„Geh!“
Das Wort zerschnitt die Stille. Der Junge hob den Kopf und sah seine Mutter aus weit aufgerissenen Augen an.
„Aber Mama, ich...“
„Geh! Jetzt sofort! Ich will dich nie mehr wieder sehen!“ Die schneidende Stimme ließ den Jungen zusammen zucken. Langsam erhob er sich aus seiner zusammen gekauerten Haltung und bahnte sich einen Weg durch das verwüstete Wohnzimmer. Seine Mutter hatte sich von ihm abgewandt, alle hoffnungsvollen Blicke prallten an ihren angespannten Schultern ab.
Der Junge ließ entmutigt seinen Kopf hängen, als er merkte, dass sie es wirklich ernst meinte. Mit vorsichtigen Schritten, um ja kein Geräusch zu viel zu verursachen, schlich er durch den Raum. Mit zitternden Händen packte er ein paar Sachen in seinen Rucksack, zog sich einen Pullover über den Kopf und wandte sich zur Tür.
Mit der Hand auf dem Knauf hielt er ein letztes Mal inne.
„Ich wollte das nicht, Mami“, flüsterte er.
Die Frau zuckte zusammen, doch ansonsten reagierte sie nicht. Der Junge zog den Kopf ein und öffnete die Tür. Dann verschwand er in der dunklen Nacht.
Zur gleichen Zeit auf dem Ahlfeldt-Anwesen
„Sie kann nicht bleiben.“ Simons Entscheidung war endgültig.
„Das ist nicht dein Ernst!“, brachte Felix hervor. Er stand aufgebracht im Büro seines Rudelführers.
„Natürlich ist das mein Ernst!“ Simon fuhr herum und starrte seinem Cousin in die Augen. „Und ich kann nicht glauben, dass du es uns so lange verheimlicht hast. Du hast uns einen Bastard untergeschoben!“
„Das ist meine Schwester, über die du so redest, also pass auf was du sagst!“, knurrte Felix drohend und spannte sich an.
„Das hier ist mein Rudel, und wenn du dich meinen Entscheidungen nicht unterordnen kannst, dann ist es auch für dich an der Zeit zu gehen!“
Felix' Hände verkrampften sich um die Stuhllehne. Seine Muskeln zitterten, als er sich mit aller Macht zurück hielt. Plötzlich stieß er den Stuhl von sich, der mit einem Ohrenbetäubenden Krachen auf dem Boden aufschlug, dann wirbelte er wortlos herum und stürmte aus dem Raum.
Mit großen Schritten durchquerte er den Flur und platzte ohne anzuklopfen in Pennys Zimmer.
„Pack deine Sachen, wir müssen gehen.“ Er hielt kurz Inne, um seiner verängstigten Schwester über den Kopf zu streichen. „Es wird alles wieder gut.“
In seinem Zimmer schnappte er sich sein Handy, während er gleichzeitig wahllos Sachen in eine Reisetasche stopfte. Als er hörte, wie am anderen Ende abgenommen wurde, ließ er seinen Gesprächspartner gar nicht erst zu Wort kommen.
„Er hat es herausgefunden.“ Kurz herrschte Stille.
Dann erklang Leons Stimme: „Kommt zu uns, dann sehen wir weiter.“
Penny
Vier Jahre später
„Okay, also was wissen wir?“ Meine beste Freundin sah mich mit gezücktem Kuli erwartungsvoll an.
„Nicht viel“, seufzte ich und strich mir ratlos durch die schwarzen Haare. „Sein Name ist Joséf García, er ist mindestens 45 Jahre alt und kommt ursprünglich irgendwo aus Südamerika.“ Entmutigt starrte ich auf die kurze Liste in Janas ordentlicher Schrift. Das war alles, was ich über meinen leiblichen Vater wusste, und zwei von drei Sachen waren dazu noch ziemlich ungenau. „Irgendwo“ und „ungefähr“. Keine guten Voraussetzungen, um mit der Suche zu starten.
„Wow, du hast echt nicht übertrieben, als du sagtest, du weißt nichts über ihn“, stellte Jana schließlich fest.
Stöhnend ließ ich mich auf mein Bett zurückfallen. „Erzähl mir mal was, was ich noch nicht weiß, das wusste ich nämlich schon.“
Sie sah mich einen Moment nachdenklich. „Arschloch heißt auf Französisch enfoiré.“
„Ist klar“, grinste ich, „wieder was fürs Leben gelernt.“
Jana zuckte mit den Schultern. „Man kann nie wissen, wann man ein paar Beleidigungen gebrauchen kann.“ Das war eine Wahrheit, der ich nicht widersprechen konnte. Es war uns schon mehr als einmal zu Gute gekommen, dass Jana sechs verschiedene Sprachen fließend sprechen konnte. Oder wie sie es ausdrückte: „Für den Hausgebrauch reicht’s.“ Wie das genau kam hatte ich in den vier Jahren unserer Freundschaft immer noch nicht so ganz kapiert. Irgendwas mit einer großen Familie voller Franzosen, Spanier und Russen – fragt mich nicht, wie es zu dieser Mischung gekommen war -, die zu eigensinnig waren eine Fremdsprache zu lernen, und dazu noch der Job ihres Vaters, der als Angestellter im diplomatischen Dienst alle paar Jahre umziehen musste. Ich hoffte allerdings, nicht ganz uneigennützig versteht sich, dass der nächste Umzug noch lange auf sich warten ließ.
In den letzten Jahren hatte ich jedenfalls schon einige Familienfeiern miterlebt, die mit ihrer Verrücktheit und Lebhaftigkeit jedes Mal ein Erlebnis waren. Jana hatte so viele Cousins und Cousinen, dass in dieser Familie wahrscheinlich niemand jeden kannte.
Und obwohl ich mich bei Jana zu Hause sehr wohl fühlte, versetzte es mir auch regelmäßig einen Stich sie so zu sehen, denn das war etwas, was ich wohl selbst nie wieder haben würde. Seit vier Jahren lebten Felix und ich jetzt schon außerhalb des Rudels, als Verstoßene, Verbannte, Ausgeschlossene. Und alles meinetwegen. Obwohl, eigentlich war das Ganze ja auf dem Mist meiner Eltern gewachsen. Dementsprechend schwankten meine Gefühle bei dem Gedanken an unseren überstürzten Aufbruch – unsere Flucht – zwischen Wut und Schuld. Wut auf meine Eltern, weil sie für den ganzen Scheiß verantwortlich waren, auf Felix, weil er alles vor mir geheim gehalten hatte, und auf meine Familie, weil sie so in ihrem engstirnigen Denken gefangen waren, dass sie uns verstießen, von heute auf morgen, einfach so. Aber mit der Wut kam auch immer die Schuld, denn nur meinetwegen war Felix jetzt auch gezwungen außerhalb des Rudels zu leben. Wir Löwen waren einfach nicht dafür geschaffen, allein zu sein. Auch wenn das bei mir nur zur Hälfte zutraf.
„... jetzt weiter?“
Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. „Was?“, fragte ich verwirrt.
Jana runzelte die Stirn. „Du hast mir schon wieder nicht zugehört“, beschwerte sie sich. „Woran hast du gedacht?“
Ich sah sie entschuldigend an, was mit einem resignierenden Seufzer quittiert wurde. „Lass mich raten: Mal wieder Sachen, die ich nicht wissen darf, obwohl ich deine beste Freundin bin und es dir biologisch unmöglich sein sollte Geheimnisse vor mir zu haben?“
Ich hob ratlos die Schultern. „Ich liebe dich?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Das hasste ich so an meinem Leben. Ich gehörte weder zu den einen noch zu den anderen. Weder Gestaltwandler noch Mensch. Beim näheren drüber nachdenken war es auch nach vier Jahren noch zum Kotzen. Aber nur, weil ich nicht dazu gehörte, hieß das nicht, dass ich alle Familiengeheimnisse einfach so ausplauderte. Unter anderem, weil Felix mir dann den Hals umdrehen würde.
„Ja, ich liebe dich auch, aber können wir jetzt zum Thema zurück kehren, bevor ich mich anders entscheide?“
Ich grinste ihr zu. „Ja, Sir – äh – Ma'm!“, erwiderte ich zackig und salutierte scherzhaft.
„Etwas mehr Ernst, wenn ich bitten darf, Gefreiter Seibert! Wir sind hier nicht zum Spaß. Dies ist eine äußerst geheime und gefährliche Operation.“ Damit hatte sie leider Recht. Wenn Felix herausfand was wir hier machten, hätte er wirklich einen Grund mir den Hals umzudrehen und er würde nicht eine Minute zögern.
„Was sagt denn der werte Herr Bruder zu der ganzen Angelegenheit?“, fragte Jana hoffnungsvoll nach. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Also nichts“, seufzte sie und fuhr sich durch die kurzen braunen Haare. „War ja irgendwie klar.“
Ja, Felix, mein geliebter großer Bruder und einziger Wisser des gesamten Geheimnisses, hüllte sich in eisernes Schweigen, wann immer diese Angelegenheit zur Sprache kam. Meine Information hatte ich aus dem Wenigen zusammen gekratzt, was ich an jenem schicksalhaften Tag aus Simons Gebrüll heraushören konnte, was ungefähr das war: „Dieser Sohn einer rolligen Katze, wie kann es dieser Verräterbastard wagen, sich einer der unsrigen auch nur zu nähern...“ In diesem Stil ging es noch ein wenig weiter. Mann, ich hatte Simon noch nie so angepisst erlebt. „Ich will den Namen dieses verfluchten Jaguarbastards Joséf García in meinem Haus nie wieder hören, habt ihr das verstanden?“ Und dann hatte er uns rausgeschmissen. Einfach so, mitten in der Nacht. Natürlich war es Nacht gewesen.
Na gut, also waren das auf dem Block doch nicht alle Infos, die ich hatte, ich wusste auch, dass mein Vater ein Jaguarwandler war, aber das konnte ich Jana nicht einfach erzählen. Familiengeheimnis und so.
„Das Thema ist zu Hause so was von Tabu. Es ist als würde man mit einem Stein reden oder so. Und glaub mir, ich habe schon alles Menschenmögliche probiert.“
„Na gut, also aus Felix kriegen wir nichts raus.“ Die Braunhaarige tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippe. „Aber er ist doch bestimmt nicht der Einzige, der Bescheid weiß, oder?“
Mir blieb nichts anderes als hilflos mit den Schultern zu zucken. Klar, Simon wusste einiges, aber so wie es aussah, würde er mich nicht gerade begeistert begrüßen, wenn ich auf seiner Türschwelle auftauchte. Eher würde er mich davonjagen.
„Wer ist den Felix bester Freund? Vielleicht könnte man den ja mal aushorchen?“ Felix bester Freund war Leon, aber der würde mir garantiert nichts verraten. Und außer Leon fiel mir niemand mehr ein, der vielleicht Bescheid wissen... „Sofia“, rief ich aus und fiel Jana in die Arme. „Du bist ein Genie!“
Etwas verblüfft erwiderte sie meine Umarmung. „Danke ich weiß, aber nur noch mal zum Mitschreiben: Warum bin ich ein Genie...?“
Ich setzte mich wieder auf und strich ein paar Strähnen meines nervig langen Haares aus den Augen. Ich hatte schon öfter mit dem Gedanken gespielt, sie einfach abzuschneiden, konnte mich dann aber im Endeffekt nicht überwinden. „Leon ist Felix bester Freund und weiß garantiert was, wird es mir aber nicht sagen, eben weil er Felix bester Freund ist“, erklärte ich meine Gedankengänge.
„Und wie soll uns das jetzt...“
Mein Zeigefinger schoss in die Luft und unterbrach Janas Einwand. „Aber wenn Leon etwas weiß, dann weiß es auch Sofia und sie wird mich verstehen“, endete ich triumphierend. „Warum bin ich da nicht schon früher drauf gekommen?“
Jana zwinkerte mir mit ihren Rehaugen zu. „Na weil ich doch das Genie in unserer Beziehung bin.“
„Was habe ich nur all die Jahre ohne dich gemacht?“ Ich legte meinen Handrücken an die Stirn und ließ mich theatralisch zu Boden sinken.
Jana kicherte. „Keine Ahnung.“
Eine Weile herrschte Schweigen. Jana klapperte auf der Tastatur herum. Ich wusste nicht, ob ich von Sofia wirklich so viel erfahren würde. Ich schätzte sie nicht so ein, dass sie einfach hinter Leons und Felix' Rücken handeln würde.
Innerlich stöhnend legte ich einen Arm über die Augen. Was hatten wir noch nicht versucht? Was könnte man probieren? Wo gab es Informationen?
„Unglaublich was es im Internet für Idioten gibt“, sagte Jana in diesem Moment. „Schau dir das mal an. Wer macht sowas?“
Ich richtete mich auf und starrte meine beste Freundin ungläubig an. „Warum bin ich darauf noch nicht früher gekommen?“, rief ich aus.
Jana drehte sich auf ihrem Stuhl und zuckte mit den Schultern. „Du wurdest von Aliens entführt, die dein Gedächtnis gelöscht haben.“ Sie grinste. „Worum geht's?“
„Eine Google-Suche! Wir geben seinen Namen einfach bei Google ein! Ich meine, so viele Joséf Garcías kann es in Deutschland ja wohl nicht geben, oder?“ Begeistert sprang ich auf und stellte mich hinter sie. „Mach schon!“
„Ist ja gut!“ Sie drehte sich zum Bildschirm und öffnete eine leere Seite. „Aber ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass er gar nicht in Deutschlang leben könnte?“
Ich straffte die Schultern. „Einen Versuch ist es wert“, sagte ich entschlossen. Immer schön optimistisch bleiben. Das war wichtig.
Doch fünf Minuten später behielt Janas Realismus Recht. Es gab zwar tatsächlich nur zwei Männer dieses Namens in Deutschland, die auch im richtigen Alter waren, aber mehr konnten wir partout nicht über sie herausfinden, da ich natürlich kein einziges Foto meines Vaters besaß. So betrachtet war meine ganze Suche vermutlich sinnlos. Vielleicht sollte ich mich einfach damit zufrieden geben, keinen Vater zu haben.
Bevor sich dieser Gedanke in all seiner entmutigenden Kraft entfalten konnte klopfte es an der Tür und Janas Mutter steckte ihren schwarzen Schopf herein. „Janaschätzchen, es ist schon nach acht und du hast immer noch nicht deine Sachen aus dem Wohnzimmer weggeräumt.“ Schon nach acht? Erschrocken fuhr ich herum und ihr Blick fiel auf mich. „Ach, Penny, ich wusste gar nicht, dass du immer noch da bist. Soll ich dich nach Hause fahren?“
Ich warf einen Blick auf die Uhr und atmete aus. Es war erst halb acht. Eigentlich sollte ich inzwischen wissen, dass man Janas Mutter in Bezug auf Uhrzeiten nicht vertrauen durfte. Für sie war immer die Uhrzeit, die sie gerade brauchte. „Nee, passt schon, ich geh zu Fuß.“
„Alles klar, bis bald!“, verabschiedete sie sich und war auch schon wieder verschwunden. Diese Familie. Ich schmunzelte.
Ich begann, meine Sachen zusammen zu suchen. „Ich mach mich dann mal auf die Socken.“
Jana nickte. „Ich begleite dich noch zur Tür.“
Ohne zu zögern lief ich durch den Flur und die zwei Treppen hinunter. Ich kannte das Haus wie meine Westentasche, da ich hier normalerweise jede wache Minute verbrachte. Schnell schlüpfte ich in meine ausgetretenen Sneakers, die neben den gepflegten Schuhen der Fiores seltsam fehl am Platz wirkten. Ich gab Jana ein Küsschen auf die Wange und zog kurz darauf die Tür hinter mir zu. Auch den vertrauten Kiesweg hatte ich schnell hinter mir und wandte mich nach rechts, der eigenen Heimat zu.
Kopfschüttelnd vergrub ich meine Hände in den Taschen. Immer wenn ich von Jana kam fühlte ich mich innerlich regelrecht zerrissen. Einerseits war ich mit ihr zusammen immer gut gelaunt und richtig froh, einfach nur ein Mensch zu sein, denn anders hätte ich sie nie kennen gelernt. Aber sobald ich das Haus verließ fühlte ich mich wieder ganz einsam.
Manchmal fragte ich mich, ob derjenige, der das Sprichwort „Zwischen allen Stühlen sitzen“ zum ersten Mal ausgesprochen hatte, wohl in einer ähnlichen Situation gewesen war wie ich. So jedenfalls fühlte es sich an. Weder Mensch noch Gestaltwandler gehörte ich nirgendwo so richtig dazu. Ich fragte mich, wie meine Eltern mir das antun konnten. Ich war halb Löwe – halb Jaguar, ein Paradoxon, ein unnatürliches Wesen. So etwas wie mich sollte es überhaupt nicht geben. Wozu gab es die ganzen Regeln in unserer Welt? Rede niemals mit Menschen über deine Wandlung, freunde dich nicht mit dem Angehörigen einer anderen Rasse an, halte dich von fremden Territorien fern, respektiere die Reviergrenzen, gehorche deinem Anführer. Von klein auf wurden uns diese Richtlinien und Verhaltensweisen regelrecht eingeprügelt. Und was hatten sie genützt? Null, nada, rien.
Aber okay, dann war es halt so. Ich konnte mich nicht wandeln. Punkt. Konnte ich mit leben. War ja nicht so, dass ich mich unbedingt in eine blutrünstige Raubkatze verwandeln wollte. Aber dass mein Vater die Dreistigkeit besaß, nach meiner Zeugung einfach so zu verschwinden und noch nicht einmal auftauchte, nachdem meine Eltern brutal ermordet waren? Das war so – so – verantwortungslos!
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und atmete tief durch um meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Diese aufbrausende Ader hatte ich sowas von definitiv von der Ahlfeldt-Seite geerbt.
Das Schlimmste war eigentlich, dass ich nicht wusste warum. Warum hatte mein Vater sich nicht zu sich geholt? Warum wollte mir Feix nichts über ihn erzählen? Warum hatte er sich überhaupt mit meiner Mutter eingelassen? Und genau diesem warum wollte ich jetzt auf den Grund gehen. Darum ging es in Janas und meiner hypergeheimen Mission.
Ich fühlte mich, als würde mir etwas fehlen. Als wäre ich nicht ganz. Da war eine Seite von mir, die ich nicht kannte und das wollte ich ändern. Anders fand ich keine Ruhe.
Ich seufzte. Es sollte einfach nicht so schwer sein, ein paar Antworten zu finden. Oder?
Miguel
„Mierda!“, fluchte ich und hechtete zur Seite, um der Kugel auszuweichen. Zum Glück hatte der Schütze ohne zu zielen in die Dunkelheit gefeuert, sonst hätten mir auch meine guten Reflexe nichts mehr genützt.
Mit dem Rücken an eine Wand gepresst zog ich hastig mein Handy aus der Tasche. Das dieses vermaledeite Ding aber auch immer in den unmöglichsten Momenten losgehen musste! Bevor es mich ein weiteres Mal mit seinem verräterischen Klingeln auffliegen ließ, drückte ich den Anrufer weg und stellte auf stumm. Wer immer das war, er konnte später anrufen.
Zwei weitere Schüsse lösten sich kurz hintereinander und die Kugeln schlugen über mir in der Wand ein. Putz rieselte auf mich herab, ansonsten blieb es still. Lautlos begab ich mich in die Hocke, bereit jederzeit loszusprinten, und wartete ab. Ein leises Kratzen von suchenden Fingern an der Wand drang an meine Ohren und ich wagte einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Der Wachmann, den ich eigentlich gerade in dem spärlich beleuchteten Gang hatte ausschalten wollen, suchte mit der einen Hand nach dem Lichtschalter, während er gleichzeitig nach mir Ausschau hielt. Bevor er mich entdecken konnte zog ich meinen Kopf schnell wieder zurück. Kurz darauf flackerte grelles Neonlicht auf und tauchte meine Umgebung in hartes weißes Licht. Verärgert kniff ich meine Augen zusammen, die sich gerade erst an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, und richtete mich auf.
Ein leises Quietschen verriet mir, dass sich der Mann jetzt den Gang entlang wagte. Ich brauchte keinen Blick riskieren, um mir sein Bild vor Augen zu rufen. Nervös umher zuckende blaue Augen. Dünnes blondes Haar, das unter der lächerlichen Mütze hervorlugte. Schweißperlen auf der Stirn und vor Konzentration aufeinander gepresste Lippen. Die schwarze CZ 75 fest umklammert. Er war noch recht jung, ich schätzte ihn auf höchsten 27 Jahre und wahrscheinlich war das die erste Schicht, die er ganz alleine absolvieren musste. Etwas schreckhaft der Gute, aber immerhin wusste er seine Waffe zu benutzen. Geradezu eine Seltenheit heutzutage.
Trotzdem war er noch recht unerfahren, und das war mein Vorteil. Anstatt Unterstützung anzufordern, wie es eigentlich intelligent gewesen wäre, kam sein flacher Atem immer näher. An die Wand gelehnt erwartete ich ihn. Als ich seinen Atem schon fast in meinem Ohr spüren konnte, wirbelte ich um meine linke Achse, schlug mit der rechten Hand die Pistole weg und versetzte dem Wachmann mit der linken einen Kinnhaken. Das Geräusch Faust-auf-Kinn ging in einem sich lösenden Schuss unter, dann sackte er mit einem Stöhnen zu Boden.
Schnell trat ich die Waffe zur Seite, bevor ich mich vergewisserte, dass der Mann nicht so schnell wieder aufwachte. Der Puls ging regelmäßig, er würde außer einer Beule und einem schlechten Empfehlungsschreiben keine bleibenden Schäden zurück behalten. Außerdem war er mindestens die nächste dreiviertel Stunde ausgeknockt, so dass ich in Ruhe meinen Job erledigen konnte. Trotzdem steckte ich die Knarre sicherheitshalber in meinen Hosenbund. Wer wusste schon, was so ein menschlicher Schädel alles aushielt. Dann drehte ich den Wachmann auf den Rücken und band seine Handgelenke mit Kabelbinder zusammen.
Das alles war innerhalb einer Minute über die Bühne gegangen. Auf den Überwachungsvideos würde ich nur als dunkler Schemen ohne Gesicht erscheinen. Ich wurde nicht mehr erwischt, seit ich siebzehn war. Der größte Fehler meines Lebens und gleichzeitig der schlimmste Tag... Ich biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte. Konzentrier dich!
Mit einer geübten Bewegung rückte ich das Tuch zurecht, das meine untere Gesichtshälfte verdeckte und hielt den Kopf immer von den Kameras weggedreht. Ich war perfekt vorbereitet und dieses Wissen beruhigte mich wieder. Der Handyvorfall war ärgerlich, hatte meinen Zeitplan aber nicht gestört, wie ich mich mit einem kurzen Blick auf die Uhr versicherte. Noch minus acht Minuten.
Ich rief mir den Plan des Gebäudes vor Augen. Durch die Sicherheitstür und dann den zweiten Flur links. Der Überwachungsraum befand sich in der ersten Etage des Bürogebäudes an der hinteren Wand, direkt neben den Fahrstühlen.
Mich von Schatten zu Schatten bewegend näherte ich mich meinem eigentlichen Ziel. Zwar erwartete ich nicht noch irgendjemandem zu begegnen – laut Dienstplan sollte David Ganselman heute allein hier sein – allerdings konnte man ja nie wissen. Lieber Vorsicht als Nachsicht, wie man so schön sagte. Bei meinem ersten Blick auf die Gebäudepläne hatte ich ein Augenverdrehen nicht unterdrücken können. Wie naiv manche Menschen doch waren! Auch wenn das hier ein Provinzkaff mit einer legendär niedrigen Kriminalitätsrate war – selbst dafür waren die Sicherheitsvorkehrungen noch ein Witz!
Das kam wahrscheinlich davon, dass der Eigentümer an einem Ort aufgewachsen war, wo man die Türen und Autos nicht abschloss und jeden Nachbarn beim Namen kannte. Ich schnaubte. Als ob der Normalbürger kein Verbrechen begehen würde, nur weil man seinen Namen kannte. Über so viel Naivität und nicht vorhandene Menschenkenntnis konnte ich nur den Kopf schütteln.
Ich kontrollierte ein letztes Mal den Flur, bevor ich geduckt auf die gegenüberliegende Tür mit dem „Zutritt nur für autorisiertes Personal“-Aufdruck zu huschte. Vorsichtig drückte ich die Türklinke herunter und war ein bisschen überrascht, als ich sie abgeschlossen vorfand. Ich lächelte amüsiert. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
Ich warf noch einen kurzen Blick nach rechts und links, bevor ich mit einer geschickten Bewegung meinen Dietrichbund zückte. Es dauerte nur etwas mehr als eine halbe Minute, dann öffnete sich das einfache Zylinderschloss mit einem sanften Klicken. Ebenso leise schloss ich die Tür wieder hinter mir, nachdem ich mich versichert hatte, dass sich niemand in dem Raum aufhielt.
Der quadratische Raum wurde nur von dem blauflimmernden Licht der verschiedenen Monitore erhellt. Zwei Drehstühle standen vor den Tischen, die unter einem Wust aus Kabeln bedeckt waren. Eine halb leere Tasse stand an der einzigen kabelfreien Stelle und der unangenehme Geruch nach kaltem Kaffee stieg mir in die Nase. Überhaupt war die Luft in dem Raum nicht sehr nasenfreundlich. Es war der typische Mief von zu vielen Leuten, die zu viel Zeit hier drin verbrachten. Über dem einen Stuhl hing eine Jacke, die auch schon seit längerem keine Waschmaschine von innen gesehen hatte.
Ich ließ mich auf den freien Stuhl sinken und verschaffte mir erstmal einen Überblick. Vier Monitore zeigten gleichzeitig live die Bilder der 24 Überwachungskameras. Ich überzeugte mich schnell davon, dass der Wachmann immer noch dort lag, wo ich ihn zurück gelassen hatte. Auf den anderen Kameras waren auch keine anderen Bewegungen auszumachen. Ich hatte freie Bahn.
Ein Schrank im hinteren Teil des Überwachungsraums zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Die vielen Schubladen waren mit ordentlichen Aufklebern versehen, die eine zehnstellige Zahlenkombination trugen. Da war ich wohl an der richtigen Adresse. Schnell zog ich mein Handy und das drahtlose Headset aus meiner Innentasche. Dabei stieß ich mit den Fingerspitzen an das Videoband, das sich ebenfalls unter meiner Lederjacke verbarg. Der Grund weshalb ich heute hier war.
Ich drückte die Kurzwahltaste auf dem Handy und wählte die drei, wobei ich den verpassten Anruf geflissentlich ignorierte, befestigte das Headset an meinem rechten Ohr und steckte das Handy wieder weg, während es dreimal in meinem Ohr tutete. Dann wurde mit einem Knacken abgenommen.
„Du bist gut in der Zeit“, informierte mich Lukas' ruhige Stimme. „Hast du den Ort gefunden, wo sie die Videobänder aufbewahren?“
„Hier ist ein Schrank mit vielen Schubladen, die sind alle mit einer Zahlenkombination beschriftet.“
„Alles klar. Such mal nach 29052011. Das ist das Datum, das wir suchen.“ Schnell überflog ich die kleinen Zettel und hatte bald den richtigen gefunden. Ich zog die Schublade auf, die mit einem leisen Kratzen über die Schiene glitt.
„Hier sind mindestens fünfzig Bänder. Eher mehr“, schätzte ich.
„Stehen Uhrzeiten drauf?“ Lukas ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen. „Müssten eigentlich. Such den Zeitraum zwischen 19 Uhr abends und fünf Uhr morgens. Das musst du austauschen.“
„Alles klar“, erwiderte ich. „Melde mich wieder, wenn ich draußen bin.“
„Vergiss nicht das Ablenkungsmanöver“, ermahnte er mich noch. Darauf gab ich keine Antwort. Als ob ich den Wichtigsten Teil vergessen würde. Ich tauschte schnell die Kassette mit der Aufschrift „290511 19-5 Bg“ gegen die äußerlich nicht zu unterscheidende Kassette aus meiner Jacke aus. Dann schob ich die Schublade sorgfältig zu und setzte mich wieder an den Schreibtisch.
Ich verstand nicht viel von Computern, doch Lukas hatte mir alles beigebracht, was nötig war. Ich drückte auf die Entertaste und im Bildschirm erschien ein Feld, das mich nach meinem Passwort fragte. Aus der hinteren Hosentasche zauberte ich einen Zettel hervor, der mir eben dies verriet, und loggte mich ein.
Ich suchte in den digitalen Aufzeichnungen nach passendem Bildmaterial. Lokal wurden immer nur die Aufzeichnungen einer Schicht gespeichert, die dann bei Schichtwechsel auf die Kassetten überspielt wurden. Aber das war mir egal. Ich suchte ein Bild aus dem Eingangsbereich, auf dem möglichst viele Personen abgebildet waren und löschte ungefähr zwei Minuten Bildmaterial. Das würde sie erstmal in Schach halten. Und bevor sie merkten, dass alles nur ein Ablenkungsmanöver war, war es sowieso zu spät.
Zufrieden verließ ich das Gebäude so, wie ich es betreten hatte und stieg in mein Auto. Die Jobs, bei denen alles nach Plan lief, waren doch die Schönsten.
Auch der Motor schnurrte zufrieden, als ich das Gebiet verließ und durch die ausgestorbenen Straßen der Stadt fuhr. Erst auf der Hauptstraße schaltete ich die Scheinwerfer ein. Es warteten noch zwei Stunden Fahrt auf mich und ich überlegte, mir einfach ein Hotel zu suchen und erstmal zu schlafen. Doch eigentlich fühlte ich mich fit genug und es war besser, keine Spuren zu hinterlassen. Wenn mich keiner sah, konnte ich auch nicht mit dem Einbruch in Verbindung gebracht werden, denn wer verdächtigte schon jemanden, der gar nicht da war?
Die Augen immer noch auf die leere Landstraße gerichtet zog ich mein Handy aus der Tasche und stellte es wieder auf Vibration. Mikas würde meckern, wenn ich wieder nicht erreichbar war. Genau in diesem Moment vibrierte das Telefon in meiner Hand und ich lächelte, als ich den Namen auf dem Display sah. Ich drückte auf den grünen Hörer und ließ das schwarze Ding auf den Beifahrersitz fallen.
„Wie machst du das?“, fragte ich statt einer Begrüßung.
„Was jetzt genau?“ Mikas' raue Stimme ertönte in meinem Ohr. Glücklicherweise hatte ich das Headset dran gelassen. Ich hasste es beim Auto fahren zu telefonieren, vor allem nachts, aber so hatte ich immerhin beide Hände frei.
„Kaum denke ich an dich, rufst du auch schon an. Wird langsam gruselig.“
„Ach, das macht das Alter. Ich werde weise und vorausschauend.“ Ich schnaubte belustigt. Mikas und alt? Das ich nicht lachte. „Aber jetzt erzähl, ist alles nach Plan verlaufen?“
„Jep, keine Schwierigkeiten. Rein und raus in unter einer halben Stunde.“
„Ist das ein neuer Rekord?“
„Nein. Aber es liegt im oberen Durchschnitt.“
„Na dann. Ich erwarte dich heute Mittag zu einem ausführlichen Bericht, dann kannst du dich erstmal ausruhen. Bis jetzt ist noch nichts Neues reingekommen.“
„Alles klar.“ Ich legte auf und zog das Headset vom Ohr. Seufzend lehnte ich mich ein bisschen weiter in den bequemen Sitz. So wie ich meinen Job kannte lagen bis dahin drei neue Aufträge auf Mikas' Schreibtisch.
Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Geheimnis der Gestaltwandler von den Menschen fernzuhalten. Es war unglaublich, wie viele unvorsichtige Leute es gab. Ich hatte schon Überwachungsvideos gelöscht, auf denen sich Leute seelenruhig gewandelt hatten, ohne zu checken, dass sie beobachtet wurden. Allerdings waren das zugegebenermaßen die Ausnahmefälle. Aber es reichte auch schon, wenn die Menschen zu vertraut mit wilden Raubkatzen umgingen. Die Menschen wurden misstrauisch, schnüffelten herum und ruck zuck würde ein Jahrhunderte altes Geheimnis mir nichts dir nichts von der Technologie des 21. Jahrhunderts aufgedeckt.
Aber zum Glück gab es ja Leute wie mich, die anderen ihren Scheiß hinterher räumten.
Penny
Ich war gerade zur Tür raus, als mein Handy klingelte.
„Ja?“, meldete ich mich.
„Bist du schon los?“
„Gerade aus der Tür. Sag mal kannst du Gedanken lesen?“
„Wenn ich diese Frage beantworten würde, müsste ich dich danach leider umbringen“, erklärte Jana fröhlich. „Ich wollte nur sicher gehen, dass du nicht zu spät losgehst.“
„Ich gehe nie zu spät los“, erwiderte ich beleidigt.
Jana schnaubte. „Schätzchen, du warst in den vier Jahren, in denen ich dich kenne in 80 Prozent aller Fälle unpünktlich. Und das waren nur die, die ich mitgekriegt habe.“
Ich schüttelte den Kopf. „Du übertreibst. Das meiste waren nur zwei oder drei Minuten und das zählt nicht.“
Jana war so klug, die Diskussion nicht weiter zu vertiefen. „Wie lange fährst du?“, wollte sie wissen. Sie kannte Sofia und Leon nicht, da die beiden etwas weiter weg wohnten und eher selten bei Felix und mir auftauchten. Wenn, waren es wir, die sie besuchten und nicht umgekehrt. Es war eigentlich schade, denn das Paar spielte eine große Rolle in meinem Leben, genau wie Jana. Ich hätte sie gerne einander vorgestellt, aber irgendwie ergab sich nie eine Gelegenheit. Natürlich hatte Jana angeboten, mich zu begleiten, doch ich hatte abgelehnt. Wer wusste schon, welche Richtung das Gespräch nehmen würde, und es gab einiges, das nicht für ihre Ohren bestimmt war.
„Ich muss erstmal eine halbe Stunde mit der S-Bahn nach Lüneburg rein und dann noch fünf Stationen mit der Straßenbahn.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Insgesamt vielleicht eine Dreiviertelstunde.“
„Tja, es hat halt hauptsächlich Nachteile in so einem kleinen Ort zu leben, wie wir“, seufzte Jana. Ich bog in die nächste Straße ein, die mich direkt auf den einzigen Bahnhof der Stadt zu führte.
„Ach komm. Wir haben ein Kino und ein Café, und zur nächst größeren Stadt ist es nur eine halbe Stunde. Was willst du mehr?“
„Eine Wohnung in der nächst größeren Stadt?!“ Wir seufzten synchron. Wir hatten seit ein paar Wochen das Abi hinter uns und die heiße Phase für die Studienanmeldung lief. Wir hofften immer noch in der gleichen Stadt genommen zu werden, so dass wir die coolste WG aller Zeiten gründen konnten. Aber leider sah man mit 18 der ganzen Zukunftsgeschichte schon weniger idealistisch entgegen. Wir mussten uns langsam mit der Möglichkeit anfreunden, nicht zusammen zu ziehen.
„Hast du schon eine Antwort?“, fragte Jana. Sie hatte anscheinend die gleichen Gedanken wie ich.
„Nein. Du?“
„Nein.“ Wir seufzten wieder und schwiegen eine Weile.
Schließlich gab ich mir einen Ruck. „Wir sollten endlich aufhören uns so viele Sorgen zu machen. Es kommt, wie's kommt, ändern können wir jetzt auch nichts mehr.“ Ich versuchte meiner Stimmer einen betont optimistischen Klang zu geben, doch natürlich durchschaute Jana den Versuch.
Trotzdem stimmte sie mir zu.
„Hör mal, mein Zug kommt gerade. Ich ruf dich nachher an und erzähl dir, was ich erfahren habe, okay?“
„In Ordnung. Mach's gut.“ Ich legte auf und lief dem einfahrenden Zug entgegen, um mich weiter hinten hinzusetzen. Ich fand einen leeren Vierer und setzte meine Kopfhörer auf.
Ich wusste nicht so recht, was genau ich mir von diesem Gespräch erhoffte. Langsam kamen mir Zweifel, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, meinen Vater zu suchen. Denn offensichtlich hegte er kein gesteigertes Interesse an einer glücklichen Familienzusammenführung. Er hatte sich nie für mich interessiert, also warum sollte ich mich für ihn interessieren?
Aber da war diese leise Stimme in meinem Hinterkopf, eigentlich mehr ein Gefühl. Der drängende Wunsch meinem Erzeuger gegenüber zu stehen und endlich die weißen Flecken auf der Landkarte meiner selbst zu füllen.
Unentschlossen lehnte ich den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und sah die ersten Häuser Lüneburgs an mir vorbei ziehen. Jetzt war ich schon mal hier, da wäre es dumm wieder umzukehren.
Sofia und Leon wohnten in einer kleinen aber gemütlichen Wohnung Richtung Stadtrand. Die Straßenbahn hielt nur eine Querstraße entfernt, sodass mich kein langer Fußweg erwartete. Die Gegend war ruhig, ein paar Kinder spielten auf den Gehwegen, doch ansonsten begegneten mir nur wenige Menschen.
An dem schmalen Reihenhaus angekommen musste ich nicht nach dem Klingelschild suchen. Ich war so oft hier, dass mein Finger es ohne zu zögern fand. Ich hörte die Klingel selbst nicht, aber kurz darauf rauschte es aus der kleinen Gegensprechanlage.
„Was gibt’s?“ Ich erkannte Sofias ruhige Stimme.
„Ich bin's!“, rief ich fröhlich in das Mikrofon. Ich hatte meine nachdenkliche Laune verdrängt, sobald ich die vertraute Stimme hörte. Kurz darauf ertönte der Summer und ich drückte die schwere Tür auf.
Beschwingt sprang ich, zwei Stufen auf einmal nehmend in den dritten Stock. Die Tür war angelehnt und sobald ich sie aufschob hörte ich Sofias Stimme aus der Küche.
„Ich bin in der Küche. Hast du Hunger?“
„Immer“, erwiderte ich, streifte die Schuhe von den Füßen und trat durch die Tür zu meiner Rechten. Die Küche war gerade groß genug für einen einfachen Tisch mit einer Eckbank und zwei Stühlen und den Herd sowie diverse Einbauschränke gegenüber. Es konnten sich nicht mehr als zwei Personen dort aufhalten, ohne sich in die Quere zu kommen.
Neugierig spähte ich Sofia über die Schulter, um herauszufinden, was sie kochte.
„Nur ein paar Spaghetti“, sagte sie mit einem Zwinkern und drehte sich kurz um, um mich zu umarmen. „Schön, dass du da bist.“ Ich erwiderte ihr Lächeln und setzte mich auf die Bank, um ihr genug Platz zum Hantieren zu lassen.
„Bist du ganz alleine?“, fragte ich angelegentlich. Das wäre die ideale Ausgangssituation für ein Gespräch.
„Nein. Leon ist in noch in der Uni, aber Daniel ist gestern Abend angekommen. Er schläft noch.“
Ich zog die Augenbrauen hoch und warf einen Blick auf die Uhr. Es war 15 Uhr durch. „Das sollte mich wohl nicht mehr wundern“, bemerkte ich. „Dieser Typ schläft so oft es geht und wenn es nicht geht, dann isst er.“
Sofia lachte. „Ja, das kann man nicht abstreiten.“ Sie rührte noch ein paar Mal in ihrem Topf, dann schaltete sie den Herd aus. „So, fertiger wird’s nicht“, beschloss sie. „Kannst du eben den Tisch decken?“
Bereitwillig sprang ich auf, holte drei Teller und Besteck heraus und verteilte sie auf dem Tisch. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass Daniel bald auftauchen würde. Essen roch er zehn Meilen gegen den Wind.
Sofia lächelte über den Teller, denn auch sie kannte Daniels unheimliche Fähigkeit immer dann aufzutauchen, wenn das Essen gerade fertig war. Sie stellte die Töpfe auf den Tisch und bedeutete mir, mich zu bedienen.
Ich hatte gerade den ersten Löffel Spaghetti Carbonara im Mund, da stellte Sofia ihre Frage.
„Also, was führt dich her?“
Langsam kaute ich auf den Nudeln herum, während Sofia mich beobachtete. Wie sollte ich am besten anfangen?
„Na ja...“, begann ich zögernd. „Kennst du jemanden mit dem Namen Joséph García?“ Mit der Tür ins Haus. Ganz unauffällig, Penny!
Sie runzelte die Stirn. „Nicht, das ich wüsste. Wieso fragst du?“
Ich winkte ab. „Nicht so wichtig. Aber du bist dir sicher, dass du ihn nicht kennst? Oder Leon?“ Gespannt beugte ich mich vor. Wenn Sofia nichts wusste, gab es keine Möglichkeit mehr, wie ich meinen Vater finden könnte. Außer natürlich, Felix entschied sich auf einmal doch, mir alles zu sagen. Aber darauf konnte ich wohl bis zum Sankt Nimmerleinstag warten.
„Kann schon sein, dass Leon so einen Namen mal erwähnt hat, aber ich kann es dir nicht genau sagen.“
Ich spürte, wie meine Schultern in sich zusammen sackten und konnte nichts dagegen tun. Sofia legte ihre warme Hand auf meinen Arm und ich lächelte sie kläglich an.
„Wer ist denn dieser Joséph García, dass er dir so unwichtig ist?“
Enttäuscht stocherte ich in meinem Essen herum. Das war ein harter Schlag. Meine Suche war also zu Ende, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Ich hätte es ahnen müssen und trotzdem traf es mich unvorbereitet. Die Hoffnung war schon eine seltsame Gesellin.
„Ach weißt du“, sagte ich schließlich leise. „Er ist eigentlich niemand, nur dass er außerdem noch mein Vater ist.“ Sofia drückte meinen Arm und schwieg. Stur hielt ich den Blick auf mein Essen gerichtet und schob eine weitere Gabel Nudeln in meinen Mund. Mechanisch begann ich zu kauen und bemühte mich dabei, die aufsteigenden Tränen zurück zu drängen. Das Essen fühlte sich an wie Staub und meine Augen begannen trotzdem zu brennen.
In diese Situation polterte der ahnungslose Daniel. „Ich rieche Essen! Habt ihr mir was übrig gelassen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten nahm er Platz und schaufelte sich einen Berg Nudeln auf den Teller. Als er zur Soße greifen wollte, bemerkte er mich. „Penny! Schön, dich zu sehen, was führt dich in diese bescheidene Bude?“
Ich atmete tief durch und fuhr mir unauffällig über die Augen. „Ich...“, meine Stimme wackelte kurz, bevor ich sie wieder unter Kontrolle hatte, „ich wollte mich einfach mal wieder hier blicken lassen.“ Ich merkte selber, wie wenig überzeugend ich klang, trotzdem lächelte ich meinen Cousin an.
„Ah ja“, erwiderte er auch schon skeptisch. „Und jetzt die Wahrheit, bitte!“ Er milderte seine scharfen Worte mit einem Zwinkern ab.
Ich sah wieder auf meine Nudeln, die inzwischen schon wieder ganz kalt waren. „Ich suche meinen Vater und hatte gehofft, dass Sofia mir helfen könnte, aber sie weiß auch nichts.“ Besser ich brachte es schnell hinter mich, damit Daniel mir einen mitfühlenden Blick zuwerfen und dann das Thema wechseln konnte. „Deshalb muss ich mit der Suche aufhören, bevor sie angefangen hat.“
Zu meinem Erstaunen antwortete Daniel nicht mit Mitgefühl, wie ich mit einem schnellen Blick feststellte, sondern tippte nachdenklich mit dem Löffel gegen seine Lippen. „Tja, ich denke, ich kenne jemanden, der dir helfen kann“, sagte er schließlich mit einem nachdenklichen Blick.
Mit einem Ruck setzte ich mich auf und starrte ihn an. „Dein Ernst?“
„Ja, ich denke, er kann dir helfen“, entschied Leons Zwillingsbruder und wickelte ein paar Spaghetti um seine Gabel.
„Wer?“, wollte ich ungeduldig wissen.
„Lass mich erst aufessen, dann zeige ich es dir.“ Mit einem frustrierten Seufzer lehnte ich mich zurück. Ausgestochen von einem Teller Spaghetti! Ich wollte, jetzt wo es einen Lichtblick gab, am liebsten so schnell wie möglich loslegen, doch Daniel ließ sich durch nichts und niemanden vom Essen abhalten.
Eine halbe Stunde und drei Teller Nudeln später folgten Sofia und ich Daniel ins Wohnzimmer zu seinem Laptop. Der Raum wirkte sehr vollgestopft mit zwei Sofas, einem Fernseher und einem Bücherregal. Überall stand Dekozeugs herum und schuf eine gemütlich-chaotische Atmosphäre.
Gespannt wie ein Flitzebogen saß ich neben Daniel und sah zu, wie er seinen Laptop öffnete und ins Internet ging. Welche geheimen Websites hatten die Gestaltwandler wohl? Mit Argusaugen verfolgte ich jeden Buchstaben, den er eingab – und runzelte verwirrt die Stirn.
„MeinVZ?“, fragte ich verwirrt nach. „Ich dachte, du wolltest jemandem...“
Daniel hob die Hand, um mich zu unterbrechen und gab sein Passwort ein. „Wer braucht schon eine geheime Website, wenn er MeinVZ hat?“ Er grinste mich an. „Freiwillig ist da heutzutage doch sowieso niemand mehr.“
Ich schnaubte. „Zurecht!“
Daniel zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, aber das gibt uns die Möglichkeit auf einfache Art und Weise zu kommunizieren.“ Ohne meinen skeptischen Blick zu beachten klickte er sich in eine Gruppe mit dem kreativen Namen „Gesucht/Gefunden“ und erstellte einen neuen Post.
„Was ist das für eine Gruppe?“, wollte Sofia wissen, die sich auf Daniels Schulter gestützt ebenfalls über den Computer beugte.
„Offiziell sucht man hier ehemalige Klassenkameraden“, erklärte Daniel, während seine Finger über die Tasten huschten. „Aber wenn man weiß wie, kann man hierüber mit den Privatdetektiven der Gestaltwandler in Kontakt treten.“ Er drückte schwungvoll auf Enter und lehnte sich zurück. Neugierig ließ ich meine Augen über das Geschriebene wandern. Suche Ben Maier, Abschlussjahrgang 1993, Oberschule Gemlingen. „Jetzt müssen wir nur noch auf die richtige Antwort warten.“
„Und wer genau antwortet uns da?“, wollte ich gespannt wissen.
„Niemand, den du kennenlernen solltest.“
Erschrocken fuhren wir herum. „Felix! Was machst du denn hier?“, rief ich aus.
„Ich besuche meinen besten Freund und dachte, ich tue dir einen Gefallen und nehme dich mit zurück. Damit du nicht mit dem Zug fahren musst.“
„Danke, das ist aber lieb von dir!“ Ich strahlte ihn an.
„Ja, kein Problem. Ich wollte so um drei wieder los. Ist das okay für dich?“ Ich nickte. „Ach und Penny? Es ist mir Ernst damit. Vergiss die Website. Diese Typen sind gefährlich und ich will nicht, dass du irgendwas mit ihnen zu tun hast, ist das klar?“ Damit drehte er sich um und verließ den Raum.
Seufzend lehnte ich mich zurück. Na toll.
Miguel
Ich wurde viel zu früh wieder von meinem Telefon geweckt. Warum hatte ich mir dieses Teil nochmal angeschafft? Ach ja, Arbeit, Geld verdienen. Fünf Stunden Schlaf sagte mein Wecker, das war genug um zu überleben, aber zu wenig, um richtig ausgeschlafen zu sein. Wussten diese Hunde nicht, dass es auch Wesen mit erschöpflichen Energiereserven gab?
„Was!“, knurrte ich in mein Handy und hievte mich gleichzeitig aus dem Bett.
„Immer wieder schön, deine entzückende Stimme zu hören, Miguel“, zwitscherte Maren mir ins Ohr. „Ich habe hier einen Notfall, der ein bisschen mehr Körpergröße erfordert.“ Ich brummte als Antwort nur, doch Maren hatte mich schon zu oft in unausgeschlafenem Zustand erlebt, um sich davon noch irritieren zu lassen. „Am besten du wirfst dich gleich in deine heißen Shorts und kommst so schnell es geht in den Königsgarten. Mikas lässt dir sagen: Erst beißen, dann reden. Wir haben da ziemlich starke Energien gemessen.“
„Konntet ihr die Art feststellen?“ Ich zog mir einen Hoodie über und schlüpfte in meine abgetragenen Chucks. Mit einem Griff beförderte ich Schlüssel und Portemonnaie in meine Hostentaschen, dann zog ich meine Wohnungstür hinter mir zu und eilte die Treppen nach unten.
„Nicht genau. Es handelt sich auf jeden Fall um eine Gruppe von fünf Wandlern, keine Raubtiere. Vielleicht eine Herde junger Hengste, kann ich nicht so genau sagen. Du sollst sie bloß in Schach halten, bis die anderen kommen. Dennis und sein Team sind schon auf dem Weg, aber die brauchen noch zehn Minuten. Da der Park bei dir gleich um die Ecke ist, meinte Mikas, ich soll dich anrufen, damit...“
„Alles klar, hab's verstanden“, würgte ich die Frau ab und bog um die letzte Ecke. „Ich seh den Park schon, melde mich später.“ Damit legte ich auf und joggte die letzten paar Meter zum Parkeingang. Zum Glück war dieser Morgen etwas kühler als üblich, sonst wären hier um neun Uhr schon mehr Menschen zu sehen. So begegnete ich allerdings keiner Menschenseele. Wenigstens hatten sich diese Dummköpfe eine gute Zeit für ihre Leichtsinnigkeit ausgesucht. Wenn es für so etwas überhaupt eine gute Zeit gab.
Am Parkeingang sog ich erstmal tief die Luft ein. Ein schaler Geruch nach Schweiß stieg mir in die Nase. Jogger, menschlich, Mann, identifizierte ich problemlos. Zwei Stunden alt. Darüber konnte ich noch eine weitere Duftspur wahrnehmen. Dunkler. Menschengeruch, vermischt mit getrocknetem Gras und einer scharfen Note. Eindeutig zwei Gestaltwandler. Pflanzenfresser, wie Maren sagte. Ihr Geruch war frischer. Höchstens eine halbe Stunde alt, entschied ich.
Nachdem ich mir den Geruch gut eingeprägt hatte, schlug mich vom Hauptweg ein, zwei Meter in die Büsche, wo ich mich routiniert meiner Kleidung entledigte. Dann wandelte ich mich und verscharrte die Klamotten am Fuße eines Baumes. Schnell markierte ich den Baum und wandte mich dann dem eigentlichen Problem zu.
Meine geschärften Sinne wiesen mir die Richtung, während ich mich lautlos durch das Unterholz bewegte. Die Duftspur hing deutlich über dem Weg. Je weiter ich ihr folgte, desto deutlicher wurde sie. An einer Gabelung stieß ein weiterer Wandler zu den beiden und bald darauf zwei weitere, die sich gemeinsam weiter bewegt hatten. Die Anzahl stimmte also schon mal. Während ich der Spur weiter folgte hinterließ ich immer wieder Markierungen für das nachkommende Team, indem ich absichtlich an Baumstämmen entlang streifte.
Auf einer Lichtung am Ostende des Parks trieb ich drei Minuten später endlich die Idioten auf, die mich meinen Schlaf gekostet hatten. Es war tatsächlich eine Gruppe junger Pferde, zwei Stuten und drei Hengste, die sich da ausgelassen vergnügten. Mein Nicht-Kenner-Auge identifizierte sie als Ponys, doch mehr konnte ich zu ihrer Rasse nicht sagen. Sie waren, dem Geruch nach zu urteilen, nicht verwandt und ihr Deckhaar schimmerte in verschiedenen Brauntönen. Ich beobachtete ihr ungestümes Gebaren eine Weile, ohne dass die fünf mich bemerkten, da ich gegen den Wind gekommen war. Vor allem die Hengste führten sich auf. Schnaubend schüttelten sie ihre Mähnen, warfen Köpfe und Beine in die Luft oder stiegen sich gegenseitig an. Kurzum: Sie bemühten sich ziemlich offensichtlich ihren Weibern zu imponieren. Die wiederum schienen sich dessen sehr wohl bewusst zu sein. Immer mal wieder stießen sie die Hengste neckisch in die Seite oder knabberten an ihrem Mähnenansatz, bevor sie wiehernd davon trabten und die Köpfe zusammen steckten.
Da sie nicht so aussahen, als würden sie sich demnächst wegbewegen, kletterte ich geschickt auf den Baum zu meiner Rechten und prüfte von dort die Luft in alle Richtungen. Keine Menschen in der Nähe, soweit ich das beurteilen konnte.
Ich beschloss, das Ganze von meiner erhöhten Position aus zu beobachten. Kontrollierend die Nase in die Luft gereckt, um jeden Menschen rechtzeitig zu bemerken, überwachte ich die tobenden Ponys.
Ich musste nicht lange auf Dennis warten. Sein Team pirschte sich in Menschengestalt an die Lichtung heran, auch wenn sie sich darum eigentlich keine Sorgen machen mussten. Die Unruhestifter achteten sowieso nicht auf ihre Umgebung.
Sobald das Team unter mir ankam machte ich einen geschmeidigen Satz auf den Boden. Zwei Neulinge zuckten erschrocken zusammen. Sie hatten sich wohl noch nicht recht an mich gewöhnt. Dennis nickte mir ruhig zu.
„Wir übernehmen von hier, danke für die schnelle Reaktion. Mikas erwartet dich in der Hütte.“
Stumm verschwand ich zwischen den Bäumen.
„Unheimlich“, hörte ich einen der Jungs flüstern.
„Ja, da kriegt man echt `ne Gänsehaut.“
„Los Jungs, machen wir uns an die Arbeit“, brummte Dennis. Dann war ich außer Hörweite.
Die Hütte war eine etwas irreführende Bezeichnung für unser Hauptquartier. Es befand sich im Keller eines Hochhauses, den man nur durch den Seiteneingang in einer selten beleuchteten Gasse betreten konnte. Sollte es jedoch trotzdem mal ein Mensch schaffen, an allen Sicherheitsvorkehrungen vorbei zu kommen, würde er denken, sich einfach nur in den Hausmeisterberreich verlaufen zu haben. Ein grauer Gang führte zu grauen Türen mit Aufschriften wie „Zutritt nur für autorisiertes Personal“.
Doch der erste Eindruck täuschte. Schon seit ich die Gasse betreten hatte verfolgten gut versteckte Kameras jeden meiner Schritte. Ich ignorierte die ersten beiden Türen. Sie waren abgeschlossen, doch selbst wenn man sie aufbrach erwartete einen dahinter bloß eine stinknormale Abstellkammer.
Ich steuerte die dritte Tür auf der rechten Seite an und verschaffte mir mit meinem Perso Zutritt. Bei meiner Einstellung hatten die Leute von der IT ihn so manipuliert, dass er zwar nach außen hin unverändert schien, jedoch von einem speziell designten Scanner problemlos erkannt wurde.
Mit einem unhörbaren Klicken öffnete sich die Tür und ich atmete tief durch, bevor ich sie öffnete.
Wie immer herrschte geordnetes Chaos in der Hundehütte, wie ich sie gerne nannte. Leute rannten zwischen den einzelnen Tischen hin und her, wedelten mit Zetteln in der Luft herum oder versuchten quer durch das Büro eine Unterhaltung zu führen. Hunde waren solche Energiebündel! Auf dem Weg zu Mikas‘ Schreibtisch wurde ich mehr als einmal angerempelt. Auch daran hatte ich mich nach drei Jahren noch nicht wirklich gewöhnt.
Dementsprechend angenervt stieß ich die Tür zu Mikas‘ abgetrenntem Büro zu und ließ mich auf den Besucherstuhl fallen. „Bringen wir es hinter uns“, knurrte ich.
Mein Boss sah mich mitfühlend an. „Nicht genug Schlaf?“, fragte er und im Gegensatz zu einigen anderen aus dem Rudel kam seine Frage ohne spöttischen Unterton. Trotzdem sparte ich mir eine Antwort. Zum Glück war Mikas schon zu viel in der Welt herum gekommen, um sich davon irritieren zu lassen. „Alles klar. Danke nochmal für deine schnelle Reaktion gerade eben.“
Ich winkte ab. „Aber das nächste Mal würde ich lieber noch eine halbe Stunde länger schlafen.“
Mikas stieß sein kurzes bellendes Lachen aus. „Ich werde mal sehen, was sich einrichten lässt. Aber jetzt will ich erstmal deinen Bericht von heute Nacht hören.“
In kurzen präzisen Sätzen beschrieb ich den Verlauf des Auftrages. Mikas stellte ein paar Rückfragen, war aber ansonsten mit meiner Zusammenfassung zufrieden. Er schloss die Akte und legte sie auf den Stapel der abgeschlossenen Fälle, der immer kleiner zu sein schien, als der der unbearbeiteten.
„Na dann schauen wir mal, was wir hier noch so für dich finden.“ Mikas machte sich daran die Akten der unbearbeiteten Meldungen durchzublättern. Ich konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem Mikas nicht voller Enthusiasmus an seine Arbeit herangegangen war. Auch wenn sein hageres Gesicht und seine harten Augen ein deutliches Zeugnis seiner schweren Vergangenheit waren, ging er mit einer Freude durchs Leben, die diese Erinnerungen Lügen strafte. Manchmal wünschte ich mir diese Freude auch und ich beneidete ihn darum, dass er anscheinend vergessen konnte.
Vielleicht würde es mit dem Alter von ganz alleine kommen. Ich schätzte Mikas auf Ende Dreißig, doch wenn ich ganz ehrlich war, konnte ich das bei Hundwandlern nie so genau sagen. Vor allem das Alter von Mischlingen, wie Mikas einer war, war schwer festzulegen. Doch egal, wie alt er war, er hatte es weit gebracht. Von den Straßen Berlins zur Leitung einer Organisation wie dieser war es kein Katzensprung.
„Da haben wir es ja!“ Mit diesem Ausruf zog Mikas eine der braunen Mappen aus dem Stapel. „Ich weiß, dass das nicht dein Spezialgebiet ist, aber ich glaube, in diesem Fall von Kundenbetreuung könnte deine Körpergröße durchaus von Vorteil sein.“ Er reichte mir die Akte und ich sah mir das bis dato einzige Blatt an. Eine Internetanfrage. Jemand suchte nach einem Verwandten. Ich sah auf die Angaben zum Kunden und stöhnte auf.
„Löwen?! Dein Ernst?“
„Absolut. Deshalb schicke ich dich ja. Und ich möchte dich bitten, mich immer auf dem Laufenden zu halten. Das könnte sich zu einem kritischen Fall entwickeln“, erwiderte mein Boss.
„Kritisch? Seit wann ist das recherchieren von Löwenstammbäumen noch etwas anderes außer zeitraubend?“ Die Löwen waren für ihre weit verzweigten Stammbäume bekannt. Da konnte es schon mal ein paar Tage und tausende von Telefonaten dauern, bis man die richtige Person ausfindig gemacht hatte.
„Daran hat sich nichts geändert“, grinste Mikas. „Aber sie suchen ja auch gar nicht nach einem Löwen. Guck nochmal genauer hin.“
Stirnrunzelnd las ich mir die Anfrage durch. Name des Gesuchten: Joséf García, Alter: ca. 45 Jahre. Ich schnaubte verächtlich. Circa 45. Mit so einer Angabe konnte man ja toll arbeiten.
„Lies weiter“, wies mich Mikas an.
Ich seufzte. Geburtsort: Südamerika. Größer konnten sie das Gebiet wohl nicht machen. Rasse: Jaguar. Ich sah verwirrt auf. „Warum sollten Löwen einen Jaguar suchen?“
„Keine Ahnung. Aber das macht den Fall besonders interessant.“ Er zwinkerte mir zu. „Ich möchte, dass du dich mit Lukas zusammen tust und ein bisschen Hintergrundrecherche betreibst, bevor du dich mit dem Kunden in Verbindung setzt und einen Termin ausmachst.“
Ich nickte langsam. Das war wirklich eine kuriose Anfrage. Ich stand auf. „Dann mache ich mich mal an die Arbeit.“
Lukas‘ Schreibtisch befand sich ganz hinten, sodass ich wenigstens nicht direkt im Chaos sitzen musste. Als ich dort ankam, war nur ein blonder Schopf über der Schreibtischkante zu sehen. Ich zog mir den Schreibtischstuhl heran und ließ mich ungefragt darauf nieder.
„Komm schon, Kleines“, murmelte der blonde Schopf, zu dem ich jetzt auch den restlichen Körper sehen konnte. Lukas hockte vor seinem Computer und fummelte an den Anschlüssen herum. Sein Fuß tippte wie immer in einem nervösen Rhythmus auf den Boden. Kein Wunder, dass seine Turnschuhe so aussahen, als hätte er sie von der Müllhalde mitgehen lassen.
Lukas war wohl das, was einem Freund am nächsten kam. Im Gegensatz zu den Hunden, arbeitete ich am besten alleine. Lukas war meine Rückendeckung aus der Zentrale, der mich immer mit den neusten Infos eindeckte und auch sonst meine Einsätze koordinierte. Trotz seiner nervösen Natur war er der einzige Hundwandler neben Mikas, der nicht zusammen zuckte, wenn ich unerwartet irgendwo auftauchte. So wie jetzt auch.
„Ah, Miguel, dich habe ich schon erwartet.“ Er tauchte unter seinem Schreibtisch hervor und hämmerte ein paar Mal auf seine Tastatur ein. „Na geht doch“, murmelte er erfreut, als der Bildschirm aufleuchtete. „Ich habe gerade ein neues Update auf meinen PC gezogen und er hat ein bisschen rumgezickt, aber jetzt geht alles wieder“, strahlte er in meine Richtung.
„Schön“, brummte ich unbeeindruckt. „Ich nehme an, du weißt, worum es geht?“
„Jap, Mikas hat mir gleich heute Morgen die Datei geschickt. Kundenname ist Penelope Seibert. In unserer Datenbank ist zu dem Namen keine Eintragung vorhanden. Aber Daniel Ahlfeldt, der die Anfrage in ihrem Namen gestellt hat, ist uns kein Unbekannter.“ Lukas öffnete ein Dokument. Oben rechts war ein Foto zu sehen. Wilde blondbraune Haare und braune Augen – typische Merkmale eines Löwen. Er war 23 Jahre alt und hatte im Moment keinen direkten Rudelanschluss.
„Ein Unruhestifter?“, fragte ich.
„Nicht unbedingt. Er wurde nie verhaftet. Allerdings hat sein Bruder – Zwillingsbruder – eine menschliche Lebensgefährtin. Außerdem gehören die beiden zum Ahlfeldt Rudel. Recht einflussreiche Familie, obwohl sie in den letzten Jahren sehr zurück gezogen gelebt haben. Penelope…“ Er gab weitere Befehle ein und ein neues Fenster öffnete sich. „Ah, da haben wir es ja. Genau, sie und ihr Bruder… Felix, die beiden sind Cousine und Cousin vom Oberhaupt der Ahlfeldts. Vor vier Jahren haben sie sich allerdings vom Rudel getrennt. Gründe kann ich jetzt auf die Schnelle keine finden.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Mich interessiert viel mehr, warum sie einen Jaguar suchen. Unsere Rassen pflegen nicht gerade eine freundschaftliche Beziehung.“
Lukas kratzte sich ratlos hinter dem Ohr. „Da kann ich dir leider nicht weiter helfen. Ich kann nochmal eine Internetsuche nach Penelope starten, mal sehen was dabei so heraus kommt. Aber vermutlich ist es das Einfachste, du redest einfach mit ihnen.“
„Hmpf“, machte ich nicht sehr begeistert.
Lukas lachte. „Was Mikas sich wohl dabei gedacht hat, dich auf diesen Fall anzusetzen? Wo du doch tatsächlich mit der Kundin reden musst!“
Ich boxte ihn leicht in die Schulter. „Kannst ja mitkommen, wenn du es mir nicht zutraust, ein Gespräch zu führen.“
„Nein, danke“, lehnte mein Kollege ab. „Aber du kannst ja mal Jeremy fragen. Der hat grad nichts zu tun.“
Texte: SassiX
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die zwischen Stühlen sitzen.