Cover

VenDADta hilft, wo andere Väter versagen

Ennis Joe King

 

 

 

Das Buch:

„Sorry, aber die Welt ist nun mal eine Kläranlage mit viel zu kleinem Becken. Da veranstaltet schließlich auch niemand ein Badeentenrennen. Warum sollte ich dort ein Kind reinsetzen?“

Lester Hörnchen, der frisch verlassene Single-Mann, genießt die neugewonnene Freiheit, ohne Kinderwünsche erfüllen zu müssen. Zu dumm nur, dass sein Firmenchef plötzlich auf eine KI setzt und Lesters Job an eine Familie knüpft. Hat Lester das Zeug dazu, sich von einem selbstgerechten, politisch inkorrekten Ekel zu einem verantwortungsvollen Familienmenschen zu wandeln? Können ihm seine Freunde Sascha und Manni auf der Suche nach der passenden Frau mit Kind helfen? Und vor allem: Welche Rolle spielt seine neue Nachbarin, die ihm mit ihrem Umzugslaster in die Quere kommt?

 

Über den Autor:

Ennis Joe King lebt in der Region Till Eulenspiegels. Kein Wunder, dass er häufig zu Scherzen aufgelegt ist und das Leben nimmt, wie es kommt. Manchmal auf den Arm, manchmal Huckepack. Und wenn die beiden Diebe Trübsal und Missmut seine gute Laune stehlen wollen, macht er es wie Till. Er versteckt sich unter seinem Bücherstapeln und piesackt die beiden solange, bis sie sich selbst erst beschuldigen und dann erledigen.

 

Für King ist Humor König der Unterhaltung.

Impressum

Ennis Joe King

 

VenDADta hilft, wo andere Väter versagen

 

Roman

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, Dezember 2023

© 2023 Ennis Joe King – alle Rechte vorbehalten.

 

Titel-/ Umschlaggestaltung: © 2023 Ennis Joe King

canva.com, Foto von markus-spiske auf pexels.com

 

Ennis Joe King

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

 

ennisjoeking@gmx.de

Kapitel 1 – 19 Tage bis zum Ersten

Nebel, Nebel, nichts als Nebel.

Ganze Wolkenberge türmten sich vor ihm auf. Graue Tristesse vor schmutzigen Fenstern, Wasserdampf aus der schmalen Teeküche für Magersüchtige und dann der qualvolle Dunst in seinem Kopf.

Lester Hörnchen schielte auf die Wanduhr. Fast elf. Eine Stunde bis zum langen Wochenende. Christi Himmelfahrt, gelobt sei der Herr, dann der Freitag, der eine Brücke zu den üblichen freien Tagen schlug – peng! – und hinterher hinein ins Vergnügen.

Er erhob sich hinter dem Monitor und streckte sein Kreuz. Sollten ihn nur alle Lohnsklaven im benachbarten Großraumbüro sehen, wie mühselig er in seinem Glaskasten schuftete. Als Sachgebietsleiter für den Kundenservice. Gott sei Dank blieb ihm momentan der Brackmeyer erspart, sein nerviger Abteilungschef, der ihm selbst kurz vor dem Ruhestand noch ab und zu auf die Finger klopfte. Sollte der sich mal schön ausruhen und alles genießen. In vollen Zügen, aus vollen Krügen. Sangria auf Gran Canaria. Man muss auch mal schlürfen dürfen. Am besten für den Rest seines fossilen Daseins. Lester zupfe am Krawattenknoten und schlenderte zu den Kollegen.

„Hopp, hopp, hopp.“ Er klatschte in die Hände. „Endspurt, Leute. Wir sind hier auf der Tour de Force und nicht bei der Polonaise in der Geriatrie.“

In diesem Augenblick röchelte die Kaffeemaschine eine Jazzkadenz.

„Auch, wenn sich das manchmal so anhört.“

Die meisten Mitarbeiter zwangen ihren Blick auf den Bildschirm, einige telefonierten. Nur Monika, die erst vor zwei Wochen an Bord von Telereisen, dem verkaufsstärksten Reisebüro im Ostfälischen angeheuert hatte, unterdrückte ein Kichern. Ihr Bleistift zappelte in der Luft, dann biss sie drauf. Eine unschuldige wie auch kokette Geste, die bei Lester unzüchtige Gedanken freisetzte. An eine Lolita, die an einem Lutscher knabberte.

In eleganter Manier eines Humphrey-Bogart-Doubles pflanzte er seinen Allerwertesten auf ihre Schreibtischkante.

„Na, sieh mal einer an. Immer noch fleißig wie am ersten Tag. Scheint ja, alle sind ganz berauscht von der hübschen Mohnblüte.“ Er zog das Wort Mohn in die Länge wie in einer volltrunkenen Karaokeversion von Moon River.

Die Neue errötete, schoss Blitze aus den Augenwinkeln und setzte sich mit einem Ruck auf.

„Etwas Besonderes, bei dem ich helfen könnte?“ Lester betonte die Frage ostentativ unauffällig, als handelte es sich um eine kleine Gefälligkeit, etwas Ernstes oder einen Reißverschluss.

Monika überlegte, dann schwenkte sie den Monitor zur Seite, so dass er die Zahlenkolonnen überblicken konnte.

„Eine doppelte Umbuchung einer Familie. Erst hat das Hotel storniert, nun leidet der Vater an Gürtelrose.“

„Hm, mal sehen.“ Lester beugte sich so weit vor, dass er Monikas Pfirsichparfum und den darunter liegenden Geruch ihres Schlüsselbeins erhaschte. Ein Jagdhund beim Erschnüffeln seines Lieblingsknochens. „Fünftausend für zwei Wochen Sonne, Strand und Bunga-Bunga. Das könnte uns beiden Hübschen auch gefallen, stimmt’s?“

Erst als Monika kaum zu atmen wagte, konzentrierte sich Lester wieder auf den Fall. „Stornierungsfrist?“

„Abgelaufen.“

„Reiserücktritt?“

„Jedenfalls nicht über uns.“

„Pech, würde ich sagen. Da muss Papabär demnächst seinen Rosengürtel wohl etwas enger schnallen.“

Sie sah ihn erschrocken an.

„Da helfen auch keine Bambiaugen. Wir sind schließlich alle im Krisenmodus. Energie, Krieg und dieses scheiß Klima. Aber halb so schlimm. Wozu in aller Welt sind denn die Klimaanlagen erfunden worden?“ Er wandte sich ab. „Und falls er Sperenzchen macht, dieser Rosenverkäufer, dann ab mit ihm in die Rechtsabteilung. Die Sesselpupser sind eh überbezahlt. Genießen das volle Firmenprogramm. Gesunde Snacks, Massage am Arbeitsplatz und Twerk-Life-Balance.“ Lester versuchte einen Elvis-Hüftschwung, der nach schweren Koliken aussah. „Das ist für die, als wenn die Muttis twerken und sie live dabei sein können.“

Er erntete empörte Mienen.

Sei’s drum, dachte er sich. Seine Hand scheuchte weitere Erläuterungen davon. „Ist ja auch schnurz. Also, dann mal schön weitermachen. Hier, auch mit diesen ganzen Rundum-Sorglos-Jüngern. Am Ende müssen auch die mal feststellen, dass ihr Urlaubsträumchen bereits bei der Buchung an ein Kreuz genagelt wurde.“

Plötzlich öffnete sich die Flurtür. Bertram Möllinger, der glattrasierte Schnösel vom Abteilungsleiter, stolperte herein. Ein schmaler Karopullunder mit gewichtigem Aktenstapel unterm Arm, der ihm den nötigen Halt, wenn nicht sogar die nötige Haltung verlieh. Wie das Zepter eines römischen Legaten.

Lester witterte nichts Gutes. Bertram, der karierte Hahn beim Hofappell!

Jetzt reckte und wendete er den Hals, offenbar unschlüssig, wie er für Aufmerksamkeit sorgen konnte.

Lester nahm ihm die Sorge ab. Als Assistent des Chefs war Möllinger jemand, mit dem man sich gut stellen musste, auch wenn er ihm in der Freizeit nicht einmal die Wagenwäsche anvertraut hätte. Er knuffte ihn und quetschte dessen magere Schultern.

„Alle mal herhören! Möllinger möchte uns was mitteilen.“

Der Gesandte Roms räusperte sich. „Hallo zusammen. Soeben kam ein Anruf aus der Personalabteilung.“

Ein Knall flog durch den Raum. Rosemarie Faber, das Urgestein des Sachgebiets, hatte den Locher auf den Tisch poltern lassen. „Meine Güte, dann ist es also wahr?“

Allgemeine Unruhe breitete sich aus.

„Was soll wahr sein?“, fragte Lester mit leichter Schärfe. Rosemarie strapazierte oft seine Geduld, gerne zu Wochenenden. So, als müsse er sich die freien Tage erst verdienen.

„Stellenabbau“, japste Rosemarie.

Nun war es heraus. Dieses Unwort. Die Stimmung heizte sich weiter auf.

„Quatsch“, begehrte Lester auf. „Wo hast du das denn her, Rosi?“

„Ich habe meine Quellen!“

„Das dürften wohl keine Thermalbäder sein.“

Der Tumult schwoll an und Lester setzte rasch nach: „Mein Gott, nun lasst doch den armen Mann mal zu Wort kommen. Also, wo drückt denn der Personalschuh?“ Dabei schüttelte er Möllinger, bis ihm die Brille verrutschte, und mit ihr um ein Haar die losen Blätter. Die Insignien der Macht.

„Die Infothek ist unterbesetzt“, erklärte Möllinger. „Wir brauchen am Freitag noch weitere Freiwillige, die an den Telefonen aushelfen. Spätschicht.“

Ach, du Scheiße!, dachte Lester. Freitag spielen die Basketball Löwen gegen Alba Berlin. 19 Uhr. Hauptrunde. Er war mit Manni und Sascha verabredet. BFFs und Dauerkarten-Kumpel. Das war völlig ausgeschlossen.

„Ihr habt es gehört, Leute“, rief Lester. „Jeder Einzelne wird gebraucht. Also, hoch die Hände, Wochenende. Oder auch fast.“

„Eigentlich wären ja Sie mal dran“, sagte Bertram Möllinger mit unbeteiligtem Blick auf seine Liste.

„Was?“, ereiferte sich Lester. „Das... Unmöglich! Zeigen Sie mal her. Ich war mindestens die letzten vier, fünf Was-auch-immer dran. Daran kann ich mich gut erinnern. Mein Gedächtnis ist da tadellos. Immer an diesen Dings – Dingstagen war das gewesen, vor den großen – na, Sie wissen schon.“

Ein Dutzend zerlaufene Teiggesichter glotzten ihn an.

„Ich würde es ja selbst machen...“ Lester knipste sein Kondome-im-Kloster-Verkäufer-Lächeln an. Alle warteten gespannt auf das Aber.

„Ich muss zu meiner Schwiegermama Corona... ähm... Corinna. Leider hat sie Besuch vom Ziegenpeter. Damit meine ich nicht diesen käsefressenden Rotzlümmel, der immer scharf auf unsere Heidi ist. Ich meine diese fiese Virusinfektion. Parotitis!“ Zum Glück hatte Lester in der Mittagspause darüber einen Artikel in der Apothekenzeitschrift gelesen.

„Sie meinen Mumps“, half Rosemarie aus.

„Mumps oder Bums, egal, wie das heißt. Zumindest weiß ich jetzt, warum meine Schwiegermutter immerzu am Meckern ist.“ In diesem Punkt sprach Lester die Wahrheit. Nur mit Schaudern dachte er an die Zeit mit Corinna zurück. Die Kreuzotter, die ihm das Leben mit ihrer Tochter Doreen zur Hölle gemacht hatte. Bis zur Trennung vor einem halben Jahr. „Spaß beiseite. Sie ist völlig auf sich allein gestellt. Ohne mich ist sie ein Häuflein Elend. Ich habe ihr fest versprochen, sie das ganze Wochenende über zu betüdeln und Besorgungen zu erledigen. Und ausgerechnet am Freitagabend kann der Pflegedienst nicht kommen. Personalnotstand. Was will man machen? Da springe ich natürlich ein. Ehrensache. Für einen herzensguten Menschen ist mir dieses Opfer ein geringes. Selbst, wenn es mich das lange Wochenende kostet.“

Seine flache Hand traf den Assistenten zwischen die Schulterblätter. „Sehr gut, Möllinger. Ich sehe schon, Sie haben den Stift gezückt. Also, verehrte Herrschaften. Lassen Sie die Kollegen nicht allein die Überstunden schieben. Denken Sie an Robinson. Wäre ihm der Freitag scheißegal gewesen, wäre er von der Insel nie heruntergekommen.“

Kapitel 2 – 17 Tage bis zum Ersten

Die Braunschweiger Löwen hatten sich wacker geschlagen. Halbzeit. Die Massen schoben zu den Getränkeständen. Die Volkswagenhalle war gut besucht, die Fangemeinde treu ergeben. Zu ihr gehörten auch Lester, Manni und Sascha. Jugendfreunde, wie sie im Buche standen, selbst wenn sie niemals ein Poesiealbum besessen hatten. Um sich die Beine zu vertreten, waren sie aufgestanden. Untere Reihe im Oberrang, seit drei Jahren feste Plätze.

„Ach, du Scheiße!“, entfuhr es Lester.

„Was?“ Manni, eigentlich Manfred, manchmal auch Mampffred, frei nach seiner Lieblingsbeschäftigung, kaute an einer Bratwurst, die er sich kurz vor der Pause ergattert hatte.

„Da vorne! Nicht hinsehen! Die dicke Berta aus der Fibu.“

„Du meinst Beate?“

„Genau die.“

„Wenn die detoniert haben wir den dritten Weltkrieg“, schaltete sich Sascha ein.

„Du spinnst“, erboste sich Manni, der selbst mit einem BMI von über dreißig kämpfte.

„Nicht winken“, zischte Lester. „Wenn die mich sieht, bin ich geliefert.“

„Hattest du was mit der?“, fragte Sascha.

„Ob ich...? Quatsch! Wegen der Faber. Die hat doch meinen... ich meine, heute Dienst.“

„Ja, und?“

„Die ist doch dicke mit der Faber. Also, eigentlich ist die ja immer dicke. Aber wenn die mitkriegt, dass ich hier... mit euch... dann bin ich unten durch. Dann kann ich Sonderdienste absitzen, bis mir der Arsch brummt.“

Plötzlich teilte sich die Menge im Treppenaufgang.

„Verdammt, jetzt kommt sie hier auch noch hoch.“ Lester biss die Zähne zusammen.

„Die schlägt eine glatte Schneise in die Tribüne“, stellte Manni mit Begeisterung fest.

„Meine Güte! Hoffentlich hinterlässt sie keine Schwerverletzten“, sagte Sascha.

Solange beabsichtigte Lester nicht zu warten. „Ich gehe mal Getränke holen.“

 

Die Getränkeschlange schien endlos. Lester drängelte sich ans vordere Ende. Eine dralle Rothaarige mit Halstattoos schirmte ihm die Sicht nach vorne ab.

„Entschuldigen Sie?“

Sie drehte sich um.

„Ich glaube, wir kennen uns nicht. Darf ich mich vorstellen?“

Sie blickte ihn von oben bis unten an, zuckte mit den Schultern.

„Gut, danke.“ Damit machte Lester einen großen Schritt an ihr vorbei. Nun stand er direkt vor ihr in der Reihe. Innerlich wieherte er über seinen gelungenen Trick.

„Ey, Opa. Das Ende der Schlange ist ganz hinten.“ Ein Bulle von Kerl hatte sich an die Rothaarige geschmiegt. Zweieinhalb Zentner Lebendgewicht mit allem drum und dran: Stiernacken, breites Kinn, das fortwährend malmte, und ein finsteres Augenpaar, das dieser dummen Kuh vor Freude die Milch einschießen ließ.

„Ich meine, da stand schon wer“, lamentierte Lester. Noch ein finsterer Blick. „Aber ich kann ja noch einmal nachsehen.“

Er trat den geordneten Rückzug an. Verdammt, das war völlig in die Hose gegangen. Bloß woher bekam er nun sein kühles Blondes, ohne das nächste Quarter zu verpassen? Als er sich auf die Zehenspitzen reckte, entdeckte er an einem anderen Getränkestand einen Lichtblick. Ein Junge wartete ganz vorne und würde gleich bedient werden. Die Szene erstrahlte wie unter einem Glorienschein, als ihm die zündende Idee kam. In null Komma nichts war Lester zur Stelle. Just in dem Moment, in dem der Bengel an der Reihe war.

„Ach, hier steckst du ja. Ich habe dich weiter hinten gesucht.“

Der Junge mochte zwölf sein, an der Schwelle zum Pubertierischen. Blonder, braver Fransenpony, leichter Babyspeck im Gepäck und ein Gesichtsausdruck, als wäre vor ihm Miley Cyrus aus einem UFO gestiegen.

„Aber...“, sagte der Zwölfjährige, doch Lester ließ keinen Einwand zu. Er wandte sich der Bedienung zu.

„Ich bekomme drei Pils.“

„Aber...“ Ein erneuter Versuch. Lester beugte sich runter.

„Apropos Pils. Warum steht ein Pils im Wald? Na? Weil die Tannen zapfen!“

Er strubbelte dem Jungen durchs Haar. Danach drehte er sich wieder zur Theke, zahlte die Zeche und schnappte sich die vollen Plastikbecher,

„Hier, stimmt so.“ In einem Anflug von Großzügigkeit verzichtete er auf die zehn Cent Wechselgeld.

„So, mein Kleiner. Das hat doch wunderbar funktioniert, nicht?“

„Aber ich wollte eine Cola.“

„Ach, du ahnst es nicht. Cola ist doch völlig ungesund, mein Junge. Schön, ich merke schon, die kurzkettigen Kohlenhydrate haben auch deine Synapsen verkürzt. Macht ja nichts. Du bist ja noch im Wachstum. Da tut sich noch einiges in Sachen Größe, keine Bange.“

Inzwischen drängten weitere Kunden nach.

„Geht es auch mal weiter?“, rief einer genervt. Der Zwölfjährige und Lester wurden an die Seite bugsiert.

„Aber...“, begann der Junge erneut. Die verzweifelte Tonlage sorgte bei den Umstehenden für Aufmerksamkeit.

„Aber, Rhabarber! Nichts aber. Wenn du eine Cola willst, musst du dich wie jeder normale Mensch hinten anstellen. Hättest ja auch auf mich warten können, du kleiner Ausreißer. Hopp, hopp. Das Spiel geht gleich weiter.“

Plötzlich zerriss eine Sirene die Festtagsstimmung. Der Junge hatte den hochroten Kopf in den Nacken gelegt und stieß einen markerschütternden Schrei aus.

„Aaaaahhhhhhh!“

„Was ist denn jetzt los?“, rief Lester.

Aus der Warteschlange erntete er finstere Blicke. Klar, was sie dachten. So ein armer Bengel. Ohne seinen Rabenvater wäre er sicherlich besser dran. Genauso klar, dass er reagieren musste.

„Ein Notfall“, entschuldigte sich Lester. „Völlig unterzuckert. Hatte ich glatt vergessen. Darf ich?“ Lester legte eine Banknote auf den Tresen und orderte eine große Cola. Die Sirene erlosch.

„Hier, du Racker“, wandte er sich an den Schreihals. „Aber nicht wieder gleich Cola-bieren.“

Mit diesem Appell tauchte Lester in der Masse unter. Zurück blieb ein Beinah-Teenager, dem der Appetit auf Cola vergangen war.

 

Nach dem Spiel versammelten sich die drei Jugendfreunde vor Lesters Reihenhäuschen. Eine ruhige Wohngegend mit strikter Mülltrennung und schallgedämpften Großstadt-Tölen. Zumindest, wenn man Lester Glauben schenken konnte. Angeblich wurde den fiependen Welpen das Kläffen abtrainiert, so dass sie später höchstens mit einem gelegentlichen Knurren aufmuckten.

„Lust auf einen Absacker?“, fragte Lester.

Die drei betrachteten sich. Mangels besserer Idee war man sich einig.

„Ein Scheidebecher geht immer“, grinste Manni. Mit erhobenem Zeigefinger fuhr er fort: „Oder, wie der Lateiner sagt, ein...“

„Halt, sag’s nicht“, brummte Lester. Vagina pokalis! Eine Sauerei in seiner Einfahrt hätte ihm gerade noch gefehlt. „Ich wohne zufällig hier.“

Wie zur Bestätigung kreuzte ein Nachbar mit seinem Blinke-Hund die Straße.

„N’Abend, Herr Hörnchen.“ Das LED-Halsband flackerte im Takt einer defekten Lichterkette. Ansonsten gab der Vierbeiner keinen Mucks von sich. Lester hatte recht behalten. Ein schwarzes Phantom, das wie ein festgetackertes Stück Tonpapier auf einem Rollbrett vorbeiglitt.

„Guten Abend, Herr Remscheid-Hebbelbein. Nettes Wetterchen für einen Spaziergang.“

Der Nachbar winkte und verschwand um die nächste Ecke.

„Also, gut“, beeilte sich Manni. „Dann einen Absacker. Klingt auch gleich viel vornehmer.“

Kapitel 3

Sie machten es sich zu dritt auf der Couch gemütlich. Lester in der Mitte, Sascha links, Manni rechts. Letzter war der Herr über die Fernbedienung für den 85-Zoll-Ultra-HD-Smart-Fernseher mit neuester Surround-Subwoofer-Technik und – was noch wichtiger war – über die Schüssel mit den Chips.

Gleich nachdem Doreen wie eine Furie aus der gemeinsamen Behausung entflohen war, hatte Lester keine Minute verstreichen lassen, um die Bude umzubauen. Endlich erschuf er sich sein eigenes Reich, indem er in seine Männerträume investierte. Die Dampfbügelstation, die Yoga-Area und die überdimensionierte Art-Dekor-Skulptur (eine weiße Röhre, gebogen zu einem gigantischen Knoten, die den Namen Virgin living on a prayer trug) fielen einem DFB-Tischkicker, einer Zapfanlage und dem Flatscreen zum Opfer.

Manni zappte zwischen Musiksendern, Sportübertragungen und Splatter-B-Movies hin und her.

„Da soll noch einer sagen, Frauen brächten das gewisse Extra mit in eine Männerwirtschaft“, philosophierte Sascha, der die Wohnzimmereinrichtung bewunderte. Von Hause aus war er studierter Geophysiker und arbeitete vormittags an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, der Hüterin der deutschen Atomuhr. Abends jobbte er als Taxifahrer. Ein menschgewordenes Klischee, das sich seit der Studienzeit kaum weiterentwickelt hatte. Das Chauffieren anderer Menschen hatte ihn inspiriert, so dass er es nicht mehr missen wollte. Angeblich verbinde es ihn mit dem Universum, schwärmte er bisweilen. Dazwischen schrieb er an einer sozioseismischen Suburbia-Anthologie. Menschliche Schwingungen, ausgelöst durch Erdstöße aus dem Braunschweigischen Umfeld, die derart fein vibrierten, dass er bereits seit zwanzig Jahren tiefgründige Geschichten darüber sammelte.

„Ich wüsste nicht, was das Extra sein sollte“, stimmte Manni zu. Er grabschte nach einer Handvoll Kartoffelchips. „Was fehlt, bestellt man sich einfach bei Ebay. Oder im Darknet.“

„Darknet? Warst du da schon einmal drin?“

Manni fühlte sich ertappt. Tatsächlich hatte er keine Ahnung von dieser ganzen IT-Geschichte. Er wusste nur, was man sich so erzählte.

„Nicht direkt“, räumte er ein. „Aber ich habe gehört, egal, was du brauchst, dort bekommst du alles. Nutten, Koks, Waffen. Einfach so. Und am nächsten Tag klingelt der Fedex-Bote.“

„Und der bringt dir ein Paket und darin steckt dann eine Prostituierte?“ Lester fand den Gedanken lächerlich.

„Richtig“, wieherte Sascha. „Die ist bis obenhin zugekokst und raubt dich dann mit der mitgebrachten Kalaschnikow aus.“

„Selbst schuld, wenn ihr keine Ahnung habt.“ Manni schluckte die unausgesprochene Beleidigung hinunter und konzentrierte sich auf ein laszives Musikvideo.

Sie prosteten sich zu. Um des lieben Burgfriedens willen schwiegen sie eine Weile.

„Wie lange bist du jetzt solo?“, fragte Sascha.

„Ein halbes Jahr.“

„Und? Schon bereut?“

„Was heißt bereut? Ab und zu gibt es schon Momente, in denen ich sie vermisse.“ Lester vermied es, zu sehr in eine gefährliche Gefühlsduselei abzutauchen. So betrunken konnte er gar nicht sein.

Sascha taxierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Weshalb habt ihr euch nochmal getrennt?“

„Dies und das. Das ist wie beim Wochenendeinkauf. Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon, und zack, am Ende stehst du an der Kasse und dann kommt die dicke Rechnung, die du irgendwie nicht bezahlen kannst.“

„Auch nicht mit Karte?“ Manni hatte nicht richtig zugehört. Er glotzte sich Shakira an, die ihn das Kauen vergessen ließ.

„Verstehe“, erwiderte Sascha, der allerdings selten am Wochenende einkaufen ging. Zu viele Taxifahrten. Und zu viele quengelnde Windelflitzer, die die Gänge überbrüllten. Das brachte ihn auf einen weiteren Gedanken.

„Wolltet ihr nicht mal Kinder haben?“

Autsch, dachte Lester, das ist ja höllischer als beim Zahnklempner.

„Eine Zeitlang, ja“, murmelte er in der unverbindlichen Art eines Goldfischmännchens, jedenfalls, wenn diese in der Lage wären, sich zu artikulieren.

„Wie eine Zeitlang? Von Ostern bis Oktober, wie beim Reifenwechsel? Oder was?“

„Himmel, du willst es aber genau wissen.“

„Sorry, Lessie. Ich möchte dir nur helfen.“

„Wobei? Beim Reifenwechsel?“

„Wieso denn Reifenwechsel?“, platze Manni dazwischen. Nach Shakira war Pink dran. „Wir haben Mai. Ist doch noch Zeit.“

Diesmal reagierte Sascha. Erst zog er eine Grimasse, dann die Konsequenz aus der Gesprächssackgasse und führte sich das Bier an die Lippen.

Lester verdrehte die Augen. „Doreen wollte eins. Ich eher nicht. Dieses ganze Familiengedöns. Ehe du dich versiehst, wirst du jeden Morgen von so einem kleinen Monster um fünf aus den Federn gebrüllt. Dann der viele Stress. Windelalarm, Töpfchentraining, Brote schmieren. Man selbst kommt da praktisch zu nichts mehr. Und dann noch die kaputte Zukunft. Sorry, aber die Welt ist nun mal eine Kläranlage mit viel zu kleinem Becken. Da veranstaltet schließlich auch niemand ein Badeentenrennen. Warum sollte ich dort ein Kind reinsetzen?“

„Was ist mit einer Adoption. Diese Gören sind ja schließlich schon da.“

„Also, versteht mich nicht falsch. Aber ich würde sofort so einen kleinen Nervsack aus dem Katalog bestellen, wenn man das richtige Alter wählen könnte.“

„Alter, das richtige Alter?“, hakte Sascha nach.

„Ja, klar. Bei Zustellung müsste er aus dem Gröbsten raus sein. Sagen wir fünf oder sechs. Und am liebsten würde ich ihn wieder abgeben, bevor die Hormone verrückt spielen und er ätzend wird.“

„Mit zwölf.“

„In etwa.“

„Lass mich raten. Das fand Doreen eher suboptimal.“

„In etwa.“

„Und dann hat sie dir den Laufpass gegeben.“

„Sie hat... Was? Nein! Wir haben uns da schon geeinigt.“ Niemals würde er zugeben, dass Doreen ihm nicht nur den Laufpass gegeben, sondern ihm gleichzeitig klargemacht hatte, dass er für diesen niemals mehr einen Einreisestempel erhalten würde. Aus. Vorbei. Betretungsverbot für das gelobte Land. Auf Lebenszeit.

 

Lester beschloss, eine allerletzte Runde Bier zu holen. Auf einem Bein konnte niemand stehen, es sei denn, er fühlte sich wie ein Flamingo.

Manni schaltete um. Frauen-Wrestling. Keifende Athletinnen in engen Flitterkostümen, die sich auf dem Boden wälzten.

„Rrrrr“, schnurrte Sascha mit einem Seitenblick auf Manni. „Wie ein rolliger Kater.“

Als er die Polster zurechtrückte, drückte etwas Hartes gegen sein Steißbein. Er griff zwischen die Rückenlehne und zog ein Tablet hervor. Sofort erwachte es aus dem Standby-Modus. Eine Dating-Seite ploppte auf.

„Was zur Hölle ist das?“, fragte Sascha.

In diesem Augenblick kehrte Lester mit drei perlfrischen Pilsenern zurück. Panik ergriff ihn. Im Vorwärtsstolpern verschüttete er Bierschaum.

„Das ist – nur ein soziales Experiment. Ihr wisst ja. Alle elf Sekunden macht es zoom und der andere bekommt davon vielleicht gar nichts mit.“

Auch Mannis Interesse war geweckt. „Du tummelst dich auf einer Partnerbörse?“

„So würde ich es nicht beschreiben“, sagte Lester. „Ich sondiere den Markt.“

„Lass mal sehen. Du hattest drei Matches?“

„Ja, aber das war nix.“

„Was? Moment. Du hattest drei Dates, nachdem Doreen dich vor die Tür gesetzt hat, und wir wissen davon nichts?“

„Himmel! Sie hat mich nicht vor die Tür gesetzt. Ich bin da ganz freiwillig raus. Außerdem habe ich das Haus behalten. Also, streng genommen ist sie vor die Tür... egal. Und ja. Ich hatte drei Treffen, über die ich lieber schweigen möchte. Hier, statt Friedenspfeife.“

Er übergab jedem eine Bierflasche.

„Drei Matches. Ist das viel?“ Manni war zu Sascha aufgerückt.

„Wie man’s nimmt“, sagte Sascha diplomatisch. Er klickte auf Lesters Profil.

„Endless_Horny? Das ist dein Nickname?“

Lester trank einen Schluck. „Ja, und? Horny in Anspielung auf meinen Nachnamen. Wie Hörnchen.“

„Schon klar.“

„Und endless? Weil du kein Ende hast?“, fragte Manni.

„Weil die Beziehung endlos sein sollte. True Love. So in etwa jedenfalls.“

„Mich wundert es nicht, dass sich kaum jemand meldet. Auf dieser Plattform erwarten die Frauen Niveau.“

„Hab ich doch“, protestierte Lester.

Sascha scrollte die Profilseite hinunter.

„Interessen: Fußball, Skat, Blaskonzerte?“

„Was Kulturelles gehört eben dazu.“

Damit schnappte sich Lester das Tablet und pfefferte es auf ein Sideboard.

„Schluss damit. Ihr werdet schon sehen. Eines Tages drängt sich eine Bo Derek an meine Seite und ihr zwei Doofköppe könnt froh sein, wenn ich euch als Trauzeugen engagiere.“

Sascha und Manni ließen die Flaschen klimpern.

„Da mach dir mal keine Illusionen. Ohne uns findest du nicht mal den Weg zum Standesamt.“

Kapitel 4 – 16 Tage bis zum Ersten

Der nächste Morgen empfing Lester wie ein gähnender Schlund. Natürlich war es nicht bei einem Scheidebecher geblieben. Und natürlich lagen seine Lebensgeister noch zusammengerollt unter einer Kuscheldecke, als der Wecker piepte.

Lester zwang sich zu seiner üblichen Routine. Fixes Frühstück, fixe Morgentoilette, fixe Dusche. Schließlich kam er sich vor wie Fix und Foxi. Danach war das Aufräumen dran. Seitdem er allein war, hatte er zwei Haushaltshilfen verschlissen. Die letzte nahm Reißaus, nachdem sie eine klebrige Fettschicht im Heizkörper gefunden hatte. Das Resultat eines vergessenen Butterstücks, das Lester zum Auftauen auf das Heizungsgitter deponiert hatte. Gegen elf war der Einkauf dran.

Lester setzte sich hinter das Steuer, pfiff eine Schlagermelodie und rollte mit dem Wagen ein Stück in der Einfahrt. Weit kam er allerdings nicht. Vor der Toreinfahrt versperrte ein Lastwagen den Weg, dessen hintere Achse in Lesters Grundstück ragte.

„Was ist denn das, zum Geier?“, fluchte Lester. Der Lastwagenfahrer, ein Blaumann mit Bauchladen unterm Latz, scherte sich nicht um das Umfeld. Mit einer Faust in die Hüfte gestützt und mit der anderen am Hebel ließ er die Hebebühne herunter. Lester ahmte ihn nach und senkte das Beifahrerfenster.

„Hey, Sie! Sie können hier nicht stehenbleiben!“

Der Blaumann reagierte nicht und präsentierte ihm sein verlängertes Rückgrat. Lester drückte auf die Hupe. Nichts. Die Verladeplattform stieß mit einem Knirschen auf den Asphalt. Erneutes Hupen. Diesmal im Dreivierteltakt. Nun drehte sich der Fahrer um, gaffte, als entdecke er zum ersten Mal die Zufahrt, und zuckte wie ein Losbudenbesitzer die runden Schultern.

„Kusch, kusch, Sie müssen hier weg!“, rief Lester. Um das Offensichtliche auf Schimpansenniveau zu vermitteln, setzte er betont silbenfreundlich hinzu: „Ich-kom-me-sonst-hier-nicht-raus.“

„Ah, kein Platz“, brummte die Latzhose. Sie deutete auf den Umzugslaster. An der Seite klebte die Firmenaufschrift. Ullis schnellste Nummer. „Nur schnell einziehen.“

Das kann doch wohl nicht wahr sein, ärgerte sich Lester und murmelte vor sich hin: „Das Einzige, was du schnell einziehen musst, ist der Arsch von deinem Lkw.“ Dann rief er hinüber: „Hör mal zu, du Oberschlumpf. Das mag vielleicht bei euch in Schlumpfhausen funktionieren. Vor meiner Haustür brauche ich den Platz. Kapiert?“

Zwei weitere Möbelpacker gesellten sich an die Flanke des Umzugskönigs. Finstere Mienen mit vorgereckten Kiefern.

Plötzlich klopfte es ans Fahrerfenster. Ein Schatten legte sich auf Lesters Gesicht und eine braungelockter Kopf beugte sich hinunter. Lester ließ die Scheibe herunter. Eine Frau von Ende dreißig mit einem Spitzbubengesicht und den Augen ofenwarmer Maronen erschien im Rahmen.

„Tut mir leid, diese ganze Aufregung. Ich hatte gehofft, es würde passen. War die einzige Lücke. Leider habe ich mich zu spät um Halteverbotsschilder gekümmert. Wie es so ist, in einem Umzugschaos.“

„Und Sie sind?“, fragte Lester.

„Ach, entschuldigen Sie. Nochmals.“ Ihre Stimme schlug mehrere Glocken an. „Ramona Sommer. Ich bin die neue Nachbarin. Gleich gegenüber.“

Lester reckte den Hals und folgte ihrem Zeigefinger auf die andere Straßenseite. Ein zurückgesetztes Siedlerhäuschen aus den Fünfzigern. Richtig. Bisher wohnte dort Oswald Rückert, der alte Witwer. Vegetierte ja seit Monaten im Pflegeheim. Sicherlich hatten die Enkel den Schuppen nun vertickt.

„Lester Hörnchen. Angenehm.“

Ramona reichte ihm die Hand, die er linkisch schüttelte. Lester spürte eine Hitzewoge, die sich vom Nacken her ausbreitete.

„Ach, herrje“, sagte sie, als fiele ihr etwas ein. „Sie haben bestimmt einen wichtigen Termin und müssen los.“

„Na, zum Spaß wollte ich keine Runde drehen.“ Im gleichen Moment ärgerte er sich über seinen barschen Ton. Andererseits war er schließlich im Recht. Trotzdem ärgerte er sich, dass er sich ärgerte. Verflixt!

Inzwischen hatten die drei Gorillas die ersten Kartons abgeladen und sprangen um den Anhänger herum.

„Eine Stunde, Frau Sommer“, rief der Chef-Silberrücken ihr zu. „Wir laden schnell ab.“

„Schnell scheint ja das Lieblingswort von Papa Schlumpf zu sein“, grummelte Lester.

Ramona Sommer rang ihre Hände. „Nein, Sie haben recht. Unter Nachbarn ist es mir peinlich, wenn ich gleich am ersten Tag anecke. Ich werde den Laster ein Stück vorfahren lassen, damit sie rauskommen.“

„Schon in Ordnung“, hörte sich Lester sagen, bevor sein Verstand einschreiten konnte. „So eilig habe ich es wirklich nicht. Wochenendeinkäufe. Keine große Sache. Die Läden haben auch noch nachmittags geöffnet.“

Ein Strahlen formte ihre Lippen zu einem Lächeln und entblößte eine Reihe makelloser Perlen.

„Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen, vielen Dank.“

„Gerne.“

Lester setzte zwei Meter zurück und schaltete den Motor ab. Ramona Sommer winkte und stöckelte zu den Umzugskartons, um die logistische Herausforderung zu überwachen.

Als der Möbelpacker zur Seite trat, gab er den Blick auf ein Kind frei, das einen Schuhkarton mit einer Drohne in den Armen hielt.

Es stierte direkt herüber.

Der Sohnemann der neuen Nachbarin, folgerte Lester. Na, zumindest ist sie nicht allein.

Im nächsten Augenblick erstarrte er, als hätte ihn jemand mit Eiswasser übergossen. Der lethargische Junge, der ihn so unverschämt anglotzte, kam ihm bekannt vor.

Der Cola-Bengel! Der Junge aus der VW-Halle, dem er den Platz abgeluchst hatte!

Kapitel 5 – 14 Tage bis zum Ersten

Montag war ein Heckenschütze. Immer, wenn man sich an ein kuscheliges Wochenende, und dieses war besonders lang gewesen, gewöhnt hatte, brannte dieser erste Werktag einem eine Ladung Schrot auf den Pelz.

Lester Hörnchen enterte mit der Zielstrebigkeit eines Schlafwandlers den Firmenfahrstuhl, den Mantel über dem schlaffen Arm und den Coffee-to-go-Becher im Anschlag. Gerade als sich die Türen schließen wollten, schob sich eine weitere Person in die Kabine.

„Verzeihung, ich bin spät dran“, sagte eine Frau und schüttelte ihre dunkelbraune Lockenmähne.

Dann starrten sich beide an. Vor ihm stand Ramona Sommer, die Nachbarin von Gegenüber.

„Sie?“, fragten beide im Chor. Schließlich prusteten sie los.

Lester fand als Erster seine Stimme wieder. „Da können Sie froh sein, dass jemand hier die Halteverbotschilder vergessen hat. In welche Etage darf ich sie entführen?“

„In die zweite“, sagte Ramona, die voller Unglauben mit dem Kopf wackelte.

„Hat die Blue Men Group Ihren Umzug schnell erledigt?“

„Ja, alles in allem hat es geklappt. Mit etwas Flurschaden ist ja immer zu rechnen.“

Lester warf einen Blick auf den Ordner, den Ramona wie einen Säugling in ihrer Armbeuge wiegte. TRAINEE stand in fetten Lettern auf dem Rücken. Er hatte davon gehört, dass die Firmenleitung einen neuen Ausbildungszweig für Nachwuchskräfte ins Leben gerufen hatte. Die Azubis sollten zum Ersten starten.

„Ich sehe schon, was Sie nach Braunschweig verschlagen hat.“

„Ist das so offensichtlich?“

Er riss sich vom Gedanken an den Säugling und vom Anblick ihrer Bluse los. „Na, der Ruf der Liebe war es wohl nicht.“

Zwei Grübchen stahlen sich in ihre Wangen und setzten hübsche Akzente. „Sagen wir, ein Neuanfang.“

„Wenn Sie Tipps brauchen, für den Anfang meine ich, dann können Sie sich jederzeit an mich wenden. So eine Ausbildung ist keine Sache, die man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Da kann es schon mal hilfreich sein, sich an einen erfahrenen Hasen zu wenden. Der mit verbundenen Augen die Schikanen des Berufsalltags meistert. Im Zickzackkurs, sozusagen.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Und wo finde ich diesen Hasen?“

„In der vierten Etage. Dienst am Kunden. Das ganze Rundumsorglos-Paket.“

„Verzeihung, und der Name?“

„Hörnchen. Auch ein Nager. Fürs Erste aber gerne...“

Der Lift stoppte. Ramona Sommer kicherte, dann trat sie hinaus.

„Ich werde es mir merken“, sagte sie, bevor sie um die Ecke bog.

 

Lester rackelte gerade am Krawattenknoten, schlürfte seinen Kaffee und drückte auf den Türschließer, als erneut jemand den Fahrstuhl betrat.

Manfred Schludzinski, genannt Manni. Ihm, Lester, hatte es Manni zu verdanken, dass er vor ein paar Jahren einen Hausmeisterjob bei Telereisen ergattert hatte. Allerdings legte Manni wert auf die korrekte Berufsbezeichnung: Facilitymanager. Dass sie sich hin und wieder über denn Weg liefen, war keine Seltenheit. Die Überraschung hielt sich daher an diesem Morgen in Grenzen.

„Wie war es gestern?“, fragte Manni.

Am Samstag, gleich nach Lesters wiedergewonnener Freiheit, hatten sich die drei Freunde ein Pflichtspiel von Eintracht Braunschweig im heimischen Stadion angeschaut. Blaugelb in der Hamburger Straße. Später waren sie losgezogen, um ihre sportliche Thekentour zu absolvieren. Der Sonntag war ein absoluter Ruhetag. Sascha und Manni hatten versucht, mehr aus Lester herauszubekommen. Sie verdächtigten ihn, ein weiteres Date vor ihnen zu verheimlichen.

„Gestern?“ Lesters Denkmuskel krampfte wie in der Nachspielzeit.

„Komm schon. Die scharfe Braut auf deiner Datingseite.“

Lester betrachtete ihn streng im Profil, während er überlegte, wie viel seine Kumpel wissen konnten. Hatten sie mitbekommen, dass sich am Samstagabend noch eine Lydia gemeldet hatte? Ein gestochen scharfes Foto. Er hatte rasch zu einer Seite geswiped, dennoch hatten sich die Freunde schelmisch zugenickt. Später hatte sich herausgestellt, dass Lydia alles andere als scharf war. Eine Psychologin, die eine Feldstudie über perverse Singlemänner führte. Weshalb sie ausgerechnet auf ihn verfallen war, beschäftigte ihn die halbe Nacht. Keine Frage, dass er sie nach zehn Minuten im Eiscafé hatte sitzen lassen. Samt Rechnung, versteht sich.

„Du solltest nicht so viele Musikvideos glotzen. Das stumpft deine Rezeptoren ab.“

Manni zuckte erst die Achseln. Doch dann warf er einen letzten Blick nach draußen, bevor sich die Kabine schloss.

„Immerhin hast du auf die Neue Eindruck gemacht. Das erste Mal, dass ich sie lachen sah.“

„Welche Neue?“

„Ramona Sommer.“

Lester hob die Augenbrauen. „Du bist ihr schon einmal begegnet?“

„Rate mal, woher ich gerade komme.“ Er schwenkte eine Schablone, mit der er gewöhnlich Türschilder montierte. Auf dem Probedruck war ihr Name zu lesen.

RAMONA SOMMER. RECRUITING & HUMAN RESOURCES MANAGEMENT.

„Die neue Menschenjägerin. Frisch angefangen.“

„Ach!?“

„Nachfolgerin von Rönneberg, diesem alten Fossil. Der lebt jetzt in einer Grotte und züchtet Urzeitkrebse.“

„Ich dachte, die wäre eine Azubine.“

Manni gluckste. „Die? Wie kommst du denn darauf?“

Lester dachte an den Trainee-Ordner. Dann bemerkte er seinen Irrtum. Sie selbst hatte das Nachwuchsprogramm gestartet. Als Personalerin. Die Auszubildenden fingen erst kommenden Monat an.

„Nee, nee. Die Sommer ist bereits in der obersten Brennstufe. Für die brauchst du schon ein Hitzeschild, um dir nicht die Finger zu verbrennen.“

„Na, so eine Rakete ist sie nun auch wieder nicht.“ In Gedanken setzte er hinzu: Obwohl – als Testpilot wäre ich nicht abgeneigt, mal in die Kanzel zu steigen.

„Ist sie denn auf dem Markt?“ Lesters beiläufige Stimme klang heiser.

„Alleinerziehend, was man so hört. Auf dem Schreibtisch ist jedenfalls nur ihr Spross gerahmt.“

Der Fahrstuhl stoppte im vierten Stock. Lester war mit einem Satz über der Schwelle. „Geschmack hat sie jedenfalls. Ihr Büro ist vom Allerfeinsten“, sagte Manni. „Und ich muss es ja wissen. Durfte den ganzen Krempel herbeischleppen.“

Danach verschluckte der Metallkäfig den Facilitymanager wie ein eiserner Kröterich eine grinsende Hummel.

Kapitel 6

Um zehn Uhr rief die Chefsekretärin vom Alten an. In einer halben Stunde möge Lester Hörnchen sich beim Firmenchef einfinden. Reine Routine.

Vielleicht endlich die langersehnte Gehaltserhöhung, schmunzelte Lester. Aber warum hatte sich Brackmeyer, sein Abteilungsleiter, nicht gemeldet. Ach so, der war ja noch für zwei Wochen im Urlaub. Nicht, dass es wirklich auffiel. Brackmeyer interessierte sich für das Sachgebiet Kundendienst in etwa wie ein Schlossherr für das Gesindehaus.

Mit einem flotten Lied auf den Lippen trudelte er mit leichter Verspätung beim Vorzimmerdrachen ein. Dennoch musste er warten. Zumindest Miss Moneypenny schien das nichts auszumachen.

Dann war es so weit. Endlich fand er sich im Heiligtum von Telereisen wieder, dem salonartigen Direktorenzimmer von Ferdinand von Findeisen. Ein Trip, für den er normalerweise Schmerzensgeld verlangt hätte.

Der Big Boss liebte keine Umschweife, faltete daher seine knorrigen Hände und linste ihn über die rahmenlosen Gläser an. Zu seiner Rechten hockte Konrad Kowalsky, genannt Coco. Wegen seiner Essensausdünstungen, die gemessen an der olfaktorischen Duftskala am gegenüberliegenden Ende von Chanel Nummer fünf rangierten.

Lester stutzte. Kowalsky war der Leiter der Personalabteilung und bewegte sich nur aus seinem Büro, wenn es brannte. Er roch aber keinen Rauch. Dafür Räucherware vom Metzger.

„Herr Hörnchen“, begann von Findeisen, „unsere IT-Abteilung ist da an einer großen Sache dran. Sie wird den Kundendienst reformieren, wenn nicht gar revolutionieren.“

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 24.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6202-6

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