er vorhatte. Selbst ich wusste ja kaum etwas. Alle waren überrascht, dass er sich überhaupt nicht in Würzburg aufhielt. Daher konnten wir auf keine Hilfe zählen. Bis zuletzt wünschten wir, dass er sich noch melden würde. Aber er blieb verschollen. Schließlich entschied der Konvent, dass ich ihm nachreisen soll.“

„Eine große Aufgabe für einen kleinen Mann“, sagte ich.

„Señor, ich fungiere als sein persönlicher Secretario. Ich kenne mich mit den Ordensangelegenheiten sehr gut aus. Außerdem finde ich mich im Deutschen gut zurecht. Es ist eine große Ehre für mich und gleichzeitig eine schwere Prüfung. Wir trafen rasch ein paar Vorbereitungen und dann ging es los. Gestern Abend kam ich wie Bernado in Frankfurt an. Dann nahm ich den Zug und fuhr die ganze Nacht hindurch. Nun bin ich hier.“

Mir fielen seine lädierten Sandalen auf, denen ich abgenommen hätte, dass sie den ganzen Weg von Peru bis hierher allein zurückgelegt hatten.

„Sag mal, Sino, wie kommt es, dass du so gut Deutsch sprichst?“ Meine Frage zauberte kleine rote Flecken auf seine Wangen.

„Gracias. Ich hatte schon als Kind Deutschunterricht. Bei uns in der Klosterschule. Das ist auch der Grund, weshalb die Ordensbrüder mich entsandt haben. Sie müssen wissen, meine Vorfahren waren Inka. Aber dann eroberten die Spanier Peru und meine Urgroßeltern vermischten ihr Blut. Meine Eltern gaben mich als Kind ins Kloster.“

„Du bist also ein Mestize, halb Indio, halb Spanier, richtig?“

„Ich mag das Wort nicht“, antwortete Sino mit umwölkter Stirn. „Aber es stimmt. Wo ich herkomme, gibt es viele schlimme Worte für unser Blut.“

Plötzlich tat mir der Kleine in seiner Frömmigkeit leid. Er schien so verloren wie auf einem Floß im Pazifik. Ich schenkte ihm ein Glas Wasser ein, das er gierig leerte. Ein stärkeres Getränk hätte ihn in einen hartleibigen Krieger verwandelt, aber dann wäre er mir zusammengeklappt.

„Wieso kommst du zu mir?“, fragte ich ihn, während er sich für die monotone Geometrie des Teppichbodens interessierte, die seine bunte Lebensfreude aus ihm herauszusaugen schien.

„Ich weiß es nicht. Es war sein Zimmer. Ich hatte gehofft, mein Prior wäre noch hier oder er hätte eine Nachricht hinterlassen.“

„Tja, eines kann ich dir verraten“, sagte ich. „Ich wohne seit einer Woche hier und seitdem hat sich niemand im Kleiderschrank versteckt. Wenn sich Bernado vor zwei Monaten in Luft aufgelöst hatte, wird er dieses Zimmer auch so schnell nicht wieder betreten.“

„Aber er muss hier gewesen sein. Madre, ihm muss etwas zugestoßen sein und jemand könnte etwas darüber wissen.“

Sein Blick blieb an dem überfüllten Schreibtisch hängen. Ich hatte dort neben dem Laptop einige Bücher für diverse Recherchen aufgetürmt. Es war eine Kriminalstatistik dabei, die die vielen Bluttaten der vergangenen Jahre in nüchterne Zahlenkolonnen auflistete. Wenigstens kleideten sie sich in der tiefschwarzen Farbe von Trauerflor.

Sinos dunkle Augen glänzten, als er das Wort Crime entzifferte. „Sind Sie ein Privatdetektiv?“

„Schriftsteller, dafür genauso erfolglos. Ich verfasse Kriminalromane.“

„Oh, dann können Sie mir helfen! Sie kennen sich mit Verbrechern aus.“

Mein Leben war bewegt genug, um zu wissen, dass in jedem Menschen ein Ganove steckte. Mancher gaukelte aber einem vor, er trüge einen Heiligenschein. „Immer mit der Ruhe, Amigo. Sagt dir der Titel Der Landgang des roten Herings etwas?“

Sino schüttelte den Kopf, so dass die Bommeln einem Kettenkarussell glichen.

„Es hat sich etwa hunderttausend Mal in zwanzig Ländern verkauft und war mein bestes Buch. Seitdem kommt mir der Erfolg wie ein Fluch vor. In letzter Zeit taugt das beschriebene Papier nicht einmal dazu, mich für die gefällten Bäume zu entschuldigen. Deshalb habe ich mich seit einer Woche hierhin zurückgezogen, verstehst du?“

„Aber Sie können mir helfen, Bernado zu finden. Bitte!“, flehte Sino.

„Was du nicht sagst.“

„Ja, ich vertraue Ihnen. Ihnen, Señor, und Gott.“

Ich holte tief Luft, wie vor einem Apnoe-Tauchgang. „Für’s Erste nennst du mich bitte Lorimer Stark. Freunde nennen mich Lou.“

„Lou gefällt mir“, lächelte er.

Meine Miene blieb ein Felsen. „Für’s Zweite bewegst du dich wieder hier raus und suchst dein Glück mit deinem guten Hirten woanders.“

Seine Mundwinkel rutschten einen Zentimeter tiefer, jedoch konnte ich mir kein Mitleid leisten. Es beglich mir nicht die Miete.

„Señor? Ich meine Lou. Ich sehe nicht danach aus, aber ich habe Geld. Ich kann Sie bezahlen, damit Sie mir helfen. Bitte sehr, Lou. Wie wäre es mit 500 Euro, wenn Sie mir Bernado bis morgen bringen?“ Er beobachtete mich wie eine Fliege in der Nähe eines Marmeladenbrots.

Es war kein übles Angebot. Genau genommen war es das Beste, was ich im letzten Quartal bekommen hatte. Ich musste von Berufs wegen die Kröten so nehmen, wie sie mir in den Schoß hüpften. Als Schriftsteller vertraute ich meiner Passion, die Schurken in der Fantasie zu bekämpfen und nicht in der kalten Welt. Aber bis auf den Bestseller, der mich zwei Jahre über kabbeliges Wasser gehalten hatte, strampelte ich von einem Rettungsring zum nächsten, nur um festzustellen, dass sie alle perforiert waren. Doch mehr als das Geld, war es die Sehnsucht nach Inspiration, die mich anzog. Der Fall hatte Potenzial und erzeugte ein angenehmes Kribbeln unter meinen Fingerkuppen.

„Also gut. Ich will sehen, was ich überhaupt zustande bringe. Du wirst für eine Viertelstunde auf mich verzichten müssen. Solange benötige ich für die Morgentoilette und du, um mir die fünf Scheine abzuzählen. Die Spesen berechne ich extra. Danach stehe ich dir für exakt 48 Stunden zur Verfügung. Lo entiendes?“

Sino schüttelte mir vor Begeisterung die Hand. Ich löste mich aus der Umklammerung, bevor er mir einen Heiratsantrag unterbreitete. Nachdem ich geduscht hatte, lag Sino ausgestreckt auf meiner Matratze und schlief. Seine Gesichtszüge sahen so friedlich wie bei einem Neugeborenen aus. Das Geld klemmte unter der aufgeschlagenen Hotelbibel. Ich beließ es vorerst dort und spazierte in die Lobby. Der Nachtportier an der Rezeption war ausgewechselt worden. Stattdessen verrichtete ein adretter Jüngling, hochgewachsen wie eine Bohnenranke und mit den schmalen Lippen eines Münzeinwurfs, seinen Dienst. Er begeisterte sich an der Ablage von Meldebögen, die von den Hotelgästen obligatorisch auszufüllen waren. Als mehrtägiger Gast in diesem Etablissement hatte ich ihm gelegentlich zugenickt. Diesmal aber war er mit voller Konzentration in einem Papiertsunami abgetaucht.

 

Ich trat auf die Straße und spürte das morgendliche Prickeln der Stadt. Die milde Morgensonne strahlte grell und ohne Wärme. Das Verkehrswesen schüttelte erst allmählich die Müdigkeit aus seinen langen Gliedern. Ich tat es ihm gleich und stellte fest, dass mich bei der Bewegung der Hunger überkam. Beim Bäcker meines Vertrauens genoss ich in Vorfreude auf mein Spesenkonto ein respektables Verwöhn-Frühstück mit einer extra Portion Ei. Da ich kein Unmensch war, ließ ich mir ein frisches Croissant für meinen jungen Auftraggeber einpacken.

Ordentlich gestärkt kehrte ich zurück ins Hotel Bohéme. Die Lobby war wie ausgestorben, sah man von den beiden verheirateten Fossilien ab, die sich mit ihren kleinen Trolleys zu einer City-Einkaufstour abmühten. Ich steuerte auf den diensthabenden Portier zu, der immer noch die Belege durchpflügte. Er nahm von mir genauso viel Notiz wie von den künstlichen Orchideen auf dem Empfangstresen. Das goldfarbene Schild an seinem Revers verriet mir, dass er auf den Namen Danny hörte.

„Guten Morgen. Ich bin Lorimer Stark“, stellte ich mich vor. Ich entschied mich für die kumpelhafte Tour. „Wissen Sie, Danny, mir ist da eine verrückte Geschichte passiert.“

Danny behielt den bebrillten Kopf gesenkt. Lediglich seine rechte Augenbraue wölbte sich wie ein liegendes Fragezeichen, das am Ende eines unausgesprochenen Wie-kann-ich-Ihnen-Helfen zweiter Klasse stand.

„Es geht um das Zimmer 312, das ich bewohne“, sagte ich.

„Ach ja? Was ist damit?“, fragte er im Tonfall eines Stundenlöhners.

„Nun, mit dem Zimmer ist alles bestens. Ich bin schon seit ein paar Tagen hier zu Gast und die Matratze trägt mich wie eine Amme in den Schlaf.“

Dannys Kugelschreiber zögerte. Mit einem Seufzer richtete sich die Bohnenranke wie an einem sonnenverwöhnten Spalier auf. „Wo ist dann das Problem, bitte schön?“

Ich beschloss, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Dies hatte schon Sino probiert und offenbar nicht einmal die Klinke erreicht.

„Ich bin Reisereporter und fotografiere für mein Leben gern. Letzten Herbst war ich in Peru und traf dort auf einen gewissen Señor Bernado. Er ist dort Prior in einem Kloster in der Nähe von Cusco und wir freundeten uns während meiner Auftragsarbeit an. Vor etwa zwei Monaten bekam ich eine Nachricht von ihm, dass er auf Geschäftsreise in Deutschland sei. Er schwärmte von Ihrem wunderschönen Hotel und der fantastischen Aussicht, die er vom Zimmer 312 aus über die Westside von Brunswick hätte. Bedauerlicherweise war ich zu dem Zeitpunkt für eine Reportage in Bukarest. Bernado versprach mir, auf mich zu warten, da er längere Zeit in Brunswick verbringen werde. Wir wollten uns im Bohéme treffen. Ich muss gestehen, dass ich von meiner Arbeit in Rumänien zu sehr eingespannt war, als dass ich den Kontakt zu Bernado permanent halten konnte. Als ich letzte Woche zurückkehrte, konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Sein Smartphone war ausgeschaltet und er hinterließ mir keine Nachricht. Ich checkte im selben Zimmer ein wie er, in 312. Der Ausblick auf die Skyline im Sonnenuntergang ist tatsächlich grandios. Aber von Bernado fehlt jede Spur. Das ist doch ziemlich verrückt, nicht wahr?“

Danny spitzte die Lippen, als wappnete er sich für einen vorsichtigen Kuss. Verrücktheiten gehörten offenbar zu seiner Tätigkeitsbeschreibung. „Worauf wollen Sie hinaus?“ Der Bursche straffte seine Anzugweste und griff sich den nächsten Aktenordner.

Ich packte ihn am Ärmel. „Ich hoffe, dass können Sie mir sagen. Das letzte Lebenszeichen von Bernado kam vor zwei Monaten aus Zimmer 312 Ihres Hotels. Ich kenne ihn nicht gut genug, um viel über ihn zu wissen. Vielleicht hat dieser Geistliche ein sehr schwaches Fleisch, damit meine ich ein sehr, sehr schwaches, und vielleicht kann er ebenso nicht die Finger von dem ganzen Alkohol lassen. Oder er hat Besuch aus dem Varieté empfangen. Von den anderen Lastern möchte ich lieber schweigen. Es ist gut möglich, dass er sich an die Rezeption gewandt hat, um sich eine Gefälligkeit zuzusichern, nicht wahr? Ich möchte also nur in Erfahrung bringen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.“

„Es tut mir leid“, sagte Danny, als würde er das Alphabet aufsagen. „Auskünfte unserer Gäste unterliegen der Verschwiegenheit.“

Mit einem Seufzen befreite ich Dannys Arm aus dem Fleischwolf. Es war an der Zeit, die Taktik zu ändern. „Es soll auch nicht zu Ihrem Schaden sein, Danny“, sagte ich und griff in die Innentasche meines Jacketts.

Dannys Nasenflügel schlossen sich wie Kiemen zu scharfen Strichen. Seine schmale Augen-Nase-Partie bildete ein großes T, welches wie ein empörtes Fadenkreuz auf meine verborgene Hand gerichtet war. Ich ließ es beim Versuch. Dennoch nötigte ihn meine Hartnäckigkeit, die Angelegenheit auf professionelle Weise abzuschließen.

„312 sagten Sie?“, fragte Danny.

„Ganz gewiß.“

Steif wie ein Bügelbrett drehte sich Danny zum Computer. Nach einer Weile klappte er sich wieder zurück.

„Nun, Herr Stark. Ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird. Aber wie ich schon ihrem peruanischen Freund, dem bunten Straßenmusikanten, erklärt habe, hat es nie einen Bernado in unserem Hotel gegeben. Mehr kann ich dazu nicht mitteilen.“

„Können oder wollen Sie nicht?“

„Ich schlage vor, dass Sie sich an die örtliche Polizei wenden. Die sind für vermisste Personen zuständig.“

„Sie können doch aber sicherlich feststellen, wer vor zwei Monaten in 312 anwesend war, oder?“

„Bedauere, weitere Auskünfte zu unseren Hotelgästen wird es nicht geben. Damit ist der Fall Bernado abgeschlossen.“ Die seltsame Betonung des Namens ließ mich aufhorchen. Es klang, als gäbe es einen anderen Fall, der noch am Laufen war. Gerne hätte ich nachgefragt, doch der aalglatte Rezeptionist gönnte mir keine Chance. „Dürfte ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Ich trommelte nachdenklich auf den Tresen. „Zu schade. Ich werde Ihre Diskretion weiterempfehlen. Bestimmt bei meiner nächsten Audienz im Vatikan.“

Mein frischgeborener Auftrag holperte wie ein Kinderwagen auf Kopfsteinpflaster. Ich überlegte, was wohl einer meiner fiktiven Romanhelden in einer solchen Situation unternähme. Mir blieb nur die Wahl, den nächsten Schichtwechsel abzuwarten und es beim Nachtportier erneut zu probieren.

Ein Koffer voller Sorgen

Kaum wandte ich mich dem Fahrstuhl zu, hörte ich ein flüchtiges Zischen aus dem Flur neben dem Empfangstresen. Kurz darauf zog mich der Wink eines zigeunerhaften Wuschelkopfs in dieselbe Nische und von dort zu einem Notausgang in den zementierten Innenhof. Die tintenschwarz gefärbten Haare gehörten einem Zimmermädchen im aschgrauen, gestärkten Kleid, weißen Kittel und mit wohlgeformten Beinen. Ich folgte ihr mit nach unten geheftetem Blick.

Den Hof teilten sich Wäschewagen, eine Reihe von Mülltonnen und ein Dutzend Holzpaletten. Auf einer Palette hatte das Zimmermädchen einen ordentlichen Stapel Handtücher abgelegt. Während ich nach draußen trat, nestelte sie an einer Zigarettenschachtel. Sie steckte sich ein Stäbchen an und reichte mir die Packung.

Ich lehnte ab, bevor sie einen tiefen Zug nahm und den Kopf in den Nacken legte. Sie war puppenhübsch, mittelgroß und duftete nach einer Mischung aus Antiseptikum und Lavendel. Ihre Onyxaugen musterten mich wachsam, obwohl ihre geschwollenen Augenlider halb gesenkt waren. Eine widerspenstige Stirnlocke hatte sich aus ihrer zerzausten Hochsteckfrisur gelöst.

„Ich heiße Leila“, schmauchte sie. Ihre Stimme kam direkt aus dem Rauchfang eines Kaminofens.

„Lou“, erwiderte ich.

Ihre Mundwinkel kräuselten sich genauso wie die Qualmwölkchen, nur mit mehr Amüsement.

„Dein Auftritt gefiel mir.“

„Du meinst mein Techtelmechtel mit Danny?“, fragte ich. Die Erwähnung des Namens überzog ihr Lächeln kurz mit Raureif.

„Ich habe euch belauschen müssen“, sagte sie. „Mein Wäschefach ist gleich nebenan. Tut mir leid. Oder auch nicht. In diesem Laden passiert ja so einiges. Aber so richtig Aufregendes ist eigentlich nie dabei.“

Dabei musterte sie mich vom Scheitel bis zur Sohle. Mit ihrem gefälligen Blick kehrte die Sommerhitze in den tristen Hinterhof zurück.

„Ich glaube auch nicht, dass Danny leicht aufzuregen ist“, sagte ich. „Neben ihm würde selbst eine Büroklammer in Ekstase geraten.“

Leilas Lachen hallte von den löchrigen Putzwänden. Dann beruhigte sie sich wieder und legte den Kopf schräg. „Lassen wir beide mal Danny beiseite. Ich habe gehört, du interessiert dich für diesen Südamerikaner, der vor einer Weile bei uns war.“

„Ein Pater von einem Augustinerkloster, ja.“

„Ach, du lieber Himmel. Ob der Gute ein Pfaffe oder Schlimmeres war, kann ich nicht sagen. Er trug immer Anzüge, zuletzt einen blauen. Also keine Klostertracht oder so.“

„Er schlief bis vor zwei Monaten in Zimmer 312, so weit ich weiß.“

„Exakt. Die dritte Etage ist mein Revier. Er sprach sehr gut Deutsch. Ein sehr höflicher Typ, wenn auch ein wenig eigenartig.“

„Sein Name ist Bernado. Er kommt aus Peru“, erklärte ich. „Ich bin auf der Suche nach ihm, auch wenn ich nicht vor habe, bei ihm zu beichten. Es ist eine halbwegs geschäftliche Angelegenheit.“

„Das dachte ich mir schon“, sagte Leila und inhalierte bedächtig das Nikotin. „Seinen Namen kenne ich allerdings nicht. Ich habe ihn nur selten gesehen in diesen ein oder zwei Wochen, in denen er dagewesen ist. Er passte mich immer genau ab, so dass ich ihn nur zweimal zu Gesicht bekam.“

„Vielleicht ein Zufall?“

„Wohl kaum. Als Zimmermädchen hat man ein Gespür für eine falsche Wahrscheinlichkeit, und zwar in jeder Hinsicht. Hin und wieder ist es ja genau andersrum. Da lauern einem die Kerle ständig auf.“

Ihr laszives Getue strapazierte meine Einbildungskraft nicht im Geringsten. „Weswegen kam er dir eigenartig vor?“

Sie kräuselte die Stirn und zögerte mit der Antwort. „Er hatte etwas Unheimliches an sich. Sein Gesicht wirkte sehr streng, mit struppigen Brauen. Wie von einem Direktor alter Schule. Er hinkte etwas und benutzte deshalb einen schicken Gehstock, wie früher halt. Ein wenig erinnerte er mich an einen alten Hexenmeister.“

„Ein Hexenmeister. Wie aus einem Märchen?“

„So in etwa. Mit dem war bestimmt nicht gut Kirschenessen.“

„Wann ist er dir über den Weg gelaufen?“

„Nun, das eine Mal hatte er auf dem Weg zum Frühstück etwas vergessen und war umgekehrt. Wir liefen uns in die Arme und ich hätte fast geschrien. Daher weiß ich auch, dass dieser Peruaner dort in Zimmer 312 genächtigt hat.“

„Wie sah sein Zimmer aus?“

„Eigentlich war da nichts Besonderes. Er war sehr ordentlich. Es lag nichts herum, was ihm gehörte. Das war eher ungewöhnlich. Die meisten hausen hier wie die Schweine, und zwar unabhängig, aus welchem Stall sie ausgebrochen sind.“ Die Glut ihrer Zigarette leuchtete energisch auf. „Aber eine Sache war da doch speziell. Es stand auf dem Ecktisch und war eine Art Gestell oder Käfig. Es war immer zugedeckt, was mir ganz recht war. Ich fürchte mich nämlich vor Ratten und Mäusen. Irgendwie dachte ich damals, dass da ein ekelhaftes Tier drunter sein musste. Es machte kratzende Geräusche. Vielleicht war es sogar eine Schlange. Ich traute mich aber nie nachzugucken, sondern erledigte meinen Job in Rekordzeit, um wieder schnell rauszukommen.“

„Hm, das ist wirklich schade“, sagte ich. Ich notierte mir den Gedanken, denn er hörte sich nach einer Spur an. „Wann bist du ihm das zweite Mal begegnet?“

„Das war an dem Tag, an dem er verschwand. Ich weiß noch genau, das war der erste oder zweite März. Ich hatte gerade mein Gehalt bekommen und war wütend, dass mir die Sonderleistungen nicht vergütet worden sind. Ich wollte mir in der Stadt endlich einen kleinen Wunsch erfüllen.“ Asche rieselte von Leilas Zigarette. Zusammen mit den Flocken wanderten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu ihrer letzten Begegnung mit Bernado. „Ich hatte Feierabend und mich für meine Shoppingtour zurechtgemacht. Als ich aus dem Waschraum trat, hatte dein Freund die Lobby durchquert und ging gerade durch die Drehtür nach draußen. Ich sah ihn nur flüchtig beim Verlassen des Bohéme.“

„Wie war er gekleidet?“

„Das ist eine schwierige Frage. Normaler Anzug, dicke Aktentasche. Ach ja, er hatte seinen Stock bei sich.“

„Wirkte er verärgert oder aufgeregt?“

„Das kann ich nicht sagen. Ich hatte ihn kaum gesehen. Eigentlich erst richtig, als er draußen am Schaufenster vorbeispazierte, und dann nur kurz im Profil. Tja, und dann war er vorbei und tauchte auch nicht wieder auf.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Am nächsten Tag und danach erschien er nicht zu den Mahlzeiten. Gewöhnlich hatte er in unserem Restaurant zu Abend gegessen und hatte sehr auf Pünktlichkeit bestanden. Es gab deswegen viel Gerede unter uns Angestellten. Nach drei Tagen wurde der Hotelchef, Herr Wingmann, sehr unruhig. Er holte die Polizei, jedoch ohne Erfolg. Sie durchsuchten das Zimmer und seine Sachen, aber niemand wusste, wo der Mann abgeblieben war.“

„Ein materieller Verlust für das Hotel.“

„Wingmann wird es verkraften. Die Auslastung ist ganz gut. “

„Wie kommt es, dass Danny behauptete, es gab keinen Bernado in Zimmer 312?“

„Keine Ahnung. Vielleicht benutzte der Gast einen Künstlernamen oder der Kirchenmann hieß früher mal anders, bevor er ins Kloster ging.“

Ein plausibler Gedanke, überlegte ich. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass ich nicht selbst an diese Möglichkeit gedacht und Sino danach gefragt hatte. Leila zertrat den Filter und klopfte Staub von ihrem Kittel.

„Und du bist also Fotograf?“, fragte sie.

„Ich sagte Reisereporter.“

„Auch danach siehst du mir nicht aus.“

„Wie bedauerlich, ich habe lange an dieser Legende gefeilt.“ Ich bemühte mich um ein betroffenes Gesicht. „Sagen wir einfach, ich bevorzuge statt einer Linse mein privates Auge, wenn es etwas Hübsches zu sehen gibt.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Leila mit sirenenhafter Leichtigkeit. Dann erinnerte sie sich, weshalb sie mir zugewinkt hatte. „Angenommen, ich könnte dir mit dem Geistlichen weiterhelfen. Nur, falls er in der Patsche sitzt.“

„Wenn er in der Patsche sitzt“, korrigierte ich sie. Sie war ein ehrliches Mädchen im tiefsten Deck eines Ozeanriesen. Das unterschied sie und mich von dem steifen Ausguck am Oberdeck dieses Schiffes. Ich beschloss daher, sie mit einem poliertem Stück Ehrlichkeit zu beschenken. „Die Annahme ist in Ordnung. Ich handele aber nicht auf eigene Rechnung. Der Sekretär Bernados, ebenfalls ein peruanischer Mönch, hat mich beauftragt, seinen Prior aufzuspüren. Im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten würde ich sehr gerne deine Hilfe beanspruchen. Was Pater Bernado angeht, so bin ich womöglich der einzige Freund, den er derzeit hat.“

„Wer wäre nicht gerne dein Freund?“ Leila nagte an ihrer vollen Unterlippe.

„Da fallen mir einige ein, ausgenommen die Leute vom Finanzamt und meine Ex-Freundin.“

Das amüsierte sie von Neuem.

„Zunächst ein Vorschuss, da ich nicht weiß, was mir die Sache anschließend wert sein wird“, sagte ich und kramte einen Zwanziger aus meiner Notreserve. „Ich fürchte beinahe, die weitere Entlohnung müssen wir auf den Dienstschluss verschieben. Vielleicht bei einem Cocktail.“

Leila schnappte sich die Banknote und zauberte ihn unter ihre Bluse.

„Eine schöne Idee. Das muss aber bis heute Abend warten“. Sie schob mich wieder ins Gebäude. Dann sperrte sie im Flur eine kleine Kammer auf, in der sich einiges Gerümpel türmte. Obenauf ruhte ein rostiger und verschmutzter Vogelkäfig, ein Vorkriegsmodell von unbekannter Herkunft.

„Das müsste wohl seiner sein“, erklärte Leila.

„Das sieht mir nach einer Voliere aus. Was ist mit dem Vogel passiert?“, fragte ich.

„Keine Ahnung. Als man das Zimmer räumte, war der Käfig leer. Wahrscheinlich hatte er der Kreatur die Freiheit geschenkt. Ich hoffe, es war ein Piepmatz und er konnte in ein schöneres Leben fliegen.“

„Nicht sehr wahrscheinlich, aber ein hübscher Gedanke.“

Zwischen Weihnachtsdekorationen, Wäschesäcken und Kinderstühlen zwängte sich ein brauner, leicht ramponierter Hartschalenkoffer.

„Der gehörte ebenfalls ihm“, sagte Leila. „Der Plunder dürfte nichts wert sein. Das Hotel wird die Klamotten dem Fundbüro oder dem Sozialdienst überstellen. Die Polizei war kurz hier und hat die Sachen durchwühlt, nachdem bereits der Hotelchef seine Finger drin hatte. Gefunden haben sie alle nichts. Für die Polizei war die Sache wohl erledigt. Es steht ja jedem frei, zu kommen und zu gehen, wie es ihm in den Sinn kommt. Und das mit oder ohne Klamotten. Ich habe dann zufällig gehört, wie Danny Anweisungen gegeben hat, die persönlichen Sachen hier zu lagern und später wegzuschaffen.“

Am Koffer klebten die Etiketten der Flugabfertigung, aber die Angaben zur Person fehlten. Vergeblich suchte ich nach einem Namensschild oder anderen Anzeichen, wem er gehörte oder was mit dem Besitzer passiert sein mochte. Kurzerhand bugsierte ich ihn wieder in den Hinterhof und wuchtete ihn auf einen leeren Servierwagen. Leila folgte mir. Diesmal war sie nervös und spähte unablässig den Gang entlang.

Das Zahlenschloss war auf die richtige Kombination eingestellt, so dass es ohne meine mechanische Überredungskunst aufsprang. Das Gepäckstück war randvoll mit Wäsche, darunter eine tadellose Mönchskutte, die vermutlich für den geplanten Besuch in Würzburg eingepackt worden war. Ich wühlte in dem Kleiderberg. Dabei förderte ich eine Bibel, einen Rasierapparat und andere Gegenstände des persönlichen Bedarfs zutage. Das Buch blätterte ich durch, fand aber nur Bleistiftnotizen zu diversen Psalmen. Die Hosen und ein Jackett enthielten nur Taschentücher und einen Kamm. Anschließend tastete ich die Säume ab. Doch auch das brachte nichts. Enttäuscht warf ich den Koffer zu.

„Da waren zu viele Flossen im Spiel. Wenn es etwas gab, ist es entwendet worden“, sagte ich. Die Sache gefiel mir nicht. Irgendetwas fehlte, da war ich mir sicher.

„Was ist mit seinen persönlichen Papieren?“, fragte ich Leila. „Hat sich dazu jemand geäußert?“

„Dazu kann ich nichts sagen.“

„Beim Einchecken muss er einen Meldebogen ausgefüllt und sich ausgewiesen haben. Sollte uns Danny nicht angeschwindelt haben, segelte Bernado unter fremder Flagge.“ Alto secreto, hatte Sino gesagt. Vermutlich war Bernado äußerst vorsichtig.

Ich verriegelte den Rollkoffer und schob ihn zurück zur Kammer. Leila war dicht hinter mir. Plötzlich fasste sie mich am Oberarm.

„Wir sollten nichts überstürzen, Herzblatt“, scherzte ich. Ihr Griff war unnachgiebig.

„Still!“, befahl sie. Sie presste sich hinter mir in den Abstellraum und lehnte die Tür an. Dann hörte ich ebenfalls die Besuchergruppe, die sich fröhlich zum Lift begab.

„Ich darf hier nicht gesehen werden, sonst bin ich meinen Job los“, fauchte sie.

„Schon gut. Ich kann einfach die Augen schließen.“ Mein Humor entwaffnete sie auf der Stelle.

„Witzbold. Wenn du artig bist, hätte ich noch etwas in petto.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Dazu müsstest du mir aber wieder ein wenig auf die Sprünge helfen“, sagte Leila mit einem schamlosen Augenaufschlag.

Ein weiterer Zwanziger wechselte den Besitzer und gesellte sich zu seinem Zwilling unter der Bluse. Zufrieden fasste Leila mit beiden Händen mein Gesicht und drehte es zur Seite. Ich machte mich auf einen innigen Kuss gefasst. Aber das gehörte bloß zu ihrem koketten Spiel.

„Kein Angst, dass ich dir den Kopf verdrehe“, lächelte sie und streifte mit ihren vollen Lippen zuerst meinen Mund und dann mein Ohrläppchen. „Ich möchte dir nur sagen, niemand ist so umsichtig wie ein Zimmermädchen.“

Dann angelte sie mit einem Ruck einen der Wäschesäcke und drückte ihn mir an die Brust.

„Zum Glück kümmere ich mich gelegentlich auch um die Wäsche der Gäste“, sagte Leila. „Der Peruaner hatte einen Anzug in die Reinigung gegeben. Als er dann weg war, blieb er von allen vergessen.“

„Was für Herrn Bernado auch keinen Unterschied machen dürfte.“

Am liebsten hätte ich sie weiterhin

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6208-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Lektorin Gina in Liebe und Dankbarkeit.

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