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Prolog

Vier Jahre zuvor

Der Waldboden war durchtränkt von Blut, die Luft erfüllt von Schreien. Kampfgeschrei. Es war fast vorbei, eine der Parteien schon auf dem Rückzug. Am Waldrand, der die Grenze markierte, standen sich zwei Männer gegenüber.

Das Gesicht des einen war blut- und tränenverschmiert, das des anderen hassverzerrt. Schweigend starrten sie sich an, während um sie herum die letzten Kämpfe tobten. Im roten Licht der Abendsonne blitzten scharfe Krallen und gebleckte Zähne glänzten blutrot.

Der ältere der Beiden brach zuerst das Schweigen. "Es ist noch nicht vorbei. Du wirst büßen für das was du mir angetan hast. Du und dein Abschaum von Vater!"

Das Gesicht des Jüngeren blieb unbewegt als er seinem Gegenüber mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Der Hass  wich so etwas wie Erstaunen als der Mann sich an die Nase fasste.

"Wow, so viel Mumm hätte ich dir gar nicht zugetraut, Kleiner."

"Runter von meinem Land! Und wag es ja nicht jemals wieder einen deiner dreckigen Füße darauf zu setzen", knurrte der jüngere Mann.

Der andere sah sich um. "Dieses Mal magst du gewonnen haben, Kleiner, aber ich werde wiederkommen und holen was mir zusteht. Das ist ein Versprechen!" Damit drehte er sich um und verschwand in der anbrechenden Dämmerung. Und wie auf ein geheimes Zeichen wandten sich die Gegner ab und folgten ihm.

Ein Löwe trat neben den zurückgebliebenen Sieger.

"Ich hätte ihn töten sollen."

1 Der erste Eindruck

Sofia

In eine neue Klasse auf einer neuen Schule in einer neuen Stadt zu kommen ist keine schöne Situation. Aber nach dem dritten Mal wird es irgendwie Routine. Du stellst dich vor die Klasse sagst brav deinen Satz. "Hi, ich bin Sofia und bin 17 Jahre alt." Du beobachtest wie zwanzig Leute sich eine Meinung über dich bilden. Wie sie dich in irgendwelche Schubladen stecken. Dann erbarmt sich der Lehrer deiner und zeigt dir einen Platz, wo du dich hinsetzen kannst.

Hier war es nicht anders. Als ich mich endlich auf einen Stuhl setzen konnte hatte ich schon ein Gespräch mit dem Schulleiter und dem Vertrauenslehrer hinter mir. Ich wollte einfach nur in die Klasse und kein Aufsehen erregen. Was natürlich unmöglich war. In so einem verschlafenen Nest wie diesem direkt an der Nordsee außerhalb der Sommersaison gab es nichts interessanteres worüber die Leute sich das Maul zerreißen konnten. Wenigstens war ich nicht mitten im Schuljahr hergekommen. So konnte ich in der Aufregung des Schulbeginns ein wenig untergehen.

Und leider bot meine Gestalt ja auch genug Stoff für Gerüchte. Ich bin eine Waise und die Meiers waren schon meine sechste Pflegefamilie. Und wahrscheinlich nicht die letzte. Andere würden mich vielleicht als anspruchsvoll und undankbar bezeichnen. Aber wieso sollte ich etwas für jemanden tun der sich einen Dreck um mich kümmerte und sich nur um den staatlichen Zuschuss sorgte? Die Hoffnung auf eine vernünftige Pflegefamilie hatte ich schon längst aufgegeben.

Dein Mitleid kannst du dir allerdings sparen. Das hier soll keine 'armer-schwarzer-Kater'-Story werden. Das hier ist die Realität und da gibt es keinen der dir den Kopf tätschelt und sagt: "Alles wird gut". In der Realität bist du ganz allein.

Keine Angst, man gewöhnt sich dran.

Jetzt kannst du dir vielleicht vorstellen wie ich mich fühlte als ich da auf diesem Stuhl saß und von zwanzig neugierigen Schülern mehr oder weniger unauffällig angestarrt wurde. Ich tat so als würde ich es nicht bemerken, darin bin ich echt gut, und kritzelte auf meinem Block herum.

Was soll's lange werd ich hier sowieso nicht bleiben. Noch ein Jahr, dann brauch ich keinen mehr.

Ach ja, 18 das magische Alter. Nur noch etwas mehr als ein Jahr trennte mich von meiner Unabhängigkeit. Dann konnte ich tun was ich wollte. Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken. Auf zur nächsten Stunde. Ich ließ mich von den anderen aus dem Raum drängeln. Auf dem Gang kramte ich einen zerknitterten Stundenplan heraus und versuchte durch das Gewirr aus Namen und Räumen durchzusteigen. Wenn ich das richtig interpretierte musste ich als nächstes zu SP (Sport?? Spanisch??) in T II (Turnhalle?? Das würde die Sport-Theorie unterstützen) bei El (wer auch immer das sein sollte). Ich muss wohl ziemlich verwirrt ausgesehen haben, denn ein blondes Mädchen fragte: "Soll ich dir helfen? Diese Stundenpläne können auch für Eingeweihte ziemlich kryptisch sein." Ihr freundliches Lächeln sagte mir, dass ich hier die Fremdenführerin der Schule kennen lernte, aber immerhin hatte sie einen gewissen Sinn für Humor und schien sich auszukennen. Also versuchte ich es mit einem Lächeln. "Gerne, danke. Ich bin übrigens Sofia."

"Ich bin Nina. Dann lass mal sehen. Genau, du hast jetzt Sport in der Turnhalle. Hey ich glaube wir sind im gleichen Kurs. Komm ich zeig dir den Weg." Da lief sie auch schon los, ohne allerdings ihren Redefluss zu unterbrechen. So kam ich in den Genuss einer exklusiven Führung inklusive aller möglichen Informationen über Leute mit Namen wie Clarissa ("Sie ist sooo schön!") und Joel ("Mein Freund!"). Nach den ersten drei Sätzen schaltete ich ab, froh nichts sagen zu müssen. Der Weg zur Sporthalle gestaltete sich überraschend kompliziert, allerdings hegte ich den Verdacht Nina nutzte alle Umwege die es gab. Schließlich erreichten wir den großen Betonklotz, außen grau, innen ein undefinierbares gelb, und zogen uns um. Entweder waren wir wirklich spät dran oder in diesem Sportkurs gab es keine Mädchen, denn wir waren ganz alleine in der Umkleide. Nur ein paar Taschen überzeugten mich von der Existenz menschlicher Wesen.

"Was für ein Sportkurs ist das eigentlich?", unterbrach ich Nina, während dem Schuhe zubinden. Dass ich meine Sportsachen mitbringen sollte stand extra in der Mail, die ich von der Schule bekommen hatte. Bloß keinen Unterricht verpassen! Jippieh. Aber daran mir den Stundenplan zu erklären hatten sie natürlich nicht gedacht. Die Helden.

"Fußball", antwortete sie ehrlich erstaunt. "Hast du deine Kurse denn nicht selbst gewählt?"

"Ich glaube sie haben mich einfach in den Kurs mit den wenigsten Teilnehmern gesteckt", erwiderte ich achselzuckend. Eigentlich wollte ich lieber schreien! Ausgerechnet Fußball! Von allen Sportkursen, warum ausgerechnet dieser?! "Ist mir auch eigentlich egal. Lass uns gehen." Nach diesem kurzen Wortwechsel übernahm Nina wieder das Reden, was mir eine gute Gelegenheit verschaffte die Schüler meines Kurses zu mustern bevor sie mich bemerkten. Ich unterteilte sie in drei Gruppen: Da waren erstmal die ganz normalen durchschnittlichen Schüler. Sie waren die größte Gruppe. Dann gab es da die angehenden Models die sich angelegentlich auf einer Bank räkelten und lauthals kicherten, um den Sportskanonen am anderen Ende der Halle zu imponieren. Ich war mir fast sicher, dass sie einen Fußball noch nicht mal erkennen würden, wenn er vor ihnen läge. Vom Abseits ganz zu schweigen. Nina machte mich währenddessen mit zwei unscheinbaren Jungen bekannt. Ihre Namen gingen zur einen Seite rein und zur anderen wieder raus. Ich nickte und lächelte brav zu allem was sie sagten und hoffte, dass sie keine Fragen stellten. Schließlich kam der Lehrer rein und rief alle zu sich.

Der Lehrer ließ eine Ansprache vom Stapel, wie wichtig es sei, dass sich dieses Jahr alle anstrengten, denn da war irgendein Turnier oder so. Dann kam er irgendwann auch zu meiner Wenigkeit.

"Du bist Sofia, richtig?" Ich nickte knapp. Treffender hätte ich es auch nicht ausdrücken können.

"Hast du schon irgendwo in einem Verein Fußball gespielt?"

"Schon, aber das ist jetzt einige Jahre her."

"Das macht nichts, dann sind dir ja wenigstens die Regeln bekannt." Sein Blick wanderte zu den drei Models auf der Bank. Er hatte offensichtlich bei ihnen die gleichen Gedanken wie ich. Ich lächelte ihm mitfühlend zu. Solche Leute waren echt unerträglich.

"Na gut, dann wollen wir mal anfangen", sagte der arme Mann in einem bemüht motivierenden Ton. "Schnappt euch zu zweit einen Ball und wärmt euch ein bisschen auf. Leon würdest du dich ein bisschen um Sofia kümmern? Hilf ihr mal ihre eingerosteten Talente wiederzuentdecken." Den enttäuschten Gesichtern der Mädchen konnte ich entnehmen, dass Leon wohl der gut aussehende coole Typ war, den es auf jeder Schule zu geben scheint. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass es einen Grund geben musste warum die Pseudo-Models in diesem Kurs waren.

Nina warf mir einen entschuldigenden Blick zu und suchte sich einen anderen Partner. Ich drehte mich mit einem innerlichen Seufzer und auf das Schlimmste gefasst nach schräg hinter mir um, wo das leicht genervte "Okay" hergekommen war. Der erste Gedanke, der mir bei Leons Anblick durch den Kopf schoss – und ich bin wirklich nicht stolz darauf – war: Verdammt, sieht der gut aus! Zerwuschelte blonde Haare fielen in ein scharf geschnittenes Gesicht. Seine braungrüngelben Augen musterten mich irgendwie herablassend.

Ich starrte herausfordernd zurück. Der sollte sich nicht einbilden, ich würde ihn genauso anhimmeln wie alle anderen. Okay, zugegeben, er sah echt richtig gut aus. Hatte eindeutig den Körperbau eines Sportlers und das zugehörige Selbstbewusstsein. Ich konnte mir vorstellen warum alle ihn bewunderten. Die Menschen heutzutage waren so oberflächlich. Na ja, waren wir wahrscheinlich schon immer gewesen. Aber nicht mit mir. Ich bildete mir gerne ein da drüber zu stehen. Von diesen oberflächlichen Betrachtungen abgesehen hatte Leon allerdings auch so eine angespannte Körperhaltung, als wäre er immer auf der Hut. Immer bereit zu reagieren. Wie ein Raubtier, überlegte ich und ein leichter Schauer lief mir über den Rücken. Was für ein seltsamer Gedanke. Aber im Dunkeln wollte ich ihm trotzdem nicht. Etwas wie Überraschung blitzte in seinen Augen auf, als ob er meine Gedanken gehört hätte. Als ob ich etwas gesehen hatte, was ich nicht sehen sollte. Was natürlich lächerlich war. Wahrscheinlich sah ich aus wie eine angriffslustige Katze oder so was. Kein Wunder, dass er sich wunderte, schließlich hatte er mir nichts getan. Noch nicht.

Unser Blickduell wurde von unserem Lehrer unterbrochen, der Leon einen Ball zuwarf. Er fing ihn fast ohne hinzugucken. Mit einer lässigen Handbewegung warf er mir den Ball zu. Ich ließ ihn von der Brust auf den Fuß tropfen und kickte ein bisschen unschlüssig damit herum. Seit Jahren hatte ich keinen Fußball mehr angeguckt, geschweige denn ihn gespielt. Trotzdem schien mein Körper sich daran zu erinnern.

"Das war ja mal ganz nett. Also was hast du noch so drauf?", fragte mein Mitspieler in diesem Moment gönnerhaft. Als würde er mit einem kleinen Mädchen sprechen. Ich warf ihm einen bösen Blick zu, den er mit einem genervten Augenrollen und einem betont freundlichen Lächeln quittierte.

"Wie wär's wenn wir erstmal mit den Grundlagen anfangen, hm? Wir kicken den Ball einfach ein bisschen hin und her." Wie konnte man nur so herablassend sein? Wut machte sich in mir breit. Was dachte der sich eigentlich? Glaubte er etwa, niemand außer ihm könnte vernünftig Fußball spielen? Dem würde ich es zeigen. Ich legte mir den Ball zurecht, lupfte ihn an und zielte dann mit dem Vollspann direkt auf seinen Kopf. Doch im letzten Moment machte ich einen Rückzieher. Was dachte ich mir dabei? Ich hatte mir geschworen, nie wieder Fußball zu spielen. Nie wieder. Ich sollte nachher beim Sekretariat vorbei und fragen, ob ich den Kurs wechseln konnte.

Der Ball prallte natürlich völlig falsch außen an meinen Turnschuhen ab und eierte in ein paar Metern Entfernung an Leon vorbei. Der seufzte unmotiviert. „Am besten fangen wir ganz von vorne an.“ Doch ich ließ mich von seinem Ton nicht provozieren. Sollte er doch denken, dass ich eine unfähige Anfängerin war. Es war mir egal.

Ich ließ also Leons Erklärungen über mich ergehen. Während des Spiels am Ende der Stunde stand ich einfach nur rum und sah den anderen zu, wie sie hin und her rannten.

In der Umkleide setzte ich mich auf die Bank und vergrub mein Gesicht in den Händen. Die Blicke der anderen ignorierend atmete ich ein paar Mal tief durch, bis sich meine Gefühle wieder etwas beruhigt hatten, und ich nicht mehr kurz vor dem Heulen war. Die Mädels verschwanden Richtung Dusche, doch ich schmiss meine Sachen in die Tasche und machte mich aus dem Staub. Hohles Geplapper konnte ich jetzt nicht ertragen.

Die nächste Stunde war Spanisch. Perfekt. Ich hatte es als Leistungskurs. Solange der Lehrer keine absolute Trantüte war, konnte ich mich zumindest schon mal auf vier Stunden in der Woche freuen. Die Sportstunde hatte ich soweit wie möglich in den Hintergrund geschoben. Am Ende der Pause hatte ich sogar meinen Raum und meine gute Laune ohne Hilfe gefunden. Nina schien spurlos verschwunden, aber das war mir auch ganz recht. Hatte sie nicht irgendwas von einem Freund geplappert? Wie auch immer. Vor der Tür warteten nur ein paar Leute. Klar, Spanisch war nicht unbedingt verbreitet an deutschen Schulen.

Kurz darauf kam der Lehrer und unterzog mich dem üblichen Hallo-das-ist-eure-neue-Mitschülerin-Prozedere. Dann setzte ich mich an den einzigen freien Tisch. Doch kaum hatte der Lehrer angefangen etwas an die Tafel zu schreiben, da klopfte es an die Tür. Ohne Aufforderung wurde die Tür geöffnet und herein kam – Leon. Wie hätte es auch anders sein können. Ich bemühte mich um ein betont gleichgültiges Gesicht und kramte einen Block hervor, um von der Tafel abzuschreiben. Ich merkte, wie Leon vor meinem Tisch stehen blieb, aber ich ignorierte ihn geflissentlich. Schließlich hörte ich ein genervtes Räuspern. Ich konnte mir bildlich vorstellen wie er dazu die Augen verdrehte. Sollte er doch. Wer was von mir will soll die Klappe aufmachen. Ich bin sehr gut im subtile Hinweise ignorieren und nach seiner Pfeife tanzen würde ich sowieso nicht.

"Das ist mein Platz", meldete sich die Nervensäge endlich zu Wort. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Ich hatte Recht mit dem Augenverdrehen.

"Na und? Such dir halt einen neuen." Wieder ein genervter Seufzer. Stimmte mit dem was nicht?

"Wie du vielleicht gemerkt hast, gibt es keine Stühle mehr. Also lass mich auf meinen Platz!" Nochmal sah ich ihn kurz an. Seine Augen funkelten wütend und schienen mir jetzt doch eher braungelb als grün. Egal, ich wollte nicht über seine Augen nachdenken. Wenn auch zugegebenermaßen ziemlich faszinierende Augen. Ich schüttelte leicht den Kopf und verpasste mir innerlich eine Ohrfeige.

Hör jetzt auf damit! Dann lächelte ich ihn spöttisch an.

"Du hörst dich an wie ein Kleinkind, dem sein Lieblingsspielzeug weggenommen wurde. Organisier dir halt von irgendwo einen anderen Stuhl. Ihr werdet hier ja wohl so was wie einen Hausmeister haben oder? Und jetzt verzieh dich!", zischte ich mit einem Blick nach vorne, wo sich inzwischen mein Spanischlehrer umgedreht hatte.

"Leon! Setz dich hin!", wies er den Jungen zurecht. Leises Gekicher aus der Klasse. Geschah ihm Recht diesem arroganten Mistkerl. Bildete der sich doch wirklich ein, ich würde ihm meinen Platz überlassen, nur weil seine königliche Hoheit einmal mit den Fingern schnippte! Pah! Er konnte lange darauf warten bis ich vor ihm kuschte. Das wäre ja noch schöner. Blöder Möchtegern-Tyrann... In diesem Stil ging es die restliche Stunde weiter und ich konnte mich überhaupt nicht auf den Unterricht konzentrieren. Auch das noch! Jetzt versaute mir dieser Idiot auch noch mein Lieblingsfach.

Entsprechend übel gelaunt verließ ich mit dem Gong den Raum. Ob Leon den Weg zum Hausmeister noch gefunden hatte konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber es musste wohl so gewesen sein. Egal. Auf dem Weg zur Pausenhalle schmiedete ich Pläne, wie ich Leon am besten aus dem Weg gehen konnte. Völlig in meine düsteren Gedanken versunken rannte ich plötzlich in eine lebendige Wand. Leicht aus dem Gleichgewicht gebracht schwankte ich nach hinten, wurde allerdings durch einen festen Griff an meinem Ellbogen vor der Peinlichkeit eines Sturzes bewahrt. Gerade wollte ich mich bei meinem Retter bedanken, da blickte ich in die verwirrenden Augen Leons. Mein Herz machte einen Satz und die Worte blieben mir im Hals stecken. Erst als ich sein arrogantes Grinsen bemerkte erwachte ich aus meiner kurzen Starre. Hastig befreite ich mich aus seinem Griff und warf ihm einen giftigen Blick zu, bevor ich mich wortlos an ihm vorbei drängte. Eilig lief ich den Gang hinunter und versuchte meine geröteten Wangen hinter meinen braunen Haaren zu verstecken. Hoffentlich hatte er nicht gesehen wie ich rot wurde. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Mürrisch setzte ich mich auf eine Bank am Fenster. Ich hasste die Wirkung, die dieser Typ auf mich hatte. Wusste mein Körper nicht, dass man solchen Jungs nicht vertrauen konnte? Die wollten nur das Eine und Ehrlichkeit war ihnen ein Fremdwort. Je schneller ich ihn mir aus dem Kopf schlug, desto besser.

Zum Glück war das nächste Fach auf meinem kryptischen Plan etwas einfacher zu enträtseln. Ma konnte ja wohl nichts anderes als Mathe bedeuten, und die M-Räume waren glaub ich irgendwo in der Nähe der Cafeteria. War wohl doch etwas von Ninas Redeschwall hängen geblieben. Mein Unterbewusstsein verblüffte mich immer wieder aufs Neue.

Entschlossen schulterte ich meine schon etwas abgenutzte Umhängetasche und machte mich auf die Suche nach dem richtigen Raum. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben ab jetzt keinen Unterricht mehr mit diesem arroganten Schnösel zu haben.

Mein Stundenplan enttäuschte mich nicht und ich genoss anderthalb Stunden ungestörten Matheunterricht. Der Lehrer war mir sofort sympathisch, was möglicherweise daran liegen könnte, dass er auf den ganzen Vorstellungsmist keinen gesteigerten Wert legte. Er wirkte wie ein schrulliger Matheliebhaber und war auf seine Art einfach nur niedlich.

2 Familienbande

 

Leon

"Heute ist der erste Tag, an dem ich es bereue, damals nicht Spanisch gewählt zu haben."

"Ach ja? Wir können gerne tauschen", fuhr ich meinen Bruder an. "Und klopf das nächste Mal gefälligst an!"

Ungerührt schloss er die Tür hinter sich und ließ sich neben mich aufs Bett fallen. "Was machst du da?"

Ich verdrehte genervt die Augen und wandte mich von meinem Laptop ab. "Nichts, was dich etwas angehen würde. Also, was willst du?" Daniel verschränkte gemütlich die Arme hinter dem Kopf. Super, hoffentlich hatte er nicht vor sich hier häuslich einzurichten. Nicht, dass ich etwas gegen meinen Bruder hätte, das definitiv nicht, neben Felix war er mein bester Freund, aber im Moment war ich nicht in der Stimmung seinen sprunghaften Gedanken zu folgen.

"Ich dachte wir könnten mal wieder ein bisschen quatschen, wie in alten Zeiten." Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu. "Über Mädchen zum Beispiel."

Ich runzelte die Stirn und starrte wieder auf den Bildschirm. Drei neue Nachrichten bei Facebook, aber nichts Interessantes dabei. "Das letzte Mal haben wir über Mädchen geredet, da waren wir dreizehn, oder so. Und außerdem will ich nicht darüber reden."

"Also meine Schuld war das garantiert nicht", erklärte mir Daniel und fuhr meinen Einwand völlig ignorierend fort: "Also, dieses Mädchen... Wie hieß sie noch gleich?" Idiot. Ich wollte nicht über sie nachdenken.

"Sofia", knurrte ich, in der Hoffnung das Thema möglichst schnell zum Ende bringen zu können. Aber da hatte ich die Rechnung ohne Daniel gemacht. Hätte mir eigentlich klar sein können, aber wie sagt man so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

"Sofia...", murmelte er vor sich hin. "Hübscher Name. Und Felix meinte, ihr Aussehen wäre auch nicht von schlechten Eltern." Felix, der Verräter. Aber er hatte Recht, obwohl ich wahrscheinlich eine etwas andere Formulierung verwendet hätte.

Ihre braunen Haare und die gleichfarbigen Augen waren eher durchschnittlich zu nennen. Aber es umgab sie eine Aura von Selbstbewusstsein und Unnahbarkeit, die sie irgendwie interessant machte. Und auf den Mund gefallen war sie auch nicht, wie ich am eigenen Leibe erfahren musste.

"Was hat dieses Grinsen zu bedeuten?", riss mich Daniels Stimme aus meinen Gedanken. Völlig hirnrissigen Gedanken, wie ich feststellen musste.

"Gar nichts", gab ich mürrisch zurück. "Du bildest dir das nur ein.“ Im Ernst, dieses Mädchen war frech und respektlos. Wieso redeten wir über sie?

"Ach ja? Das sah aber nicht nach 'gar nichts' aus." Daniel grinste spitzbübisch. "Felix hatte Recht."

"Hatte womit Recht?“, fragte ich misstrauisch nach. Was hatten die beiden schon wieder fabriziert?

"Damit, dass sie dich beeindruckt hat."

"Schwachsinn", schnappte ich, merkte aber selbst wie unglaubwürdig das klang. Ob sie mich beeindruckt hatte? Natürlich hatte sie das. Ich wusste nicht, was es war, aber sie hatte etwas an sich, das mir unter die Haut ging. Aber das würde ich vor Daniel niemals zugeben.

Mit einem entschlossenen Ruck klappte ich meinen Laptop zu. "Wie auch immer. Gehen wir? Ich glaube, ich hab da noch ein Hühnchen mit einem gewissen besten Freund zu rupfen." Ich stand auf, schnell genug, um den besorgten Ausdruck in Daniels Augen zu sehen. Doch einen Herzschlag später sprang er ebenfalls voller Elan auf und sah mich mit erwartungsvoll glitzernden Augen an.

"Na dann mal los!"

 

Wir fanden Felix im Wohnzimmer, wo er gerade gelangweilt fernsah.

"Du bist ein gemeiner Verräter", erklärte ich ihm als ich mich vor dem Fernseher aufbaute. Felix grinste mich unbekümmert an.

"Von wegen Verräter. Er hätte es so oder so erfahren, ich hab das Ganze nur ein wenig beschleunigt."

Ich verdrehte wieder die Augen. "Sag ich doch: Verräter!" Aber ich musste dabei ebenfalls grinsen. Ich war ihm nicht wirklich böse.

"Und, irgendwas aus ihm rausbekommen?" Okay, war ich doch.

Daniel zuckte auf Felix Frage nur mit den Schultern. "Nichts, was wir nicht vorausgeahnt hätten." Warum wollten bloß alle über dieses Nerv tötende Mädchen reden? Es war ja nicht so, als wäre sie irgendwas Besonderes. Sie war einfach nur irgendjemand, ein Mädchen, wie jedes andere. Ja, das war die richtige Einstellung. Ich sollte definitiv das Thema wechseln.

"Wie wärs mit 'ner Runde Fußball?" Die beiden sahen mich so wissend an, dass ich genervt seufzte. "Was denn?! Wollt ihr etwa den ganzen Nachmittag faul auf der Couch rumsitzen? Vor allem wenn ein paar Meter weiter", ich deutete zur angelehnten Terrassentür, "ausnahmsweise mal die Sonne scheint." Zu ihrem Glück fingen sie nicht an mit mir zu diskutieren, sondern ließen das Thema auf sich beruhen. Allerdings nur vorerst, wie ich vermutete.

Das Wetter war toll, viel zu warm, um sich freiwillig anzustrengen, und so beschlossen wir doch lieber in der Sonne zu faulenzen. Schließlich hatten wir ja morgen noch Training. So traf uns eine Stunde später Lia an.

Die junge Frau war neben meiner Mutter das einzige weibliche Wesen, dem ich bedingungslos vertraute. Ein nicht unwesentlicher Grund dafür könnte sein, dass sie die beste Freundin meines älteren Bruders war und mich sozusagen aufgezogen hatte.

"Na ihr Faulpelze", rief sie uns von der Terrasse aus zu und schob ihre Sonnenbrille in die kurzen schwarzen Haare. Wir winkten ihr träge zu.

"Bist du hier, um Simon zu besuchen?", fragte Daniel unverbesserlich neugierig. Wozu sollte sie denn sonst da sein?

Die halbindische Frau mit dem exotischen Namen Lianne Prakesh schien der gleichen Ansicht zu sein, doch sie sah mit einem nachsichtigen Lächeln darüber hinweg. "Ja, 'ne Ahnung wo er sein könnte?"

Ich warf ihr einen schiefen Blick zu. "Dreimal darfst du raten."

Sie lachte. "Na dann. Stellt heute vielleicht ausnahmsweise nichts an", bat sie uns grinsend. Daniel und Felix sahen sich an und sagten im Chor: "Zu spät!" Ich warf ihnen einen wütenden Blick zu, war mir doch klar, worauf sie hinaus wollten.

"Ach ja?" Interessiert kam Lia ein paar Schritte näher. "Raus mit der Sprache", forderte sie uns auf.

"Leon hat ein Mädchen kennen gelernt." Daniel verhaspelte sich fast, so schnell wollte er seine Nachricht an den Mann, entschuldigt bitte den Ausrutscher, an die Frau bringen. Lias Blick schoss zu mir herüber, doch ich schloss betont unbeteiligt die Augen und drehte mein Gesicht in die Sonne. Sollten sie doch reden.

"Und sie ist ein Mensch", setzte Felix nach.

Zu meinem Glück gab Lia nur ein nachdenkliches "Hm" von sich und drehte sich dann zum Haus um. "Wir sollten nachher nochmal ein ernsthaftes Gespräch führen, Leon", rief sie mir noch über die Schulter zu, bevor sie durch die Tür verschwand.

"Ich bin schon aufgeklärt. Seit der sechsten Klasse. Bio bei Frau Weiders", brummelte ich vor mich hin. Ich hatte keine Lust auf ein 'klärendes Gespräch'.

Sobald ich Lia nicht mehr wahrnehmen konnte warf ich den beiden Helden an meiner Seite einen hoffentlich tödlichen Blick zu. "Ganz große Klasse, ihr zwei", motzte ich sie an, "ihr wisst genau, wie hartnäckig Lia ist."

"Ja", grinste Felix spitzbübisch.

"Wissen wir genau", ergänzte Daniel. Idioten. Was würde ich nur ohne sie tun.

Ich setzte gerade zu einer vernichtenden Antwort an, da klingelte mein Handy. Mit einem knappen "Ja!" forderte ich meine Gesprächspartner auf zu sprechen.

"Hi Leon, Robin hier, ich wollte fragen..." Die Stimme meines Mannschaftskollegen verstummte abrupt und wurde durch die etwas schrille Begeisterung seiner Cousine abgelöst.

"Leon", brüllte sie schon fast in mein Ohr. Ich verzog das Gesicht und brachte das Handy ein wenig auf Abstand. Etwas zu enthusiastisch das Mädel, wenn ihr mich fragt. "Wir machen heute einen DVD-Abend, nur ein paar Leute aus der Schule", was gleichbedeutend mit 'der halbe Jahrgang' war, "und wollten fragen, ob du auch vorbei kommen willst." Ich sah Daniel und Felix fragend an und formte ein lautloses "Party?". Felix zuckte desinteressiert mit den Schultern und auch Daniel sah entgegen aller Erwartungen nicht sehr motiviert aus. Ich wandte mich erleichtert wieder dem Gespräch zu.

"Sorry, aber heute geht nicht. Haben ja morgen Training und so. Deshalb..."

"Oh", kam es enttäuscht vom anderen Ende der Leitung. "Schade. Vielleicht klappt's ja nächstes Mal", setzte sie noch hoffnungsvoll hinterher.

"Wir werden sehen", erwiderte ich unverbindlich und verabschiedete mich. Ich konnte ihre Enttäuschung irgendwie verstehen. Ohne uns war eine Party einfach keine richtige Party. Tja, hatte sie wohl Pech gehabt, Freunde gingen vor und waren immer eine gute Ausrede.

Man konnte wohl guten Gewissens behaupten, dass wir drei zu den beliebtesten Schülern gehörten. Gut, tut mir leid, ich sollte nicht lügen. Wir waren die beliebtesten Schüler. Aber wie konnte man es den Menschen verdenken? Wir sahen gut aus, waren klug und hatten das gewisse Etwas, das bei den meisten so einen guten Eindruck hinterließ.

Daniel sagt manchmal zu mir ich wäre arrogant, aber ich halte einfach nichts davon, die Wahrheit zu verdrehen. Ich sage, was gesagt werden muss, auch wenn es den anderen nicht in den Kram passt. So ist das Leben, kommt damit klar.

Ich beschloss mir etwas zu trinken zu holen, bevor ich mir wieder die Sonne auf den Pelz scheinen ließ. Daniel und Felix hatten sich schon wieder der hohen Kunst der Faulenzerei zugewandt.

Durch das Wohnzimmer hinter der Terrassentür gelangte man direkt in unsere riesige Küche. Überhaupt hatte dieses Haus Ausmaße, die man schon als ausschweifend bezeichnen konnte. Das lag weniger an unserem Reichtum, der war für die stilvolle Einrichtung zuständig, sondern entsprang vielmehr der bloßen Notwendigkeit. Mit fast dreißig Personen unter einem Dach musste man Konsequenzen ziehen. Manch einer mochte sich das vielleicht überaus Nerv tötend vorstellen, aber das war die Ausnahme, nicht die Regel.

Na ja, meistens. Versteht mich nicht falsch, ich liebe meine Familie und nichts auf der Welt könnte mir mehr bedeuten als dieser verrückte Haufen aus Cousinen, Onkeln, Großtanten und wie sie noch so alle heißen. Doch es gibt Momente im Leben eines jeden Teenagers, die er nicht gleich mit der ganzen Familie teilen wollte.

Natürlich wollte ich irgendwann losziehen, die Welt retten und Abenteuer erleben. Will das nicht jeder Teenager? Trotzdem würde ich jedes Mal zurückkehren, immer den Kontakt halten. Einfach gehen, nie wieder was von mir hören lassen, das könnte ich nicht. Und das war auch gut so. Auf Schule hingegen könnte ich jederzeit verzichten.

Mein Weg führte aus der Küche nicht direkt wieder in die Sonne. Daniel hatte Recht gehabt mit seiner Frage. Was wollte Lia hier? Unter der Woche, zu so einer Tageszeit? Ich meine, es wusste sowieso niemand was sie den lieben langen Tag so trieb, aber normalerweise beschränkten sich ihre Besuche aufs Wochenende. Entsprechend neugierig machte mich ihr Auftauchen.

Die Tür zu Simons Arbeitszimmer war nur angelehnt. Eine Nachlässigkeit die mir gerade sehr gelegen kam. Simon war der Chef dieses ganzen Ladens und Lia konnte man wohl als unsere Außenkorrespondentin bezeichnen. Wir lebten hier ein wenig zurückgezogen... Ja, ich untertreibe, sehr zurückgezogen, und Lia hielt für uns Augen und Ohren offen. Wenn sie außerplanmäßig hier auftauchte konnte das nur eines bedeuten: Es gab Neuigkeiten. Und ich hatte vor als Erster Bescheid zu wissen. Die Frage war, überbrachte sie gute oder schlechte Nachrichten?

Zum Glück war es im Haus windstill. Ich war zwar gut darin mir irgendwelche Ausreden aus den Fingern zu saugen, aber Simon und Lia würden sie auf jeden Fall durchschauen. Deshalb war es immer besser es nicht drauf anzulegen.

Mit ausreichend Sicherheitsabstand blieb ich stehen und strengte meine Ohren an. Hoffentlich suchte sich nicht ausgerechnet jetzt einer meiner Halbbrüder oder Cousins diesen Gang aus, um darin herum zu toben. Diese kleinen Rabauken tauchten schon aus Prinzip immer im ungünstigsten Moment auf. Wahrscheinlich mit Absicht. Ich sah mich sicherheitshalber nochmal um bevor ich mich wieder auf den Gegenstand meiner Neugier konzentrierte.

"Wann willst du es ihnen sagen?", drang Lias klare Stimmer an meine Ohren. Mist, ich war zu spät. Aber ich hatte Recht behalten. Etwas war passiert.

"Ich weiß nicht. Es ist doch noch gar nichts sicher. Und du weißt, wie sich alle darüber aufregen werden. Besonders Leon." Ich? Hm, worüber würde ich mich aufregen? Über einen Abstieg meiner Lieblingsmannschaft, über Regen im Wetterbericht... Doch bevor ich mich in wilde Spekulationen hineinsteigern konnte unterbrach Lia meine Gedanken.

"Du weißt, dass ich immer auf deiner Seite bin und dir nie in den Rücken fallen würde, aber ich halte nichts davon ihnen das vorzuenthalten." Danke, ganz meine Meinung, also raus mit der Sprache!

"Ich mache das auch nicht gerne, aber es ist besser so. Zumindest bis wir mit Sicherheit sagen können, dass er es wirklich ist. Dass er wirklich zurück ist." Ach, Simon wieder mit seinem Sicherheitskomplex!

Moment.

Wer ist er?

3 Verblüffende Erkenntnisse

Sofia

Der zweite Schultag verlief besser als gedacht. Bis zur Mittagspause war ich Leon nur einmal über den Weg gelaufen. Die Lehrer waren nett und die meisten Mitschüler auch. Mit dem einen oder anderen hatte ich auch schon ein normales Gespräch geführt. Trotzdem war ich gerade allein auf dem Weg zum Essen.

Schon im Flur schlug mir der typisch drückende Essensgeruch einer Cafeteria entgegen. Ich rümpfte angeekelt die Nase, aber irgendwas musste ich essen, also trat ich notgedrungen in den warmen Raum. Mehrere Tische waren im Raum verteilt und um einige hatten sich schon Leute geschart. Am Fenster entdeckte ich einen freien Tisch und nachdem ich mir ein Brötchen besorgt hatte, steuerte ich zielstrebig auf die Ecke zu, wo ich als erste Amtshandlung das Fenster sperrangelweit aufriss. Tief einatmend genoss ich den frischen Luftzug, der meine Nasenspitze umwehte.

"Kann ich mich zu dir setzen?" Die Frage wurde von einem blonden Jungen gestellt, der jetzt freundlich lächelnd auf eine Antwort wartete. Möglicherweise war er in einem meiner Kurse. Hoffentlich erwartete er nicht, dass ich seinen Namen noch wusste. Tat ich nämlich nicht.

"Hm, klar, kein Problem." Er setzte sich und holte eine Brotdose hervor. Während ich mich wieder mit meinem Brötchen beschäftigte, warf ich ihm immer wieder kurze Blicke zu. Er sah gut aus, aber auf eine freche jungenhafte Art. Ich war mir sicher, dass er den Schalk im Nacken sitzen hatte. Nach ein paar weiteren Blicken beschloss mein Gegenüber anscheinend, ich hätte ihn genug gemustert und drehte den Spieß um. Schnell senkte ich wieder den Blick auf mein Brötchen. Normalerweise war ich zwar gegen solche Schüchternheitsanfälle immun, aber die ungenierte Art wie seine braunen Augen mich taxierten war mir doch irgendwie unangenehm. Endlich nickte er, als wäre er zufrieden mit dem was er gesehen hatte und streckte mir die Hand hin.

"Daniel." Vorsichtig ergriff ich seine dargebotene Hand und erwartete fast, dass er höflich einen nicht vorhandenen Hut ziehen würde. Tat er nicht. Schade.

"Ich bin Sofia", stellte ich mich nun ebenfalls vor, und wieder traf mich so ein eigentümlicher Blick.

"Ich weiß." Mann, das war ja schlimm mit den Kerlen hier! Hatten die hier etwa alle irgendwelche komischen Komplexe? Doch gerade als ich zu einer sarkastischen Bemerkung ansetzte, änderte sich sein Gesichtsausdruck. Von Jetzt auf Gleich. Wie ein Lichtschalter. Klick. Gute Laune.

Okaay? Was läuft hier?

Daniel schien meinen ungläubigen Gesichtsausdruck gar nicht zu bemerken. Er redete und redete, und wurde schon fast so Nerv tötend wie Nina. Doch er hatte so einen feinsinnigen irgendwie unterschwelligen Sinn für Humor und ich konnte nicht anders, ich musste ihn einfach sympathisch finden. Er wirkte auf mich wie ein aufgeregter Junge. Ich schmunzelte, was natürlich nicht unkommentiert blieb.

"Sieh an, Miss Unantastbar kann ja doch lächeln." Das brachte ihm einen giftigen Blick, aber auch ein weiteres Lächeln ein. Damit war das Eis gebrochen. Ich hatte meinen ersten Freund an dieser Schule gefunden. Schon nach einer halben Stunde war es, als hätten wir uns schon ewig gekannt und so trabte ich beschwingt zum nächsten Unterricht. Kein Leon in Sicht, was meine Laune in schwindelerregende Höhen katapultierte.

Auf dem nach Hause Weg, wobei 'nach Hause' mehr eine Floskel war, ließ ich die Tage nochmal Revue passieren. Insgesamt nahmen sie in meinem '1. Schulwoche-Ranking' einen Spitzenplatz ein. Außer Nina hatten mich keine nervig-neugierigen Mitschüler angesprochen und mit Daniel verstand ich mich nach dem etwas seltsamen Start super. Was konnte ich mehr verlangen? Naja vielleicht hätte Leon in der Auflistung fehlen können, doch dann schüttelte ich ärgerlich den Kopf. Wieso ließ ich mich schon nach einem Tag so von ihm beeinflussen? Dann war er halt ein arrogantes Arschloch, ich musste ja nicht die ganze Zeit darauf rumreiten. Ich würde mich einfach nicht von ihm provozieren lassen, dann würde er mich ebenfalls nicht beachten. Zufrieden nickte ich mir zu. Ignorieren war hier wohl die effektivste Behandlungsmethode.

Mein 'Zuhause' verdiente diesen Titel nicht. Es war ein Reihenhaus in einer Wohnsiedlung am Stadtrand und wer die subtilen Hinweise deuten konnte, stellte fest, dass es auch nicht mehr das Neuste war. Die matt roten Steine der Fassade waren von einem grauen Schleier aus Schmutz und Abgasen überdeckt, mehrere Dachziegel fehlten und bei der Haustür musste man rohe Gewalt anwenden, wenn man hinein wollte. Nichts mit heimlichen Nacht- und Nebelaktionen also.

Im Innern war es nicht besser. Hatte man erstmal das Hindernis der widerspenstigen Tür überwunden, wurde man von einer drückenden Enge im Flur empfangen. Ich hatte immer noch Schwierigkeiten Jacke und Schuhe auszuziehen ohne mir irgendwas zu brechen, obwohl ich schon seit Mitte der Sommerferien hier wohnte. Das Erdgeschoss war aufgeteilt in Küche und Wohnzimmer. Eine Treppe führte mich in den ersten Stock. Von dort aus hatte man die Qual der Wahl zwischen drei gleichermaßen dünnen weißen Türen. Ein Bad und zwei Schlafzimmer. Mehr gab es hier nicht zu entdecken, und die Enge war allgegenwärtig.

Ich verzog mich in mein Zimmer. Ein schmales Bett, ein alter Schreibtisch mit einem klapprigen Stuhl, ein verstaubtes Bücherregal. Das war alles. Ich hatte nicht vor mich zu beschweren. Bei meiner letzten Pflegefamilie musste ich mir das Zimmer mit einem anderen Mädchen teilen. Im Gegensatz dazu war das hier der pure Luxus. Na ja, oder auch nicht. Seufzend ließ ich meine Tasche in eine Ecke fallen und sank auf die dünne Matratze. Meine Pflegeeltern würden erst irgendwann heute Abend wieder aufschlagen. Sie waren beide berufstätig. Ich ließ mich nach hinten fallen und starrte an die weiße Decke. Ich wollte nicht den ganzen Tag in dieser beengenden Wohnung verbringen, wusste aber auch nicht, was ich sonst tun sollte. Von draußen stahl sich ein Sonnenstrahl in mein Zimmer und kitzelte meine Nase. Unruhig sprang ich auf, ging nach unten und zog mich wieder an. Alles war besser als hier drin zu versauern. Ich beschloss ein wenig die Umgebung zu erkunden, Richtung Meer vielleicht.

Draußen empfingen mich ein kühler salziger Wind und eine fahle Sonne, deren Wärme immer wieder hinter den vorbeiziehenden Wolken verborgen wurde. Ein wenig ziellos schlenderte ich herum. Neben den vielen Pensionen und Hotels gab es in diesem Ort hauptsächlich Restaurants, sowie zwei Friseure, einen Supermarkt, die Schule und ein paar weitere kleine Geschäfte. Es war ein rein von Tourismus lebender Ort.

Nach einer halben Stunde war ich alle Straßen des Ortes, denn Stadt konnte man das nicht wirklich nennen, abgelaufen. Es war nichts Besonderes. Kein Vergleich zu den großen Städten. Was mich störte war die Ruhe. Die einzigen Geräusche kamen vom Wind, der mir um die Nase wehte, und dem einen oder anderen angeleinten Hund. Selbst die Vögel hatten anscheinend keine Lust ihre Stimmen zu erheben. Genau wie die Menschen hatten sie sich in ihren Nestern verkrochen und ließen mich hier draußen allein.

Alles klar, dieser Ort tat mir eindeutig nicht gut. Normalerweise neigte ich doch auch nicht zu solchen melancholischen Anwandlungen. Ich schüttelte kurz den Kopf, um die komischen Gedanken zu verdrängen, und machte mich dann auf die Socken Richtung Meer.

Da ich nicht ganz genau wusste welchen Weg ich nehmen sollte, allerdings auch niemanden fragen konnte, entschied ich mich für eine asphaltierte Straße, die annähernd in die Richtung führte, in der ich das Meer vermutete. Neben der Landstraße verlief nur ein Radweg, den ich kurzer Hand zu einem Fußweg umfunktionierte. Würde schon niemanden stören. Mir kamen sowieso weder Autos noch Fahrräder entgegen. Schon direkt unheimlich war das.

Trotz der unheimlichen Atmosphäre begann ich meinen Spaziergang zu genießen. Die frische Luft, so ganz anders als in der Stadt, füllte belebend meine Lungen. Auf den Weiden rechts und links der Straße grasten braun getupfte Kühe und verschiedenfarbige Pferde. Es lag ein Frieden über dieser Szenerie, der mich die Einsamkeit vergessen ließ. Und als schließlich noch eine Drossel direkt über mir in den Baumkronen anfing ein Lied zu trällern war ich vollends beruhigt. Sagte man nicht immer, nur wenn die Vögel ganz ruhig sind droht Gefahr?

Die Weiden wurden kurz darauf von einem Wäldchen abgelöst und das Laub raschelte unter meinen Füßen. Allerdings wurde es unter den Baumkronen auch ziemlich kühl, was mich meine Schritte beschleunigen ließ. Ich lief vielleicht zehn Minuten unter diesem Blätterdach bis es mich wieder in die Sonne entließ. Links erstreckten sich Felder, im Moment brachliegend, doch was jetzt rechts der Straße lag fesselte meine Augen. Es war ein richtiges Fußballfeld mit Aschenbahn außen herum und Tribünen an einer Seite des Feldes, auf dem sich gerade zwei Mannschaften ein Match lieferten. Die eine Seite spielte in rotschwarz, die andere in gelbweiß. Wie ich der Tafel in der Mitte der langen Seite entnehmen konnte waren sich die Teams ebenbürtig. Es stand 2:2. Neugierig ging ich näher an das Spielfeld heran. Ich musste an mein letztes Spiel denken und wieder fühlte ich das altbekannte dumpfe Gefühl der Trauer, das untrennbar mit dieser Erinnerung verbunden war. Schnell lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Spielgeschehen. Das hier war kein guter Ort für so eine Erinnerung.

Ich hatte schon so lange kein richtiges Spiel mehr gesehen. Gespannt folgte ich mit den Augen dem Ball. Die Rotschwarzen starteten gerade einen Angriff. Geschickt spielten zwei Mittelfeldspieler einen vorwitzigen Linksaußen aus und hatten auf einmal freie Bahn zum Tor. Das sah anscheinend auch ein Verteidiger der gelbweißen, der sich nun todesmutig in einen Zweikampf mit dem Mittelfeldspieler stürzte. Der spielte gerade noch rechtzeitig ab, bevor ihm der Ball abgeluchst werden konnte, doch sein Teamkollege war nicht schnell genug. Ein gelber Wirbelwind schnappte ihm das Leder vor der Nase, oder besser gesagt vor dem Fuß, weg und stürmte aufs Tor zu. Geradezu spielerisch mutete es an wie er einen gegnerischen Spieler nach dem anderen austrickste. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Verdammt war der gut! Der Ball schien wie festgeklebt an seinem rechten Fuß. Lässig legte er sich den Ball zurecht, täuschte an und versenkte das Runde im Eckigen mit einer Leichtigkeit, die man einfach nur bewundern musste.

Ich trat noch einen Schritt näher an die Seitenlinie heran und versuchte den Torschützen zu erkennen. Doch der hatte sich gerade zum Torwart heruntergebeugt um ihm kameradschaftlich wieder auf die Beine zu helfen, nachdem der sich so wagemutig in die falsche Ecke gestürzt hatte. Ich lächelte anerkennend. Ich fand im Sport konnte man immer erkennen, ob jemand einen guten Charakter hatte. Wer sich beim Sport fair verhielt und kein schlechter Verlierer war, der übertrug diese Eigenschaften meist auch auf den Alltag.

In diesem Moment richtete sich der Schütze auf und das Lächeln gefror auf meinen Lippen. Der schon wieder! Konnte man denn hier nirgendwo einen Fuß hinsetzen ohne diesem arroganten Kerl zu begegnen? Ich wollte mich noch weiter über ihn aufregen, als ich von der Seite angequatscht wurde.

"Hey Sofia, was machst du denn hier?" Erstaunt drehte ich mich um.

"Daniel! Ich... also... Ich kam zufällig vorbei und hab euch spielen sehen und dann...", stotterte ich vor mich hin. Was machte der denn hier? Für einen Fußballer hätte ich ihn eigentlich nicht gehalten, doch er trug ein gelbweißes Trikot. Leons Team. Sollte das ein Zeichen sein?

"Und dann war sie so fasziniert von meinem unglaublichen Talent, dass sie einfach nicht anders konnte, als mich bewundernd anzustarren", mischte sich in diesem Moment eine selbstgefällige Stimme ein. Leon grinste und boxte Daniel leicht gegen die Schulter. "Woher kennst du denn die kleine Kratzbürste?"

Doch bevor Daniel antworten konnte unterbrach ich die Beiden verblüfft.

"Wie jetzt, ihr kennt euch?!" Perplex sah ich von einem zum anderen. Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Ich meine, Daniel war nett und witzig und freundlich, und Leon war... war... war halt einfach Leon! Aber die beiden Witzpillen schienen das alles überhaupt nicht seltsam zu finden. Sie grinsten sich an und ich war mir sicher sie machten sich über mich lustig. Ich kniff die Augen zusammen und bedachte beide mit einem kritischen Blick. Womit ich Daniel zu einem weiteren Kommentar inspirierte.

"Jetzt guck nicht wie ein Käsekuchen." Was Leon zum Lachen und mich zum Kochen brachte. Echt mal! Seine blöden Kommentare konnte er sich echt sparen, ich meine, wie guckt denn bitte ein Käsekuchen? Könnt ihr euch das vorstellen? Na bitte, das konnte ich genauso wenig. Was mich wieder zum ursprünglichen Thema zurückbrachte.

"Also woher kennt ihr euch jetzt?", fragte ich deshalb nochmal nach und erntete einen ungläubigen Blick seitens Daniel.

"Wie jetzt, du hast geschlagene 15 Minuten in Ninas Gesellschaft verbracht, und sie hat dir nicht erzählt, dass wir Brüder sind?" Mein Gesichtsausdruck musste ziemlich verrutscht sein, denn diesmal verfielen beide Jungs in einen ausgewachsenen Lachkrampf. Ich wusste echt nicht was daran so witzig sein sollte und setzte eine beleidigte Miene auf. Dann hatten meine Gehirnzellen endlich Daniels Satz endgültig verarbeitet. Brüder?! Ich meine... Brüder?! Hallo?! Die beiden waren wie Feuer und Wasser. Obwohl, wenn man sie jetzt so beobachtete, hatten sie doch gewisse Ähnlichkeiten. Die Haare zum Beispiel. Bei Daniel waren sie einfach etwas kürzer, deshalb fiel es nicht so auf. Außerdem hatten sie das gleiche Lachen. Nur eine Sache störte mich noch.

"Also erstens schalte ich bei solchen Labertaschen wie Nina immer sofort auf Durchzug..." Das brachte mir ein zustimmendes Nicken von Leon ein. Die Jungs hatten sich wieder beruhigt, nur Daniel war immer noch am Grinsen. "... und zweitens: Seid ihr nicht beide in meinem Jahrgang? Ist Leon sitzen geblieben oder was lief da falsch?"

"Wir sind Zwillinge", erklärte Daniel immer noch grinsend und Leon ergänzte entrüstet: "Als ob ich sitzen bleiben würde!" Ich lächelte. Leons Ego war so empfindlich wie eine Seifenblase.

"Man wird ja wohl spekulieren dürfen. Es war einfach die einzige plausible Erklärung, die mir so spontan eingefallen ist", setzte ich unschuldig nach. Leon knurrte und sah aus, als würde er mir gleich an die Kehle springen. Mein Hals wurde vom Trainer der Zwillinge (ich konnte es immer noch nicht glauben) gerettet.

"Was ist denn mit euch zwei Faulpelzen los? Das Spiel ist noch nicht vorbei!"

4 Die Herausforderung

 

Leon

"Jetzt sei doch nicht so, wir haben doch nur einen Fan begrüßt", scherzte Daniel. Sofia verdrehte die Augen - hatte sie sich das von mir abgeguckt? - und lächelte.

"Ja, sie ist ein richtiger Groupie, konnte gar nicht die Augen von mir lassen", konnte ich mir nicht verkneifen.

Sie schnaubte verächtlich. "Als ob! Das war ja vielleicht ganz nett, aber was du kannst, kann ich schon lange!", gab sie zurück und sah drein als hätte sie sich damit selbst erschreckt. Ich bedachte sie mit einem abschätzenden Blick. Sie war ja vielleicht ganz gut, aber sich mit mir zu messen? Schätzchen, da hast du dir den Falschen gesucht. Sie sah auch so aus, als würde sie ihre Worte schon wieder bereuen. Gut so.

Inzwischen hatten sich immer mehr Fußballer um uns versammelt, die wissen wollten was los war und wieso das so lange dauerte.

"Oho!", meldete sich jetzt einer von ihnen zu Wort. "Die Kleine hat Mumm! Lässt du das etwa einfach so auf dir sitzen?"

"Klappe Felix!", kommentierte ich. "Ich spiele gegen Gegner nicht gegen Opfer." Was sollte das hier werden, die neuste Reality-Show? Und warum fiel Felix mir in den Rücken? Obwohl, streicht das Letzte, ich konnte es mir denken. Witzbold.

"Hast du etwa Angst ich könnte besser sein als du?", warf mir die kleine Möchtegern-Fußballerin  an den Kopf.

Felix grinste breit. "Genau, Leon, du hast doch nicht etwa Angst?", stichelte er weiter. Ich presste die Lippen zusammen und knurrte in Felix' Richtung: "Klappe hab ich gesagt!" Ich hatte doch keine Angst vor diesem Zwerg! Dann wandte ich mich wieder an meine Gegnerin. Mumm hatte sie ja, das musste ich ihr lassen, aber mich vor der ganzen Mannschaft anzugreifen? Kein guter Plan.

"Ich hoffe du kannst mit einer Niederlage umgehen. Morgen hier, um sechs. Dann werden wir ja sehen, was hinter deiner großen Klappe steckt." Klang zwar etwas theatralisch aber egal. Sie würde die Herausforderung sowieso nicht annehmen.

"Abgemacht. Ich werde da sein." Sie streckte mir selbstbewusst ihre kleine Hand entgegen und einen kurzen Moment war ich überrascht. Dann zuckte ich mit den Schultern und schlug ein. Ich würde gewinnen, so oder so.

„Schön, da ihr das geklärt habt, können wir dann jetzt endlich weiter machen?“, fragte einer der rotschwarzen genervt. Da hatte es anscheinend jemand eilig zu verlieren.

 

Der nächste Tag war wie immer. Zu lang und es gab zu viele Menschen mit denen ich mich auseinander setzen musste. Außerdem rätselte ich immer noch über Lia und Simons Unterhaltung von gestern nach. Ich hatte Felix und Daniel natürlich sofort davon erzählt, aber sie konnten mit diesen mysteriösen Sätzen auch nichts anfangen. Es ärgerte mich, dass ich es nicht herausbekam. Dementsprechend einsilbig war ich auch.

Daniel schien das zu spüren und hielt mir den Großteil der Leute vom Hals. Trotzdem kamen wir zu spät zum Fußball. Ärgerlich, aber wenn schon. Ohne mich konnten sie sowieso nicht anfangen.

Die Aussicht auf Fußball hob meine Laune wieder und als wir am Feld ankamen hatte ich die ärgerlichen Gedanken endgültig verdrängt. Auch wenn ich nicht glaubte, dass Sofia mir gefährlich werden konnte, wollte ich dennoch mit voller Konzentration spielen. Ich hatte hier einen Titel zu verteidigen. Besonders da auch viele Leute aus der Schule hier waren. Einen schlechten Tag konnte ich mir eindeutig nicht leisten.

Sofia war schon da und sah genervt aus. Sollte sie doch, ich hatte auch noch anderes zu tun, als mich um sie zu kümmern. Gleichzeitig mit Erik, unserem Trainer, erreichte ich sie.

"Hallo… Sofia, richtig? Schön, dich kennen zu lernen. Okay, hier ist der Plan. Wisst ihr, was Street Basketball ist?“ Ich nickte und auch Sofia machte eine zustimmende Handbewegung. „Sehr schön, dann wäre das geklärt. Ich will kein Foulspiel sehen. Wir spielen um den Sieg aus fünf Toren. Alles klar?" Wir nickten synchron. "Danach wird sich diese Sandkastenrivalität hoffentlich gelegt haben.“ Das war an mich gerichtet. „Gut, dann geht’s los. Sofia, du gehst als Erste ins Tor." Sie machte sich ohne Umschweife auf den Weg, während Erik mir den Ball in die Hand drückte. Ich hatte natürlich schon vorher gewusst worum es ging.

Ich startete am Mittelpunkt. Sobald Sofia sich wieder umgedreht hatte gab sie Erik das Daumen-hoch-Zeichen und er pfiff das Spiel an. Langsam lief ich los, den Ball immer am rechten Fuß mitführend. Sofia sah mir abwartend entgegen. Sie hatte also vor defensiv zu spielen. Tja, damit würde sie bei mir nicht weit kommen.

Ich zog plötzlich das Tempo an, dribbelte rechts an ihr vorbei und ließ den Ball ins Tor rollen. Sofia hatte keine Chance.

Ich konnte mir ein "Mach dir bloß keinen Stress, Kleine", nicht verkneifen, als sie an mir vorbei lief, um den Ball aus dem Tor zu holen. Dafür kassierte ich einen absolut tödlichen Blick, aber das war es mir wert.

Diesmal begann Sofia. Doch ich wartete nicht ab, bis sie zu mir kam, sondern griff sie direkt an. Dann machte ich allerdings einen Fehler: Ich unterschätzte sie. Mit einem einfachen Trick hatte sich das kleine Miststück an mir vorbei geschoben und gab dann einen gut platzierten Fernschuss ab. Treffer. Verdammt!

Auch das nächste Tor traf mich völlig unvorbereitet. Ich hatte einen Schuss von ihr hoch abgewehrt, da sprang sie aus dem Stand zog einen Fallrückzieher durch. Völlig übertriebene Aktion in meinen Augen, aber es zahlte sich aus. Der Aufprall sah allerdings schmerzhaft aus. Trotzdem ließ sie sich nichts anmerken, sondern warf mir sogar noch ein triumphierendes Grinsen zu. Eine Kämpferin mit Leib und Seele. Sie würde sich vor mir nie eine Schwäche anmerken lassen. Meine Anerkennung für sie wuchs. Das allerdings war etwas, das ich ihr nie zeigen würde.

Ihre Fanbase – namentlich Daniel - war natürlich hellauf begeistert. Er umarmte Sofia stürmisch und rief so enthusiastisch, dass es auch bei mir ankam: "Wie krass war das denn! Oh Mann, Leon hat noch nie nicht gewonnen!" Absicht wie ich vermutete, dennoch musste ich über diesen verdrehten Satz schmunzeln.

Felix stieß zu mir und klopfte mir mitfühlend auf die Schulter, sagte aber nichts. War auch besser so. „Noch ist das Spiel nicht vorbei“, erinnerte ich ihn.

„Schon klar“, erwiderte er verwundert.

„Dann mach nicht so ein mitfühlendes Gesicht und gib mir lieber was zu trinken“, knurrte ich.

„Ja, Chef“, rief er zackig und lief davon. Doofkopf.

Nach einer kurzen Trinkpause machten wir direkt weiter. Eine Niederlage kam für mich nicht in Frage, schon gar nicht gegen ein Mädchen. Ab jetzt würde ich keine Rücksicht mehr auf sie nehmen. Nimm dich in Acht, Kleine, jetzt ist Leontime. Let the show begin!

Sie kämpfte wie eine Löwin, das musste ich ihr lassen, trotzdem versenkte ich die letzten beiden Tore sicher im Kasten.

Grinsend riss ich die Arme hoch und die Jungs aus der Mannschaft klopften mir gut gelaunt auf die Schulter. Keiner hatte an meinem Sieg gezweifelt. Ich erhaschte nur einen kurzen Blick auf Sofia, die sich von Daniel trösten ließ. Frustrierend. Für sie versteht sich.

Dann stand sie auf einmal vor mir. „Gut gespielt, das war ein verdienter Sieg.“ Sie streckte mir die Hand hin.

Ich schlug ein. „Ich weiß. Du warst aber auch nicht übel.“

„Nicht übel?“, mischte sich Daniel ein, „wenn ich richtig gezählt habe, lag sie zwischendurch in Führung. Das war eine grandiose Leistung, Sofia!“

Ein paar Jungs nickten zustimmend, während sie nur unschlüssig mit den Schultern zuckte. „Solltest du als Zwillingsbruder nicht auf seiner Seite sein?“, fragte sie halb lächelnd.

Daniel winkte ab. "Ach was, das hat er verdient. Es war schon lange dran, dass jemand seinem Ego einen kleinen Dämpfer verpasst. Sieht so aus, als wäre das jetzt deine Aufgabe", stellte er fest. Auf meinem Stolz rumtrampeln musste er deshalb noch lange nicht! Danke, Bruderherz.

"Und dabei hatte ich vor seiner Visage aus dem Weg zu gehen", bemerkte sie. Na da waren wir ja ausnahmsweise Mal einer Meinung. Bevor Daniel ihr in diesem Punkt widersprechen konnte kam Erik auf die uns zu. Abwartend sahen wir ihm entgegen.

"Sofia! Das war wirklich unglaublich! Leon ist mit Abstand mein bester Spieler, aber du kannst ihm das Wasser reichen. Das war unglaublich", wiederholte er euphorisch. Man hätte denken können er hätte gerade gespielt und nicht wir.

"Du musst in unseren Verein eintreten. So eine Stürmerin wie du fehlt uns noch." Halt, Stopp, was?!

"Ist das keine Jungenmannschaft?", fragte sie zweifelnd. Guter Einwand.

"Tja, das stimmt natürlich, aber wir haben auch eine Mädchenmannschaft, die dein Talent gut gebrauchen könnte." Da hatte er allerdings Recht. "Allerdings fangen die erst ein bisschen später im Schuljahr an. Wenn du willst kannst du aber gerne solange mit den Jungs hier trainieren. Die beißen auch nicht, versprochen." Er grinste kurz. Er war ein guter Trainer, deshalb sahen wir großzügig über seine komödiantischen Versuche hinweg. „Und wenn du nicht mithalten kannst, keine Sorge, das kommt alles noch.“

"Wollen Sie damit sagen, Mädchen spielen schlechter als Jungs?" Wow, wo kam das denn gerade her? Er hatte doch gar nichts gesagt!

Daniel lachte. "Pass auf Erik. Sie ist eine kleine Furie." Der wirkte verständlicherweise leicht verwirrt. Auch ich war völlig verblüfft von diesem Ausbruch. Mädchen!

"Aber das hab ich doch gar nicht gesagt...?", ehrliches Erstaunen lag in Eriks Augen, der Arme verstand die Welt nicht mehr. Konnte ihm auch niemand verdenken.

"Sie haben gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, wenn ich beim Training der Jungsmannschaft Probleme habe. Und damit", fuhr Sofia fort etwas zu erklären das unerklärlich war, "behaupten Sie indirekt, dass Mädchen die schlechteren Fußballer sind." Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Den Gegenbeweis haben wir ja heute alle miterlebt. Ich kann es locker mit jedem Jungen aufnehmen." Okay, ich würde mich da definitiv raushalten. Wütenden Mädchen kam man besser nicht in die Quere. Daniel war nicht so schlau.

"Wow, willst du irgendwann mal Politikerin werden?", fragte der Dummkopf amüsiert und bekam die Quittung auf der Stelle.

"Darum geht es jetzt nicht!", motzte sie.

Daniel hob abwehrend die Arme. "Mann Sofia, was ist denn los? Hast du grad deine Tage oder...?" Oh-oh, schwerer Fehler! Weiter kam Daniel auch nicht, denn eine schallende Ohrfeige brachte ihn zum Schweigen. Dann drehte Sofia sich kommentarlos um und rannte los. Ich trat neben Daniel, der ihr völlig verwirrt nachsah, während er sich die Wange hielt. Auch Erik starrte einen Moment in ihre Richtung, dann drehte er sich kopfschüttelnd um.

"Was war das denn bitte?", fragte mein Bruder verständnislos.

Ich ließ meine Hand auf seine Schulter fallen. "Das, mein Freund, war ein Mädchen. Und du hast es geschafft es gegen dich aufzubringen. Nicht sehr empfehlenswert, ich hoffe, du lernst aus deinen Fehlern." Sein Blick wanderte zu mir. Ich zog die Augenbrauen hoch. "Regel Nummer eins im Umgang mit wütenden Mädchen: Aus dem Weg gehen!"

"Sollte ihr nicht lieber jemand nachgehen?", unterbrach Felix meine weisen Ratschläge.

Daniel hob abwehrend die Hände. "Also ich werde das ganz bestimmt nicht tun. Du kannst dein Glück gerne versuchen." Ich grinste. Der Arme hatte anscheinend einen Schock fürs Leben bekommen. Aber ich war seiner Meinung.

"Die kommt schon wieder runter. Lass uns lieber gehen, ich höre das Sofa rufen!" Felix sah kurz so aus als würde er mir widersprechen wollen, doch dann nickte er nur.

 

Zwei Stunden später warf ich dem Sofa noch einen wehmütigen Blick zu bevor ich den Raum verließ.

"Wohin willst du denn? How I met your mother fängt gleich an!" Das wusste ich auch.

"Ich geh nochmal raus, brauch ein bisschen frische Luft!", rief ich zurück. Ein ungläubiges Schnauben begleitete mich durch die Tür. Ich konnte sie ja verstehen. Ich würde jetzt auch lieber auf dem Sofa sitzen und meine Lieblingsserie gucken. Aber der Gedanke an Sofia ließ mich nicht mehr los. Daniel hatte versucht, bei ihr anzurufen, aber ihr Handy war natürlich in ihrer Tasche gewesen und die Festnetznummer kannte niemand. Der Name Meier war leider zu gewöhnlich, um ohne Adresse die richtige Familie herauszufinden.

Felix hatte mich mit seinen Bedenken angesteckt. Sofia hatte echt aufgewühlt ausgesehen, als sie los gelaufen war. Wer konnte schon wissen, ob sie sich nicht verlaufen hatte? Ich mein, klar, es wäre ein ziemlicher Zufall, wenn ich sie finden würde, schließlich konnte sie überall stecken... Andererseits... so unwahrscheinlich war es dann auch wieder nicht.

Entschlossen zog ich die Tür hinter mir zu. Es würde meine Nerven beruhigen, es wenigstens zu versuchen. Und wenn sich nachher herausstellen sollte, dass es sinnlos war, dann hatte ich immerhin ein bisschen Bewegung.

Entschlossen lief ich los.

Blödes Gewissen. Warum gehörte ich auch zu den netten Kerlen?

5 Erinnerungen

 

Sofia

Meine Füße hämmerten auf den Asphalt. Ein paar Mal verlor ich fast das Gleichgewicht, versucht niemals auf Stollenschuhen zu rennen, aber ich ignorierte es, lief einfach immer weiter.

In meinem Kopf wirbelten die Gedanken herum, unkontrolliert. Es war das reinste Chaos.

Irgendwann brachte mich die monotone Bewegung wieder runter, und der Wirrwarr in mir reduzierte sich auf einen einzigen Gedanken. Weiter laufen, nicht stehen bleiben. Einfach weiter laufen.

Und so lief ich, den Blick stur auf den Asphalt gerichtet, der irgendwann zu Gras wurde und schließlich zu Sand. Doch auch dort hielt ich nicht an, änderte nur meine Richtung, lief jetzt am Wasser entlang. Das sanfte Rauschen der Wellen, der scharfe salzige Geruch, der weiche Sand, der meine Schritte erschwerte, mich endgültig auspowerte - all das hatte eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich.

Als meine Beine anfingen zu zittern und meine Knie weich wurden ließ ich mich einfach rücklings in den Sand fallen. Es war inzwischen dunkel geworden und über mir blitzten ein paar Sterne zwischen den Wolken hervor. Und ich erinnerte mich.

 

Sand unter meinen nackten Füßen. Sonnenstrahlen in meinem Gesicht. Ein tiefes allzu bekanntes Lachen. Ein geliebtes Lächeln in einem geliebten Gesicht. Paps. Sommerurlaub in Frankreich an der Côte d'Azur. Der Letzte.

 

Eine Träne wagte ihren Weg aus meinem Augenwinkel und zog eine nasse Spur über meine Wange. Energisch wischte ich sie weg, doch eine zweite folgte. Und eine dritte.

 

"Wir bleiben immer zusammen. Immer."

Er lacht und nickt. Stupst meine Nasenspitze mit seiner Nasenspitze an. "Immer", verpricht er.

Es ist Abend und wir liegen am Strand, Mama und Fritz sind schon reingegangen. Paps verschränkt die Arme hinter dem Kopf und sieht gedankenverloren in den Sternenhimmel. Vertrauensvoll lege ich den Kopf auf seine Brust und male das Muster auf seinem T-Shirt nach. Er stupst mich an.

"Siehst du das Sternbild da oben? Diese fünf Sterne, die wie ein Kreuz angeordnet sind?" Ich folge der Richtung seines Fingers und versuche genau die fünf Sterne aus den Millionen leuchtender Punkte herauszusuchen. Dann finde ich sie.

"Das ist aber ein ziemlich krummes Kreuz", meine ich.

Paps lacht. Er hat ein schönes Lachen. "Dieses Sternbild heißt Adler. Und immer wenn du den Adler siehst, egal wo du bist, dann denkst du an mich und ich an dich."

Ich lächle ihn an. "Versprochen?", frage ich nach.

"Versprochen", antwortet er.

 

Tränen liefen über meine Wangen und verschleierten meine Sicht. Ich setzte mich auf und wischte mir erneut über die Augen. Ich wollte nicht weinen. Nicht schon wieder. Ich hatte genug getrauert. Trotzdem suchte ich am Sternenhimmel nach dem Adler. Ich fand ihn nicht. Wahrscheinlich war nicht die richtige Jahreszeit.

Doch der Polarstern leuchtete mir hell und tröstend entgegen. Er war immer da, ging nie weg. Ob er sich manchmal einsam fühlte da draußen im Universum? Ich belächelte mich selbst ob dieses irgendwie lächerlichen Gedankens. Und mir kam wieder in den Sinn warum ich hier im Dunkeln am Strand saß und Schuldgefühle durchfluteten mich. Armer Daniel, hoffentlich würde er mir verzeihen. Und der Trainer. Ich hatte meine Entscheidung gefällt, wollte wirklich gerne wieder Fußball spielen.

Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren war. Ich sah einfach rot, wenn jemand solche herablassenden Bemerkungen machte. Vielleicht hatte er es ja gar nicht bewusst gemacht. Was die ganze Sache eigentlich ja noch schlimmer machte. Ich fühlte wieder die Wut in mir hochsteigen.

Was war denn nur los mit mir? Irgendwas lief heute ganz gewaltig schief. Ich atmete ein paar Mal tief durch. Ich würde mich einfach morgen entschuldigen. Jeder hatte mal einen schlechten Tag. Der Trainer, Erik korrigierte ich mich, ich konnte ihn schließlich nicht die ganze Zeit der Trainer nennen, selbst wenn es nur in Gedanken war, Erik würde das sicherlich verstehen.

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Brr, irgendwie doch ein bisschen kühl geworden. Ich sah mich um. Strand, Dünen und Meer soweit das Auge reichte.

Verdammt.

Ich hatte mich verlaufen.

 

Zielstrebig stapfte ich durch das harte Dünengras. Na ja, was heißt zielstrebig, schließlich hatte ich keine Ahnung wo ich gerade hinlief, aber ich hatte einen Plan. Weg vom Strand, durch die Dünen bis ich auf eine Straße stieß. Ab da würde ich den Weg dann hoffentlich kennen. Oder zumindest erraten können. Mein Handy lag, wie konnte es anders sein, in meiner Tasche auf dem Fußballplatz.

Das heißt, ich wusste nicht, ob sie da immer noch lag. Ich hoffte, dass Daniel sie mir in die Schule mitbringen würde. Oder meinetwegen auch Leon oder dieser Felix, Hauptsache ich bekam meine Sachen wieder. Aber erstmal musste ich wieder zurück zur Zivilisation finden.

Leichter gesagt als getan. Die Anstrengungen der letzten Tage und vor allem dieses Tages machten sich in wackeligen Beinen und zitternden Knien bemerkbar. Und die Stollenschuhe trugen auch nicht unbedingt zu meiner Trittsicherheit bei.

Nach gefühlten drei Stunden konnte ich einfach nicht mehr. Entweder lief ich seit Stunden im Kreis oder ich war weiter von zu Hause weg als ich dachte. Entkräftet sank ich auf die Knie und vergrub mein Gesicht in den Händen. Zum zweiten Mal an diesem denkwürdigen Abend liefen mir die Tränen übers Gesicht, aber ich hatte nicht die Kraft sie zurückzuhalten. Ich fühlte mich verloren, einsam und klein. Echt keine gute Kombination für ein Lost-Szenario. Blieb noch zu hoffen, dass sich das Monster heute fernhielt.

Fast musste ich schon wieder lachen. Was für absurde Gedanken einem doch in solchen unmöglichen Situationen kommen konnten. Ich atmete tief durch und setzte mich wieder etwas gerader hin. Es hatte auch keinen Sinn hier in Selbstmitleid zu versinken, dadurch kam ich auch nicht schneller ins Warme.

Ich wünschte Paps wäre hier. Er wüsste bestimmt was man tun sollte. Nochmal suchte ich den Himmel nach unserem Sternbild ab, doch der Adler blieb unauffindbar. Paps auch. Wie man es auch drehte und wendete, er würde für immer wegbleiben und nur in der Erinnerung wiederkommen. Aber das hier war keine gute Gelegenheit sich zu erinnern, also drängte ich die Bilder in die hinterste Ecke meiner Gedanken.

Ich wischte mir einmal mehr die Tränen von den Wangen und stand auf, um zu entscheiden in welche Richtung ich mich wenden konnte. Schließlich, so war mir eingefallen, konnte ich mich doch am Polarstern ausrichten. Dann würde ich wenigstens nicht mehr im Kreis laufen.

Ich richtete mich also auf, strich mir ein paar Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, nach hinten und sah auf. Hätte ich das mal nicht getan.

Ein erschrockenes Keuchen entwich meinen Lippen und ich presste mir die Hand vor den Mund, um ihn an noch mehr unüberlegten Geräuschen zu hindern. Wilde Tiere ließen sich durch laute Geräusche leicht reizen. Und durch schnelle Bewegungen. Oder war es anders rum, und man sollte sie mit den lauten Geräuschen vertreiben? Auch egal, viel wichtiger war im Moment, was sich da vor meinen Augen abspielte. Das war ein verdammter Löwe der da auf mich zukam!

Na gut, er war vielleicht nicht ganz ausgewachsen, was mir ein Blick auf seine struppige Mähne und seine irgendwie unvollständig wirkenden Proportionen verriet. Und dennoch bewegte er sich mit einer kraftvollen Geschmeidigkeit, die untrennbar mit dem Wesen dieser Raubkatzen verbunden zu sein scheint. Ich konnte mich der faszinierenden Ausstrahlung dieses Tieres nicht entziehen. Seine animalischen goldbraunen Augen zogen mich in ihren Bann und machten mich bewegungsunfähig.

Vergessen war die Notlage in der ich mich befand, vergessen, dass ich hier wie auf dem Präsentierteller stand. Mit langsamen wohlüberlegten Schritten umkreiste mich der Löwe.

Im Nachhinein betrachtet muss es wirklich lächerlich ausgesehen haben, wie ich, unfähig meinen Blick von ihm zu lösen, den Bewegungen des Löwen folgte und mich dabei um mich selbst drehte.

Letztendlich ergriffen mein Verstand und mein Überlebensinstinkt wieder die Oberhand und sandten einen einzigen Befehl an meine müden Beine. Lauft! Und meine Beine gehorchten. Adrenalin schoss durch meine Adern und trieb mich zu einem irrsinnigen Tempo an. Ich schaute nicht zurück, wollte gar nicht wissen wie nah mein Verfolger war, denn dass er mich verfolgte, daran zweifelte ich nicht. Erst während meiner Flucht wurde mir eigentlich klar, in was für einer gefährlichen Situation ich mich befunden hatte und wie dumm ich mich verhalten hatte. Und immer noch verhielt. Wahrscheinlich hatte ich mit meiner Flucht seinen Jagdinstinkt erst recht geweckt. Eine neue Ladung Adrenalin wurde bei dieser Erkenntnis durch meinen Körper gepumpt und glaubt es oder nicht, ich wurde noch schneller.

Letztlich kam es wie es kommen musste. Mein Fuß verhakte sich in einer Vertiefung und mein Knöchel wurde schmerzhaft verdreht. Wie in Zeitlupe sah ich den Boden auf mich zustürzen, konnte nur noch reflexartig die Arme hochreißen und versuchen den Sturz abzurollen. Der Aufprall war schmerzhafter als alle bisherigen Stürze. Meine lädierten Rippen machten sich ebenfalls bemerkbar. Doch der Gedanke daran wurde schnell von einem anderen verdrängt. Ich falle immer noch!

Na ja, fallen war vielleicht nicht das richtige Wort. Vielmehr purzelte ich einen Abhang hinunter, der irgendwie aus dem Nichts aufgetaucht war, und stieß mit Kopf, Schultern und Beinen gegen hervorstehende Wurzeln und fiese Steine. Endlich landete ich mit einem dumpfen Laut auf dem Rücken. Der Sturz war vorbei. Die ganze Luft war auf einen Schlag aus meinen Lungen gewichen und ich brauchte einen Moment, bis ich wieder richtig atmen konnte.

Stöhnend öffnete ich die Augen einen spaltbreit und sah einen Himmel, durchbrochen von den dunklen Umrissen der Laubbäume. Laubbäume? War das etwa der Wald beim Fußballfeld? Ich hoffte es sehr, denn das würde bedeuten, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand. Innerlich checkte ich alle Körperteile durch. Der Knöchel tat furchtbar weh, war höchstwahrscheinlich verstaucht, wenn nicht sogar gebrochen. Mit angehaltenem Atem versuchte ich den Fuß ein bisschen zu bewegen und atmete zischend wieder aus. Er tat wirklich höllisch weh, war aber nicht gebrochen. Weiter ging's.

Die Beine waren bestimmt übersät mit blauen Flecken, wie der Rest meines Körpers - ich hatte echt noch keine Ahnung wie ich das später meinen Pflegeeltern erklären wollte - schienen aber ansonsten in Ordnung zu sein. Gleiches galt für meine Hüfte. Allerdings hatte ich keine Ambitionen in der näheren Zukunft einen Blick in den Spiegel zu werfen. Als ich den rechten Arm vor meine Augen hob musste ich einen Aufschrei unterdrücken. Er war voller Blut! Zum Glück war ich nicht zimperlich was solche Sachen anging, eigentlich war ich überhaupt nie zimperlich, weshalb ich keine Probleme hatte mit Hilfe meines T-Shirts den Arm notdürftig zu säubern. Und siehe da, was wie eine tödliche Fleischwunde aussah entpuppte sich als oberflächliche Schramme. Na ja, mein ganzer Arm war eine oberflächliche Schramme und es brannte ziemlich, aber egal.

Mit Hilfe meines linken Arms tastete ich meine Rippen ab und sog zischend die Luft ein. Jep, da war definitiv was geprellt. Es machte das Atmen zu einer schmerzhaften Angelegenheit. An einem Krankenhausbesuch kam ich wohl nicht vorbei. Mann, wie konnte so ein kleiner Abhang so viel Schaden anrichten?

Ich wollte dem Übeltäter einen wütenden Blick zu werfen, doch stattdessen schluckte ich schwer. Von wegen kleiner Abhang und so! Der kleine Abhang war mindestens zehn Meter hoch und als flach konnte man ihn wirklich nicht bezeichnen. Ich folgte der Spur die ich beim Runterfallen hinterlassen hatte und schluckte gleich nochmal als ich die ganzen dicken Baumstämme sah, an denen ich knapp vorbeigerauscht sein musste.

„Scheiße!“, stieß ich aus und fühlte mich gleich etwas besser. „Verdammte Mistkacke!“ Dann war mein Blick an der Kante des Abhangs angelangt und mir rutschte gleich noch ein Schwall Flüche heraus. Da stand dieser blöde Löwe, der mir das alles eingebrockt hatte, seelenruhig an der Kante und schaute zu mir runter. Ich zeigte ihm den Mittelfinger, mit der linken Hand versteht sich. Keine Ahnung ob er die Geste richtig interpretierte oder einfach nur keinen Bock hatte runter zu klettern, jedenfalls drehte er sich um und verschwand aus meinem Blickfeld. Mist, auch nicht ideal. Wer wusste schon, ob er nicht einen anderen Weg hier runter suchte.

Mit diesem motivierenden Gedanken hievte ich mich unter Ächzen und Stöhnen auf die Beine. Keine gute Idee. Kleine silberweiße Punkte tanzten Samba vor meinen Augen und ich klammerte mich haltsuchend an den nächstbesten Baum, wie eine Ertrinkende ans Rettungsboot. Wirklich eine ausgesprochen dämliche Idee. Ich redete mir selbst gut zu. Der Schwindel verging bestimmt bald. Solange würde ich hier einfach ganz ruhig stehen bleiben und zu Kräften kommen.

Genau. Guter Plan. Minutenlang (oder waren es Stunden?) stand ich an den Baum gelehnt und versuchte gleichmäßig zu atmen. Aber es wurde einfach nicht besser. Ich hatte eher das Gefühl die Punkte setzten jetzt zu einem flotten Tschtschatscha an.

Irgendwann, ich hatte meine Augen längst geschlossen, um das Übelkeitsgefühl, dass sich zum Schwindel gesellt hatte, unter Kontrolle zu halten, legte sich eine warme Hand auf meinen Rücken. Nur langsam drang die besorgte Stimme zu mir vor.

"...okay?“ Was? Was war los? Meine Gedanken wurden immer wirrer, Übelkeit und Schwindel verstärkten sich. Trotzdem öffnete ich meine Augen und drehte mich zu der warmen Hand. Besorgte Augen sahen mir entgegen, umrahmt von einer blonden Mähne. "Leon?", wollte ich fragen, doch kein Ton kam über meine Lippen, nicht mal ein Flüstern. Dann gesellten sich schwarze Punkte zu den silbernen. Das letzte was ich wahrnahm waren starke Arme, die mich auffingen, und ein warmer erdiger Geruch. Dann wurde es schwarz um mich und ich versank.

 

"Ach bitte!", quengle ich. "Bitte, bitte, bitte! Ich wünsch mir auch nichts zum Geburtstag und nichts zu Weihnachten." Flehentlich sehe ich meine Eltern an. Mama behält ihren strengen Gesichtsausdruck bei, aber Paps Mundwinkel zucken schon. Ich weiß, dass er mir nichts abschlagen kann. Deshalb setze ich meinen besten Hundeblick auf.

"Bitte Paps! Sie spielen doch nur einmal im Jahr hier in der Nähe! Und die Karten sind auch gar nicht so teuer, weil es ist doch nur ein Freundschaftsspiel!", leiste ich weitere Überzeugungsarbeit. Fast hab ich ihn. Mama bleibt skeptisch.

"Aber es ist Sonntag und Sonntag ist Familientag", wendet sie ein.

"Ihr könnt ja mitkommen", biete ich großzügig an. "Fritz will das Spiel bestimmt nicht verpassen. Ansonsten würden wir es uns doch sowieso im Fernsehen angucken. Live ist doch sooooo viel cooler! Frag Fritz!", schließe ich mein überzeugendes Argument. "Und Paps will auch, er sagt nur nichts wegen dir!" Dagegen kann selbst Mama nichts mehr sagen. Paps guckt schuldbewusst, aber er grinst mir heimlich zu. Er weiß auch, dass wir sie jetzt rum haben.

"Also gut", seufzt sie schließlich. "Aber danach den Sonntag machen wir was ich will." Mit einem Jubelschrei springe ich ihr in die Arme, gebe Paps ein High-Five und stürme hoch zu Fritz, um ihm die frohe Botschaft zu überbringen. Das wird super! Nur noch ein Monat, dann geht mein Traum in Erfüllung!

 

Doch es sollte ein Albtraum werden...

6 Veränderte Bedingungen

 

Leon

Als Sofia einfach so ohne Vorwarnung in Ohnmacht fiel konnte ich sie gerade noch auffangen. Na toll. Was sollte ich jetzt mit ihr machen? Nach Hause bringen konnte ich sie nicht, denn mal abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht wusste wo die Meiers wohnten, war ich mir auch absolut sicher, dass sie nicht sehr begeistert von Sofias Zustand wären. Simon wollte ich in diesem Moment auch nicht gerne über den Weg laufen und sie zum Ahlfeldt-Anwesen zu bringen war sowieso verboten. Schließlich war sie nur ein Mensch. Also wer könnte mir – Lia! Perfekt...

Ich lief so schnell ich mit einem Mädchen auf den Armen konnte. Jetzt, wo ich eine Lösung gefunden hatte, wollte ich, dass Sofia so bald wie möglich untersucht und verarztet wurde. Wie hatte das nur passieren können? Wie hatte ich bloß so unvorsichtig sein können? Sie hatte mich gesehen und natürlich war sie geflohen. Was hatte ich erwartet? Dass sie mich erkennen und einfach mit mir kommen würde? Wohl kaum. Dass ich sie jetzt gefunden hatte machte ihre Verletzungen auch nicht besser. Verletzungen, die sie meinetwegen hatte. Lia würde mir den Kopf abreißen.

Als Lia ihre Tür öffnete, versuchte ich es mit einem schuldbewussten Lächeln.

Sie seufzte. "Daniel hat angerufen. Komm rein." Sie trat einen Schritt zur Seite. "Du kannst sie ins Gästezimmer legen. Und zieh dir bitte was vernünftiges an." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Nachdem ich Sofia vorsichtig aufs Bett gelegt hatte suchte ich mir eine Jogginghose und einen Pulli raus. Zum Glück hatten wir immer was bei Lia rumliegen. Dann setzte ich mich in die Küche und überließ es Lia Sofia zu versorgen.

Es war eindeutig die richtige Entscheidung gewesen hierher zu kommen. Natürlich würde ich einer Strafpredigt nicht entkommen, aber im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern meiner Familie – Simon zum Beispiel – hatte Lia nichts gegen Menschen. Sie würde sich gut um sie kümmern.

Kurz darauf kam sie zu mir in die Küche.

"Wie geht es ihr?", fragte ich sofort besorgt nach.

"So gut wie es jemandem gehen kann, der sich vor einem Löwen erschreckt hat und gestürzt ist." Sie bedachte mich mit einem verärgerten Blick. "Was hast du dir nur dabei gedacht? Ist dir klar was alles hätte passieren können?" Betreten senkte ich den Kopf.

Lia seufzte nochmal. "Sie hat ein paar geprellte Rippen und viele Abschürfungen. Nichts wirklich Dramatisches also." Erleichterung machte sich in mir breit. Ich hätte es mir niemals verzeihen können, wenn Sofia sich ernsthaft verletzt hätte.

"Du magst sie sehr, oder?" Erschrocken starrte ich die junge Frau an. Mochte ich Sofia? Mochte ich sie sogar sehr? Keine Frage, sie hatte mich beeindruckt. Und ganz ehrlich? Das schafften nicht viele Mädchen.

"Sie ist ungewöhnlich. Nicht wie die anderen", antwortete ich vorsichtig. Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob ich sie mögen wollte. Ich runzelte verärgert die Stirn. Warum konnte nicht alles einfacher sein?

"Du weißt, dass das Simon nicht gefallen wird."

Ich nickte. "Klar, wir kennen doch beide Simon. Er würde niemals zulassen, dass ein Mensch..." Wir wurden von dem Geräusch einer sich öffnenden Tür unterbrochen. Sofia war wach. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht, sie hatte nicht lange geschlafen.

Als sie dann auf einmal in der Tür stand konnte ich mir ein mitfühlendes "Ach du Scheiße" nicht verkneifen. Lias Diagnose hatte mich nicht auf diesen Anblick vorbereitet. Sofias Gesicht war übersät mit kleinen Schrammen und blauen Flecken, sie hielt sich die Rippen und lehnte am Türrahmen, um ihren rechten Knöchel zu entlasten. Kurzum, sie sah aus als hätte sie sich geprügelt. Mit drei Kerlen, die ungefähr doppelt so groß waren wie sie. Nur waren es keine blöden Schläger gewesen, vor denen ich sie gerettet hatte. Und Lias Nachthemd trug auch nicht dazu bei das zu verbergen

Sie versuchte sich an einem Lächeln und diese tapfere Geste brachte mich dazu aufzuspringen und ihr einen Stuhl heranzuziehen.

"Setz dich doch", bot ich ihr an und mit einem dankbaren Lächeln kam sie zu mir herüber. Beim Setzen streifte ihre Hand meinen Arm und erinnerte mich an das Gefühl ihres Körpers auf meinen Armen. Es kostete mich Selbstbeherrschung mir nichts von meinen Gedanken anmerken zu lassen, doch ein kurzer Blick zu Lia sagte mir, dass ich auf ganzer Linie versagt hatte. Hoffentlich hatte wenigstens Sofia nichts gemerkt.

Ich setzte mich neben meine verletzte Mitschülerin und musterte mit wachsenden Schuldgefühlen ihre Verletzungen.

"Ist es so schlimm?", fragte sie unsicher nach.

"Nein!", rief ich fast und fuhr etwas weniger übereifrig fort, "Nur ein bisschen." Oh Mann, wie peinlich.

"Ganz der Charmeur. Kriegst du oft Mädchen so rum?", erwiderte Sofia spöttisch, doch irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es diesmal weniger ernst gemeint war. Oder bildete ich mir das nur ein?

"Ich bin übrigens Lia", mischte sich die beste Freundin meines Bruders ein, bevor ich eine passende Antwort gefunden hatte. Danke, Lia. "Also eigentlich Lianne, aber das ist so lang." Sie zwinkerte dem Mädchen neben mir zu. "Und du bist also Sofia."

Die Angesprochene sah leicht irritiert aus. "Ja", antwortete sie gedehnt und drehte sich dabei zu mir. "Warum scheint nochmal deine ganze Familie oder", sie machte eine unschlüssige Handbewegung zu Lia, "deine Freunde über mich Bescheid zu wissen?"

"Beste Freundin des großen Bruders", erklärte Lia.

"Oder so. Also?" Erwartungsvoller Blick in meine Richtung.

Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern. "Na ja, du kennst doch Daniel. Der Vorfall aus dem Spanischunterricht ist irgendwie an seine Ohren gekommen – oh keine Angst, er war hellauf begeistert von dir – und dann hat er es mit Felix besprochen, bevor er mich darüber ausgequetscht hat, und dann mussten sie es natürlich Lia unter die Nase reiben." Irrte ich mich oder sah sie sogar leicht enttäuscht aus? Nein, garantiert irrte ich mich.

In diesem Moment gab der Herd ein dezentes 'Bing' von sich und Lia wirbelte erschrocken herum, nur um uns kurz darauf anzustrahlen. "Habt ihr Lust auf Pfannkuchen? Die Pfanne ist heiß."

Ich musterte den Herd skeptisch. "Pfannkuchen um Mitternacht?"

Doch Sofia grinste nur. "Perfekt!"

"Ich wusste, dass ich mit Pfannkuchen dein Herz erobern kann. Das funktioniert immer", lachte Lia und holte den Teig aus dem Kühlschrank. "Was ist mit dir Leon?" Ich winkte ab. Essen konnte man zwar immer, aber Mitternachtspfannkuchen waren mir dann doch irgendwie mindestens fünf Stunden zu früh. Ich lehnte mich lieber gemütlich in meinem Stuhl zurück und beobachtete, wie sich die Mädels mit Heißhunger über die ersten Pfannkuchen hermachten.

"Machst du das denn öfter?", fragte Sofia nach einer Weile hungriger Stille interessiert.

"Pfannkuchen backen? Ja, eigentlich jeden Morgen." Lia zwinkerte mir zu, sodass ich schon wieder grinsen musste. Ja, allerdings. Pfannkuchen waren sozusagen Lias Universallösung.

"Nein, ich meinte eher, Pfannkuchen für verletzte Mädchen zu backen, nachdem Leon sie mitten in der Nacht angeschleppt hat." Autsch, fieser Seitenhieb. Vielen Dank.

"Nein.. Ja... Also, meistens sind es keine Mädchen die er anschleppt." Ein Knurren entschlüpfte meiner Kehle und ließ Sofia erschrocken herum wirbeln, doch ich starrte Lia nur böse an. Sie sollte gefälligst aufpassen was sie da von sich gab!

"Okay, das kam jetzt vielleicht ein bisschen falsch rüber", versuchte sie sich mit einem Grinsen heraus zu reden.

Sofia schüttelte den Kopf. "Ach was, wie kommst du denn auf so eine Idee." Triefender Sarkasmus.

"Freunde. Also Kumpel-Freunde. Die bringt er mit, wenn sie mal wieder in irgendeine Prügelei verwickelt waren", erklärte Lia lachend.

"Und dann lässt er sich von dir anmeckern?" Gut, dass wäre dann wohl die Stelle an der ich mich mal wieder einmischen sollte.

"Simon übertreibt einfach immer! Das muss ich mir echt nicht antun." Das sorgte für kurze Verwirrung.

"Wer ist Simon?"

"Mein großer Bruder", antwortete ich, während Lia fast zeitgleich erwiderte: "Mein bester Freund." Gut, dass wir das geklärt hätten.

"Oh wow, du hast Angst vor deinem großen Bruder und das Beste was dir einfällt ist, sich bei seiner besten Freundin zu verstecken? Scheint mit nicht sehr schlau."

Lia grinste. "Oh Mann, Leon, sie ist super! Wo hast du sie kennen gelernt?" Ja, super, wenn sie auf mir herumhackte.

"Schule", erklärte ich einsilbig. Wetten sie hatte das alles schon brühwarm von Daniel erzählt bekommen? So eine Heuchlerin.

"In der Schule? Warum hast du mir nicht früher von ihr erzählt?"

"Ich sitze hier, und ich bin durchaus in der Lage dich zu hören", unterbrach Sofia meinen Antwortversuch.

"Oh, tut mir leid. Also, warum hat er noch nichts von dir erzählt?"

"Wir kennen uns erst seit gestern und..."

"Ach, dann bist du die Pflegetochter von den Meiers? Du Arme!", wurde sie ihrerseits unterbrochen. Geschah ihr Recht. "Kein Wunder, dass Leon dich nicht nach Hause gebracht hat." Wie genau waren wir dazu gekommen jetzt über mich zu reden?

"Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass es aus ritterlichem Edelmut passiert ist. Ich glaube, er wusste es einfach nicht." Schön, dass sie so eine unglaublich gute Meinung von mir hatte.

"Oh." Dieser Ausspruch brachte Lia einen ungläubigen Blick ein.

"Na ja, mir gegenüber hat er sich bis heute nicht gerade durch Rücksicht und Höflichkeit ausgezeichnet", erklärte sie. "Und ich dachte, du kennst ihn schon länger als ich." Hey, ich saß direkt neben ihr! Warum war sie so fies zu mir?

"Tu ich ja auch, aber ich bin eine unverbesserliche Optimistin", sagte Lia schulterzuckend. Also wirklich, man konnte es auch übertreiben. Immerhin war ich sie suchen gegangen oder nicht? "Aber schön, dass es endlich mal jemanden außer Felix und Daniel gibt, der ihm die Meinung sagt. Ich glaube das wird ihm sehr gut tun." Was sollte das denn heißen?

"Auch ich verfüge über ausgezeichnete Ohren, und bin, soweit ich weiß, auch durchaus in der Lage auf Fragen zu meiner Person eine zufriedenstellende und wahrheitsgemäße Antw...", wollte ich mich verteidigen wurde aber direkt wieder unterbrochen.

"Bestimmt, aber es macht einfach viel mehr Spaß mit Lia zu reden als mit dir." Könnt ihr euch noch erinnern, als ich mir Gedanken gemacht hab, ob ich Sofia mögen könnte? Hat sich erledigt, denn offenbar kann sie mich nicht leiden.

"Soll ich dich jetzt nach Hause bringen? Ich geb dir auch meine Nummer, dann können wir uns irgendwann mal ohne diese Nervensäge treffen." Ja, schon gut, wollt ihr vielleicht noch ein Foto machen und Freundschaftsarmbänder tauschen? Doch Sofia nickte nur und wollte gerade aufstehen, da hielt sie inne und fixierte mich nachdenklich. Oh-oh, hat sie doch was gesehen?

"Wie hast du mich heute Abend eigentlich gefunden?", fragte sie mich misstrauisch.

Schnell, eine gute Antwort!!! "Ich bin dir nachgelaufen, hab dich aber irgendwann verloren und erst wiedergefunden, als du schon den Abhang hinter dir hattest." Na ja, gut war was anderes, aber es entsprach wenigstens teilweise der Wahrheit.

"Hm", machte sie skeptisch. Ich hatte sie nicht überzeugt. "Dann solltest du das nächste Mal wenn du hier alleine in der Gegend rumläufst etwas vorsichtiger sein. Hier gibt es nämlich Löwen.“ Das wäre sogar witzig gewesen, wenn es nicht so ernst gewesen wäre. Deshalb verkniff ich mir das Lachen lieber.

"Ja, das sind ein, zwei Jungtiere, die von irgendwelchen Privatleuten ausgesetzt wurden, als sie genug von ihren exotischen Haustieren hatten", mischte sich Lia ein. "Die sind nicht gefährlich. Wollen wir dann?" Sie hielt Sofia einen Klamottenstapel unter die Nase und bedachte mich mit einem scharfen Blick. Ja, schon gut, ich würde mich zusammen reißen. Meine Güte.

In diesem Moment klingelte mein Handy und ich machte ein paar Schritte zur Seite um abzunehmen.

"Nach Hause und zwar sofort!", schallte es mir aus dem Lautsprecher entgegen, bevor ich auch nur die Chance hatte irgendwas zu sagen.

"Simon", seufzte ich zurück. "Komm mal wieder runter. Hat Lia dir geschrieben?" Durch das Küchenfenster konnte ich sehen wie sie und Sofia aufs Motorrad stiegen. Eine echt coole Cross-Maschine. Passte zu Lia. Aber hoffentlich fuhr sie Sofia zuliebe heute etwas vorsichtiger als sonst.

"Ganz genau, also mach mir hier nichts vor. Du kommst her und zwar pronto!" Dass er sich immer so aufregen musste! Aber man musste ihn ja auch nicht unnötig provozieren.

"Bin in fünf Minuten da."

"Pass auf, dass dich keiner sieht!" Damit legte mein geliebter großer Bruder auf.

"Ich bin doch kein Welpe mehr", brummelte ich vor mich hin. Dann machte ich mich auf den Weg.

 

Als ich mit frischen Klamotten in Simons Büro trat, hatte Lia es sich schon gemütlich gemacht. Gut, dann hatte Simon sich bestimmt schon wieder ein bisschen beruhigt. Bei meinem Eintreten hatte er sich umgedreht und stand jetzt steif wie ein Brett, die Arme hinter dem Rücken verschränkt vor dem kalten Kamin. Ich ließ mich auf den zweiten Stuhl fallen. Immer wieder unglaublich, aber Simon war nie beim Bund oder so gewesen. Ich glaube er stand schon als Kind so steif in der Weltgeschichte herum.

"Leon!" Ich zuckte zusammen. Eine eindrucksvolle Stimme hatte er auch.

Plötzlich seufzte er und strich sich mit der Hand durch die Haare. "Wie kannst du nur so unvorsichtig sein?"

Ich verschränkte trotzig meine Arme vor der Brust. "Ich wollte ihr doch nur helfen." Das schien ihn nicht sehr zu beeindrucken.

"Aber ein Mensch? Was, wenn sie dich gesehen hätte? Was, wenn sie jetzt die richtigen Schlüsse zieht?" Er seufzte noch einmal. "Egal, jetzt ist es passiert. Ich werde dir ausnahmsweise keinen Hausarrest geben, aber halt dich von diesem Mädchen fern!" Was?! Will er mir jetzt etwa vorschreiben mit wem ich befreundet sein soll? Ich meine, ich wollte ja gar nichts von ihr, aber er konnte es mir doch nicht verbieten!

"Aber", wollte ich auffahren, doch Lia legte mir beruhigend eine Hand auf den Arm.

"Simon, komm schon. Ich glaube, er hat sie wirklich gern", sagte sie sanft. Halt! Was? So würde ich das jetzt auch nicht ausdrücken.

Simon machte eine abwehrende Handbewegung. "Noch schlimmer! Das kann ich gerade überhaupt nicht gebrauchen, dass Leon sich in irgendeinen Menschen verguckt." Er sah mich an. "Es bleibt dabei, du hältst dich von ihr fern. Du weißt, was du der Familie schuldig bist."

Wütend sprang ich auf und stürmte zur Tür. Das war ja wohl die Höhe! Ich knallte die Tür hinter mir zu und stapfte die Treppe hoch zu meinem Zimmer. Was erlaubte der sich eigentlich? Selbst, wenn es eindeutig, na gut nicht mehr so ganz eindeutig, aber egal, also, selbst wenn ich wahrscheinlich nicht in Sofia verliebt war, war es doch unglaublich anmaßend von Simon mir vorschreiben zu wollen mit wem ich befreundet sein sollte, wen ich lieben sollte.

Oh, natürlich würde ich auf ihn hören. Machte ich doch immer. Aber scheiße war es trotzdem...

7 Schwere Gespräche

 

Sofia

Erstaunlicherweise gaben sich meine Pflegeeltern mit der mehr als fadenscheinigen Begründung zufrieden, ich hätte bei einer Freundin übernachtet und meine Verletzungen kämen von einem Unfall beim Fußball spielen. Was ja im weitesten Sinne sogar die Wahrheit war, und wenn sie sich damit abfanden sollte es mir nur Recht sein. Während des Wochenendes lag ich die meiste Zeit in meinem Zimmer und schlief. Am Montagmorgen fühlte sich alles schon nicht mehr so schlimm an. In den Spiegel zu schauen traute ich mich trotzdem nicht. Den fragenden Blicken meiner Mitschüler begegnete ich mit abweisender Haltung. Sollten sie doch denken was sie wollten. Die meisten interessierte es sowieso nicht.

Nina hingegen schon. Sie wartete allerdings gar nicht erst auf eine Antwort meinerseits, sondern plapperte einfach weiter vor sich hin, wobei sie mich wieder durch die ganze Schule zog. Ich ließ sie machen, denn ich hatte da so meine egoistischen Hintergedanken. Ganz offensichtlich wusste Nina etwas über Leon und Daniel, und wie ich sie kannte würde man damit ein ganzes Buch füllen können. Ich wartete also auf den günstigsten Moment, um sie ganz unauffällig darauf anzusprechen, als ich den einzigen Menschen kennen lernte, der Nina zum Schweigen bringen konnte. Und das mit nur einem Wort. Ob er sie dressiert hatte? Ob es wohl lange gedauert hatte?

"Schatz", sprach der nun gar nicht mehr so geheimnisvolle Fremde das magische Wort aus. Das musste Joel sein, Ninas Freund. Er hatte ein nettes Gesicht, eins von denen, die man sofort wieder vergaß und in einer Menschenmenge auch garantiert nicht wiederfinden würde. Während Nina ihm strahlend um den Hals fiel und ihn mit einem Kuss begrüßte, machte ich Bekanntschaft mit seinen Anhängseln, Tom und Lena.

Die beiden waren genauso unscheinbar wie Joel, und ich war froh, dass ich mir ihre Namen merken konnte. Zum Glück kamen bis auf einen gerüchteverheißenden Blick keine nervigen Reaktionen auf meine Unfallspuren.

Gemeinsam mit den Vieren fand ich mich schließlich in der Cafeteria wieder, zum Glück in Fensternähe, wo zu meinem Erstaunen nicht nur Nina redete. Denn jedes Mal, wenn sie drohte in einem ihrer endlosen Redeflüsse zu versinken, bedachte Joel sie mit einem strengen Blick, gefolgt von einem entschuldigenden Lächeln und einem Kuss. Ich staunte nicht schlecht, dass Nina sich so etwas gefallen ließ, aber meine Achtung vor und Sympathie für Joel stiegen stetig. Schließlich war er es auch, der mir den idealen Vorwand für meine Fragen lieferte, als er mich freundlich fragte: "Und, was hast du gestern noch so gemacht?"

"Hab mich ein bisschen umgesehen und bin dabei auf ein Fußballfeld gestoßen."

"Ach", seufzte Tom. "Dann hast du ja bestimmt schon unsere königlichen Zwillinge kennen gelernt?" Das lief ja besser als gedacht. Ich belohnte Tom mit einem freundlichen Lächeln. Und Humor hatte er anscheinend auch.

"Ja, ich hab mit Leon Sport und Spanisch und Daniel kenn ich schon aus der Pause..."

"Echt?!", kreischte Lena schon fast. "Du hast mit ihnen geredet? Und? Was haben sie gesagt?" Etwas perplex starrte ich die beiden Mädchen an, deren verträumte Blicke zwar auf mich gerichtet waren, sich aber garantiert etwas anderes vorstellten. Jede Wette.

"Die sehen beide sooo gut aus", schwärmte Nina und gab ihrem Freund sofort einen entschuldigenden Kuss. Ärgerlicherweise hatte sie Recht. Nicht das ich das jemals zugeben würde.

"Wenn ihr meint, aber königlich?", fragte ich dann amüsiert nach, auch wenn ich diesem Titel insgeheim nur zustimmen konnte.

Joel schnaubte. "Ja, weil sie sich für was Besseres halten und auch keine Probleme haben das zu zeigen." Wow, so einen verächtlichen Ton hätte ich ihm gar nicht zugetraut.

"Daniel auch?" Irgendwie konnte ich mir das nicht so richtig vorstellen.

"Ach was, die ganze Sippe ist doch so!", mischte sich auch Tom wieder ein. Mann, Mann, langsam hatte ich das Gefühl, Leon war nicht sonderlich gut im Freunde finden. Aber Moment mal.

"Sippe? Wie viele gibt’s denn von denen?" Könnt ihr mein Entsetzen nachvollziehen? Nein? Ihr kennt ja auch Leon nicht! Allerdings gab es da auch noch Daniel...

"Das weiß man nicht so genau, die Ahlfeldts leben ziemlich zurückgezogen."

"In einer riiiiesigen Villa im Wald", schwärmte Nina schon wieder. Störten noch jemanden außer mir diese laaaanggezogenen Vokale? Schien so, denn Nina kassierte wiedermal einen Blick von Joel.

Der auch gleich einen Kommentar parat hatte. "Ja, hinter einer riiiesigen Mauer, die soweit ich weiß noch nie ein Außenstehender überwunden hat." Oho, schien so, als hätte ich mit Joel einen ebenbürtigen Verbündeten gefunden. Das war für Lena Grund genug mit dem Schwärmen weiter zu machen. Kunststück, sie hatte ja auch keinen strengen Freund.

"Und bis zur zehnten Klasse haben sie Hausunterricht. Erst dann wechseln sie aufs Fachgymnasium. Ganz exklusiv!"

"Eher extravagant“, kommentierte Tom mürrisch. War da etwa jemand neidisch?

"Das erklärt dann wohl auch ihre mangelnden Sozialkompetenzen." Joel und Tom grinsten, während Lena und Nina ein bisschen pikiert dreinsahen.

"Du bist schon in Ordnung, Sofia." Oh, danke für diesen Ritterschlag Joel. "Aber du solltest trotzdem vorsichtig sein, wenn du dich mit ihnen abgibst", warnte er mich. Juhu, noch mehr kryptische Andeutungen. "Sie sind gefährlich." Ich verdrehte die Augen. Na toll, anscheinend war das ansteckend.

"Jaja, ich werde schon aufpassen." Erwähnte ich, dass ich Vorschriften hasse? Ein Minuspunkt für dich Joel. Tststs, und dabei lief es gerade so gut mit uns. Kopfschüttelnd erhob ich mich. "Habt ihr noch irgendwelche Überlebenstipps für mich oder war's das erstmal?"

"Na ja...", setzte Tom an, doch ich unterbrach ihn.

"Die Kunst ist, den Sarkasmus zu erkennen, wenn er einem ins Gesicht springt. Mein Überlebenstipp für euch", erklärte ich freundlich. Ich schnappte mir meine Sachen. "Man sieht sich, Leute." Erstmal hatte ich genug von diesen schrägen Vögeln.

An der Tür lehnte ich mich kurz an die Wand. Das musste ich jetzt erstmal verarbeiten. Wie passte das Bild des netten hilfsbereiten Jungen von Vorhin mit dem eingebildeten Schnösel aus der Schule zusammen? War das Bild, das ich, das alle von Leon hatten, möglicherweise falsch? Ich konnte es nicht so richtig glauben. Aber...

"Sag bloß, du hast freiwillig mit dem Plappermaul geredet", wurde ich schon wieder von der Seite angequatscht. Ich starrte Daniel verwirrt an. Der sog erschrocken die Luft ein und griff nach meinem Kinn, um dann mein Gesicht einer gründlichen Musterung zu unterziehen.

"Wer war das?", fragte er erstaunlich aggressiv.

Ich grinste und entzog mich seiner Hand. "Ach komm schon, so schlimm sieht es jetzt auch nicht aus." Er schüttelte den Kopf und fand das Ganze wohl gar nicht witzig.

"Sag schon, wer war das? Doch nicht etwa mein unterbelichteter Bruder?"

"Was?!", geschockt sah ich ihn an. "Nein! Nein, das war nicht Leon, nur meine eigene Ungeschicklichkeit." Der Beruhigungsversuch scheiterte.

"Ach komm, verarsch mich nicht! Ich weiß, dass du allen erzählt hast, das wäre beim Fußball passiert" - woher wusste er das jetzt schon wieder? - "aber als du gestern so plötzlich abgehauen bist hattest du das noch nicht. Und soweit ich weiß, war Leon gestern der einzige, der abends nochmal rausgegangen ist." Woah, warum ging er denn so ab? Ich meine, ist ja schön und gut, dass er sich Sorgen machte, aber man konnte es auch übertreiben. Und halt mal! Leon war erst abends rausgegangen? Also war er mir gar nicht nachgelaufen? Wie hatte er mich dann gefunden?

Aber das sollte ich später überdenken, jetzt galt es erstmal Daniel zu beruhigen, der mich in diesem Moment am Arm packte und aus der Cafeteria schob. Zum Glück, denn Nina und ihre Freunde hatten uns schon unheilvolle Blicke zugeworfen. Ehrlich gesagt hatte ich Angst vor der Szene, die Lena und Nina mir machen würden, wenn ich sie das nächste Mal sah.

"Komm mal wieder runter, Daniel", meckerte ich, während ich so hinter ihm her stolperte. "Und nimm ein bisschen Rücksicht auf meine Rippen." Das ließ ihn sofort anhalten und mir wieder einen besorgten Blick zuwerfen.

Ich winkte ab. "Alles halb so schlimm, dank Lia."

"Woher kennst du Lia?"

"Das wollte ich dir gerade erzählen, bevor du mich wie ein wildgewordener aus der Cafeteria gezerrt hast."

Daniel machte ein entschuldigendes Gesicht. "Sorry, aber dieses Plappermaul und ihre Papageien-Freunde waren mir ein bisschen zu penetrant. Was wolltest du jetzt eigentlich von ihnen?"

Ich sah Daniel an. "Deine Gedankensprünge sind manchmal irgendwie irritierend. Ich wollte was über deine Sippe rausfinden, ihr seid nämlich ungefähr so gesprächig wie eine Packung Toastbrot, was gewisse Dinge angeht. Lia eingeschlossen."

Daniel lachte. "Man könnte es als Familienkrankheit bezeichnen. Garantiert erblich und wirkt auf sehr gute Freunde ansteckend."

"Und bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte ihren Arzt oder Apotheker?"

Er zuckte mit den Schultern. "Wäre 'ne Möglichkeit." Er zwinkerte mir zu. Alles klar, Situation entschärft. Ich lächelte vorsichtig.

"Und, was Interessantes herausgefunden?", konnte er sich nicht verkneifen zu fragen. Neugieriger Kerl. Ich musterte mein Gegenüber genauer. Sah er etwa besorgt aus?

"Oh, sie hatten schon so einige Geschichtchen zu erzählen...", bemerkte ich schließlich. Ha! Gleiches mit Gleichem, mein Freund. Ich konnte nämlich auch blöde Andeutungen machen.

Dann wechselte ich das Thema, und Daniel wohl oder übel auch. "Ich muss mich noch bei dir entschuldigen. Keine Ahnung am Freitag mit mir los war. Tut mir echt leid." Puh, geschafft. Besorgt beobachtete ich den Blondschopf, aber seine Frohnatur kam mir zugute.

"Halb so wild", winkte er ab. "Jeder hat mal einen doofen Tag."

Ich seufzte erleichtert. "Sehr gut, das hat mir echt Kopfzerbrechen bereitet", erklärte ich. "Wann habt ihr eigentlich immer Fußballtraining? Ich würde nämlich echt gern auf das Angebot eures Trainers eingehen und wieder spielen. Aber bei meinem Zustand sollte ich damit wohl lieber noch die eine oder andere Woche warten."

"Klar, kein Problem. Coole Sache!“, freute Daniel sich. "Wir trainieren immer Dienstags und Donnerstags. Du kannst einfach um vier zum Feld kommen. Und bring dein Sportzeug mit, dann kannst du auch gleich mittrainieren." Dann machte er ein zerknirschtes Gesicht. "Ach ja, wegen deinen Sachen, die haben wir mitgenommen, kriegst du dann morgen in der Schule zurück, okay?"

Ich lächelte ihn beruhigend an. "Solange ihr nicht drin rumgeschnüffelt habt... Habt ihr nicht oder?"

Er schüttelte hastig den Kopf. "Würden wir nicht wagen. Also ich zumindest nicht, für Leon kann ich nicht garantieren." Ich seufzte. Aber man will ja optimistisch bleiben. Wenigstens war mein Handy gesperrt. Ich hoffte einfach, dass sie schlau genug waren es auch so zu lassen.

"Alles klar, hoffen wir das Beste." Es klingelte. "Dann bis nachher." Ich machte mich auf den Weg zu meinem nächsten Raum. Kaum ein paar Schritte weit gekommen rief mir Daniel hinterher: "Und du hast mir immer noch nicht erzählt wie es zu deiner Kriegsbemalung kam!"

Ich grinste ihn über die Schulter an. "Pause? Innenhof?" Er grinste zurück und hob den Daumen. Alles klar.

Ich besah meinen Stundenplan und siehe da: Spanisch stand auf dem Programm. Da meinte es wohl jemand gut mit mir, was klärende Gespräche anging. Yeah!

Ich weiß übrigens echt nicht, was da Samstagnacht mit mir los war. Leon hatte mich gerettet und ich hatte mich mit ein paar blöden Sprüchen revanchiert, was normalerweise nicht so meine Art war. Und es war auch absolut nicht meine Art irgendjemandem etwas schuldig zu sein, schon gar nicht jemandem, den ich nicht mochte.

Obwohl ich mir in diesem Punkt ja absolut nicht mehr sicher war. Es hatte sich gut angefühlt, als er mir den Stuhl zurückgezogen hatte, sich um mich gekümmert hatte, als wäre er wirklich besorgt gewesen. Diese Illusion hatte mir Lia zwar gleich wieder genommen, aber das gute Gefühl blieb. Und deshalb war ich Leon mindestens einen Dank schuldig. Allerdings wäre es mir lieber gewesen das bei Lia zu erledigen, als jetzt vor der ganzen Schule oder zumindest vor unserem Spanisch-Kurs. Aber da musste ich jetzt wohl durch.

Ich beeilte mich und erreichte noch vor dem Lehrer den Raum. Leon stand schon da, zusammen mit diesem einen Kerl vom Fußball. Wie war sein Name noch? Ferdinand? Fritz? Nein, definitiv nicht. Felix vielleicht? Ja, Felix konnte stimmen.

"Hey", grüßte ich die Beiden. "Leon, können wir kurz reden?" Ich schenkte Felix ein entschuldigendes Lächeln. "Allein?" Leon lächelte spöttisch.

Felix hob lachend die Hände. "Keine Angst, da werd ich mich garantiert nicht einmischen." Damit handelte er sich einen bösen Blick von Leon ein, bevor dieser sich mir wieder zuwandte.

"Was ist denn jetzt schon wieder?" Argh! Warum hatte er kein Manieren und dafür ein Ego höher als das Empire State Building? Das zerstörte alle meine guten Vorsätze. Felix entfernte sich unterdessen ein paar Schritte. Schlauer Kerl. Ich biss die Zähne zusammen und atmete tief durch.

"Also was jetzt?", machte Leon weiter. "Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit." Er warf einen demonstrativen Blick auf seine Uhr. Okay, bleib ganz ruhig, bring es einfach hinter dich.

"Eigentlich wollte ich mich ja bei dir bedanken, aber ich hätte mir ja denken können, dass das bei dir eh nichts bringt!", motzte ich trotzdem. Tja, was sollte es. "Arschloch!" Damit drehte ich mich um. Kurz meinte ich, einen traurigen Ausdruck in seinen Augen zu sehen, doch als der Lehrer kam schob sich Leon kommentarlos an mir vorbei. Ich hatte mich wohl in ihm geirrt.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Erst war er das Arschloch vom Dienst, dann der nette Typ von nebenan und jetzt die Unnahbarkeit in Person. Hatte ich was falsch gemacht? Ihn irgendwie verärgert oder so? Oder war ich einfach nicht gut genug für ihn und seine Familie?

Entschlossen reckte ich mein Kinn. Wenn das so war würde ich mich garantiert nicht aufdrängen. Die konnten mir alle gestohlen bleiben!

Ich fühlte mich so dumm. Dabei hätte ich es ahnen können. Hatte es schon so oft erlebt. Aber ich hatte gehofft. Gehofft, dass es hier anders sein könnte. Dass sie anders sein könnten. Doch es kam wie es kommen musste. Ich hatte ihnen vertraut und sie hatten mich verlassen. So wie alle anderen vor ihnen.

Tja, ich hätte es wissen müssen. Warum, warum nur musste ich so naiv sein... Ich sollte mich von dieser Sache nicht so runterziehen lassen. Tief durchatmen und nach vorne schauen.

Leon war abgehakt. Was ich von Daniel halten sollte wusste ich noch nicht. Einerseits war er der Zwillingsbruder von Leon, andererseits immer auf meiner Seite gewesen. Mir blieb wohl nichts anderes übrig als abzuwarten. Und mich mehr mit Nina zu beschäftigen.

Wenn ich nichts erwartete würde ich auch nicht wieder enttäuscht werden. Jetzt hieß es: Nur noch dieses eine Jahr überstehen.

8 Verschwörung

 

Irgendwo, gar nicht weit entfernt

Der Raum war dunkel, die Sonne ausgesperrt. In dem dämmrigen Zwielicht konnte man die Umrisse eines Schreibtisches und mehrerer Aktenschränke erkennen. Die Unordnung war überwältigend. Unzählige einzelne Zettel flogen herum, bedruckt, beschrieben, durchgestrichen, verbessert. Inmitten dieser Worte und Pläne saß ein Mann, in einen Text vertieft, ab und zu eine Randbemerkung notierend.

Als es an der Tür klopfte sah der Mann erwartungsvoll auf. Er wartete auf eine wichtige Meldung. Eine Meldung, die über sein Leben entscheiden könnte. Eine Meldung, die endlich, endlich seinen Wunsch nach Rache erfüllen könnte.

Herein trat ein junger Mann. Er stellte sich vor den Schreibtisch und salutierte, bevor er einen Schritt nach vorne trat und einen sauber gefalteten Zettel hinlegte. Mit einem Nicken bedeutete der Mann seinem jungen Botschafter wieder zu gehen. Dann entfaltete er mit gezielten, beherrschten Bewegungen den Zettel. Seine Augen sprangen hin und her, folgten der sauberen Handschrift. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus.

"Schneider!"

Der junge Mann erschien ein weiteres Mal in der Tür. "Ja, Herr Ahlfeldt?"

Robert Ahlfeldt warf einen weiteren kontrollierenden Blick auf die Meldung, wollte ganz sicher gehen. "Sagen Sie allen Bescheid. Sie sollen sich bereithalten. Es ist soweit. Tag X steht bevor."

"Jawohl." Der junge Mann salutierte ein weiteres Mal und verschwand, um seinen Auftrag auszuführen.

Robert Ahlfeldt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.

"Nimm dich in Acht, Simon", er spuckte den Namen regelrecht aus, "meine Stunde wird kommen und dann hole ich, was mir zusteht."

9 Alte Wunden

 

Leon

"Was soll das? Was hast du getan?" Stöhnend ließ ich meinen Kopf wieder ins Kissen sinken. Würde er es denn nie lernen? Aber das hatten Brüder, und insbesondere Zwillingsbrüder, wohl so an sich. Trotzdem um – ich warf einen Blick auf meinen Wecker und verkroch mich gleich noch tiefer unter der warmen Decke – um sechs Uhr morgens an einem Samstag? Das konnte er echt nicht bringen.

Ich spürte, wie Daniel sich breitbeinig vor mir aufbaute. Innerlich machte ich mich schon darauf gefasst meine Decke zu verteidigen, doch als er sie einfach mit einem kräftigen Ruck zur Seite zog war ich nicht vorbereitet. Ach Mist. Es war sechs!!! Am Morgen! Einen ganz kurzen Moment genoss ich noch die Wärme der Matratze, dann öffnete ich die Augen und warf mich auf Daniel, so dass wir beide zu Boden gingen. Dachte er ernsthaft, er würde mit so einer Aktion durchkommen?

Nach ein paar Sekunden Gerangel hatte ich ihn am Boden fixiert und gab ein leises Knurren von mir.

"So, ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt. Das nächste Mal klopfst du gefälligst an und wehe, das ist früher als in zwei Stunden."

"Na gut. Wenn's unbedingt sein muss", murrte Daniel. "Aber ich bin immer noch sauer auf dich." Damit schubste er mich zur Seite und stand auf. Na toll, es ging schon wieder um Sofia. Seit ihrem Unfall vor zwei Wochen war er nicht mehr gut auf mich zu sprechen – was an sich ja auch kein Wunder war, aber das hier nahm echt ungeahnte Ausmaße an. Normalerweise war mein Bruderherz vielleicht für zwei Stunden beleidigt. Dann wurde es ihm zu langweilig und er vertrug sich schon aus Prinzip wieder mit den Leuten. Und wenn es nur war, um sich danach wieder mit ihnen streiten zu können.

Ich sammelte meine Decke vom Boden auf und legte mich wieder in das gerade noch warme Bett. Was wohl Daniels Ausbruch eben gerade bewirkt hatte? War Sofia irgendwas passiert? Ich weiß, Simon hatte ich gesagt, ich würde sie mir aus dem Kopf schlagen, aber es ging einfach nicht. Jeden Tag, wenn ich sie in der Schule sah, wollte ich am liebsten zu ihr rüber gehen, mich entschuldigen, ihr alles erklären... Ja klar, als ob sie dann noch mit dir befreundet sein will, geschweige denn mit dir zusammen sein. Warum musste alles so kompliziert sein? Und was zum Teufel wollte Daniel mir vorhin sagen?

Ich warf einen zweiten Blick auf den Wecker. Halb sieben. Ach verdammt. Genervt schwang ich meine Beine aus dem Bett und suchte mir einen Pulli zum Überziehen. Dann stürmte ich ohne anzuklopfen in Daniels Zimmer.

"Was ist los?" Daniel erwartete mich auf seinem Schreibtischstuhl sitzend mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Dieser hinterhältige Mistkerl! Ich ließ mich rückwärts auf sein Bett fallen und überlegte kurz, einfach hier weiter zu schlafen, rein aus Protest. Doch meine Sorge um Sofia überwog die kindischen Zankereien.

"Also was jetzt?", wollte ich ungeduldig wissen. War sie verletzt oder hatte sie sich wieder verlaufen?

"Du musst mit ihr reden." Reden? Das hatte ich jetzt irgendwie nicht erwartet. "Irgendetwas, was du getan oder gesagt hast hat sie dazu gebracht sich völlig von uns abzukapseln. Sogar in der Schule geht sie mir aus dem Weg. Bis auf den einen Tag, wo ich ihr ihre Sachen wieder gegeben habe, hat sie mich nicht mal angeguckt. Also, was hast du getan?" Sie ging Daniel aus dem Weg? Das hatte ich irgendwie gar nicht mitbekommen. Aber ich war ja auch selbst genug damit beschäftigt gewesen ihr nicht in die Quere zu kommen.

„Ich hab ihr begreiflich gemacht, dass wir nicht befreundet sein können. Na ja, also ich hab es nicht so direkt gesagt, aber offensichtlich hat es ja die richtige Wirkung erzielt.“ Der Gedanke an dieses Gespräch verursachte mir immer noch Gewissensbisse. Sie hatte so verletzt ausgesehen.

„Aber... warum?“

„Warum? Simon ist der Meinung eine Freundschaft - oder gar mehr! - mit einem Menschen wäre absolut inakzeptabel. Und im Grunde hat er ja Recht. Außerdem, was soll ich deiner Meinung nach tun? Hingehen und sagen: Hey Sofia, anscheinend hab ich dich total verletzt, aber mein Bruder will wieder mit dir befreundet sein?" Ich stockte kurz. "Hey, jetzt wo wir drüber reden: Warum redest du nicht mir ihr? Schließlich scheint ihr euch ja bestens verstanden zu haben und du willst ja auch unbedingt wieder mit ihr befreundet sein. Oder steckt da etwa mehr hinter?" Der Gedanke, dass Daniel in Sofia verliebt sein könnte war mir gerade erst gekommen, aber es klang doch plausibel oder? Sein unglaublicher Aufstand um ihren Unfall, sein starkes Interesse an meinem Interesse an ihr. Der Gedanke tat weh. Vor allem, weil er die besseren Chancen hatte. Er hatte sie nicht verletzt, vor den Kopf gestoßen und auch nicht...

"Nein." Das eine Wort riss mich aus meinen wirren Gedanken. "Nein, ich will nichts von ihr, aber ich mache mir Sorgen. Um euch beide." Wow, diese ernste fürsorgliche Seite kannte man ja sonst gar nicht an meinem Zwillingsbruder.

"Was soll ich denn tun. Ihr die Wahrheit sagen? Simon würde mir den Kopf abreißen. Und außerdem, wer sagt denn, dass ich mich mit ihr aussprechen will, dass es mich interessiert wie es ihr geht?" Es gab keine Hoffnung für mich. Für uns. Also warum darauf herum hacken?

"Weil ich sehe, wie scheiße es dir geht. Und das alles wegen diesem Mädchen. Sieh es doch ein, es zerfrisst dich innerlich, dass du nicht bei ihr sein kannst. In den letzten Wochen warst du wie ausgewechselt. Verdammte Scheiße, Leon! Ich will meinen Bruder zurück!" Ach verflixt, er kannte mich einfach zu gut. Und er hatte natürlich Recht. Ich stand neben mir. Und wenn ich ganz vorsichtig war, und nichts ausplauderte, dann könnten wir doch wenigstens befreundet sein, oder? Da konnte Simon doch nichts gegen sagen. Auch wenn es nicht das war, was ich wollte.

Entschlossen stand ich auf. Ich würde mir von Simon nicht vorschreiben lassen mit wem ich befreundet sein wollte, wenn keine reale Gefahr bestand.

"Ganz genau", sagte Daniel. Ich grinste ihn an. "Schnapp sie dir!"

 

Ich fand Sofia am Strand. Sie saß einfach nur da und starrte auf die Wellen, die träge an ihren Fußspitzen leckten. Als ich sie so sah stieg sofort wieder die Sorge in mir hoch. Hoffentlich war noch nicht alles zu spät. Ich ließ mich neben ihr nieder. Ich konnte nicht sagen, ob sie mich bemerkt hatte oder ob sie völlig in Gedanken versunken war. Sie saß einfach nur da.

Ich hatte gerade genug Mut gesammelt und mir einen guten Spruch ausgedacht, mit dem ich unser Gespräch beginnen könnte, da sah ich hoch und die Worte blieben mir im Hals stecken.

Sie weinte. Stumme Tränen liefen über ihre Wangen und blieben einen Moment an ihrem Kinn hängen bevor sie nacheinander auf ihr T-Shirt tropften.

Für einen Moment war ich vor Schreck wie erstarrt. Was sollte ich tun? Vorsichtig legte ich einen Arm um ihre Schulter. War wohl die richtige Entscheidung, denn mit einem leisen Aufschluchzen drehte sie sich zu mir und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Mein Arm rutschte an ihre Taille. Etwas überfordert mit der Gesamtsituation tätschelte ich ihren Rücken. Sicherheitshalber sah ich mich nochmal schnell um. Nicht, dass mich jemand so sah.

Aber es war keiner da. Nur Sofia und ich. Während ich etwas mutiger dazu überging sanft über ihren Rücken zu streicheln, beruhigte sich das Mädchen in meinen Armen wieder. Schließlich machte sie Anstalten sich wieder zurückzuziehen und ich ließ sie gewähren. Schniefend wischte sie sich die Tränen aus den Augen und versuchte sich an einem Tränen verschleierten Lächeln, das kläglich scheiterte. Vorsichtig lächelte ich zurück, hoffend, dass es ein bisschen aufmunternd wirkte, und kramte ein sauberes Taschentuch aus meiner Hose. Die Packung hatte mir Daniel noch in die Hand gedrückt. Konnte er hellsehen oder was?

"Danke", krächzte Sofia. Sie räusperte sich und versuchte es dann nochmal. "Danke."

Ich lächelte versuchsweise noch einmal. "Kein Problem. Willst...", ich zögerte kurz. Sollte ich fragen? Würde es ihr recht sein? Ich atmete tief durch. Wer nicht wagt der nicht... Ach halt doch die Klappe. "Willst du mir erzählen, was los ist?" Ich wappnete mich schon für eine bissige Antwort, doch die kam nicht.

"Heute ist der 25. August." Diese leisen Worte sagten mir so ungefähr gar nichts, doch ich blieb stumm und wartete. "Heute vor genau sechs Jahren...", sie stockte und ich reichte ihr kommentarlos ein frisches Taschentuch. Sie tupfte sie ein paar Tränen aus dem Gesicht und zerknüllte das Taschentuch dann in ihren Händen. Ich beobachtete, wie sie die Hand zur Faust ballte. Dann holte sie ebenfalls tief Luft. "Heute vor sechs Jahren ist meine Familie gestorben." Fast schon reflexartig landete meine Arm wieder auf ihrer Schulter.

Ich würde ihr nicht sagen, wie leid es mir tat, denn das stand mir nicht zu. Und auch nicht, dass ich sie verstehen konnte, obwohl das sogar der Wahrheit entsprach. Andererseits war jeder Schmerz einzigartig und niemand könnte jemals die Trauer eines andern ganz verstehen. Also hielt ich sie einfach nur umarmt, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war.

Wir saßen vielleicht fünf Minuten so, bevor sie weiter redete. "Es war ein Samstagmorgen und wir fuhren zu einem Freundschaftsspiel meiner Lieblingsmannschaft." Ich spürte, wie sie sich verkrampfte und strich wieder beruhigend, zumindest hoffte ich das, über ihren Rücken.

"Du musst mir das nicht erzählen", erwiderte ich sanft, doch sie schüttelte den Kopf.

"Ich will aber. Wir gerieten in einen Autounfall. Irgend so ein Irrer rammte die Fahrerseite des Autos. Mein Vater", ein Schluchzen entwich ihrer Kehle und mein Herz zog sich zusammen vor Mitleid für dieses tapfere Mädchen. "Paps war sofort tot, Mama und Fritz, mein großer Bruder... Sie kamen ins Krankenhaus, aber sie sind nie wieder aufgewacht. Ich kam mit ein paar Schrammen und einem gebrochenen Arm davon." Sie lehnte ihren Kopf wieder gegen meine Schulter und etwas gedämpft hörte ich: "Wäre ich nicht gewesen, hätte ich nicht darauf bestanden zu diesem blöden Spiel zu fahren, dann wären sie jetzt noch am Leben. Dann hätte ich jetzt noch eine Familie." Erschrocken packte ich sie an der Schulter, um ihr in die Augen sehen zu können.

"Sofia, so etwas darfst du nie wieder denken! Und ich bin sicher, sie hätten das genau so gesehen."

Ich sah, dass sie mir nicht glaubte. Es tat weh, sie so mutlos zu sehen. Diese Schuldgefühle taten ihr nicht gut, vor allem, weil sie nicht berechtigt waren.

Sie wandte den Blick ab. „Das kannst du nicht wissen.“

Ich fasste sie sanft am Kinn und zwang sie so mich anzusehen. Ihr leichtes zusammen Zucken verbuchte ich einfach unter Überraschung. „Doch kann ich.“ Daniel hatte recht mit seiner Einschätzung. Sofia war mir wichtig geworden und so wie ich es nicht ertragen konnte nicht bei ihr zu sein, wollte ich auch nicht, dass sie traurig war. Ich konnte ihr zwar nicht die ganze Wahrheit erzählen, aber es war besser als nichts. Wenn ich wirklich mit diesem Mädchen befreundet sein wollte, dann musste ich endlich etwas tun. Jetzt.

Es berührte mich und machte mich ehrlich gesagt auch ein bisschen stolz, dass sie mir so viel anvertraute. Jetzt war es an mir, den gleichen Vertrauensbeweis zu erbringen.

„Vor mittlerweile vier Jahren kamen mein Vater und meine Großmutter bei einem Unfall ums Leben.“ Jetzt war ich es, der zu Boden sah. Ich spürte Sofias Hand auf meinem Rücken. Wenn es nicht so ein trauriger Anlass wäre, hätte ich mich darüber gefreut einen Menschen zu finden, der mich so gut verstehen konnte.

„Ich vermisse sie und am Anfang fragte ich mich immer wieder, was ich, was wir hätten anders machen können. Wie ich ihren...“, es war immer noch schwer auszusprechen, „... ihren Tod hätte verhindern können. Aber weißt du was?“ Ich sah wieder in Sofias braune Augen, die so viel mehr von ihr preis gaben als in der ganzen Zeit, die wir uns jetzt schon kannten. Vertrauensvoll wartete sie auf meine Antwort. „Ich habe gelernt, dass es nichts bringt darüber nachzudenken. Ich sollte meine Zeit nicht auf die Vergangenheit verschwenden. Das Beste, was ich jetzt noch für sie tun kann, und ich bin mir sicher, dass hätten sie so gewollt, ist, mich an sie zu erinnern, sie nie zu vergessen. Und das solltest du auch tun.“ Einen Moment lang schwiegen wir und betrachteten in stillem Einvernehmen das sanfte Rollen der Wellen.

„Danke.“ Das leise Wort unterbrach die Stille.

„Immer wieder gerne.“ Ich lächelte ihr zu. „Obwohl ich nicht hoffe, dass du noch oft einen Grund zum Weinen hast.“

Sie lächelte ebenfalls. „Das hoffe ich auch.“

Gut, das Schlimmste war überstanden. Jetzt musste ich sie dazu bringen, sich nicht weiterhin in ihrer Trauer zu vergraben. Diese Wunden saßen tief, aber sie würden heilen. Es war nur wichtig nicht stecken zu bleiben.

„Worauf hast du Lust?“

Sie wirkte irritiert. „Wie, worauf habe ich Lust?“

Ich drehte mich leicht zu ihr um und schenkte ihr mein schönstes Grinsen. „Du willst doch an so einem schönen freien Samstag deine Zeit wohl nicht am Strand verplempern wollen?“

Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Das war eigentlich der Plan, bevor du aufgetaucht bist.“

„Keine Angst, Pläne kann man ändern. Wie wär's mit einem Eis? Ich hatte diesen Sommer noch kein einziges, ob du es glaubst oder nicht.“ Ich zwinkerte ihr zu. Wäre doch gelacht, wenn ich dieses Mädchen nicht aufheitern könnte. „Und ich finde, heute ist ein würdiger Tag für das erste Eis des Sommers.“

Meine Bemühungen wurden mit einem kleinen Grinsen belohnt. „Das kann ich natürlich nicht zulassen, dass diese perfekte Gelegenheit nicht genutzt wird. Gibt es denn hier eine Eisdiele?“

Ich starrte sie entrüstet an. „Natürlich, es gibt sogar zwei.“ Sie lachte ein wunderschönes Lachen.

Pass bloß auf, Leon, ermahnte ich mich selbst, Freundschaft. Nicht mehr. Es war zum Verzweifeln, aber mehr als das hier würde ich Simon niemals abringen können.

Egal, besser so, als gar nichts. Das versuchte ich mir zumindest einzureden. Es blieb bei einem eher mäßigen Erfolg.

Als Sofia neben mir aufstand brachte mich das auf den Boden der Tatsachen zurück. Diese Freundschaft war verletzlicher als ein neugeborenes Löwenjunge. Sie musste sorgfältig gepflegt werden und ich machte mir hier Gedanken über eine Beziehung, die weit über die Grenzen der Freundschaft hinausging. Wer sagte mir denn, dass sie überhaupt an mir interessiert war? Vielleicht war das hier das Beste, was wir jemals erreichen würden.

Und wenn schon. Ich würde mich damit zufrieden geben. Und Simon sollte das besser auch tun.

Auf dem Weg in die Stadt, na ja, den Ortskern, redeten wir über dieses und jenes. Unbedeutende Kleinigkeiten, aber ich wollte über Sofia so viel erfahren wie ich nur konnte. Ich wollte sie kennen lernen und ich wollte, dass sie mich auch kennen lernte.

Unser Weg führte uns auch an dem Abhang vorbei, den Sofia hinuntergestürzt war. Auch wenn unsere Route heute deutlich kürzer war als Sofias an dem besagten Abend, konnte ich die Schuldgefühle nicht unterdrücken. Wenn ich nur nicht so leichtsinnig gewesen wäre! Ich sah, wie sie sich unwillkürlich an die Rippen fasste und bekam wie immer ein schlechtes Gewissen. Daran war ich Schuld.

„Hier hast du mich gerettet. Mein Held!“ Der spöttische Unterton konnte mich nicht über den Klang der Erinnerung in ihrer Stimme hinweg täuschen. Aber sie kannte ja auch nicht die ganze Geschichte. Nur einen Bruchteil hatte sie erfahren.

„Stets zu ihren Diensten.“ Ich machte eine formvollendete Verbeugung, um meinen näselnden Ton zu unterstreichen. Das brachte Sofia zum Kichern. Ein schönes Geräusch. Nur Freunde.

Die Eisdiele lag in einer ruhigen Nebenstraße, nur einen Katzensprung entfernt von der Fußgängerzone. Obwohl die Hauptsaison schon vorbei war saß noch der eine oder andere Tourist an den wackeligen Tischen und genoss die späte Augustsonne. Auch wir setzten uns nach draußen, um bloß keinen Sonnenstrahl zu verpassen. Wer wusste bei diesem Aprilwetter schon, wann dieser Sommer vorbei sein würde.

Sofia setzte sich auf den Klappstuhl und betrachtete den Tisch mit einem kritischen Blick. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass Eiscafétische immer wackeln? Egal, wo du bist, das bleibt immer gleich.“ Sie schien damit mehr Erfahrung zu haben, als gut war.

„Ja“, stimmte ich ihr zu. „Ist mir auch schon aufgefallen.“ Sie lächelte mich an.

Freunde.

10 Alltäglichkeiten

 

Sofia

Es war unfassbar und Nina hatte uns gesehen.

Ich und – ich konnte es noch nicht mal denken. Und dabei hatte er sich nicht entschuldigt oder so. Kein bisschen und trotzdem...

Vielleicht lag es daran, dass er mich verstand. Es hatte gut getan über meine Familie zu reden. Und er hatte sich mir auch geöffnet. Hatte mir geholfen und sich mein Vertrauen erschlichen. Aber ich denke, es war gut so.

Leon war in Ordnung und wer wusste schon, was los war, als wir uns gestritten hatten. Ich beschloss ihm zu vertrauen. Na gut, es war mehr ein Eingestehen, als ein Entschluss. Er hatte mein Vertrauen ab dem Moment, in dem ich an seiner Schulter geweint hatte.

Oder eher geheult wie ein Schlosshund. Peinlich, peinlich, aber ihn schien es nicht gestört zu haben.

Im Gegenteil, er hatte mich sogar zum Eis essen eingeladen. Und bezahlt. Ein echter Gentleman.

Tja, es war ein perfekter Nachmittag. Bis Nina auftauchte und uns erkannte. Ihr Blick hatte mir klar gemacht, was mir heute bevorstand.

Mädchengespräche. Eigentlich nicht das Problem, aber Nina? Sagen wir mal so, meine Luftsprünge hob ich mir für eine andere Gelegenheit auf. Blieb zu hoffen, dass nicht auch noch Lena auftauchte. Zwei von diesen hysterischen Mädchen auf einmal wäre etwas viel des Guten.

Ich hatte Glück im Unglück. Nina kam nicht allein, aber außer Lena war auch Joel dabei. Er war wahrscheinlich meine Rettung heute.

Ich saß gerade in der Pausenhalle und hatte eine Englischstunde hinter mir. Nina ließ sich mit erwartungsvollem Gesicht mir gegenüber fallen. Lena tat es ihr gleich, während Joel wenigstens den Anstand hatte mich anzulächeln und zu begrüßen.

„Na los, erzähl schon!“, forderte mich Nina ungeduldig auf. Ich seufzte. Ich war verloren.

„Was soll ich schon erzählen? Du hast uns doch gesehen“, versuchte ich das ganze herunter zu spielen. Andererseits... etwas zu erzählen gab es ja wirklich nicht. Leon und ich waren Freunde, nicht mehr und nicht weniger.

„Du warst wirklich mit Leon Ahlfeldt Eis essen?“ Lena sah aus, als stünde sie kurz vor dem Hyperventilieren.

Ich verdrehte genervt die Augen. „Ja, und?“

Lenas ungläubiger Blick war fast schon wieder witzig. Gleich würden ihr die Augen aus dem Kopf fallen oder so.

Ja, und?!“, wiederholte sie geschockt.

„Mit Leon Ahlfeldt, Sofia!“, mischte sich auch Nina ein. „Er ist so ungefähr der beliebteste Junge der Schule!“

„Und der bestaussehendste“, unterstützte Lena.

„Na ja, bis auf Joel“, ergänzte Nina schnell.

„Nein“, machte Lena ihre Versuche zunichte, „er sieht auch besser aus als Joel. Jedes Mädchen würde ihre beste Freundin verraten, um einmal mit ihm auszugehen“ - oh ja, das glaubte ich ihr sofort - „und du hast es geschafft, das ist so...“ Was?

„Moment mal“, unterbrach ich ihre Schwärmerei energisch. „Ich bin weder mit Leon ausgegangen noch in ihn verknallt, also mach mal halblang!“ Die beiden starrten mich so geschockt an, als hätte ich gerade den dritten Weltkrieg ausgelöst. Mal ehrlich, war es so ungewöhnlich nicht in Leon verknallt zu sein? Anscheinend schon, denn für zwei Minuten herrschte Schweigen.

„Nicht?“, fragte Lena schließlich nach.

„Definitiv nicht“, bestätigte ich noch mal.

„Dann macht es dir doch bestimmt nichts aus, mir ein Date mit ihm zu verschaffen, oder? Ich meine, wenn ihr jetzt befreundet seid.“ Sie sprach das Wort aus, als wäre es eine Krankheit. Was spricht denn bitte gegen eine Freundschaft mit einem Kerl? Und warum glaubte sie, ich würde sie mit Leon verkuppeln? Auch Nina schien diese Frage ziemlich dreist zu finden, aber was sollte sie schon sagen, ohne ihren Freund zu verärgern? Keine Sorge, Nina.

„Immer langsam mit den jungen Pferden. Ich kenne weder ihn noch dich besonders lange, also werde ich garantiert nicht anfangen ihn mit irgendwelchen Mädchen zu verkuppeln“, erteilte ich dem Mädchen eine eiskalte Abfuhr. Für was hielt sie sich? Für was hielt sie mich?  Ninas erleichterten Blick sah Joel zum Glück nicht, als er mir wohlwollend zunickte. Da hatte ich wohl richtig gehandelt.

Die Klingel rettete mich vor weiteren Versuchen seitens Lena und Nina alles über Leon zu erfahren. Die nächste Stunde war Spanisch. Das hatte glücklicherweise keiner der drei. Dafür Leon.

Ein etwas mulmiges Gefühl hatte ich trotz allem. Seit Samstag hatten wir nicht mehr geredet, und wer wusste schon, ob es nicht nur eine komische Laune gewesen war. Oder Mitleid..

Diesmal war er pünktlich und wartete zusammen mit Felix vor dem Raum. Als er mich entdeckte, grinste er mich an und begrüßte mich freundlich. So viel zu den unberechenbaren Launen.

Auch Felix lächelte mir zu. Mit ihm würde ich dann in nächster Zeit wohl auch mehr zu tun haben. Er schien immerhin ganz okay zu sein und gab auch nicht so viel auf Leons supercooles Image.

„Und, bereit für die langweiligsten Stunden des Tages?“, fragte Leon.

Ich bedachte ihn mit einem bösen Blick. „Das ist mein Lieblingsfach, also pass auf was du sagst!“

Felix lachte. „Echt mal, seit Sofia hier ist, ist es doch auch nicht mehr langweilig. Denk an die ersten Spanischstunden mit ihr.“

„Hintergangen vom besten Freund!“ Ich lachte über Leons theatralischen Ausbruch.

„Du solltest dich daran gewöhnen, in diesem Fall ist Blut nicht dicker als Wasser“, erklärte Felix spitzbübisch.

„Wie jetzt, bist du etwa auch ein Bruder von Leon?“, fragte ich halb entsetzt, halb amüsiert nach.

„Gott sei Dank nicht! Ich bin nur sein Cousin.“

„Nicht nur, dass er mich verrät, jetzt verbündet er sich auch noch mit meiner neuen Freundin“, brummelte Leon vor sich hin. Spielkinder, alle beide. Trotzdem wurde mir ganz warm, bei dem Gedanken, dass er mich als Freundin ansah. Es war so lange her...

„Du weißt doch, deine Freunde sind auch meine Freunde“, erklärte Felix ungerührt.

Die Ankunft des Lehrers verhinderte, dass diese Streiterei ausartete. Ich war mir ziemlich sicher, die beiden könnten das noch stundenlang machen.

„Benehmt euch, Jungs“, wies ich sie an. „Es geht hier um meinen Ruf.“ Die beiden grinsten schlitzohrig.

„Ach, der kann nur besser werden, wenn du dich mit uns sehen lässt.“ Leon zog mich zu drei Plätzen in der letzten Reihe. Anscheinend nahmen sie es hier mit der Sitzordnung doch nicht so genau.

Ich fühlte mich nur ein ganz kleines bisschen verarscht. Die Freude überwog.

„Aber eingebildet bist du gar nicht, oder was?“ Ich schlug in Felix' ausgestreckte Hand ein.

„Endlich jemand, der auf meiner Seite ist“, freute er sich. „Keine Angst, nur bei Regen ist er unerträglich.“ Ich sah aus dem Fenster. Strahlender Sonnenschein.

„Und wie nennst du das hier?“ Ich konnte meinen skeptischen Unterton nicht unterdrücken, wollte ich ehrlich gesagt auch nicht, doch auch ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Was war los mit mir?

Glücklich, sagte meine innere Stimme, du bist glücklich.

„Alltag“, mischte sich Leon ein. „Und jetzt seid leise, ich würde gerne dem Unterricht folgen.“ Wir lachten und auch Leon grinste.

Keine Ahnung, wie ich zu dieser Freundschaft gekommen war, aber ich war schon lange nicht mehr so fröhlich wie heute. Ich wusste nicht wie, aber diese Jungs hatten etwas an sich, dass es mir möglich machte ihnen zu vertrauen. Vielleicht war es die Ehrlichkeit oder die Art wie sie miteinander und mit anderen umgingen, ich weiß es nicht.

Normalerweise schloss ich nicht so leichtfertig Freundschaften, aber erst Daniel, dann Leon und jetzt Felix – das konnte kein Zufall sein.

In der Mittagspause saßen wir im Innenhof und genossen die Wärme. Aber während die Jungs mitten in der prallen Sonne saßen, genoss ich den Sommer lieber im Halbschatten der Bäume.

„Wie haltet ihr das nur aus?“, fragte ich nach einer Weile. Ich hatte selbst hier das Gefühl im Backofen zu sitzen, wie musste es dann erst in der Sonne sein?

„Die Frage ist: Warum sitzt du im Schatten, anstatt die Sonne zu genießen?“, fragte Leon zurück. Die Drei lagen nur anderthalb Meter von mir entfernt auf einem kleinen Rasenstück. Ich hatte es mir auf einer Bank unter den Bäumen gemütlich gemacht.

„Ist echt angenehm hier“, merkte Daniel an ohne die Augen zu öffnen.

„Halbschatten“, erwiderte ich.

„Was?“ Leon drehte sich auf den Bauch und stützte sein Kinn auf die verschränkten Arme, um mich ansehen zu können. In der Sonne waren seine Augen noch faszinierender als sonst. Ich spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend und ich traute meiner Stimme nicht so ganz, doch ich überspielte es mit einem besserwisserischen Ton.

„Ich sitze im Halbschatten, nicht im Schatten. Und die Sonne kann ich auch von hier genießen. Ich genieße ja auch ein Eis, aber deshalb muss ich noch lange nicht drin baden.“ Warum ließ ich mich von Leons Augen so aus dem Konzept bringen?

„Jetzt ein Eis wäre super.“ Daniels Ablenkung kam genau richtig.

„Du bist so verfressen.“ Leon stieß seinen Zwilling in die Seite. „Ein Wunder, dass wir uns immer noch ähnlich sehen.“

Daniel öffnete ein Auge, um seinen Zwillingsbruder zu mustern. „Willst du etwa sagen, ich wäre dick?“ Ich musste mir ein Lachen verkneifen und sah, wie Felix ebenfalls grinste.

Leon blieb ungerührt. „Nein, ich will damit sagen, dass du eigentlich dick sein müsstest, so viel wie du immer in dich reinstopfst.“

„Ja, ja, ich weiß genau was du damit andeuten wolltest“, brummelte Daniel und schloss das Auge wieder. „Aber es ist gerade einfach zu gemütlich, deshalb werde ich großzügig darüber hinweg sehen.“

Leon verdrehte die Augen in meine Richtung. „Er bildet sich das nur ein. Ich mache keine Andeutungen.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Ach nein?“

„Nein. Wenn er dick wäre, würde ich ihm das direkt sagen.“ Ich musste lachen. Ich vermisste das so sehr. Dieses Geschwistergefühl.

Es war dieses unbeschreibliche Gefühl von Zugehörigkeit und dass man sagen konnte was man wollte. Geschwister wie Leon und Daniel konnte nichts und niemand trennen.

Außer der Tod. Wie bei Fritz und mir. Ich spürte wie sich das vertraute Gefühl der Trauer in mir breit machte, aber zum ersten Mal wurde es nicht vom Gewicht der Schuldgefühle gehalten, sondern von den Flügeln der Erinnerung getragen. Fritz war mein großer Bruder und mein bester Freund. Und das würde er auch immer bleiben.

Ich lächelte Leon an, der das leicht irritiert, aber fröhlich erwiderte. Er hatte Recht. Erinnerungen waren wichtig, sollten uns allerdings nicht davon abhalten, weiterzumachen.

„Hey Sofia“, rief Daniel. Das war das Ende meiner überaus philosophischen Gedanken. „Kommst du morgen endlich mal zum Training, wie du es mir schon vor zwei Wochen versprochen hast?“

Das hatte ich ganz vergessen. Aber eigentlich hatte ich mich ja schon entschieden und die Versöhnung mit Leon war nur ein weiterer Grund, der dafür sprach.

„Klar, irgendwer muss euch ja zeigen, wo's lang geht. Sonst werdet ihr noch eingebildeter als ihr ohnehin schon seid.“ Das hatte ich vom letzten Mal noch allzu gut in Erinnerung.

„Hey!“, entrüstete sich Felix. „Wann war ich denn eingebildet?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir sicher das ist erblich. Du bist wahrscheinlich einfach der bessere Schauspieler.“

„Ich wusste, ich hätte niemandem verraten sollen, dass wir verwandt sind“, murmelte Felix vor sich hin.

Der Arme. Leon streckte ihm die Zunge raus. Sie waren so kindisch.

Ich schmunzelte. Genau das in Kombination mit ihrem übermäßigen Selbstbewusstsein machte sie ja so sympathisch. Vor allem, da sie eine von der Öffentlichkeit unentdeckte selbstironische Seite zeigten.

„Was gibt’s da zu lachen? Das hier ist todernst!“

Ich winkte ab. „Krieg dich mal wieder ein, ich lache doch nicht über euch. Ich musste einfach gerade daran denken, dass ihr eurem Ruf so gar nicht gerecht werdet.“

Leon runzelte die Stirn. „Ist das jetzt gut oder schlecht?“

„Wahrscheinlich eher gut“, erklärte ich. „Aber ich bin mir noch nicht so ganz einig. Also strengt euch an!“ Ich drohte Leon, weil er als einziger guckte, mit dem erhobenen Zeigefinger.

Er seufzte. „Es ist viel zu warm, um so eine Anstrengung zu unternehmen. Außerdem bin ich sowieso ein Verfechter der Ehrlichkeit. Du wirst uns also so nehmen müssen, wie wir sind.“ Ich hatte da zwar noch so meine Zweifel, denn schließlich gab es da noch die eine oder andere nicht geklärte Situation, aber zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass er mich wahrscheinlich nicht angelogen hatte.

Ich wollte es zumindest glauben.

„Ich denke, damit komme ich gut klar.“

11 Familiengeheimnis

 

Leon

Manchmal fragte ich mich, womit ich das verdient hatte.

Je mehr Zeit verging, desto sicherer wurde ich mir, dass ich mehr wollte als nur eine Freundschaft. Sofia war ein absolutes Traummädchen. Und ich? Ich ging meinem großen Bruder aus dem Weg, damit er mir nicht verbieten konnte, mit ihr befreundet zu sein.

Nur Lia hatte ich es wahrscheinlich zu verdanken, dass das bisher wirklich noch nicht geschehen war, denn normalerweise war Simon niemand, der es gestattete ihm aus dem Weg zu gehen. Und wenn doch, wusste er trotzdem immer, wo und wie er den- oder diejenige zu fassen bekam. Stellt euch meine Kindheit vor...

Was für eine Welt. Was für eine Familie.

Inzwischen war Sofia ein fester Bestandteil meines Freundeskreises und auch beim Fußballtraining hatte sie nicht einmal gefehlt. Ich lernte ihren Sinn für Humor zu schätzen, und ihre Art, allen gerade heraus ihre Meinung zu sagen. Aber sie konnte ihren Sarkasmus auch beiseiteschieben und eine verständnisvolle Zuhörerin sein.

Kurzum, ich gebe es zu: Ich war hoffnungslos verliebt. Und das meine ich wortwörtlich. Wenn Simon gewusst hätte, was in mir vorging, er hätte mir auf der Stelle eine Standpauke gehalten, die sich gewaschen hat. Andererseits, wenn er das wirklich gewusst hätte, dann hätte er auch gewusst, dass ich im Moment nicht mal im Traum daran dachte, eine Beziehung mit Sofia anzufangen.

Und das Problem war: Außerdem bin ich sowieso ein Verfechter der Ehrlichkeit. Dieser Satz schwirrte mir schon geraume Zeit im Kopf herum, und wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen. Ich war nicht ehrlich zu ihr gewesen, nicht immer.

Aber das war ein Punkt, in dem ich mit Simon einer Meinung war. Familiengeheimnisse wurden nicht einfach auf gut Glück irgendwem anvertraut, der möglicherweise vielleicht für den Rest des Lebens bei einem bleiben würde, und schon gar nicht, wenn dieser jemand ein Mensch war und damit absolut nicht für eine lebenslange Partnerschaft in Frage käme.

Deshalb bemühte ich mich, nie mit Sofia alleine zu sein. Ich ließ es gar nicht erst zu einer kritischen Situation kommen und Daniel unterstützte mich dabei. Doch auch seine Hilfe konnte nicht verhindern, dass ich immer mehr positive und liebenswerte Eigenschaften an diesem ungewöhnlichen Mädchen entdeckte.

Es überraschte mich dementsprechend nicht, als Simon mich eines Nachmittags in sein Büro rief. Ich war darauf vorbereitet und hatte nicht vor kampflos unterzugehen.

Simons Büro war schon Zeuge vieler Auseinandersetzungen gewesen. Nach dem gewaltsamen Tod meines Vaters hatte meine Mutter unsere Erziehung in Simons strenge Hand gegeben. Wir waren dreizehn beziehungsweise, in Felix' Fall, vierzehn und glaubten alles zu wissen. Ich glaube, Simon hatte seine liebe Not mit uns. Mit der Zeit waren die Besuche weniger geworden, aber selten gab es eine Rauferei die nicht dort endete, wo ich gerade stand.

„Du hast es nur Lia zu verdanken, dass ich dieses Gespräch so lange aufgeschoben habe, aber jetzt kann ich nicht länger einfach nur zu sehen.“ Als Antwort auf diese sachlich vorgetragene Eröffnung verschränkte ich nur die Arme. Ich wusste, da würde noch mehr kommen und Unterbrechungen stimmten meinen großen Bruder nicht gerade milde. Er bereitete diese Strafpredigten vor, wie ein Anwalt sein Eröffnungsplädoyer. Manchmal glaube ich, er hat den falschen Beruf gewählt. Wobei von wählen ja nicht die Rede gewesen sein kann.

„Dieses Mädchen, Sofia, wenn ich mich richtig entsinne“ - ich war erstaunt, dass er sich sogar ihren Namen gemerkt hatte. Normalerweise nicht so seine Art - „scheint zwar sehr außergewöhnlich zu sein, aber du weißt genau, dass das für unsere Familie nicht genug ist. Sie ist und bleibt ein Mensch, und das wird sich auch, wenn kein Wunder geschieht, bis zu ihrem Tod nicht ändern.“ Das war mir schmerzlich bewusst. Es von ihm unter die Nase gerieben zu bekommen, machte die Sache nicht besser. „Ich bezweifle nicht, dass sie zu deinen Freunden gehört und im Grunde genommen habe ich dagegen auch nichts. Schließlich ist es eines unser Hauptanliegen, uns in die Gesellschaft einzugliedern und ohne menschliche Freunde ist das nicht möglich.“ Sehr zu seinem Leidwesen. Jede Wette er würde am liebsten von der Welt abgeschottet in irgendeiner Waldhütte leben. „Aber der Grund, aus dem ich dir eigentlich von Anfang an die Freundschaft mit Sofia verboten habe, ist der, dass ich befürchtete, du würdest weit mehr Gefühle als bloße Freundschaft entwickeln. Und so wie ich das sehe und bei Daniel heraushören konnte, beruhig dich wieder, er hat nichts absichtlich verraten, ist das der Fall.“ Ups, ins Schwarze getroffen. Auch wenn ich mit Daniel noch mal ein ernstes Wörtchen reden musste. „Ich wollte dich doch nur vor deinen eigenen Gefühlen beschützen. Deshalb halte ich es für ratsam, dass du die Freundschaft mit Sofia auflöst oder zumindest auf ein Minimum an Kontakt einschränkst.“ Das war zwar nobel von ihm und im Grunde seines Herzens bestimmt gut gemeint, aber leider undurchführbar. Er würde mich um keinen Preis dazu bringen, noch mal so eine Show abzuziehen. Das war jetzt vorbei.

Auch wenn er recht hatte. Was definitiv zu oft vorkam.

Simons erwartungsvoller Blick zeigte mir, dass es jetzt an mir war meine Argumente vorzutragen, doch wie schon gesagt, im Grunde stimmte ich ihm zu. Ich hatte auch keine flammende und mitleiderregende Rede vorbereitet, die Simon sowieso nicht umgestimmt hätte.

„Nein.“ Das war meine ganze Argumentation.

„Leon“, knurrte er mich an. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Rebellion.“

„Was heißt hier Rebellion? Wenn überhaupt, dann ist das eine Revolte“, erklärte ich freundlich. Die Antwort war ein strenger Blick. Nicht der richtige Zeitpunkt für Klugscheißerei. Also gut. Dann kommen wir jetzt zum Ernst der Sache.

Ich stützte mich auf die Lehne eines Stuhls und sah Simon direkt in die Augen. „Ich verstehe dich und deine Argumente sind richtig. Aber ich werde meine Freundschaft mit Sofia nicht aufgeben. Punkt.“ Mein Bruder wollte etwas einwenden, doch ich hob die Hand. „Warte. Ich weiß, was ich der Familie schuldig bin, deshalb wird, auch wenn ich mir das noch so sehr wünsche, aus dieser Freundschaft nie mehr. Und ich passe auf. Sie wird es nie erfahren.“

Doch Simon schüttelte den Kopf. „Egal, wie sehr du dich bemühst, es kann immer eine blöde Situation kommen. Oder sie hört zufällig die eine oder andere Bemerkung und kann sich selbst etwas zusammen reimen. Wenn sie dann eines Tages zu dir kommt und dich fragt, was willst du ihr dann sagen? Hm?“

Ich schloss genervt die Augen. „Wie zur Hölle soll sie denn darauf kommen, das ich...“ Die Tür ging auf und bewahrte unsere Diskussion davor zu einem handfesten Streit zu werden.

„Worauf würde wer niemals kommen?“ Ich drehte mich um und lächelte meine Mutter an.

„Mama“, erkannte auch Simon. Seine Stimme schwankte zwischen Freude und Ärger über die Unterbrechung. „Ich dachte, du kommst erst heute Abend wieder.“

Sie trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich. „Ja, das dachte ich eigentlich auch, aber Konrad hatte noch einen wichtigen Termin. Na, mein Schatz, was hast du jetzt schon wieder angestellt, dass dein Bruder den großen Anführer rauskehren muss?“ Sie fuhr mir liebevoll durch die Haare.

„Hey!“, protestierten Simon und ich gleichzeitig. Betont sorgfältig richtete ich meine Frisur. Mütter!

„Also sagt schon, worüber habt ihr gerade geredet?“, fragte Mama nochmal.

„Über dieses Mädchen.“ Dieses Mädchen?! Also wirklich.

„Sofia“, ergänzte ich gereizt. „Simon will mir vorschreiben, mit wem ich befreundet sein darf.“ Ich wusste selbst, dass ich wie ein trotziger Vierjähriger klang, aber das verständnisvolle Lächeln meiner Mutter brachte immer diese Seite an mir zum Vorschein.

„Aus gutem Grund“, fuhr Simon mich an. „Du bist schon viel zu weit gegangen und das weißt du auch. Ich dachte, die Familie steht für dich an erster Stelle!“ Ich umklammerte die Stuhllehne inzwischen so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Wie konnte er es wagen, mir so etwas zu unterstellen? Meine Familie kam immer an erster Stelle!

„Das ist doch lächerlich!“, fauchte ich. „Nur weil du zu paranoid bist, um das Leben zu genießen, heißt das noch lange nicht, dass alle anderen das auch tun müssen!“ Schwer atmend funkelte ich meinen Bruder an. „Ich weiß genau, was ich meiner Familie schuldig bin. Das werde ich niemals vergessen. Aber ich lasse mir von dir den Umgang mit Sofia nicht verbieten!“ Simon kniff die Augen zusammen und knurrte mich an. Ich war zu weit gegangen, das merkte ich jetzt. Aber ich würde auf keinen Fall einen Rückzieher machen.

Er wollte einen Kampf? Den konnte er haben.

„Schluss jetzt!“ Wir zuckten beide zusammen. Selbst Simon konnte sich der mütterlichen Autorität nicht entziehen.

Sie berührte ihn leicht am Arm. „Simon, ich weiß, du machst dir Sorgen, aber du kennst Leon. Er wird aufpassen, da bin ich mir sicher. So wie ich.“ So wie sie? Was meinte sie denn damit? Aber ich war dankbar für ihre Unterstützung. Sie war so ungefähr der einzige Mensch, auf den Simon immer hörte. Ist genetisch bedingt.

Bei mir klappt das auch immer. Leider.

Simon seufzte schwer. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick sah er so erschöpft aus. Mir wurde klar, was das eigentlich für eine schwere Verantwortung war, die auf seinen Schultern lastete. In diesem Moment tat er mir richtig leid.

Dann nahm sein Gesicht wieder den üblichen verantwortungsvollen Ausdruck an. Nur ein Schimmer in seinen Augen überzeugte mich davon, dass mein Bruder und Familienoberhaupt eben doch nur ein Mensch war. Im übertragenen Sinne, meine ich.

„Auf deine Verantwortung“, erklärte er schließlich widerstrebend. Ich konnte mein Glück kaum fassen. War das wirklich gerade geschehen?

Mama musste eine Zauberin sein, oder so. Wie schaffte sie es, ihn mit einer Berührung zu etwas zu überreden, von dem ich ihn nicht in tausend Jahren hätte überzeugen können?

„Und jetzt zu dir!“, drohte die Frau mit den magischen Händen. Oh-oh. „Komm mit!“

Sie führte mich durch die weitläufigen Gänge in mein Zimmer. Ich hatte nicht aufgeräumt, aber sie sah über die Unordnung mit einem bedeutungsvollen Heben der Augenbrauen hinweg.

Mir stand definitiv ein tiefgründiges Mutter-Sohn-Gespräch bevor.

Ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen. Wenigstens wusste ich schon mal, dass sie auf meiner Seite war, also erwartete mich keine Moralpredigt. Mama setzte sich neben mich und lächelte mich liebevoll an.

„Dieses Mädchen muss etwas ganz Besonderes sein“, begann sie nach einem kurzen Schweigen.

„Sofia“, brummelte ich vor mich hin. „Sie heißt Sofia.“ Das war doch nicht so schwer zu merken, oder?

„Entschuldige, bitte. Also ist Sofia etwas Besonderes?“

Ich schloss die Augen. „Ja. Aber Simon will das nicht einsehen!“, ich sah meine Mutter an. „Er vertraut mir nicht!“ Erst mit diesen Worten, begriff ich, dass es wahr war. Er vertraute mir nicht, sonst hätte er mir die Entscheidung überlassen.

„Ach, Schätzchen. Du weißt doch, wie dein Bruder ist. Er trägt viel Verantwortung und versucht nur, seinen Job nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben.“

„Ja, schon“, gab ich zu. Sie hatte ja Recht! Ich setzte mich auf. „Aber ich werde Sofia nicht aufgeben!“, erklärte ich kämpferisch.

Sie lächelte wieder beruhigend. „Das verlange ich auch gar nicht. Ich bin sicher du kriegst das hin.“ Oh, ich wusste genau, was sie da machte. Psychologische Kriegsführung nennt sich das. Aber es funktionierte.

„Eben. Selbst, wenn irgendwas schief läuft, nie im Leben kommt sie auf die Idee, dass ich ein Gestaltwandler bin.“

„Außer du sagst es ihr.“

„Ja, aber das würde ich nie machen.“ Für wie blöd hielt mich meine Familie denn?

„Das ist zwar eine sehr lobenswerte Einstellung, aber wenn Sofia wirklich ein dauerhafter und wichtiger Bestandteil deines Lebens bleibt, dann ist es vielleicht eine Option. Manchmal tut es gut, mit jemand außenstehendem über das alles reden zu können.“ Was meinte sie damit?

„Mama?“

Sie lächelte mich wieder an und legte kurz ihre Hand an meine Wange. „Ich will nur sichergehen, dass du nicht unglücklich bist. Geheimnisse können eine schwere Last sein.“ Da war noch mehr, aber ich wollte sie nicht bedrängen.

„Ich weiß schon, was ich tue, Mama, keine Sorge.“ Diesmal war es an mir, beruhigend zu lächeln.

„Okay.“ Sie stand auf. „Dann wäre das ja geklärt.“ Sie ging zur Tür. „Denk dran, dein Zimmer aufzuräumen.“

„Ja!“, seufzte ich genervt. Mütter!

„Dann beeil dich mal lieber, wir treffen uns in einer halben Stunde.“ Mit einem Zwinkern verschwand sie endgültig. Ich warf einen Blick auf die Uhr.

Was? Schon sechs? Kopfschüttelnd warf ich ein paar Klamotten in den Wäschekorb und versuchte das sonstige Zeug auf meinem Zimmerboden in irgendwelche Schubladen zu quetschen. Dann kontrollierte ich, ob ich die richtige Hose anhatte, und schnappte mir Shampoo und Handtuch. Im Kampf um das Badezimmer war jedes Mittel erlaubt.

Ich platzierte meine Sachen neben der Dusche und streckte Felix die Zunge raus. Er hatte die gleiche Idee, war einfach nur nicht schnell genug.

„Los, komm. Die anderen warten schon“, grummelte er. „Gib's zu, du schummelst doch.“

„Was kann ich denn dafür, dass ich dir immer einen Schritt voraus bin“, grinste ich und stürmte an meinem Cousin vorbei die Treppe runter. „So wie jetzt auch!“ Ich wagte einen kurzen Blick über die Schulter und beeilte mich noch mehr.

Hinter mir kam Felix um die Kurve geschlittert.

„Wer ist jetzt der Schummler? Wandeln gilt nicht!“ Ich sprang den letzten Treppenabsatz runter und landete auf den Fliesen, den Löwen dicht auf den Fersen. Im Laufen begann ich, mich zu wandeln. Meine Knochen verschoben sich und erschwerten mir das Vorwärts kommen. Als meine Hände schon zu Pfoten wurden ließ ich mich auf alle Viere fallen. Ich spürte, wie meine Haare wuchsen und dann war es vorbei.

Mit einem großen Satz brachte ich mich wieder auf eine Höhe mit Felix und wir stürmten Seite an Seite auf die Tür zu. Im letzten Moment quetschte er sich vor mir durch den Rahmen. Spinner!

Auf dem Rasen hinter dem Haus wartete schon unsere Familie. Insgesamt so um die dreißig Löwen und Menschen.

Meine Mutter starrte uns streng an. „Was habe ich über Wandlungen im Haus gesagt?“ Er hat angefangen!, wollte ich sagen, doch heraus kam nur ein genervtes Brummeln. Löwenmäuler eignen sich nicht so für die menschliche Kommunikation. „Ja, ja, schon klar, ihr könnt mir das nachher erklären. Wir haben nur auf euch gewartet.“ Sie und die anderen begannen sich zu wandeln.

Simon kam zu mir und Felix rüber. Mit einem Knurren fuhr er uns beiden mit der Tatze über den Kopf. Kopfnuss auf löwisch.

Weitere Ermahnungen blieben uns erspart, denn Mama setzte sich in Bewegung. Sie war die... na ja, wie sagt man, Leitlöwin? Jedenfalls das ranghöchste Weibchen im Rudel. Sie ging immer als erste. Simon, Sam, Aron und Jakob blieben am Rand. Sie waren die ranghöchsten Männchen.

Wir machten das jeden Abend so. Es war wichtig, sich mindestens einmal am Tag für längere Zeit zu wandeln, um die tierischen Instinkte in Schach zu halten. Außerdem mussten wir ja unsere Reviergrenzen markieren. Nicht, dass hier so ein paar halbstarke Löwen auftauchten und meinten, sie könnten hier ihr Unwesen treiben.

Während wir so vor uns hin trabten, sog ich tief die kühle Meeresluft ein. Auch in meiner menschlichen Gestalt waren meine Sinne ausgereifter als die des gemeinen Homo Sapiens, aber in Löwengestalt war es noch mal ein ganz anderes Gefühl.

Alles war... intensiver, deutlicher. Ich konnte jedes Mitglied des Rudels nicht nur sehen, sondern auch hören und anhand seines Geruchs identifizieren. Hier konnte uns keiner was vormachen, hier waren wir die unbestrittenen Könige!

Ich ließ ein stolzes Brüllen hören und meine Familie stimmte mit ein.

Unser Land.

12 Möglichkeiten

 

Sofia

Mein Leben hatte so etwas wie einen Normalzustand erreicht. Es war ein ungewohntes, aber gutes Gefühl. Ich hing jetzt meistens mit Leon und den Jungs von der Fußballmannschaft rum.

Fußball. Noch so ein Thema. Ich hatte es in den letzten Jahren eifrig vermieden, mich näher damit zu beschäftigen. Die damit verknüpften Erinnerungen waren einfach zu schmerzhaft. Das war jetzt kein Thema mehr.

Klar verband ich noch Erlebnisse damit, aber die gingen eher in Richtung sonntägliche Bolzplatz-Duelle mit Fritz oder Bundesliga-Abende auf dem Sofa.

Das Training hatte mich schnell wieder in die alte Form gebracht. Und die Mannschaft war echt cool. Natürlich war Leon unbestritten der beste Spieler auf dem Platz, die anderen Jungs hatten allerdings auch einiges auf dem Kasten.

Und sie waren ein eingespieltes Team. Am Anfang konnte ich manchmal gar nicht so schnell gucken, wie Leon und Daniel den Ball abfingen und einen Konter starteten. Vielleicht lag es daran, dass sie Zwillinge waren, jedenfalls hatte nicht nur ich das Gefühl, sie könnten die Gedanken des anderen lesen.

Doch es dauerte nicht lange, bis ich mich eingelebt hatte. Und mit dem Training kam mein Instinkt zurück. Es war schon immer so, dass ich weniger durch stumpfes Wiederholen von gelernten Techniken als vielmehr instinktiv das Richtige tat.

Als ich diesen Donnerstag zum Training kam, erwartete uns Erik schon ganz aufgeregt. Er war ein ziemlich emotionaler Mensch, was zwar gut war, wenn er dich anfeuerte, sonst aber auch ziemlich nerven konnte.

„Leute, ich hab super Neuigkeiten. Die werden euch aus den Socken hauen!“, begrüßte er uns. Diese enthusiastische Mitteilung könnte alles heißen. Von „Ich hab mir einen Hund gekauft“ bis „der Präsident der Vereinigten Staaten guckt beim nächsten Spiel zu“. Nervig.

Erik neigte dazu, mit seinen Emotionen sehr großzügig umzugehen. Er hatte sich noch mehr über meine Teilnahme am Training gefreut als Daniel. Leon hatte sich natürlich einer Reaktion enthalten. In letzter Zeit hatte ich öfter das Gefühl, dass er Abstand wahrte. Es war nicht so, dass er nicht nett wäre, oder so. Ich war mir ziemlich sicher, dass wir gut befreundet waren. Aber trotzdem achtete er immer darauf eine gewisse Distanz einzuhalten und wir waren auch seit dem Eis essen nicht mehr alleine gewesen.

Nicht, dass ich es darauf anlegen würde, aber... komisch war es trotzdem. Ob ich ihn darauf ansprechen sollte? Ich entschied mich dagegen. Was, wenn er viel mehr in diese Frage hinein interpretierte, als wahrscheinlich damit gemeint war? Ich wollte nicht schon wieder so eine Abfuhr wie am Anfang riskieren. Und außerdem wollte ich ja auch gar nicht, dass da mehr zwischen uns war. Oder?

Ich schüttelte den Kopf. Wie auch immer. Da ich ihn nicht zur Rede stellen würde, spielte das alles keine Rolle. Wichtiger waren jetzt Eriks Neuigkeiten.

„Gut, dann zieht euch schnell um, wir treffen uns zur Besprechung an der Spielerbank. Hopp, hopp!“ Typisch, erst groß rumtönen und uns dann auf die Folter spannen. Noch so eine von Eriks Eigenschaften. Vielleicht wollte er als Kind ja mal Schauspieler werden?

„Oder Politiker“, murmelte ich belustigt vor mich hin.

„Was?“ Ich zuckte zusammen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Leon schon da war. „Alles in Ordnung?“, fragte er nochmal und lächelte mich besorgt an. Wieder spürte ich dieses Kribbeln im Bauch und hatte das plötzliche Bedürfnis mich irgendwo hinzusetzen. Wurde ich etwa krank?

„Ja, alles klar, ich... ähm, führe nur Selbstgespräche“, versuchte ich meinen komischen Anfall zu überspielen. Selbstgespräche? Was Besseres ist dir nicht eingefallen? Aber es schien zu klappen.

Er lachte. „Aha“, machte Leon. „Und über was redest du so?“ Unterhielt er sich gerade wirklich mit mir über meine... Oh Gott, wie peinlich!

„Na ja, ich hab gerade überlegt, so ein Drama wie Erik immer aus allem macht, wollte er als Kind bestimmt Schauspieler werden.“ Ich starrte stur geradeaus auf die Umkleiden. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass ich rot wurde. Schlimmer konnte es doch nicht mehr werden.

Aber immerhin, wir waren ausnahmsweise mal alleine. Kein Daniel oder Felix in Sicht.

„Bestimmt. Oder Politiker“, ergänzte Leon. Zufall?

„Das hab ich auch gedacht“, brachte ich einigermaßen ohne zu stottern hervor.

„Was, glaubt ihr, will Erik uns erzählen?“ Ich unterdrückte ein Stöhnen und wagte einen kurzen Seitenblick zu Leon. Er schien mir fast erleichtert über Daniels Auftauchen.

Ich wandte mich enttäuscht ab, während Daniel fröhlich grinsend den Arm um Leons Nacken legte.

„Also los, kleiner Bruder, lass uns wetten. Was ist Eriks große Neuigkeit?“ Leon lächelte mir verlegen zu und schob Daniels Arm weg. War er am Ende genauso enttäuscht von Daniels Auftreten? Bilde dir nichts ein.

„Was heißt hier klein? Vergiss nicht, wer der ältere von uns beiden ist!“ Leon boxte seinem Bruder spielerisch in die Seite.

„Keine Sorge, du erinnerst ihn doch täglich daran.“ Felix tauchte auf meiner anderen Seite auf. „Hallo Sofia.“

„Hey.“ Ich trat einen Schritt zu ihm hin, als die Rangelei der Zwillinge – wie immer – etwas ausartete. „Hast du eine Idee, warum Erik so aufgeregt ist?“ Felix zuckte mit den Schultern.

„Also meine Vermutung ist“, keuchte Daniel, „dass er eine neue Freundin hat.“ Leon hatte ihn im Schwitzkasten, doch es schien ihm nicht sonderlich viel auszumachen.

Schon ganz am Anfang meiner Fußballkarriere hier hatte ich festgestellt, dass es in diesem Dorf so etwas wie Privatsphäre nicht gab. Und Fußballer waren größere Klatschtanten als alle ihre Mütter zusammen.

„Wurde ja auch langsam mal Zeit“, stellte der ältere Zwilling fest. „Wie lange ist es her, seit Melanie Schluss gemacht hat?“ Was habe ich gesagt?

„Keine Ahnung, anderthalb Jahre vielleicht?“, vermutete Felix und deutete auf Daniel. „Denkst du nicht, er hat genug?“ Leon gab seinen Bruder frei, der ihm ein letztes Mal auf den Oberarm boxte.

„Anderthalb Jahre? Das ist schon fast eine Ewigkeit“, erklärte Leon und strich sich die Haare aus der Stirn. Schön, dass ich jetzt seine Meinung dazu kannte.

„Ich glaube nicht, dass er eine Neue hat“, meinte Felix zweifelnd.

Ich stimmte ihm zu. „Wir reden hier über Erik. Es könnte alles sein.“ Echt jetzt. Wirklich alles.

„Ihr redet über mich?“, wurden wir unterbrochen. Wir wirbelten erschrocken herum. „Wie wär's, wenn ihr euch umzieht, anstatt hier große Spekulationen anzustellen. Dann erfahrt ihr es auch schneller.“ Mit einem reuevollen Grinsen verzogen wir uns Richtung Kabine. Zum Glück beinhaltete Eriks Charakter auch eine ausgeprägt nachsichtige und humorvolle Seite. Eine äußerst angenehme Kombination. Ich hätte ihn gerne als Lehrer gehabt.

Trotz aller Theatralik und wilden Vermutungen, die in meinem Kopf herum schwirrten, zog ich mich in Rekordzeit um. Erik hatte recht: Je schneller wir fertig waren, desto schneller würde er es uns sagen.

Ich war die letzte auf dem Feld, aber die Jungs hatten ja auch keine langen Haare und ähnliche... Mädchenprobleme zu bewältigen. Ich hatte mich dran gewöhnt und sie auch. Letzte zu sein ist trotzdem doof.

Ich ließ mich neben Felix ins Gras fallen. Er war von den drei Ahlfeldts der am wenigsten launische. Allerdings hatte ich selbst nach den vielen Wochen, die wir uns jetzt schon kannten, immer noch das Gefühl, nicht wirklich was über ihn zu wissen. Er beherrschte die Kunst nichtssagende Floskeln von sich zu geben bis zur Perfektion und brachte einen immer dazu, über sich zu reden, statt über ihn.

„Also gut.“ Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Erik zu, der sich in freudiger Erwartung die Hände rieb. „Da ihr ja alle regelmäßig auf den Spielplan guckt“, begann Erik und ein Grinsen machte die Runde, „wisst ihr auch, dass das nächste Punktspiel erst in etwa zwei Wochen stattfindet. Ist ein Sonntag, also keine Party am Samstag.“ Enttäuschtes Murren von allen Seiten. Das sollte seine Überraschung sein? Nach dem Drama war das aber ein bisschen lau. Obwohl, das war Erik.

„Ja, ja, Leute, jetzt wartet doch mal. Ihr könnt doch am Freitag einen drauf machen, solange ihr am Sonntag fit seid ist das kein Problem. Außerdem: Das Beste wisst ihr noch gar nicht!“ Er machte eine Kunstpause, doch statt gespannten Gesichtern erntete er nur genervte Blicke. Also doch die Freundin? Ich warf Felix einen kurzen Blick zu. Er schüttelte amüsiert den Kopf. Erik musste man mit Humor nehmen.

Unser Trainer seufzte. Der Arme hatte es schon nicht leicht mit uns. „Schon gut, schon gut. Also, bei besagtem Spiel wird ein Talentscout im Publikum sitzen.“ Diesmal wurde er von aufgeregtem Gemurmel unterbrochen. Ein Talentscout? Das waren wirklich super Neuigkeiten! Ich stieß Felix fröhlich in die Seite. Er grinste mich mit funkelnden Augen an.

„Wie cool ist das denn!“ Daniels Augen sprühten vor Begeisterung.

„Das ist eine einmalige Chance“, ergänzte Leon nicht minder begeistert.

„Ich weiß! Voll krass, oder?“, konnte ich mir nicht verkneifen. Auch wenn es für mich egal war – ich durfte bei den Punktspielen natürlich nicht mitmachen – freute ich mich für die anderen. Meiner Meinung hatten sie so eine Chance verdient.

Alle riefen durcheinander, wollten mehr wissen. Von welchem Verein war der Scout? Hatten wir wirklich reelle Chancen? Der Ehrgeiz hatte sie mit beiden Händen gepackt und ich sah, dass es Leon genauso ging.

„Leute, Leute!“ Erik wedelte mit den Händen herum. „Kommt mal wieder runter! Das ist nichts was man auf die leichte Schulter nehmen sollte.“ Tat das hier irgendwer?

Nur langsam beruhigten sich alle wieder. Keiner hier wusste den Ernst der Sache nicht zu würdigen. „Der Scout ist vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport. Es geht um ein Sportstipendium. Es geht also um eure Zukunft Leute. Nutzt das Training, um nochmal konzentriert zu arbeiten. Ich erwarte Bestleistungen von euch! Auch von dir, Sofia“, wandte er sich nach dieser flammenden Motivationsrede an mich, „vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, dass er dich auch spielen sehen kann. Und dann willst du in Bestform sein, oder?.“ Das konnte er laut sagen! Ich glaubte zwar ehrlich gesagt nicht daran, aber es waren schon unwahrscheinlichere Sachen passiert. Und ein Sportstipendium bedeutete Unterstützung fürs Studium, die ich wirklich gebrauchen könnte. Denn so wie ich das sah, würden meine Pflegeeltern dafür keinen Cent locker machen.

„Na dann los, ihr Faulpelze, die Nationalmannschaft ruft!“

Wir drehten die Aufwärmrunden um den Platz unter dem obligatorischen Gestöhne und Gemecker. Irgendwie kam es dazu, dass Leon neben mir lief, wirklich nicht von mir beabsichtigt, und Felix neben Daniel.

„Hab doch gesagt, es ist nicht die Freundin“, stichelte Daniels Cousin.

Der zuckte nur gutmütig mit den Schultern. „Na und? Wenn es solche Neuigkeiten gibt bin ich gerne im Unrecht.“ Leon drehte sich um und joggte rückwärts weiter.

„Ja, es ist echt krass, oder? Was meint ihr, um welchen Verein geht es da im Endeffekt?“

Felix zuckte mit den Schultern. „Hoffentlich nicht um 96.“ Leon lachte, musste sich aber wieder umdrehen. Rückwärts in diesem Tempo war gar nicht so einfach.

„Wieso?“, fragte ich neugierig nach. „Was hast du gegen Hannover?“

„Nichts, aber rot steht mir einfach nicht.“ Ich verdrehte die Augen über so viel Sinnlosigkeit. Aber ich war mir ziemlich sicher, es steckte mehr dahinter. Felix war nur einfach niemand, der seine wahren Beweggründe auf der Zunge trug. Na ja, eigentlich ging es mich ja auch nichts an.

„Also ich“, gab Daniel seinen unvermeidlichen Senf dazu, „würde ja die Seeluft vermissen.“ Wie zum Beweis streckte er die Arme aus und atmete tief ein. „Nirgendwo ist die Luft so gut wie bei uns an der Nordsee.“ Ein kleiner Hustenanfall strafte seine Worte Lügen und zwang uns anzuhalten.

„Und gesund ist sie auch so was von“, ergänzte ich betont freundlich, während ich ihm liebevoll auf den Rücken klopfte.

„Genau.“ Daniel hatte sich von dem Hustenanfall erholt und war nicht bereit seinen Standpunkt kampflos aufzugeben. „Den Husten hast bestimmt du eingeschleppt. Halt bloß Abstand von mir, mit deinen Großstadtbakterien.“ Ich grinste unbekümmert, als er ein paar hastige Schritte zurück machte. Ich wusste, dass das alles nur Spaß war, aber das Gefühl zurück gestoßen zu werden konnte ich nicht ganz unterdrücken.

Ich drehte mich um und lief wieder los. „Na dann wird dich deine Seeluft bestimmt bald von mir kurieren, und keine Angst Felix, das Trikot gibt’s auch in weiß.“

Schnell war Leon wieder an meiner Seite. „Was ist denn los?“ Hatte nur ich das Gefühl oder war er heute irgendwie entspannter als sonst?

„Was soll los sein?“ Ich merkte selber wie zickig ich mich anhörte. Doch Leon störte sich nicht daran.

„Keine Ahnung, deshalb frage ich ja.“ Er machte eine kurze Pause, doch ich wusste nicht, was ich antworten sollte. „Er hat das nicht ernst gemeint.“

„Weiß ich doch“, seufzte ich und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

„Wieder gut?“, fragte er mit einem halben Lächeln.

„Wieder gut“, antwortete ich und wandte mich wieder dem Training zu.

Es war unheimlich, wie er mich durchschaute.

13 Vergessene Spuren

 

Leon

Ich lag auf meinem Bett und dachte nach. Über Sofia. Sie war ein unlösbares Problem.

Na ja, eher war ich das Problem. Ich und meine geheimniskrämerische Familie. Ich hielt mich eigentlich für einen ziemlich ehrlichen Menschen, mit Lügen wollte ich nichts zu tun haben. Und trotzdem hatte ich Sofia nach Strich und Faden belogen.

Okay, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber belogen hatte ich sie. Und deshalb würde auch nie mehr aus uns werden. Das war doch zum verrückt werden!

Ich seufzte und sprang auf. Unlösbare Problem waren doof und es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Das lag wohl in der Natur der Sache. Nervig war es trotzdem. Ich drehte mich schon wieder im Kreis. Ich brauchte Ablenkung und zwar schnell.

„Mir ist langweilig“, erklärte ich. Diesmal war ich es, der ohne anzuklopfen in ein Zimmer stürmte. Aber Felix ließ sich davon eigentlich nie stören. Er hatte wahrscheinlich auch nichts, was er bei einer mütterlichen Zimmerrazzia besser tief unten in seinem Schrank versteckte. Meistens fand sie es trotzdem, aber versuchen konnte man es ja.

Nein, Felix Zimmer sah aus wie aus einem Möbelkatalog kopiert. Alles passte zusammen, und es gab keinerlei persönliche Gegenstände. Echt jetzt. Noch nicht mal ein mega peinliches aber heiß geliebtes erstes Kuscheltier. Nichts.

Na ja, ich könnte zwar so nicht leben, aber ich verstand, warum er es tat. Er hatte viel durchmachen müssen.

Seine Schwester Penny war das genaue Gegenteil. Erstens konnte sie reden wie ein Wasserfall und zweitens schmiss sie nie etwas weg. Wenn sie irgendwann mal auszog brauchte sie mindestens zwei Umzugswagen, um ihr ganzes Zeug zu verstauen.

„Hi Leon, lange nicht gesehen.“ Ähm, vor zwei Stunden beim Essen? Aber okay... „Ich versuche gerade Felix davon zu überzeugen ein Haustier zu kaufen. Hilfst du mir?“ Ihre großen blauen Augen bettelten um Hilfe.

„Penny“, seufzte Felix und ich war mir sicher, dass er das im Verlauf dieses Gesprächs schon öfter gesagt hatte. „Ich hab dir doch erklärt, dass das nicht geht. Außerdem musst du nicht Leon oder mich überzeugen, sondern Simon. Und der wird dir das Gleiche sagen.“ Seine kleine Schwester schob schmollend die Unterlippe vor.

Die beiden waren schon ein seltsames Paar. Ich kannte keine Geschwister, die sich so wenig stritten, wie diese beiden. Noch nicht mal im Spaß. Felix war immer geduldig und ertrug Pennys Eskapaden mit einem Seufzen. Penny ihrerseits hörte spätestens nach der dritten vernünftigen Erklärung auf ihren großen Bruder.

„Ähm, ja, ich finde übrigens, Felix hat recht. Können wir jetzt bitte irgendwas machen?“, mischte ich mich ein, denn anscheinend hatte Felix schon so gut wie gewonnen.

„Geht nicht, ich muss noch Hausaufgaben machen.“ Felix deutete mit dem Ende seines Kulis auf die Hefte vor ihm.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Entsetzt starrte ich ihn an. „Mann, wir haben Wochenende, heute Abend ist die Party bei Hannes! Da kannst du doch keine Hausaufgaben machen!“ Wirklich!

Felix grinste. „Jetzt guck nicht so. Wann soll ich sie denn sonst machen? Wie ich dich kenne, komme ich am Samstag auch zu nichts und Sonntag ist das große Spiel.“ Ach ja, hm, das hatte ich ja schon wieder ganz vergessen...

„Na toll. Und was soll ich jetzt machen?“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Keine Ahnung, hast du keine anderen Freunde?“

„Witzbold.“

Ich musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Penny folgte mir mit der Ankündigung, sie ginge jetzt in den Garten, um Tante Tamara, meine Mutter, zu helfen. Ich könnte ja mitkommen. Schaudernd lehnte ich ab. Erstens war Gartenarbeit definitiv nicht mein Ding und zweitens würde mich Mama nur wieder über Sofia ausquetschen. Darauf konnte ich gerne verzichten.

Ich beschloss, mich draußen in die Sonne zu legen. Vielleicht konnte ich ja noch ein bisschen schlafen... Kurz vor der rettenden Haustür begegnete ich dann Lia. Das nennt man dann wohl vom Regen in die Traufe. Seit Sofias Unfall hatten wir nicht mehr wirklich miteinander geredet.

Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, fiel mir allerdings auf, dass sie in letzter Zeit auffällig oft hier gewesen war. So, wie am ersten Schultag. Auch jetzt hastete sie nur mit einem kurzen Gruß an mir vorbei und verschwand in Richtung Simons Büro.

Sehr merkwürdig. Das erinnerte mich wieder an das geheimnisvolle Gespräch, das ich belauscht hatte. Hatte es noch weitere Vorfälle gegeben? War er, wer auch immer er war, wieder aufgetaucht?

Grübelnd ließ ich mich ins Gras sinken. Wer könnte das sein, den Simon und Lia als so gefährlich einstuften? Wer war ein... Oh! Robert. Unwillkürlich gab ich ein leises Knurren von mir. Natürlich, vor seiner Rückkehr hatten wir alle Angst und gleichzeitig fieberten wir diesem Tag entgegen.

Dem Tag, an dem wir endlich Rache nehmen konnten.

Onkel Robert war sozusagen das schwarze Schaf der Familie. Wenn Opa über ihn sprach, dann tat er das immer mit einem Kopfschütteln begleitet von einem tiefen Seufzer und leitete das Ganze mit den Worten „Er war so ein viel versprechender Junge“ ein. Das schien die vorherrschende Meinung in der Familie zu sein und alle hatten diesen halb wütenden, halb traurigen Blick, wenn man das Thema anschnitt. Alle wollten ihn am liebsten vergessen und könnten es doch nicht.

Robert war der Bruder meiner Mutter. Alle Erinnerungen, die ich an ihn hatte, waren irgendwie leicht verschwommen. Kein Wunder, schließlich hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, da war ich acht. Könnt ihr euch noch an was Konkretes aus eurem achten Lebensjahr erinnern?  Aber trotz allem hatte er einen bleibenden Eindruck bei mir hinter lassen. Und der war nicht gerade vielversprechend. Eher ziemlich mies mit einem bitteren Beigeschmack.

Ja, gut, okay, ich sollte vielleicht am Anfang anfangen.

Also: Robert war, wie gesagt, der ältere Bruder meiner Mutter. Er war schon immer ziemlich ehrgeizig und überheblich, was allerdings auch kein Wunder war, denn nach meinem Großvater war er der wahrscheinlichste Anwärter auf die Rudelführung. Und daran zweifelte weder er noch mein Opa oder sonst irgendjemand.

Tja, und dann trat mein Papa auf den Plan. Papa gehörte zu einem anderen Rudel, das irgendwo weiter südlich lebte. So genau wusste das Keiner. Er war in seinen Flegeljahren von Zuhause ausgebüxt und irgendwie hatte es ihn in unsere Gegend verschlagen. Und es kam wie es kommen musste: Papa lernte Mama kennen.

Mama ist heute noch eine schöne Frau, aber Opa sagt manchmal, früher hat sie allen Jungs in der Gegend den Kopf verdreht. Auch meinen Vater konnte sie anscheinend um den Finger wickeln, oder er sie, je nach dem, wen man fragt, denn zwei Jahre später heirateten die beiden.

Alles kein Problem, denkt ihr jetzt vielleicht, wenn da nicht Opa gewesen wäre. Nach dem anfänglichen väterlichen Misstrauen entwickelte er anscheinend eine echte Sympathie für seinen Schwiegersohn und verglich ihn immer mehr mit seinem leiblichen Sohn. Und der Vergleich fiel für Onkel Robert nicht gut aus.

Wenn Opa über seinen Schwiegersohn redete, war da immer so ein wehmütiger Ausdruck in seinen Augen und der Satz „Er war noch so jung“ war quasi auf den Namen Lennart Ahlfeldt registriert. Meinem Großvater zufolge war Papa ein Superheld, wenn es um die Lösung von Problemen aller Art ging, und ein großartiger Vater und legendärer Rudelführer war er sowieso. Tja, mein Papa war wirklich ein sehr charismatischer und verantwortungsvoller Mann gewesen. Fragt euch mal, wo Simon das her hat.

Jedes Mal, wenn ich Simon gegenüber stehe ist es wie eine Erinnerung oder eher wie ein Déjà Vu. Das ist zwar einerseits gut, denn so kann ich meinen Vater nie vergessen. Andererseits erinnert es mich nur immer wieder an diese riesige Lücke, die sein Tod in unser Leben gerissen hat.

Früher kochte bei dem bloßen Gedanken daran die Wut in mir hoch. Wut auf Robert, auf das Schicksal, auf Simon, auf meinen Vater. Direkt danach war die Wut wie ein Strom gewesen, der mich durchfloss. Dicht unter der Oberfläche brodelten die Gefühle wie heiße Lava und nur ein falsches Wort konnte sie zum Ausbruch bringen. Inzwischen hatte er sich tiefer gegraben, war nicht mehr so empfindlich, dass er bei der kleinsten Erschütterung überbrodelte. Aber er war trotzdem da. Immer.

Und an allem war Robert schuld. Der fand nämlich als einziger meinen Vater unausstehlich. Immer und immer wieder versuchte er das Rudel gegen seinen neuen Schwager aufzustacheln, und seine Frau unterstützte ihn tatkräftig. Doch keiner seiner Versuche fruchtete und bald gehörte Lennart Ahlfeldt unzertrennlich hier her.

Jahre, nein, Jahrzehnte gingen ins Land und alle dachten, die Wogen hätten sich geglättet. Robert nahm seinen Schwager zähneknirschend hin und der überging großzügig seine versteckten Beleidigungen und Sticheleien.

Aber eines Tages machte mein Opa einen Fehler. Einen gewaltigen Fehler. Ich glaube, er fühlt sich immer noch schuldig. Auch ein Grund, warum das Thema in unserem Haus eigentlich vermieden wurde. Sein Fehler war, seinen Schwiegersohn Robert vorzuziehen.

Ich meine, er kannte meinen Onkel, er wusste genau, wie er dachte. Und trotzdem ernannte er bei seinem Rücktritt nicht seinen leiblichen Sohn zu seinem Nachfolger, sondern meinen Vater.

Damit begann eine Zeit, die alle lange vergessen glaubten. Immer offener, immer aggressiver ging Robert gegen seinen Schwager vor. Er fühlte sich übergangen und um das rechtmäßige Erbe gebracht. Und irgendwo tief in meinem Innern gab es einen winzigen Teil von mir, der ihn irgendwie auf eine verquere Weise – verstand.

Jedenfalls führte eins zum anderen und schließlich eskalierte die Situation. Robert verübte ein Attentat auf meinen Vater.

Das hört jetzt vielleicht ein bisschen dramatisch an, das war es aber auch. Robert war zu allem bereit um das zu erlangen, was ihm, wie er meinte, von Rechts wegen zustand. Nur Lennart stand ihm auf seinem Weg zum Rudeloberhaupt im Weg, denn Simon, Daniel und ich waren zwar schon geboren, aber noch lange nicht bereit, ein Rudel zu führen. Ich frage mich, ob wir es je sein werden.

Der Anschlag wurde vereitelt und Robert verbannt. Seine Frau wurde vor die Wahl gestellt: Entweder sie ging mit ihm oder sie sagte sich von ihm los. Natürlich entschied sie sich, zu bleiben. Niemand bei klarem Verstand würde versuchen, einen Wurf Welpen außerhalb der Sicherheit eines Rudels aufzuziehen.

Keiner weiß, inwieweit sie oder ihr Bruder in die ganze Sache verwickelt waren, aber solange sie sich ruhig verhielten wollte man keine Löwin verlieren. So läuft das bei den Löwen: Man denkt immer zuallererst ans Rudel.

Es folgten Jahre des Friedens und der Ruhe. Alle wollten den Vorfall am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen, doch man blieb wachsam, denn nach seiner Verbannung hatte niemand etwas von Robert gehört.

Es stellte sich heraus, dass Robert gerissener war, als sein Vater ihm je zugetraut hätte. Er machte sich ein Rudel junger Löwen zu Untertan. Und dann plante er den schwärzesten Tag meines Lebens. Was ein kleiner Grenzvorfall hätte werden sollen entpuppte sich als ein Mordanschlag – und er war erfolgreich. Mein Vater und meine Großmutter wurden an diesem Tag getötet, aber dieser Verräter Robert war mit seinem Leben davon gekommen.

Wir versuchten zu vergessen, doch wenn ich mich nicht irrte, hatte uns die Vergangenheit mal wieder eingeholt.

„Also gut, ich habs mir anders überlegt. Ich kann dich ja nicht im Langeweile-Sumpf alleine lassen“, ertönte Felix' Stimme hinter mir.

Ich drehte mich mit ernstem Gesicht um. „Ich weiß wer 'er' ist.“

Felix zog die Augenbrauen hoch. „Bitte was?! Ich dachte, ich finde dich hier in Selbstmitleid versunken und stattdessen philosophierst du über Personalpronomen?“

„Nein“, ich konnte über so viel fehlende Kombinationsgabe nur den Kopf schütteln, „erinnerst du dich noch an das Gespräch, von dem ich euch erzählt hab? Das von Simon und Lia?“

„Dunkel.“ Typisch.

„Ich weiß jetzt, worüber sie vermutlich geredet haben.“

„Ach ja? Und?“ Das klang doch schon wesentlich interessierter.

„Na ja, ich denke, dass sie über Robert geredet haben. Wir haben immer gewusst, dass er noch da draußen ist. Und wer sonst würde die beiden in so eine Panik versetzen?“ Je öfter ich es wiederholte, desto sicherer wurde ich mir.

„Panik?“, fragte Felix zweifelnd.

„Na jaaa, vielleicht nicht gerade Panik, aber du musst zugeben, dass sie sich in letzter Zeit ziemlich auffällig benehmen.“

„Na gut, aber was machen wir jetzt damit?“ Das war ein Punkt, in dem ich mal wieder mit Simon einer Meinung war.

„Nichts. Simon und Lia wissen Bescheid, es bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten. Ist aber ein gutes Gefühl, Bescheid zu wissen.“ Es kostete mich viel Überwindung das zu sagen, aber ein bisschen Verantwortungsgefühl hatte ich ja auch. Simon hatte Recht, ich regte mich tierisch darüber auf. Die ganzen Gefühle kamen wieder hoch.

Allerdings wusste ich genau, dass eine unüberlegte Aktion einem Selbstmordkommando gleich käme. Außerdem, außer dieser vagen Vermutung, gut, der ziemlich konkreten, aber nicht bestätigten Vermutung, wussten wir nichts. Deshalb hieß es abwarten und sich bereithalten.

Ich vertraute Simon.

14 Erfahrungswerte

 

Sofia

Eigentlich war ich nicht so der Typ für Partys. Dementsprechend unwohl fühlte ich mich als ich mit Nina durch die Gartenpforte trat. Ich war nur hier, weil Leon mich eingeladen hatte und ich bereute meine Entscheidung schon jetzt. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass Nina mich ansonsten zu Tode gequatscht hätte. Es war also nicht nur wegen Leon.

Als wir ankamen war die Party schon in vollem Gange. Es war so, wie ich erwartet hatte: Die Hälfte der Leute war schon besoffen und tanzte entsprechend, die andere Hälfte war angetrunken genug, sich tierisch darüber zu amüsieren. Alle schrien durcheinander, keiner verstand ein Wort, weil die Musik so laut war, und jeder schien sich mordsmäßig zu amüsieren.

Nina schleppte mich zu ihren, na ja, inzwischen sollte ich wohl sagen unseren Freunden. Sie standen in einer Ecke des Gartens, in der man noch einigermaßen kommunizieren konnte.

„Ist ja mächtig was los hier“, bemerkte ich und wartete Ninas und Joels Begrüßungsritual ab. Wirklich, es lief immer gleich: Sie fiel im freudestrahlend in die Arme, wahlweise quietschend oder mit einem hingerissenen Seufzer – abhängig von der Dauer ihrer Trennung -, er, von so viel peinlichem Benehmen jedes Mal wieder schockiert – mal ehrlich, irgendwann sollte er es doch begriffen haben – löste sich aus ihrer Umklammerung, warf jedem, der es wagte komisch zu gucken, einen bösen Blick zu und gab seiner Freundin dann endlich – endlich! - den Begrüßungskuss.

Kein anderer schien sich daran zu stören, was möglicherweise auch daran liegen könnte, dass Tom alle Hände voll damit zu tun hatte Lena auf den Beinen zu halten. Sie klammerte sich mit einem glückseligen Lächeln an seinen Arm. Ihre hohen Schuhe waren eindeutig die falsche Wahl gewesen.

„Willst du sie nicht lieber irgendwo hinsetzen?“ Tom war zu beschäftigt, um mir mit mehr als einem verzweifelten Blick zu antworten, der dann wohl heißen sollte: „Wie denn?!“ Dafür war Joel jetzt mit seiner Begrüßung fertig und nahm uns Normalsterbliche wieder wahr.

„Das ist doch jedes Mal auf diesen 'Partys' so. Ich verstehe nicht, was das für einen Sinn machen soll.“ Ich starrte ihn verwirrt an. Was machte ein Moralapostel wie er auf einer Party wie dieser? War er überhaupt eingeladen? Ich meine, klar, ich hielt auch nichts von Komasaufen, aber ein bisschen Spaß war doch okay. Komischer Mensch.

„Was machst du denn dann hier?“, wagte ich ihn zu fragen und zog schon mal vorsichtshalber den Kopf ein. Ich hatte weder Bock auf eine Moralpredigt noch auf einen ausführlichen Bericht der sicherlich unglaublich spannenden Umstände, die ihn hierher gebracht hatten, angefangen bei seiner Geburt. Ich wollte nur eine einfache Antwort.

„Sie hat mich überredet.“ Er deutete auf Nina. Ha, willkommen im Club.

Nina knuffte ihn in die Seite. „Gib nicht immer mir die Schuld.“

„'Tschuldigung, Schatz.“ Er küsste sie. Von so viel Melodramatik regelrecht geblendet, drehte ich mich zu Tom und Lena. Sie saß inzwischen auf dem Rasen und war glücklich damit beschäftigt Gänseblümchen zu zählen. Mal ehrlich, wie viel hatte sie denn intus?

„Na Süße.“ Ein Arm legte sich um meine Schulter. Ich zuckte zusammen und – sagt es nicht weiter – konnte ein klitzekleines Quietschen nicht unterdrücken. Aber wirklich nur ein klitzekleines. Dann erkannte ich die Stimme und den Geruch, warm, erdig. Jaaa, ich erkannte ihn an seinem Geruch. Hört auf zu lachen.

Die Frage war jetzt, warum nannte er mich Süße und hatte auf einmal kein Problem mehr mit Körperkontakt? Also, dieser Art von Körperkontakt.

„Hätte nich gedacht, dass du noch komms.“ Ach ja, wir waren auf einer Party und das war Leon, der Partykönig. Oder so ähnlich. Ohne Witz, es gab Leute, die ihn so nannten. Ich hoffe immer noch, dass es nur scherzhaft gemeint war – und dass sie es nicht länger als drei Tage gemacht haben.

Wie auch immer. Ich drehte mich jedenfalls um und begrüßte ihn mit einer kurzen Umarmung, was mir eine gute Gelegenheit verschaffte, seinen Arm von meiner Schulter zu bugsieren.

„Ja, tja, Nina hat mich überredet“, erklärte ich mit einem Achselzucken.

„Warum bin ich schon wieder Schuld?“, maulte sie prompt. Ich verdrehte die Augen in Leons Richtung und er war anscheinend noch nicht richtig betrunken, denn er erwiderte ein Grinsen.

Wahrscheinlich war es Vorsehung, dass Lena im Moment nicht ansprechbar war, denn bei diesem Grinsen wäre sie garantiert ausgetickt. Gut, dass mir sowas nicht passierte. Und von meinen wackeligen Knien erzähle ich einfach nichts.

„Weil du Schuld bist“, gab ich zurück. Leon rettete mich vor einer ausgewachsenen Diskussion – im Ernst, wir waren auf einer Party - indem er mich am Arm packte und durch die Menge schleifte, ohne auf die Proteste meiner Freunde zu hören. Ausnahmsweise tolerierte ich dieses bestimmende Verhalten.

„Willst du was trinken?“, fragte mein Retter. Ich nickte und Leon änderte den Kurs. Er zog mich mitten über die Tanzfläche und kümmerte sich nicht darum, dass wir haufenweise Leute anrempelten.

Was brachte ihn dazu, sich so zu benehmen? Wahrscheinlich konnte ich alles auf den Alkohol schieben, aber ich mochte diese Vertrautheit, die Selbstverständlichkeit, mit der er mich gerettet hatte.

Zwei Stunden später hatte ich meine Meinung geändert.

Ich stand alleine am Rand des Gartens. Vor zwei Minuten waren Felix und Leon unter gestammelten Entschuldigungen und wirren Erklärungsfetzen abgehauen. Sie hatten mich einfach stehen gelassen und obwohl ich glaubte, in Leons Augen eine gewisse Frustration gesehen zu haben, war ich trotzdem sauer auf die beiden. Langsam hatte ich echt genug von diesen Stimmungsschwankungen.

Ich sah mich unschlüssig um. Was sollte ich jetzt machen? Viele Alternativen hatte ich nicht. Entweder ich ging nach Hause oder ich setzte mich zu den anderen. Aber ich hatte weder auf Ninas und Lenas hysterisches Getue Lust, noch wollte ich in stundenlange Fachsimpeleien über Fußball verwickelt werden. Ich war da mehr praktisch veranlagt.

Mit einem Blick auf mein Handy beschloss ich, dass halb eins eine akzeptable Zeit war, um von einer Party zu verschwinden. Wahrscheinlich würde es sowieso keiner merken. Ob meine Pflegeeltern mir den gleichen Gefallen tun würden stand auf einem anderen Blatt.

Ich wandte mich um und wollte mich zum Gartentor durchschlängeln, da blitzte etwas Grünes in meinem Augenwinkel auf. Leons Pullover! Ich war mir ganz sicher. Schließlich hatte ich vorhin noch gemerkt, wie gut die Farbe seine Augen betonte, die heute mehr grün als braun schimmerten.

Energisch riss ich mich von der Vorstellung los und konzentrierte mich wieder auf den Pulli. Er musste ihn bei seinem überstürzten Aufbruch vergessen haben.

Der weiche Stoff schmiegte sich in meine Hand und ich hob ihn an mein Gesicht.  Er roch eindeutig nach Leon. Plötzlich wurde mir klar, was ich hier tat und ich senkte schnell die Arme. Ich hatte wohl auch ein bisschen über den Durst getrunken. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen und hoffte, dass mich niemand gesehen hatte. Mit gesenktem Kopf eilte ich auf das Gartentor zu, den Pulli immer noch in der Hand.

Am besten, ich nahm ihn am Sonntag mit zum Spiel. Oder… - Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf meinen Zügen aus. Das gab mir die perfekte Gelegenheit, Leon einen Besuch abzustatten. Mit irgendwelchen Ausreden würde ich mich nicht mehr abspeisen lassen.

 

Als ich vor dem Anwesen der Ahlfeldts stand, musste ich an Joels Worte denken. Hinter einer Mauer, die noch nie ein Außenstehender überwunden hat. Die Mauer war wirklich ziemlich hoch und versperrte mir wirkungsvoll jeden Blick auf das dahinter liegende Grundstück. Nur durch die Eisenstreben des Tores konnte ich ein bisschen Rasen und ein Stück Weg sehen. Nicht gerade einladend hier.

Und natürlich hatten sie eine Gegensprechanlage. Ich mochte keine Gegensprechanlagen. Aber ich hätte es mir ja denken können. Wer wollte schon jedes Mal eine halbe Wanderung machen, wenn  ein Gast klingelte. Das Tor war bestimmt ferngesteuert.

Augen zu und durch, ermutigte ich mich selbst, wird schon werden. Wer's glaubt.

Ich atmete tief durch und drückte dann entschlossen auf den Messingknopf. Daneben war ein elegantes Schild mit dem Namen der Familie angebracht. So machte es fast den Eindruck, dass die Ahlfeldts eine alteingesessene Adelsfamilie waren.

Im Lautsprecher knackte und rauschte es.

„Ja?“, ertönte eine verzerrte Stimme. Trotzdem konnte ich den genervten Unterton nicht überhören.

„Guten Tag“, grüßte ich freundlich. Ich hatte schließlich eine gute Erziehung genossen. „Ich würde gerne zu Leon Ahlfeldt.“ Wieder rauschen.

„Warten Sie einen Moment.“ Wenigstens siezte er mich.

Kurz darauf trat ein kräftiger Mann aus dem Schatten der Mauer. Vielleicht war dort ein kleines Torhäuschen oder so. Er hatte keine Waffe dabei, doch ich trat trotzdem unwillkürlich einen Schritt zurück. Sein grimmiger Blick konnte einen ziemlich einschüchtern.

Entschlossen hob ich das Kinn. Ich hatte alles Recht der Welt hier zu sein. Ich hatte schließlich nicht verlangt hier einzuziehen, ich wollte nur einen Freund besuchen.

Der Mann musterte mich eine Weile, dann trat er einen Schritt näher.

„Verschwinde, Mädchen. Du hast hier nichts zu suchen.“ Ich schnappte nach Luft. Das war ja wohl die Höhe!

„Ich...“, setzte ich an und wurde sofort unterbrochen.

„Ist mir egal. Verschwinde und zwar pronto!“, motzte er mich an. Dann drehte er sich um und ging. Er ging einfach!

Was war das bloß für eine seltsame Familie.

Nachdem ich noch weitere fünf Minuten vor dem Tor verharrt hatte. Machte ich mich endlich unverrichteter Dinge auf den Heimweg. Leon hatte mir einiges zu erklären!

 

Die Chance dazu bekam er gleich am nächsten Tag. Es war das Spiel, wo der Talentscout zuschauen würde. Ich war aufgeregt. Ich hatte diese Atmosphäre vermisst. Die Spannung in der Luft und das Bangen um die Mannschaft, die zu unterstützen man gekommen war.

Ich winkte ein paar der Jungs zu, die eintrudelten, um sich umzuziehen. Auch ich würde aus Solidarität mein brandneues Trikot tragen. Außerdem durfte ich bei den Teambesprechungen dabei sein, und bei Erik auf der Bank sitzen.

Ich musste noch fünf Minuten warten, bevor Leon endlich auftauchte. Ich sah auf die große Uhr am Gebäude. Er war natürlich spät dran. Vielleicht war es besser, wenn ich ihn erst nachher darauf ansprach. Doch da kam er schon direkt auf mich zu.

„Ich befürchte, ich muss mich schon wieder bei dir entschuldigen“, begrüßte er mich zerknirscht. Also gut, dann würden wir das halt jetzt klären. War vielleicht auch ganz gut so, dann konnten wir uns beide auf das Spiel konzentrieren.

„Das kannst du wohl laut sagen“, erwiderte ich also und verschränkte erwartungsvoll die Arme. „Ich höre?“ Da war ich jetzt ja mal gespannt.

Leon nahm einen tiefen Atemzug. „Aron hat erzählt, du wolltest mich besuchen.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Das hört sich bis jetzt nicht sehr nach einer Entschuldigung an.“

„Ja“, antwortete er zögernd und fuhr sich ratlos durch die Haare. „Das ist halt alles ein bisschen komplizierter.“

„Ich bin sicher, ich kann dir folgen. Aber mach es kurz, bis zum Anpfiff haben wir nämlich nur noch eine dreiviertel Stunde.“ Leon schwieg einen Moment. Was war so schwer daran?

„Also, weißt du, meine Familie ist etwas speziell, was Besuche angeht.“

Etwas speziell?“, unterbrach ich ihn ungläubig. „Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass dieser Kerl seine Schrotflinte holt!“

Leon lachte kurz auf. „Ja, diesen Eindruck macht er wohl. Auf jeden Fall sind Besuche bei uns nicht sehr gern gesehen. Schon gar nicht unangekündigt.“

„Ach, da wäre ich ja jetzt gar nicht drauf gekommen.“ Leon zuckte unter diesem spöttischen Kommentar zusammen.

„Mann, Sofia, mach es mir doch nicht noch schwerer als es ist!“, bat er mich verzweifelt.

„Dann sag mir einfach die Wahrheit“, fuhr ich ihn an.

„Das geht nicht!“, stieß er hervor. Wie jetzt. Was war so schlimm daran?

„Ich kann es dir nicht sagen.“ Er sah mich bittend an. „Sofia, es tut mir ehrlich leid, wie du behandelt wurdest, aber ich kann dir den Grund dafür nicht sagen. Es hatte nichts mit dir zu tun, oder mit unserer Freundschaft. Du musst mir einfach vertrauen.“ Ich schnaubte. Ihm vertrauen? Obwohl er mir rein gar nichts erklärt hatte?

Ich musterte den Jungen vor mir. Er sah nicht so aus, als würde er mich anlügen. Er schien ehrlich besorgt um meine Reaktion. Jetzt musste ich mich entscheiden. Wollte ich ihm vertrauen, obwohl da ganz eindeutig mehr war, als er mir verraten wollte? Oder war diese Unehrlichkeit, oder eher Geheimniskrämerei, mehr als unsere Freundschaft aushalten konnte?

Letztendlich überzeugten mich seine Augen. Sie flehten mich regelrecht an, ihm zu vertrauen, ihm zu verzeihen. Anscheinend war ihm unsere Freundschaft wichtig. Vielleicht war es ja auch gar nicht so schlimm, nicht alles von ihm zu wissen. Dann hatte seine Familie halt was zu verbergen, na und? Ich wollte ihn ja nicht heiraten. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl in meinem Magen zurück, als ich Leon schließlich anlächelte.

„Entschuldigung angenommen. Dir ist aber schon klar, dass du mir dafür heute ein Tor widmen musst?“ Ich würde es lieber auf sich beruhen lassen. Vielleicht reagierte ich ja auch total über. So eine normale Freundschaft hatte ich schon ewig nicht mehr gehabt. Wobei normal wahrscheinlich auch was anderes war.

Leon grinste erleichtert. „Ich seh mal was ich einrichten kann.“ Dann machten wir uns beide auf dem Weg zur Mannschaftsbesprechung.

 

Schon beim Aufwärmen spürte ich die Nervosität der Mannschaft. Auch ich spielte ein paar Bälle und schoss einige Male aufs Tor, um Markus aufzuwärmen. Es war echt schade, dass ich nicht mitspielen durfte.

Dann war endlich Anpfiff.

Schon nach einer halben Stunde war ich mir sicher: wenn irgendwer heute eine Chance auf dieses Stipendium hatte, dann waren es Daniel und Leon. Die traumwandlerische Sicherheit, mit der sie sich gegenseitig anspielten war nicht zu übertreffen. Und auch wenn die anderen nicht schlecht spielten, kamen sie gegen dieses eingespielte Team einfach nicht an.

15 Andere Umstände

 

Leon

Sofia Lambert. Ich klickte auf den Namen auf meiner Startseite und wurde zu Sofias Profil weitergeleitet. Wie jedes Mal scrollte ich mich durch die Angaben. So oft wie ich das schon gemacht hatte, müsste ich es eigentlich auswendig können. Ich hatte lächeln müssen, als ich entdeckt hatte, dass ihr Lieblingsfilm König der Löwen war. Was für eine Ironie. Oder ein gutes Omen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.

Ich seufzte. Das mit Sofia und meiner Familie war wohl nicht sehr gut gelaufen. Ich war immer noch sauer auf Aron, dass er mir nicht einfach Bescheid gesagt hatte. Ich hatte von dem ganzen Zusammenstoß erst abends erfahren und da war es natürlich schon zu spät. Ich war froh, dass Sofia sich davon nicht hatte abschrecken lassen.

Eigentlich hatte sie es sogar mit Humor genommen und gestern beim Training hatte sie den Vorfall nicht mehr angesprochen.

Keiner der anderen hatte außerdem irgendwas von Post gesagt. War ja auch irgendwie utopisch, aber das hatte die Spannung natürlich nicht besser gemacht. Nur Felix wirkte ganz unaufgeregt. Wahrscheinlich legte er nicht so viel Wert auf das Stipendium...

Ich wurde von einem Klopfen an meiner Zimmertür unterbrochen. Irritiert hob ich den Kopf. Seit wann klopfte irgendjemand in diesem Haushalt an?

„Herein“, sagte ich halb fragend. Die Tür öffnete sich und Daniel lugte herein, bevor er sich ganz ins Zimmer schob.

„Seit wann klopfst du?“, wollte ich wissen.

Mein Zwilling zuckte mit den Schultern. „Mir war grad so danach. Ich hab gute Neuigkeiten. Ist das Sofias Profil?“ Ich schmunzelte über Daniels Gedankensprung.

„Ja, das ist es. Was sind deine Neuigkeiten?“ Doch mein Bruder ignorierte meine Frage und konzentrierte sich auf den Bildschirm. Wollte er mir etwa weiß machen, er wäre noch nie auf ihrer Seite gewesen?

„Guck mal, sie hat Freitag Geburtstag.“

„Was?“ Ich schaute mir die Daten genauer an. 05. Oktober, das war in übermorgen. Wieso hatte ich das nicht gemerkt? Egal, viel wichtiger war jetzt, dass wir nur noch zwei Tage hatten, um etwas für sie zu planen. Denn, dass wir etwas planen würden verstand sich von selbst. Daniel hatte den gleichen Gedanken.

„Was machen wir?“

Ich gestattete mir ein Grinsen. „Ich hab da so eine Idee, muss aber erstmal gucken, ob das klappt.“

„Okay.“ Daniel sah mich mit funkelnden Augen an. „Willst du jetzt die Neuigkeiten wissen?“

„Klar, schieß los.“ Mein Bruder zog zwei weiße Rechtecke hinter seinem Rücken hervor und wedelte damit vor meinem Gesicht herum.

„Rate mal, von wem die sind.“ Ich versuchte mir einen zu schnappen, doch Daniel zog sie schnell genug weg. „Nein, du sollst raten.“ Ich seufzte genervt. Woher sollte ich denn wissen, von wem ich Post bekam? Plötzlich kam mir eine Idee. Ich sprang auf.

„Doch nicht etwa...“

„Ganz genau. Hier sind zwei Briefe vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport.“ Triumphierend reichte er mir einen der Umschläge. Aufgeregt riss ich ihn aus seiner Hand. Bevor ich ihn öffnete sah ich auf.

„Die würden uns doch keinen Brief schicken, wenn sie uns nicht einladen wollen oder?“

Daniel verdrehte die Augen. „Warum sollten sie? Jetzt mach endlich auf.“

Mit einer Bewegung riss ich den Umschlag auf. Es fielen mir zwei Zettel in die Hand. Einer sah aus wie ein Formular. Ich konzentrierte mich auf den anderen. Schnell überflog ich die paar Zeilen, bis ich den entscheidenden Satz fand. ...würden wir uns sehr freuen, Sie am 21. Oktober zu einem weiteren Testspiel begrüßen zu können. Bitte füllen Sie das beiliegende Formular aus und schicken Sie es so schnell wie möglich an...

Ich sah begeistert auf. „Das ist fantastisch!“, rief ich.

Daniel nickte. „Ist es. Und jetzt hilfst du mir, Simon davon zu überzeugen.“

„Oh“, machte ich. Das war wirklich ein Problem. Ich warf einen Blick auf die Adresse. Die Postleitzahl gehörte zu Hannover. Das war definitiv außerhalb unserer Reviergrenzen.

„Hey, nicht den Mut verlieren“, ermunterte mein Zwilling mich. „Das ist eine einmalige Chance, die wird uns Simon nicht verbieten. Und außerdem“, fügte er altklug hinzu, „bedeutet das ein Wochenende Trennung von Sofia. Und das ist ein Argument, das ihm bestimmt gut in den Kram passt.“ Die Wahrheit in seinen Worten hinterließ einen bitteren Nachgeschmack bei mir. Ich bezweifelte zwar, ob das wirklich so einfach bleiben sollte, aber hoffen schadete nicht.

„Vielleicht wäre es am besten erst Mama und Lia auf unsere Seite zu ziehen“, überlegte ich. Die beiden hatten eindeutig mehr Einfluss auf Simons Entscheidungen und sie waren leichter zu überreden.

„Und dann lassen wir sie die ganze Arbeit leisten.“ Daniel klopfte mir auf die Schulter. „Ich mag wie du denkst.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Als wärst du nicht auf dieselbe Idee gekommen.“

Er lachte. „Ja, aber jetzt kann ich alles auf dich schieben.“ Ich trat lose nach ihm.

„Wehe, wenn!“, drohte ich.

„Sonst was?“ Er grinste scheinheilig. „Übrigens, du übernimmst Lia, das ist dir klar, oder?“

„Von wegen. Sie wird mich ausquetschen!“

„Eben deswegen.“

„Mistkerl!“

Der Mistkerl sprang auf. „Also los, je schneller, desto besser.“

„Ist Lia überhaupt da? Es ist Mittwoch“, gab ich zu bedenken.

„War das in letzter Zeit ein Hindernis?“ Er packte meinen Arm und zog mich hoch. „Kneifen gilt nicht.“

Ich stöhnte auf. „Ich dachte, du wolltest nicht nach Hannover?“

Daniel zuckte mit den Schultern. „Na und? Hab meine Meinung geändert.“

„Wann?!“, fragte ich skeptisch.

Mein Bruder grinste spitzbübisch. „Als ich den Brief gesehen hab, natürlich.“

„Natürlich“, grummelte ich.

„Jetzt komm endlich“, drängelte er. Warum war er denn jetzt so übermotiviert? Wir hatten doch wohl noch genug Zeit. Ich verstand nicht, warum er jetzt so einen Aufstand machte.

„Bist du sicher, dass alles mit dir in Ordnung ist?“, fragte ich halb scherzhaft, halb besorgt nach.

Mein Zwilling bedachte mich mit einem genervten Seitenblick. „Mann, Leon, kapierst du das denn nicht? Das ist unsere Chance endlich mal was anderes als unser Revier zu sehen. Alleine! Ohne, dass Simon oder Mama uns besorgt über die Schulter gucken.“ Aus dieser Perspektive hatte ich das noch gar nicht betrachtet. Aber wo er Recht hatte, hatte er Recht. Das wäre wirklich ein einmaliges Erlebnis, das ich auf keinen Fall verpassen wollte.

Mit neuem Elan öffnete ich die Tür. „Du hast Recht.“

„Ich weiß“, wagte er zu behaupten. Ausnahmsweise würde ich es ignorieren.

„Lass uns loslegen.“

 

Ich fand Lia in der Küche. Sie trank einen Kaffee und starrte gedankenversunken aus dem Fenster. Erstaunlicherweise war niemand anders im Raum. Bei der Menge an Bewohnern dieses Hauses eine Ausnahmesituation.

Ich nahm mir auch eine Tasse des aromatischen Getränks und setzte mich neben die junge Tigerin. Sie schreckte hoch als ich meine Tasse auf den Tisch stellte. Dann lächelte sie mich an.

„Na du“, begrüßte sie mich. „Wie geht’s dir? Wir hatten in letzter Zeit irgendwie gar keine Zeit zu reden.“ Du hattest keine Zeit, verbesserte ich sie in Gedanken, Zum Glück. Aber ich wollte die gute Vorlage nicht ruinieren.

„Heute geht’s mir sogar besonders gut“, erklärte ich deshalb.

Lia lächelte. „Ach ja? Warum denn?“ Also gut, jetzt musste ich geschickt vorgehen.

„Na ja, beim letzten Punktspiel, also Sonntag, war ein Talentscout da“, begann ich vorsichtig.

„Ach?“ Das klang immerhin schon mal interessiert.

„Ja, es geht dabei um ein Sportstipendium. Das ist echt eine große Chance“, fuhr ich fort und achtete aufmerksam auf ihr Mienenspiel. Sie zog nur die Augenbrauen hoch und bedeutete mir weiter zu machen.

„Jedenfalls haben wir, Daniel und ich, heute Post gekriegt.“ Ich konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. „Und sie haben uns eingeladen. Das ist so unglaublich! Weißt du was das für eine Auszeichnung ist?“

Lia kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Eingeladen? Wohin?“ Na toll, sie hörte natürlich ausgerechnet den kritischen Punkt heraus.

„Es geht um ein weiteres Probespiel, dafür müssen wir für ein Wochenende nach Hannover.“

„Oh, Leon“, seufzte Lia. „Warum kannst du nicht einfach ein normaler Gestaltwandler sein? Warum muss es bei dir immer eine Extrawurst geben?“

Ich zeigte ihr mein schönstes Lächeln. „Ich mag Würste halt.“

Das brachte sie zum Lachen. „Na gut, ich werde mit Simon reden. So ein Stipendium ist nicht zu verachten.“ Ich wollte mich schon bei ihr bedanken, da fuhr sie fort: „Aber ich kann dir nichts versprechen. Bei dem was in letzter Zeit hier los ist, könnte ich gut verstehen, wenn Simon es euch verbietet.“ Na, das hörte sich ja nicht sehr optimistisch an. Aber sie würde es versuchen. Das war ein Anfang.

Im Wohnzimmer traf ich auf Daniel, der ungefähr die gleichen Ergebnisse erzielt hatte.

 

Sofia und Felix waren die Nächsten, die die Neuigkeit erfuhren. Sie nahmen es erstaunlich gelassen hin.

„Ich wollte sowieso nicht nach Hannover“, erklärte mein Cousin mit einem Schulterzucken. Damit war das Thema für ihn erledigt.

Sofias Reaktion war etwas enthusiastischer.

„Das ist toll“, beglückwünschte sie uns und gab uns eine kurze Umarmung. Ich konnte keinen neidischen Unterton heraushören. „Ich hab's natürlich schon am Sonntag gewusst.“

„Natürlich hast du das“, grinste ich.

 

Die Woche darauf hatte Daniel einen Unfall.

Es passierte beim Fußballtraining. Irgendwie war er falsch aufgetreten oder hatte sich irgendwas verdreht, das konnte keiner so genau sagen. Plötzlich schrie er auf und ließ sich ins Gras fallen. Sofia war als erste bei ihm und redete besorgt auf ihn ein. Als er aufstehen wollte drückte sie ihn energisch wieder runter und seinem schmerzverzerrten Gesicht nach zu urteilen, war das auch gut so.

Er hielt sich den linken Oberschenkel, als Felix und ich dazukamen.

„Was ist passiert?“, wollte ich gleich wissen. Daniel biss die Zähne zusammen. Sofia antwortete für ihn.

„Sein Bein hat beim Laufen plötzlich wehgetan. Ich vermute mal, es ist eine Zerrung, wenn nicht sogar ein Bänderriss“, erklärte sie uns. Inzwischen hatte sich auch der Rest der Mannschaft um uns versammelt.

„Ihr solltet ihn besser in die Notaufnahme fahren“, meinte Erik.

„Nein, es geht schon wieder“, protestierte Daniel. Sofia musterte ihn zweifelnd und auch ich konnte nicht umhin seine Schmerzen zu bemerken.

„Mit so etwas ist nicht zu spaßen. Wir fahren dich hin, keine Widerrede“, entschied Felix.

„Ich komme mit“, sagte ich. Gemeinsam zogen wir Daniel hoch und stützten ihn auf dem Weg zum Auto. Sofia begleitete uns.

„Sagt mir Bescheid, was der Arzt gesagt hat“, befahl sie und ich nickte.

„Machen wir.“ Ich lächelte ihr beruhigend zu. „Es ist bestimmt nicht so schlimm, wie es jetzt aussieht.“

Sie lächelte angespannt zurück und trat einen Schritt zur Seite.

„Hoffen wir's.“

Während Daniel untersucht wurde warteten Felix und ich vor der Tür. Als er nach einer halben Stunde wieder rauskam, hatte er zwei Krücken dabei und schonte sein linkes Bein.

„Was hat der Arzt gesagt?“, wollte Felix sofort wissen.

Daniel brachte ein gequältes Grinsen zustande. „Oberschenkelzerrung. Mindestens ein Monat Sportverbot.“

Ich verzog mitleidig das Gesicht. „Ach du Scheiße.“

Auch Felix schüttelte mitfühlend den Kopf. „Das kannst du wohl laut sagen.“

„Ach du scheiße“, wiederholte ich etwas lauter und Felix grinste.

„Idiot.“

Auch Daniel grinste, wurde dann aber wieder ernst. „Ja, und was noch viel schlimmer ist: Die ganze Überzeugungsarbeit war umsonst. Gut, dass wir das Formular noch nicht abgeschickte haben“, mischte sich Daniel ein. Oh Mann, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Der Arme, zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätte das auch nicht passieren können.

„Das einzig Gute an den Dingern hier“, fuhr der Verletzte fort und deutete auf seine Gehhilfen, „ist, dass mich alle Mädels bemitleiden werden.“

„Idiot“, wiederholte Felix grinsend.

16 Traumhafte Momente

 

Sofia

„Und es ist wirklich nichts Schlimmes?“, besorgt starrte ich Daniels Krücken an.

„Eine Zerrung. Nichts weiter“, beruhigte er mich geduldig. Erleichtert lehnte ich mich zurück. Zwar hatte mich Leon gestern noch angerufen, aber ich wollte wirklich sicher sein. Und das konnte ich nicht, bevor ich es aus Daniels Mund gehört hatte.

Jetzt saßen wir gerade in der Pausenhalle. Immer wieder kamen Leute aus der Mannschaft oder mir wildfremde Mädchen an, um den armen Invaliden zu bemitleiden. Dem schien die Aufmerksamkeit sehr zu gefallen. Welcher Kerl würde das auch nicht genießen?

„Ich hab eine Idee“, kündigte Leon an, als er sich neben mich setzte. „Wir haben Wochenende, das ist die perfekte Gelegenheit, Daniel ein bisschen aufzumuntern!“ Ich konnte mich für seine Pläne nicht so wirklich begeistern. Heute sollte eigentlich ein besonderer Tag sein. Ein Tag, der sich nur um mich drehte. Heute... war mein Geburtstag.

„Wir fahren nach Hamburg!“ Leons Vorschlag erfreute sich allgemeiner Zustimmung. Ich weiß nicht, was ich ernsthaft von diesem Tag erwartet hatte. Bestimmt keine große Party oder so. das war mir klar. Aber irgendwie hatte ich mir doch mehr erhofft, als die obligatorische Postkarte meiner ersten Pflegemutter, die zwar lieb gemeint war, ihre Wirkung aber nicht so richtig entfalten konnte, wenn sie an einem scheinbar stinknormalen Tag mit einem „Ach, du hast heute Geburtstag?“ überreicht wird. Doch entweder interessierte es keinen, oder es wusste einfach keiner. Und auf die Nase binden wollte ich es ihnen auch nicht.

„Sofia? Du bist doch auch dabei, oder?“ Leon sah mich so hoffnungsvoll an, dass ich nicht anders konnte, als ja zu sagen. Hamburg also. Mit ein bisschen Fantasie konnte ich mir vielleicht ausmalen, dieser Ausflug wäre mein Geburtstagsgeschenk. Eins, das ich selbst bezahlte. Ich seufzte. Ich würde viel Fantasie brauchen.

„Denk dran dir was hübsches anzuziehen“, instruierte mich Leon auf dem Weg zur nächsten Stunde.

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Was machen wir denn eigentlich?“

„Lass dich überraschen.“ Oh Mann, und ich dachte, er hat Ahnung von Frauen. Wie sollte ich den das richtige Outfit aussuchen, wenn ich noch nicht mal wusste wofür ich mich anzog? Das konnte ja heiter werden.

„Ein kleiner Tipp?“, fragte ich.

Leon schüttelte den Kopf. „Wo bleibt da der Spaß?“

Ich warf genervt die Arme in die Luft. „Da es ja um eine Überraschung für Daniel geht ist es doch wohl egal, was ich weiß!“ Ja, ich benahm mich ziemlich daneben, aber es fühlte sich einfach so falsch an. Das hier sollte mein Tag sein. Meine Familie sollte morgens in mein Zimmer kommen und mir ein Geburtstagslied singen. Natürlich würde ich total genervt reagieren und vorgeben lieber schlafen zu wollen. Aber in Wirklichkeit würde ich mich total freuen. Dann würde mich Paps zur Schule fahren, mir eine absolut peinliche Abschiedsszene machen und mich vor allen meinen Freunden blamieren. Wie gerne ich so einen Tag mal erleben würde...

Ich war mir sicher, bei Leons und Daniels Geburtstag wäre die ganze Familie da. Sie würden im Mittelpunkt stehen und einen unvergesslichen Tag erleben, mit all den seltsamen und peinlichen Situationen, die halt so zu einer Familie dazu gehören.

„Hallo? Erde an Sofia!“ Leon wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

„Lass das.“ Ich schlug seinen Arm weg. „Wann geht’s los?“ Er sah mich verwirrt an, war aber schlau genug sich eines Kommentars zu enthalten. Eindeutig mehr Erfahrung als Daniel. Keine Ahnung, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden sollte.

„Um vier holen wir dich ab. Du brauchst eigentlich nur deinen Perso. Und vielleicht was zum Überziehen. Es wird wohl etwas später.“

„Definiere 'später'.“

„Warum?“, fragte er verständnislos nach.

„Weil ich erstens nur bis Mitternacht auf der Straße sein darf...“

„Wir haben Felix dabei“, unterbrach mich Leon sofort, „Der ist schon 18.“

Ich bedachte ihn mit einem scharfen Blick. „Und außerdem wollen meine Pflegeeltern garantiert wissen, wann ich nach Hause komme.“ Bis jetzt hatten sie zwar noch nie Theater gemacht, aber wer wusste schon, was sie von einem Trip nach Hamburg hielten.

„Ach so.“ Er überlegte kurz. „Mitternacht müssten wir eigentlich locker schaffen.“

Irgendwie stand ich dieser Aussage etwas skeptisch gegenüber. Andererseits hatten wir Felix dabei. Das bedeutete, es gab wenigstens einen, der meistens einen Plan hatte.

Während des restlichen Unterrichts bemühte ich mich wirklich sehr den Ausführungen des Lehrers zu folgen, aber meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Ausflug ab. Ich schwankte zwischen Aufregung – einfach weil es mal was anderes war – und trüben Gedanken, die sich um meinen Geburtstag drehten.

Am Ende des Schultages hatte ich mich entschieden, das Beste aus allem zu machen. Was auch immer diese Überraschung war, ich würde mich bemühen es zu genießen.

„Bis in einer halben Stunde“, rief mir Daniel zum Abschied zu. Er schien sich echt auf den Trip zu freuen. Schon ihm zuliebe vertrieb ich meine trübe Stimmung.

Zuhause inspizierte ich meinen Kleiderschrank. Viel Auswahl hatte ich ehrlich gesagt nicht. Ich war nicht der Typ für elegante Sachen. Wobei es ja nicht direkt elegant sein musste. Am besten wäre etwas, das überall okay war. Gerne hätte ich jetzt eine Freundin an der Seite, die mich beim Aussuchen unterstützte, mich mit Fragen über die Jungs löcherte und völlig an den Haaren herbei gezogene Vermutungen über mein Interesse an ihnen aufstellte. Ich wollte mit ihr Kichern und darüber streiten, wer von den dreien der bestaussehendste war – eindeutig Leon. Sie sollte mir Flirttipps geben und meine Rückendeckung sein, falls irgendwas schief lief.

Stattdessen stand ich alleine vor dem Schrank und versuchte mich zu entscheiden. Sei nicht albern!, ermahnte ich mich selbst. Das ist doch kein Date oder so. Ich seufzte. Leider.

Allerdings – mit drei Jungs? Das war dann auch nicht so mein Fall.

Ein Blick auf die Uhr trieb mich zur Eile an. Meine Wahl fiel auf ein weißes Sommerkleid mit angedeutetem Blumenmuster. Schlicht und doch elegant. Es hatte Spaghettiträger und – oh, Wunder – ich hatte sogar einen passenden Bolero. Dazu schwarze Ballerinas. Wer wusste schon, wo mich die Jungs hinschleppen wollten.

Nachdem das Outfit geklärt war, blieb nicht mehr viel Zeit zum fertig machen. Ich sprang schnell unter die Dusche. Für mehr als schnelles frottieren und grobes föhnen war keine Zeit mehr. Noch schnell dezentes Make-up auflegen, dann hörte ich auch schon ein Auto vorfahren. Ich hatte extra das Badezimmerfenster aufgelassen.

Hastig stopfte ich die Wichtigsten Sachen in meine Handtasche und stürmte zur Tür, als es klingelte.

„Das ist für mich!“, rief ich durch die Wohnung. Auf einem Bein balancierend öffnete ich Tür, während ich mir gleichzeitig die Schuhe anzog.

„Bin gleich fertig“, erklärte ich demjenigen, der vor der Tür stand. Ich warf einen kurzen Blick ins Wohnzimmer. „Bin jetzt weg. Wird wahrscheinlich spät, aber ich werde gebracht.“

„Hast du einen Schlüssel dabei?“, ertönte die Stimme meiner Pflegemutter, als ich mich schon halb umgedreht hatte.

Ich verdrehte die Augen. „Ja! Bis dann.“

Kopfschüttelnd zog ich die Tür hinter mir zu und stolperte fast in Leon. Er stand auf der Treppe und starrte mich an.

„Hab ich was im Gesicht?“, fragte ich unsicher nach. War die Wimperntusche verwischt?

„Nein. Nein“, wiederholte Leon. „Du siehst wunderschön aus.“

Ich senkte lächelnd den Blick. „Danke“, sagte ich leise.

Höflich bot er mir seinen linken Arm. „Wenn ich bitten darf?“ Ich lachte über so viel formvollendete Manieren und legte meine Hand in seine Armbeuge. Ganz der perfekte Gentleman hielt er mir sogar die Tür auf, bevor er sich neben mich auf die Rückbank gleiten ließ.

Von Vorne grinste mir Daniel charmant entgegen. „Sofia, du solltest nicht so oft im Fußballtrikot rumlaufen, das verbirgt dein wahres Potenzial.“ Lachend schlug ich ihm gegen die Schulter.

„Aua!“, machte er übertrieben schmerzerfüllt. „Ich bin ein Invalide.“

„Beschwer dich nicht, du darfst Vorne sitzen“, wies Leon ihn zurecht.

„Ach was, ich glaube, das hätte ich sowieso gedurft.“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick in meine Richtung. Ich tat so, als hätte ich es nicht gesehen.

„Das ist wirklich sehr hübsch“, bestätigte Felix und lächelte mir über den Rückspiegel zu, während er anfuhr.

„Danke. Wirst du uns jetzt endlich verraten, wo es hingeht?“, wandte ich mich an Leon. Doch er setzte nur ein geheimnisvolles Gesicht auf.

„Das werdet ihr noch früh genug erfahren.“

Wir versuchten die ganze Fahrt über, etwas aus ihm heraus zu kitzeln, aber alles, was er verriet, war, dass es uns garantiert gefallen würde.

Nach knapp anderthalb Stunden Fahrt kamen wir endlich an. Felix suchte sich einen Parkplatz. Erstaunlicherweise fand er auch auf Anhieb einen. Leon sprang als Erster aus dem Auto, vergaß in seiner Aufregung aber nicht, mir zuvorkommend die Tür aufzuhalten. Felix tat das Gleiche für Daniel. Also vielleicht doch ein Doppeldate? Bei der Vorstellung musste ich schmunzeln.

Ein kurzer Fußweg führte uns an einen Anleger an der Elbe und dahinter...

„Oh mein Gott, ist das dein Ernst?“, rief ich begeistert aus. Auf der gegenüberliegenden Seite strahlte uns das gelbe hell beleuchtete Dach des Stage Theaters entgegen. Und oben auf der Kuppel, der charakteristische Löwenkopf und der beleuchtete Schriftzug. König der Löwen.

Ich drehte mich mit leuchtenden Augen um. „Das ist mein Lieblingsfilm!“ Die drei Jungs betrachteten mich mit einem zufriedenen Lächeln.

„Wissen wir doch“, sagte Leon. „Alles Gute zum Geburtstag Sofia!“

„Ich... das... wie...“, stammelte ich vor mich hin.

„Na ja, wir haben entdeckt, dass du heute Geburtstag hast, und dann dachten wir uns: das können wir doch nicht einfach so vorbeiziehen lassen“, erklärte Daniel. „Und jetzt lass dich erstmal drücken.“ Ich war einfach überwältigt. Mit einem Aufschluchzen fiel ich erst Daniel und dann Felix um den Hals.

„Ihr seid doch verrückt“, schluchzte ich und wandte mich zu Leon.

Er umarmte mich liebevoll. „Ich wünsche dir, dass alle deine Träume in Erfüllung gehen“, flüsterte er in mein Ohr und drückte mich noch einmal. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Sie hatten an meinen Geburtstag gedacht, und sich so viel Mühe gegeben, mich zu überraschen. Mit zitternden Händen kramte ich ein Taschentuch hervor und tupfte mir die Tränen vom Gesicht.

„Danke, Jungs. Ich... das... ich bin total überwältigt. Das ist das beste Geburtstagsgeschenk seid... ach, überhaupt!“

„Sofia, jetzt wein doch nicht“, bat mich Daniel verzweifelt und Felix reichte mir noch ein Taschentuch.

„Sonst verläuft deine Schminke noch“, fügte Leon hinzu.

„Wasserfest“, schniefte ich.

„Sehr vorausschauend.“ Leon bot mir wieder seinen Arm. „Wollen wir dann? Unser Boot wartet.“

Schnell wischte ich mir die letzten Freudentränen weg und ließ mir von Leon auf das Boot helfen. Von der Reling aus beobachtete ich, wie das Theater immer näher kam. In den hell erleuchteten Panoramafenstern sah ich Leute umhereilen und in Grüppchen zusammenstehen. Von dort oben musste man einen grandiosen Ausblick über die Stadt haben. Aber auch das Theater selbst bot einen beeindruckenden Blickfang und es wurde schöner, je näher wir heran kamen.

Leon trat neben mich ans Geländer. „Also, war es eine gute Idee?“, fragte er vorsichtig nach.

Ich lächelte ihn an. „Die beste, die du je hattest.“ Sanft legte er seine Hand auf meine. Erstaunt sah ich von unseren Händen zu ihm, doch er starrte nur, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen über die Elbe. Als das Boot anlegte nahm er seine Hand weg. Diesmal war es Felix, der mir aus dem Boot half.

Durch einen gelb beleuchteten Gang kamen wir zum eigentlichen Eingang des Theaters. Felix besorgte unsere Karten und schon waren wir auf dem Weg in den Saal. Schnell hatten wir unsere Plätze gefunden. Ich sank neben Daniel in den weichen Traum von einem roten Sessel und nutzte die letzte halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn, um mich wieder zu fangen. Der Saal füllte sich immer mehr und schließlich wurde das Licht gedämmt. Ruhe kehrte ein und die ersten Töne des Eingangsliedes erfüllten den Raum.

 

Es war wie das Aufwachen aus einem Traum. Ein paar Momente der Verwirrung, wenn das Licht angeht, bevor man wieder ganz im hier und jetzt landet. Rauschender Applaus um uns herum, in den ich begeistert einstimmte. Das war ein unglaubliches Erlebnis! Immer und immer wieder mussten die Schauspieler auf die Bühne kommen, bis der Applaus langsam verklang und sich allgemeine Aufbruchsstimmung verbreitete.

Auch wir suchten unsere sieben Sachen zusammen.

„Ich geh noch mal zur Bühne, gucken, ob ich irgendwie an ein Autogramm komme. Kommt ihr mit?“, fragte Felix. Ich schüttelte den Kopf. Zum Reden war ich noch nicht in der Lage. Ich wollte so lange wie möglich dieses Gefühl in mir bewahren, damit ich mich später daran erinnern konnte.

„Ich begleite sie nach draußen, wir warten am Anleger auf der anderen Seite“, verkündete Leon.

„Alles klar.“

Langsam bewegten wir uns mit der Masse nach draußen. Wir mussten eine Weile anstehen, doch bei der dritten Fahrt waren wir wieder auf dem Boot. Auch diesmal stand ich an der Reling und beobachtete, wie das Theater sich immer weiter entfernte.

Ich atmete die frische Luft ein und genoss den leichten Wind, der mir um die Nase wehte. Diese ganze Szenerie hatte im wahrsten Sinne des Wortes etwas Traumhaftes an sich. Diesmal legte Leon seine Hand nicht auf meine. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht sein sollte.

Am Ufer angekommen bewegten wir uns ein bisschen vom Anleger weg. Über das Wasser warf ich noch einen letzten Blick auf das Theater. Ich wollte diesen Moment ganz tief in meinem Herzen verwahren.

Plötzlich überkam mich ein leises Frösteln. Nach einer Zeit war der Wind gar nicht mehr so angenehm und mein Bolero war da auch nicht gerade hilfreich.

„Hier“, ertönte Leons Stimme neben mir. Er legte mir sein warmes Jackett um die Schultern. Es war kuschelig warm. Verlegen zog ich es ein wenig enger. Er stand ziemlich dicht vor mir. Ich musste den Kopf heben, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Ist dir dann nicht zu kalt?“ Er schüttelte den Kopf und kam noch näher. Seine Hände lagen immer noch auf meiner Schulter. Ich hielt den Atem an, als das Kribbeln in meinem Bauch sich wieder bemerkbar machte. Mit fragendem Blick kam er noch ein bisschen näher. Als Antwort schloss ich die Augen.

Dann küssten wir uns.

17 Reisegefährten

 

Leon

„Hast du auch alles eingepackt?“

„Ja!“ Schnell schnappte ich mir die Tasche, bevor Mama sie wider auspackte, um alles zu kontrollieren. Das wäre ja noch schöner!

Während ich die Treppe runterging hörte Mama nicht auf zu reden.

„Und du bist dir sicher, dass du nichts vergessen hast?“

Ich verdrehte die Augen. „Absolut sicher!“

„Zahnbürste?“

„Ja.“

„Krankenversichertenkarte?“

„Ja.“

„Genug Unterhosen?“

Ich drehte mich genervt um. „Mann, Mama! Jetzt gib doch endlich mal Ruhe! Ich hab an alles gedacht, wirklich.“

Sie hob abwehrend die Arme. „Ist ja gut, jetzt sei doch nicht wieder so patzig. Immerhin hast du diese Reise nur mir zu verdanken.“ Ich seufzte resignierend. Das stimmte. Lia stand dem Wochenende, trotz unseres Gespräches, eher skeptisch gegenüber.

Ich verstand ihre Sorge ehrlich gesagt nicht so richtig. Ich war da mit 20 Jugendlichen in einer Stadt von mehreren hunderttausend Einwohnern. Wie sollte mich da ein bestimmter Gestaltwandler finden? Uns selbst wenn, er würde es nicht wagen, mich im Schutz der Gruppe anzugreifen. Das Risiko wäre viel zu groß. Also gab es meiner Meinung nach keinen Grund für diese übertriebene Sorge.

Sofias Geburtstag war unser Testlauf gewesen. Hamburg war nicht allzu weit entfernt, lag aber schon außerhalb unserer Grenzen. Und wie man gesehen hatte, war alles glatt gelaufen.

„Ja, schon, aber das hier ist wirklich nicht nötig.“ Ich trat aus der Tür, wo schon Jakob wartete. Er würde mich zum Bahnhof fahren. Zum Glück war er nicht der Typ für lange Vorträge.

„Du bist so ein Glückskind“, ertönte Daniels Stimme hinter mir.

„Wohl eher umgekehrt“, schoss ich zurück. Ich klopfte meinem Zwilling auf die Schulter. „Glaubst du, du wirst das Wochenende ohne mich überleben?“

Er grinste. „Klar, ich werd mich hier verwöhnen lassen, während du auf dem Feld schwitzen musst.“ Er versuchte zwar, es zu überspielen, aber ich merkte, wie sehr ihn das wurmte. War aber auch echt die blödeste Zeit, um sich zu verletzen.

„Es kommt wieder eine Chance“, sagte ich leise zu ihm.

Daniel klopfte ungeduldig mit der Krücke gegen die nächste Stufe.

„Ich wollte aber diese.“

„Ich weiß.“ Ich hielt ihm eine Hand hin und er schlug ein. „Wir sehen uns Sonntag.“

„Und dann will ich Ergebnisse sehen. Jetzt, wo ich nicht mitkomme, hast du wenigstens eine reelle Chance.“

Lachend gab ich ihm eine leichte Kopfnuss. „Spinner!“ Ich ließ eine lange Umarmung von Mama und reihenweise Ratschläge über mich ergehen. Dann stieg ich endlich ein. Auf der Fahrt wanderten meine Gedanken zu Sofia.

Seit ihrem Geburtstag war es irgendwie komisch zwischen uns. Über den Kuss hatten wir auch nicht mehr geredet, weil Daniel und Leon auf einmal auftauchten. Genau wie unseren ersten Streit und die Party schien sie es einfach abzuschließen. Als wollte sie es am liebsten vergessen. Hatte es ihr denn gar nichts bedeutet?

Ich meine, das war nicht mein erster Kuss, aber... es war toll und ich hatte jedes Mal Schmetterlinge im Bauch, wenn ich sie sah. Ging es ihr genau so? Oder war es ihr egal? Abgestempelt als Kurzschlussreaktion, weil sie an dem Abend durcheinander war? Ich wusste es einfach nicht, und dass machte mich total unsicher. Und jetzt würden wir ein ganzes Wochenende miteinander verbringen.

Ja, sie hatte etwa eine Woche nach Daniels Verletzung ebenfalls eine Einladung bekommen. Anscheinend hatte der Scout sie bei einer anderen Gelegenheit schon mal gesehen oder er kannte sie von früher. Vielleicht hatte Erik auch seine Finger im Spiel. Er war ja ziemlich begeistert von Sofias Talent. Ich würde jedenfalls nicht genauer nachfragen. Wenn es bedeutete, dass Sofia diese Chance bekam, war es ein gut genügender Grund für mich.

Ich freute mich für sie, auch wenn es komisch sein musste als Daniels Ersatz mitzukommen. Ich fragte mich, ob ihre Pflegeeltern auch so einen Aufstand um ihre Reise gemacht hatten. Aber ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen.

Ich seufzte. Ich hoffte wirklich sehr, dass sie morgen Erfolg hatte.

Jakob setzte mich am Bahnhof ab und machte sich gleich wieder auf den Weg. Er hatte keine Zeit auf den Zug zu warten und ich war nicht der Typ, dem man Händchen halten musste.

Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Wo blieb sie denn? Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, doch Sofia war immer noch nicht da. Unruhig sah ich mich ein letztes Mal um, bevor ich in den Zug stieg. War ihr etwas dazwischen gekommen? Oder wollte sie einfach nicht mit mir zusammen fahren? Aber eigentlich hatten wir uns verabredet, mit welchem Zug wir fahren wollten.

Frustriert drückte ich ein paar Mal auf den Türknopf. Ich verstand dieses Mädchen nicht und noch weniger verstand ich meine Gefühle für sie. Es hatte keinen Sinn, keine Zukunft, und trotzdem machte ich mir einen Kopf um das, was sie möglicherweise für mich empfand.

Es war absolut unlogisch, aber ich denke, so ist die Liebe, nicht wahr?

Entgegen jedem Sinn drehte ich mich noch ein letztes Mal um – wie ein liebeskranker Vollidiot, fehlte nur noch die melancholische Filmmusik. Aber, was soll ich sagen? Vielleicht enthielten Hollywood-Filme ja doch einen Funken Wahrheit, denn in diesem Moment erklang ein – imaginärer – Tusch. Sofia stieg aus dem Bus direkt gegenüber von unserem Gleis. Sie trug einen kurzen Kampf mit ihren widerspenstigen  Taschen aus und hastete gleich darauf die Bahnhofstreppen runter.

Vor mir begann die Tür sich mit einem dezenten Zischen wieder zu schließen. Schnell drückte ich wieder auf den Knopf und die Türflügel glitten auseinander.

Hinter mir kam Sofia keuchend zum Stehen. „Der Bus hatte Verspätung.“

„Du hättest auch einfach fragen können, ob wir dich mitnehmen“, erwiderte ich kopfschüttelnd und nahm ihr eine Tasche ab.

Trotzig hob sie das Kinn. „Na und? Es ging doch auch so.“ Sie schob sich an mir vorbei. „Ich will oben sitzen.“ Lächelnd folgte ich ihr. Offenbar war die doofe Phase vorbei.

Ich hob die Taschen oben ins Gepäcknetz und machte es mir gemütlich. Sofia setzte sich mir gegenüber und starrte eine Weile aus dem Fenster.

„Willst du...“, setzte ich zögernd an.

„Darüber reden?“, unterbrach sie mich schnell. „Nein, ehrlich gesagt nicht.“ Ich war enttäuscht. War es ihr so egal?

Drei Stunden Zugfahrt und zweimal umsteigen später waren wir am Ziel. Vor dem Bahnhof wartete ein Bus, der uns zum Hotel fuhr. Dort wurden uns unsere Zimmer zugewiesen, auf unterschiedlichen Fluren natürlich, und man teilte uns mit, dass sich alle um sechs im Bistro treffen würden. Das war noch eine halbe Stunde.

Sofia stieg ein Stockwerk früher aus und ließ mich allein im Fahrstuhl. Dann wurde mein Flur mit einem leisen 'Ping' angekündigt. Ich trat aus dem Fahrstuhl und sah mich kurz um. Auf dem Boden lag ein weicher Teppich, der alle Geräusche schluckte und die weißen Türen wurden nur von der Zimmernummer geziert. Alles in allem zwar kein Fünf-Sterne-Hotel, aber sauber und ordentlich.

Ich suchte auf meinem Schlüssel nach der Nummer und fand heraus, dass ich in Zimmer 714 untergebracht war. Ich probierte die Klinke und merkte, dass es schon offen war. Verwundert stieß ich die Tür auf und trat in einen schlichten Raum. Die dominierende Farbe war grau, aber offensichtlich hatte sich jemand bemüht, den Raum durch ein paar Blumen aufzupeppen, - und wir hatten einen Balkon.

Die einzigen anderen Farben in diesem Zimmer waren ein paar verstreute Klamotten auf dem einen Bett. Ich musste mir also das Zimmer mit einem der anderen Teilnehmer teilen. Ich entdeckte meinen Zimmernachbarn auf dem Balkon, wo er ans Geländer gelehnt rauchte. Ich runzelte die Stirn. Und das wollte ein Sportler sein? Immerhin hatte er den Anstand draußen zu rauchen. Ich war überzeugter Nichtraucher und hatte keinen Bock auf verseuchte Luft hier drinnen.

Ich stellte meine Tasche neben das freie Bett und warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, bis wir nach unten kommen sollten. Das reichte entweder, um kurz nach Sofia zu schauen, oder mich mit meinem Zimmernachbarn bekannt zu machen.

Ich entschied mich für letzteres. Ich hatte nämlich nicht auf Sofias Zimmernummer geachtet, und wer wusste schon, ob ich mich auf dem Mädchenflur überhaupt sehen lassen durfte. Nicht, dass es mich gestört hätte, aber ich wusste gerne die Regeln, bevor ich sie brach. Man wollte ja vorbereitet sein.

Ich trat also auf den Balkon und lehnte mich mit dem Rücken gegen das hüfthohe Geländer. Der andere richtete sich auf und schnipste seinen Zigarettenstummel in die Tiefe. Von unten wurden ein paar Motorengeräusche hoch geweht, ansonsten herrschte Stille.

„Ich bin Leon“, stellte ich mich vor und musterte den Raucher. Er war ein wenig kleiner als ich und hatte irgendwie einen südländischen Touch.

„Ich bin Frederico, aber alle nennen mich Rico.“ Seine Aussprache war ganz weich und er rollte das 'R' beim Sprechen. Er musste ein richtiger Mädchenschwarm sein.

„Spanier?“, vermutete ich.

Rico grinste. „Si, Señor.“ Obwohl er bestimmt zwei Jahre älter war als ich, konnte ich ihn sofort gut leiden. Er schien mir auch nicht der krankhaft ehrgeizige Typ zu sein. Zumindest soweit ich das nach zwei Sätzen sagen konnte.

„Auch gut. Bist du schon lange hier?“

„Seit einer Stunde. Lang genug, um das Hotel abzuchecken. Nette Bude ist das hier.“

„Ach ja?“, fragte ich interessiert nach.

„Ja, die haben hier 'ne Sauna und 'nen Pool. Vielleicht sind ja ein paar hübsche Chicas unter den Teilnehmerinnen.“ Er zwinkerte mir zu. Ich musste unwillkürlich an Sofia denken. Hatte sie auch so eine nette Mitbewohnerin? Er kam mir vor wie ein absolutes Klischee, aber ein sympathisches.

„Ja, vielleicht...“, meinte ich lächelnd und deutete dann auf sein Feuerzeug. „Wegen dem Rauchen...“

„Keine Angst, ich werd nur hier draußen rauchen“, erklärte Rico sofort.

„Danke.“ Das war nicht selbstverständlich. Ich kannte einige Raucher, die nie Rücksicht auf andere nahmen. Ich konnte sie nicht ausstehen. „Warum tust du das überhaupt? Ich mein, du bist doch Sportler, oder nicht?“

Er lächelte gequält. „Ich weiß, ich bemühe mich ja aufzuhören, aber schlechte Gewohnheiten lassen sich leider nicht von heute auf morgen ablegen. Und eins kann ich dir sagen: Nikotinkaugummis sind zum kotzen.“ Er tat so, als müsste er sich übergeben und ich lachte.

Das kann ich mir vorstellen.“ Ich stieß mich vom Geländer ab. „Ich glaube, wir sollten langsam runter gehen. Du kennst doch den Weg?“

Si, claro, komm mit.“

Das Bistro unterschied sich nicht sehr von einem herkömmlichen Restaurant, aber es befand sich in der obersten Etage des Hotels und hatte einen dementsprechenden Ausblick.

¡Díos mío!“, rief Rico aus und starrte durch den Raum. „Muy caliente.“ Ich hatte lange genug Spanisch, um zu wissen was das hieß. Ich folgte dem Blick meines neuen Freundes. Auf der anderen Seite des Bistros standen zwei Mädchen. Die eine war Sofia, die andere das Mädchen, dass Rico gerade als 'heiß' bezeichnet hatte. Sie unterhielten sich und fingen auf einmal an zu lachen. Ich konnte den Blick nicht von Sofia wenden. Sie hatte das gleiche Kleid an, wie vor zwei Wochen, und es stand ihr immer noch genau so gut.

Rico stieß mir mit dem Ellbogen in die Seite. „Hör auf zu sabbern, hermano. Bevor sie noch guckt.“ Verlegen wandte ich den Blick ab. „Aber selber.“

Rico lachte gutmütig. „Erzähl schon, welche hat's dir angetan?“

Ich schüttelte den Kopf. „Das geht dich ja wohl nichts an.“

„Wollte nur wissen, von welcher ich mich fernhalten soll“, verteidigte er sich.

In dem Moment entdeckte Sofia uns und winkte mir zu.

„Aber das hat sich wohl gerade erledigt“, grinste Rico.

Ich warf ihm einen tödlichen Blick zu. „Kein Wort zu ihr, ist das klar?“

„Ich kann schweigen wie ein Grab.“

Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Muy bien, amigo.

Sofia kam zu uns rüber und umarmte mich kurz. „Rettet mich bitte vor diesem schrecklichen Mädchen“, flehte sie uns regelrecht an und deutete unauffällig zu dem hübschen Mädchen, bei dem sie gerade noch gestanden hatte. „Sie ist Nina hoch drei!“

Rico verbeugte sich theatralisch. „Ich werde mich opfern.“ Er zog ab und verwickelte das Mädchen sehr enthusiastisch in ein Gespräch.

Sofia seufzte erleichtert und sah dann amüsiert zu den beiden rüber. „Und wer ist dieser Casanova?“

„Das ist Rico, mein Mitbewohner. Er ist Spanier“, erklärte ich. Dann beugte ich mich etwas vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Du siehst bezaubernd aus.“ Sie errötete leicht und sah absolut süß aus. „Wollen wir uns schon mal hinsetzen?“ Sie nickte und wir suchten uns zwei Plätze an dem langen Tisch, der für unsere Gruppe reserviert war.

„Wie ist deine Mitbewohnerin denn so? Ist es die, mit der Rico redet?“

„Was? Lisa? Nein, die wohnt nebenan.“ Sie sah sich suchend um und zeigte dann unauffällig auf eine Blondine, die etwas weiter unten am Tisch saß. „Hannah. Mit ihr wohne ich zusammen.“ Ich musterte Hannah. Sie war schlank und hatte die Haare zu einem sportlichen Zopf gebunden.

„Und was hältst du von ihr?“

Sofia verdrehte die Augen. „Sie ist schrecklich. Sie hat von Anfang an klar gemacht, dass sie mich als Konkurrentin sieht und auch entsprechend behandeln wird.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich kann ich sogar froh sein, dass sie nicht mit mir redet.“

„Da hab ich ja noch Glück gehabt mit Rico.“

„Stimmt, er ist total süß.“ Ich verspürte einen kleinen Stich. „Wie ein Hundebaby“, fügte Sofia schnell hinzu.

18 Teamarbeit

 

Sofia

Ich beneidete Leon um seinen Mitbewohner. Er war wirklich ziemlich knuffig, auch wenn ich das vielleicht nicht laut hätte sagen sollen. Bis jetzt waren außer mir an Mädchen nur Lisa und Hannah da – und auf die beiden konnte ich echt verzichten.

Tja, normalerweise hätte ich gesagt, scheiß drauf, ich hab ja Leon, aber das Problem war – Leon. Er war total süß, noch viel süßer als Rico, das war auch etwas, was ich definitiv nicht laut sagen würde, täte seinem Ego nicht gut, aber ich wusste einfach nicht, wie ich mich verhalten sollte.

Ich war jetzt an dem Punkt angekommen, wo ich mir eingestehen musste, dass ich eindeutig was für Leon übrig hatte. Prinzipiell super, denn ohne eingebildet klingen zu wollen, ihm ging es glaube ich genauso. Aber da war diese Sache mit seiner Familie. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir irgendetwas verheimlichte und das war die denkbar schlechteste Grundlage für eine Beziehung.

„Also gut, setzt euch bitte hin, es fehlen zwar noch zwei, aber das lässt sich wohl nicht ändern“, befahl uns ein Mann, der hektisch herein gestürmt kam. Er war schlaksig – eindeutig kein Sportler - und hatte einen Nadelstreifenanzug an. Vermutlich war er der Koordinator des Ganzen. Unruhig auf und ab gehend wartete er, bis sich alle gesetzt hatten. Dann stellte er sich ans Kopfende des Tisches. Ausnahmsweise stand er mal still, obwohl – nein, seine Finger fingen an auf der Stuhllehne zu trommeln, die er umklammertes.

„Nochmal ein offizielles Willkommen von meiner Seite. Mein Name ist Gerber, ich hoffe, Sie hatten alle eine angenehme Reise.“ Er wartete eine Antwort nicht ab, es hatte aber glaube ich auch keiner vor zu antworten. Was sollte man auch sagen? Ich hab fast meinen Zug verpasst, ein eindeutig notwendiges Gespräch im Keim erstickt und drei Stunden lang über unwichtiges Zeug geredet? Nein, das würde ich ihm ganz bestimmt nicht erzählen.

„Das Programm sieht so aus. Morgen haben sie zwei Trainingseinheiten, die natürlich schon in die Wertung mit einfließen, und am Sonntag findet dann das angekündigte Testspiel statt. Die Abfahrtszeiten des Busses werden morgen beim Frühstück angesagt, Frühstück ist im Übrigen um sieben. Die verbleibende Zeit steht zu Ihrer freien Verfügung.“ Lisa lächelte mir begeistert zu. Oh nein! Sie hatte mir schon erzählt, dass sie unbedingt eine Stadtbesichtigung machen wollte. Langweilige Museen und kilometerweit entfernte Denkmäler waren wirklich nicht so mein Fall. Zum Glück schien Leon meine Notsituation zu bemerken, denn er legte einen Arm um meine Stuhllehne und beugte sich zu mir rüber.

„Keine Angst, die werden wir schon irgendwie los“, versprach er mir leise. Ich lächelte ihn dankbar an.

Ich sah gerade noch den Blick, den das Streifenhörnchen uns zuwarf, bevor er fortfuhr: „Ein paar Regeln müssen Sie natürlich in der Zeit Ihres Aufenthaltes beachten. Besuche auf den Zimmern des jeweils anderen Geschlechts sind verboten, insbesondere nach 10 Uhr. Des weiteren ist Pünktlichkeit eine unerlässliche Tugend an diesem Wochenende, wir warten auf niemanden, Herrschaften!“

Seine Art nervte ziemlich. Das einzig coole war, dass er uns siezte, aber ich war mir sicher, dass sich das nach ein paar Stunden auch abnutzte.

„Denn restlichen Abend können Sie damit verbringen sich näher kennen zu lernen und... oh, entschuldigen Sie mich bitte einen Moment?“ Wieder wartete er keine Antwort ab und ging an sein Handy. Es hätte auch keiner nein gesagt, glaube ich, schon wegen diesem schrecklichen Klingelton!

Fünf Minuten später wusste ich, wen ich auf keinen Fall kennen lernen wollte: Marvin!

Marvin war ein breit gebauter Abwehrspieler, der absolute Star in seinem Team und das Wort Zimmerlautstärke war in seinem Wortschatz nicht enthalten. Seine Stimme überlagerte alle Gesprächsversuche. So waren wir gezwungen seinen großspurigen Erzählungen zu lauschen, die immer ihn zum Mittelpunkt hatten. Er konnte sich in seinem Konkurrenzdenken auf jeden Fall mit Hannah messen.

Ich beschloss, alle sympathisch zu finden, die dabei ein genervtes Gesicht machten. Muss ich erwähnen, dass das fast alle waren? Die Rückkehr des Streifenhörnchens erlöste uns für eine Weile von der Heldensaga des Marvin. Ich konnte das kollektive Aufatmen beinahe körperlich spüren.

Auch Leon konnte ihn nicht leiden. „Da wünscht man sich ja glatt Nina zurück“, wisperte er in der Gesprächspause zwischen Marvin und Herrn Streifenhörnchen.

„Gerade sind die letzten beiden Kandidaten eingetroffen. Sie beziehen gerade ihre Zimmer und werden dann zu uns stoßen. Während wir auf sie warten können wir ja schon mal mit der Vorstellungsrunde anfangen. Jeder sagt seinen Namen, wo er her kommt und vielleicht ein oder zwei Hobbies.“

Sein Ernst? Sein Ernst!

Ich ließ diese kindische Prozedur über mich ergehen. Ich verstand den Sinn dahinter nicht. Wir waren weder eine Mannschaft, noch sollten wir je eine werden. Jeder dieser Jugendlichen sah in mir eine Konkurrenz und da sollte ich mit ihnen auf gut Freund machen?

Ich hatte keine großen Hoffnungen für diesen Abend.

Ich sollte Recht behalten. Der einzige Lichtblick dieses Abends war Lisas neue Mitbewohnerin. Zoey und ihr Bruder Lukas waren die Nachzügler und ich verstand mich auf Anhieb mit ihnen. Endlich mal etwas in meinem Leben das gut lief. Wir versüßten uns den Rest des langweiligen Abends in dem wir ein Ranking aufstellten. Jeder dumme Spruch und jede Angeberei gab einen Minuspunkt. Ratet mal, wer die meisten hatte.

Zoey hatte knallrote Haare und ich liebte ihren Sinn für Humor. Außerdem war sie eine ziemlich gute Beobachterin, denn auf dem Weg zu unseren Zimmern fragte sie mich: „Du und Leon, seid ihr eigentlich zusammen?“

„Was? Wir? Nein! Nein, nein, da läuft nichts“, wehrte ich entschieden ab.

„Aber du wünschst dir, da wäre was“, stellte sie fest.

Treffer versenkt.

„Na ja“, druckste ich herum. Sollte ich wirklich mit einem wildfremden Mädchen darüber reden? Andererseits schien sie mir ziemlich vernünftig zu sein und das Wichtigste wusste ich schon über sie: Sie spielte Fußball und fand Marvin genauso ätzend wie ich. Ich gab mir einen Ruck. „Schon irgendwie. Aber es geht nicht.“

Sie blickte verständlicherweise etwas verwirrt drein. „Wieso? Was spricht dagegen? Er behandelt dich wie ein vollendeter Gentleman, ich wünschte, mein Kerl würde das mal tun.“

„Ja, er ist wirklich total süß, oder?“, seufzte ich. Dann riss ich mich zusammen. „Aber er ist nicht ehrlich zu mir.“

„Woher weißt du das?“

„Also, ich weiß es nicht wirklich, es ist nur dieses Gefühl, dass er mir irgendetwas verheimlicht. Ein Geheimnis ist keine gute Ausgangssituation für eine Beziehung.“ Es war einfach zu blöd. Ich würde ihm so gerne vertrauen, aber wie konnte ich das, wenn er mich eindeutig belog?

„Schon“, begann Zoey zögernd, „aber geht es bei dem Geheimnis denn um ihn?“

„Um ihn? Nicht so direkt, eigentlich geht es um seine Familie. Warum, ist das wichtig? Ein Geheimnis bleibt ein Geheimnis.“

„Aber überleg doch mal. Was, wenn er es wirklich nicht sagen kann?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Hier mal ein Beispiel“, fuhr sie hastig fort. „Sein Vater...“

„... ist tot“, unterbrach ich sie, bevor das hier eine ausgewachsene Verschwörungstheorie werden konnte.

„Oh, das tut mir leid. Aber das hier ist rein hypothetisch. Hat er einen Bruder?“ Ich nickte. Worauf wollte sie hinaus? „Okay, also sagen wir mal der Bruder hat einen Mord beobachtet und soll jetzt gegen diesen hypergefährlichen Mann aussagen.“ Ich stellte mir Daniel in einer schmierigen dunklen Gasse vor, wie er sich zitternd an die Wand drückte. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. „Gut, um ihn vor diesem miesen Kerl zu beschützen, muss der Bruder und natürlich die Familie mit ihm ins Zeugenschutzprogramm. Neue Namen, neues Zuhause. Und natürlich, dürfen sie nichts verraten.“

„Und inwieweit hilft mir das jetzt in meiner Situation? Die Ahlfeldts leben schon ewig in diesem Ort und außerdem würden die keine ganze Sippe ins Zeugenschutzprogramm stecken.“

Zoey hob Einhalt gebietend den Zeigefinger. „Dazu komme ich jetzt. Also, Leon kann dir in dieser hypothetischen Welt also nicht sagen, dass er im Zeugenschutzprogramm ist und gar nicht Leon heißt, aber alles andere ist wahr. Würdest du dann nicht trotzdem mit ihm zusammen sein wollen? Rein hypothetisch?“

Wow, das klang ziemlich schlau. Was ihn selbst anging hatte er mich meines Wissens nach noch nie belogen. Und er hatte gleich gesagt, dass seine Familie etwas seltsam war, er mir aber nicht sagen könnte warum. Vielleicht war das wirklich kein richtiger Grund nicht mit Leon zusammen zu sein. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann hatte ich schlicht und einfach Angst. Angst, dass es doch etwas gab, das irgendwann dazu führen würde, dass ich mich mal wieder so richtig scheiße fühlte.

„Danke“, sagte ich zu Zoey. „Ich glaube, darüber muss ich erstmal eine Nacht schlafen.“

„Gern geschehen. Gute Nacht.“

Ich lag noch lange wach in dieser Nacht, doch am nächsten Tag hatte ich eine Entscheidung getroffen.

Wie angekündigt hatten wir über Mittag mehrere Stunden frei. Und wie erwartet stürzte sich Lisa sofort auf mich. „Weißt du noch? Ich hab dich gefragt, ob du mit auf die Stadtbesichtigung kommst. Und was sagst du?“

„Ehrlich gesagt“, begann ich und griff nach Leons Hand, der mich zwar verwundert anstarrte, aber mitspielte. „Wollte ich gerne ein bisschen Zeit mit meinem Freund verbringen.“

„Oh“, hauchte sie und umarmte mich stürmisch. „Viel Spaß ihr beiden, ich frag einfach die anderen!“

„Gut ausgespielt, Fräulein“, lobte Leon und wollte seine Hand wieder zurückziehen. Doch ich hielt sie sanft fest. „Was...?“

„Ehrlich gesagt, hab ich nicht gespielt.“ Aufmerksam studierte ich sein Gesicht. Er starrte mit großen Augen zurück. „Ich denke, es ist an der Zeit über meinen Geburtstag zu reden.“ Ich spürte, wie er mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken strich und sah auf unsere verschränkten Hände.

„Ich finde reden doof“, antwortete Leon. Das... Hatte ich mich etwa total geirrt? Und Zoey auch? Ich wollte ihm meine Hand entziehen. Irgendeine Entschuldigung konnte ich jetzt nicht ertragen. Doch diesmal war es Leon, der nicht losließ, im Gegenteil, er zog mich noch näher heran.

Sanft legte er den Finger unter mein Kinn und zwang mich so, ihm wieder in die Augen zu sehen. „Lass uns lieber da weiter machen, wo wir vor zwei Wochen aufgehört haben“, schlug er vor. Glücklich lächelte ich ihn an. Das war eine wirklich ausgezeichnete Idee.

Zärtlich strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht und umfasste es mit seinen Händen. Ich schloss die Augen, als sein Gesicht näher kam, und genoss das Gefühl seiner Lippen auf meinen. Ohne den Kuss zu unterbrechen schlang ich meine Arme um seinen Nacken und er vertiefte den Kuss.

Schließlich lösten wir uns atemlos voneinander. Es war ein magischer Moment. Ich schmiegte mich in seine Arme und ein warmes Gefühl durchströmte mich. Geborgenheit.

Ein anzüglicher Pfiff beendete den perfekten Augenblick. Verlegen wollte ich einen Schritt zurück treten, aber Leon hielt mich weiterhin fest, sodass mich nur in seinen Armen drehen konnte.

Rico kam grinsend zu uns und schlug Leon auf die Schulter. „Ich hab's doch geahnt, hermano. Ich sag dir, rica, dein Traumprinz hatte gestern ziemliches Muffensausen.“ Ich grinste. Echt? Da hatten wir ja was gemeinsam.

„Rico“, knurrte mein Freund. Mein Freund! „Was willst du?“

„Oh, ach so, ich wollte mich nur kurz bedanken, dass ihr mir einen ganzen Nachmittag mit der Kleinen da drüben verschafft habt.“ Er winkte zu Lisa rüber.

„Du kannst sie gerne behalten“, schauderte ich.

„Ja, sie hat gesagt, sie hätte dir versprochen, dich mit auf die Stadtbesichtigung zu nehmen, deshalb wollte sie partout nichts mit mir machen. Aber jetzt...“, er rieb sich übertrieben schlitzohrig die Hände. „Na jedenfalls, danke, Leute, bis heute Abend.“ Er verschwand und wir machten uns auf die Suche nach einem Ort, wo uns keine redefreudigen Bekanntschaften stören würden.

Es war ein perfekter Tag. Alles zog wie ein Traum an mir vorüber. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen.

Leon lud mich zum Essen ein und zum ersten Mal gehörte ich auch zu diesen Paaren, die ich bis dahin immer insgeheim neidvoll in der Fußgängerzone beobachtet hatte. Ich dankte Zoey von ganzem Herzen für ihre forsche Art, mit der sie meine Zweifel vom Tisch gefegt hatte. Das hier war richtig. So konnte es bleiben.

Ich hätte durch die Fußgängerzone tanzen können vor Glück, stattdessen beschränkte ich mich auf eine total aufgedrehte Fröhlichkeit. Wir hatten sehr viel zu lachen an diesem Tag.

Sogar das Stipendium war mir im Moment eigentlich egal. Natürlich machten wir beim Training noch mit, aber es steckte nicht mehr dieser verbissene Antrieb dahinter. Das überließen wir den anderen. Leon und ich, wir waren ein Team.

19 Wahre Worte

 

Kapitel 19 Wahre Worte

Leon

Ich hatte keine Ahnung, wie das passieren konnte.

Den einen Moment war ich noch der Meinung, dass diese Ausrede das höchste der Gefühle war, die ich je mit Sofia erleben würde, und im nächsten lag sie in meinen Armen. Okay, das hört sich jetzt vielleicht an, wie in so einem kitschigen Liebesfilm, aber – so fühlte es sich auch an.

Ich konnte nicht die Augen von Sofia lassen, wie sie mich ausgelassen von einer Sache zur nächsten zog. So gelöst und glücklich hatte ich sie noch nie gesehen und es machte mich stolz, dass ich der Grund dafür war.

Abends lag ich im Bett und lauschte dem gleichmäßigen Schnarchen von Rico, während ich in Gedanken den Tag Revue passieren ließ. Jetzt, hier, viele Kilometer hinter den Rudelgrenzen, konnte ich mir endlich über einiges klar werden. Erstens: Sofia war perfekt und ich würde sie nie wieder gehen lassen, auch wenn das aus dem Mund eines 17-jährigen vielleicht etwas seltsam klingen mochte. Löwen machen keine halben Sachen. Zweitens: Mama hatte Recht. Ich konnte mein Geheimnis nicht weiter vor Sofia verbergen. Ich konnte es einfach nicht. Drittens: Ich hoffte so sehr, dass Mama Recht behielt, was das Erzählen des Geheimnisses anging, denn ich würde es Sofia sagen. Und schließlich viertens: Ich würde das noch heute tun.

Ich konnte es nicht länger ertragen, etwas vor ihr zu verheimlichen. Es entsprach einfach nicht meinem Charakter. Klar, bei meinen Schulkameraden war das okay, oder bei der Kassiererin im Supermarkt. Aber Sofia war meine Freundin. Meine Freundin.

Von meinem Entschluss beflügelt, schob ich meine Bedenken und Befürchtungen in die hinterste Ecke meiner Gedanken und schwang die Beine aus dem Bett. Vorsichtig zog ich mich an und nahm meine Schuhe in die Hand. Auf dem Weg zur Tür stieß ich mich an allen vorhandenen Möbeln. Gott sei Dank, schlief Rico wie ein Stein.

Nach einem kontrollierenden Blick durch Herrn Gerbers Schlüsselloch – das Licht war aus – fuhr ich mit dem Fahrstuhl eine Etage runter. Ich probierte die Klinke von Zimmer 635, doch es war abgeschlossen. Ich gestattete mir einen leisen Fluch. Was sollte ich jetzt machen? Das schlauste wäre wohl, einfach wieder ins Bett zu gehen und das Gespräch auf morgen zu verschieben. Aber jetzt war ich schon mal hier, da wollte ich auch nicht so schnell aufgeben. Vielleicht hatte Hannah ja einen genauso tiefen Schlaf wie Rico.

Mit angehaltenem Atem klopfte ich leise an die Tür.

„Sofia?“, fragte ich so laut wie ich mich traute und klopfte erneut. „Sofia!“ Noch zweimal klopfen, dann hörte ich wie sich im Zimmer etwas bewegte. Zu meiner Erleichterung öffnete Sofia die Tür. Sie trug nur ein Top und eine kurze Hose. Mit müdem Gesicht strich sie sich über die Arme.

„Leon?“, gähnte sie verwundert. „Was machst du denn hier?“

Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Zieh dir was an, ich muss dir was erzählen!“, flüsterte ich.

Sie gähnte ein weiteres Mal herzhaft und warf einen Blick über die Schulter.

„Leon, es ist drei Uhr morgens, meinst du nicht, dass kann bis Morgen warten?“

Sanft drehte ich sie an den Schultern herum. „Nein, kann es nicht. Nimm lieber einen Pulli, nicht, dass dir kalt wird.“

Seufzend tapste sie wieder ins dunkle Zimmer und schloss die Tür. Als sie wieder rauskam, sah sie schon ein wenig wacher aus.

„Also gut, aber wenn es nicht mindestens um die nationale Sicherheit geht, bin ich schneller wieder im Bett als du 'Bitte' sagen kannst“, drohte sie, doch das darauf folgende Gähnen nahm der Drohung ihre Schärfe.

Ich nahm ihre Hand und führte sie zum Fahrstuhl. „Glaub mir, es wird deine Welt auf den Kopf stellen.“ Wir betraten die Kabine und ich drückte den Knopf für das Erdgeschoss.

„Na, wenn du meinst.“ Sofia lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich hatte schon Angst, dass sie im Stehen einschlief, aber als der Fahrstuhl hielt richtete sie sich auf und folgte mir nach draußen. Zum Glück hatte ich gestern einen Park gesehen, der nur ein paar Minuten Fußweg vom Hotel entfernt war. Bei diesem Geständnis konnte ich keine Zuschauer gebrauchen.

Die Nacht war warm und während wir gingen, schwiegen wir beide. Ich sog tief den Atem ein. Nachtluft ist so rein. Die Gerüche sind klarer und werden nicht von den Abgasen der Autos oder dem warmen Ausdünstungen des Metalls verfälscht. Ja, diese Nacht war perfekt, um ein paar Geheimnisse aufzudecken.

Wir setzten uns auf eine Bank, in den goldenen Schein einer Straßenlaterne. Er war eher schmutzig gelb aber egal. Ich spielte unruhig mit Sofias Fingern.

Das hier war schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, und ich hatte Angst. Angst, dass sie sich von mir abwandte, Angst, dass sie Angst hatte, und Angst, dass sie mir nicht glaubte.

„Leon?“ Sofia strich sanft über meine unruhigen Finger. „Was ist los?“ Ich hatte es noch niemals irgendjemandem gesagt. Tat ich auch wirklich das Richtige?

Ich sah in ihre vertrauensvollen Augen. Ja, es war richtig und es musste sein.

Ich atmete tief durch. „Sofia, was ich dir jetzt erzähle, hat wahrscheinlich noch nie ein Mensch gewusst.“ Erwartungsvoll sah sie mich an. „Du musst schwören, dass du es niemals jemandem verrätst.“

Sie lachte. „Ich kann schweigen wie ein Grab“, sagte sie flapsig und legte theatralisch eine Hand auf ihr Herz.

Ich sah sie ernst an. „Das ist mir wichtig.“

„Okay, okay, ich schwöre.“ Zufrieden nickte ich und sammelte meine Gedanken. Mein Herz raste wie verrückt. Ich hatte schon Angst, dass sie es hörte.

„Ich... bin kein Mensch“, begann ich. Sofia starrte mich ungläubig an. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Wenn das ein Scherz sein soll, ist das echt nicht witzig.“

„Das ist kein Scherz. Ich bin ein Gestaltwandler.“ So, ich hatte es gesagt, es war raus. Gespannt beobachtete ich ihre Reaktion.

Unsicher senkte sie ihren Blick auf unsere verschränkten Hände. Ich ließ es zu, dass sie die Berührung löste und ein Stück von mir wegrückte. Wenigstens rannte sie nicht weg oder brach in Panik aus.

„Du... willst also behaupten... du kannst dich in ein Tier verwandeln.“

Ich nickte. „In einen Löwen.“

Sie lachte nervös und strich sich mehrmals durchs Haar. Dann stand sie auf und lief vor der Bank auf und ab. Dabei warf sie mir immer wieder kurze Blicke zu. Schließlich blieb sie stehen.

„Du... ein... ein Löwe“, stotterte sie. Es hörte sich fast wie eine Frage an, deshalb nickte ich erneut.

„Was soll das werden? Hocken die anderen hier irgendwo in den Bäumen? Ist es das? Willst du dir einen Scherz erlauben?“ Sie fing wieder an auf und ab zu laufen. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, murmelte sie dabei vor sich hin. „Er denkt wirklich, er sei ein Löwe.“ Sie lachte mit einem Anflug von Hysterie. „Ein Löwe!“

Sie schlug die Hände vors Gesicht und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann sah sie mich wieder an.

„Kannst du es irgendwie beweisen? Dich hier und jetzt in einen Löwen verwandeln?“ Sie stockte kurz. „Nein, mach das lieber nicht. Ich will ja nicht mit einem Löwen allein in einem dunklen Park sein.“ Kurze Pause. „Das darf doch nicht wahr sein, jetzt glaube ich ihm das auch noch!“ Ich beschloss, dass es das Beste war, sie einfach reden zu lassen. Sie würde sich schon wieder beruhigen. Hoffentlich. Außerdem war das hier nicht so schlimm, wie die Horrorszenarien, die ich mir ausgedacht hatte.

Plötzlich wurde sie ganz ruhig. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich nachdenklich.

„Sagen wir mal, es wäre wahr, was du da behauptest.“

„Es ist wahr“, warf ich ein.

„Na ja, einiges würde einen Sinn ergeben“, sagte sie langsam. Das war gut, das war sogar sehr gut! „Die zurückgezogene Lebensweise deiner Familie. Euer plötzliches Verschwinden von der Party und oh mein Gott!“ Sie starrte mich entsetzt an. Was? Was war los? „Du! Du... du... Oh mein Gott. Oh. Mein. Gott!“, wiederholte sie panisch.

„Sofia, was...?“, fragte ich und streckte die Hand nach ihr aus. Sie machte ein paar hastige Schritte zurück. Warum sagte sie mir nicht was los war?

„Du warst der Löwe, der mich gejagt hat. Du warst das!“ Ich wollte sie unterbrechen, doch sie redete einfach weiter. „Deshalb hast du mich auch gefunden, obwohl Daniel gesagt hat, dass du erst später losgegangen bist!“

Ich seufzte. „Ja, das stimmt. Ich war leichtsinnig und es tut mir leid.“

„Es tut dir leid?“, wiederholte sie ungläubig. „Es tut ihm leid.“ Sie schüttelte immer wieder den Kopf. Dann merkte ich, wie sie auf einmal ruhiger wurde.

„Du bist also ein Gestaltwandler.“ Es war keine Frage, deshalb gab ich keine Antwort. „Du kannst dich, wann immer du willst in einen Löwen verwandeln.“ Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Ist das ansteckend?“, fragte sie vorsichtig.

Ich grinste. „Nein, aber erblich.“

„Hm“, machte sie. Dann wurden ihre Augen ganz groß. „Das heißt, Felix und Daniel...“

„Jep, die beiden sind auch Gestaltwandler.“ Sie schluckte.

„Und Lia?“

„Auch, aber sie ist eine Tigerin.“

„Wie cool“, entfuhr es ihr.

Ich grinste. „Das hast du bei mir nicht gesagt.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich verarbeite gerade einen Schock, also gesteh mir ein paar emotionale Engpässe zu.“ Sie setzte sich wieder zu mir auf die Bank. Ich atmete auf. Das war ein gutes Zeichen.

„Und... gibt es viele von euch?“, fragte sie mit einem zaghaften Lächeln.

„Tja, so genau weiß das keiner, aber es gibt uns auf der ganzen Welt, in den unterschiedlichsten Rassen.“

„Das heißt also, Werwölfe gibt es wirklich?“

Ich lachte. „Tatsächlich gibt es auch Wolfswandler. Das Wort Werwölfe hören sie nicht so gerne.“

„Verständlich“, nickte sie.

„Nein, wie rührend. Leon und seine kleine Menschenfreundin. Und ganz allein noch dazu." Mit einem Knurren fuhr ich herum. Auch Sofia zuckte erschrocken zusammen. Ich kannte diese Stimme! Sie hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. „Das ist ja wie Weihnachten und Ostern auf einen Schlag.“

"Robert", knurrte ich meinen Onkel an. Wie herbeigezaubert stand er plötzlich da. Ich hatte ihn nicht kommen hören und auch meine Nase hatte mich nicht gewarnt. Ich hätte mich in den Hintern treten können. Robert hatte sich verändert, in den letzten Jahren. Sein Haar hatte ein paar graue Strähnen und seine Augen schimmerten noch kälter als früher. Doch diese selbstsichere Haltung war geblieben.

Ich fühlte mich dumm, so dumm! Ich hatte es geahnt, sogar mit Daniel und Leon darüber gesprochen. Trotzdem hatte ich alle Warnungen in den Wind geschlagen und mich unverantwortlich leichtsinnig verhalten. Und nicht nur das, ich hatte auch Sofia in Gefahr gebracht. Sie vertraute mir und ich dankte es ihr mit einer unverzeihlichen Dummheit.

Robert breitete die Arme aus, als erwartete er eine liebevolle Umarmung. "Auch schön dich zu sehen, Leon. Ist lange her was?" Zu kurz, wenn ihr mich fragt.

"Was willst du hier, Verräter?" Ich stand auf und zog Sofia mit mir.

"Na, nicht so vulgär, Junge. Ich bin hier um dich zu einem Ausflug einzuladen. Deine kleine Freundin kann auch mitkommen, wenn sie will." Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Sofia trotzig das Kinn hob. Meine mutige Sofia! Sie ließ sich von ihm nicht einschüchtern.

Ich zog Sofia schützend hinter mich. Auf keinen Fall wollte ich sie da mit reinziehen.

"Lass sie aus dem Spiel, sie hat nichts damit zu tun. Und ich werde nirgendwo mit dir hingehen!" Kaum hatte ich meine rebellischen Worte geäußert, da seufzte Robert und schüttelte den Kopf.

"Und ich hatte gedacht, wir könnten das ganze hier friedlich lösen." Unwillkürlich spannte ich mich an und griff nach Sofias Hand. Sie erwiderte den Druck und schob sich näher zu mir. Ich spürte, wie sie sich verkrampfte und anfing zu zittern.

Außerhalb des Lichtkegels der Laterne wurden immer mehr Umrisse sichtbar. Roberts kleine Privatarmee. Ich hätte mir ja denken können, dass er nicht alleine hier auftauchen würde. Es waren alles junge Männchen, in Simons Alter vielleicht, Löwen und Menschen. Sie umkreisten uns, ließen keine Möglichkeit zur Flucht. Was sollte ich jetzt machen? Alleine hätte ich möglicherweise entkommen können, aber ich konnte Sofia nicht hier zurücklassen. Ich starrte Robert hasserfüllt an. Er grinste, wissend, dass er gewonnen hatte.

Er machte eine einladende Geste. "Wenn ich bitten darf." Sofia drückte sich näher an mich. Ich musste stark bleiben. Für sie. Beruhigend drückte ich ihre Hand. Ich würde nicht zulassen, dass ihr etwas passierte.

20 Taktisch unklug

 

Sofia

Es war wie ein Film und gleichzeitig völlig anders.

Ich fühlte mich wie in einem temporeichen Actiondrama. Gerade hatte ich angefangen, zu akzeptieren, dass Leon ein Löwe war, zumindest Teilzeit, da tauchte dieser Irre auf und entführte uns einfach!

Was es noch viel schlimmer machte war nur, dass ich jetzt ganz genau wusste, dass die Löwen, die er dabei hatte, Menschen waren. Jeder hier war ein blutrünstiges Raubtier. Und ich mitten drin in der Höhle des Löwen. Gerade so konnte ich ein hysterisches Kichern unterdrücken.

Ich steckte sowas von knietief in der Scheiße.

Sie packten uns an den Armen, verbanden uns die Augen, stießen uns vorwärts. Wäre Leon nicht gewesen, ich wäre schon längst hingefallen. Ich hatte schon nach den ersten Schritten die Orientierung verloren. So in völliger Dunkelheit vor mich hin zu stolpern war das schrecklichste, was mir jemals passiert war. Nur Leons beruhigende Nähe machte es etwas besser.

Ich war selbst von mir überrascht, aber sogar die Tatsache, dass er zu ihnen gehörte, konnte mein Vertrauen in ihn nicht erschüttern. Außerdem hatten sie uns beide entführt, was uns sozusagen zu Verbündeten machte. Und er hatte es mir selber erzählt. Er hatte mir genug vertraut, um mir sein größtes Geheimnis zu verraten.

Die Fahrt war holprig und rief mir meine fast vergessenen Prellungen schmerzhaft ins Gedächtnis. Wieder so eine Sache, in der Leon mit drin steckte. So viele Lügen, die er mir aufgetischt hatte. Aber nachdem die anfängliche Hysterie abgeflaut war und nur noch ein kleiner Rest Panik übrig blieb, konnte ich ihn verstehen. Wenn ich ein Gestaltwandler wäre, was ich Gott sei Dank nicht war, würde ich es auch nicht jedem auf die Nase binden. Insofern war sein Verhalten nachvollziehbar. Es hätte zwar nicht unbedingt mitten in der Nacht sein müssen, aber der gute Wille zählte.

Zum Glück dauerte es nicht lange, bis wir wieder aus dem Wagen und ein paar Stufen hoch gezerrt wurden. Immer noch hatte keiner außer Robert geredet. Der allerdings konnte einfach nicht die Klappe halten.

Kennt ihr das, wenn in Kinofilmen die Bösewichte anfangen über ihre Pläne zu reden und ihr denkt euch nur so: "Tu es nicht, du hast fast gewonnen, bring es einfach hinter dich"? Das hier war schlimmer. Viel Nerv tötender und es war auch nicht nach zwei bis fünf Minuten zu Ende. Doch dann sagte er etwas, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging.

"Ich hoffe, dem Rudel geht es gut und ihr habt noch nicht allzu sehr unter Simons stümperhafter Führung gelitten." Leon gab ein Knurren von sich, das seinen ganzen Körper erbeben ließ. Ich musste es wissen, ich saß direkt neben ihm. Wer zum Teufel war dieser Robert und warum entführte er uns?

Die Tür fiel mit einem Knall zu. Wütend riss ich meine Augenbinde vom Kopf. Anklagend richtete ich meinen Finger auf Leon, der ebenfalls den schwarzen Stoffstreifen von den Augen zog.

"Du hast mir einiges zu erklären!" Wenigstens hatte er den Anstand schuldbewusst zusammen zu zucken. Trotzdem würdigte er mich keiner Antwort, sondern lief zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Natürlich war sie abgeschlossen, hatten die keinen Fernseher auf ihrem Schloss? Andererseits... In Anbetracht der Tatsache, dass wir hier von einem Nerv tötenden Irren gefangen gehalten wurden, der eine noch größere Klappe als Nina hatte, war es vielleicht sinnvoller sinnlose Ausbruchsversuche zu unternehmen als tiefsinnige Gespräche zu führen. Aber die würden mich wenigstens davon ablenken, dass wir hier verdammt nochmal gefangen gehalten wurden!

Als Leon endlich mit der Inspektion des Zimmers fertig war, es enthielt übrigens nur ein Bett, wenn man es so nennen konnte, und einen Eimer, über dessen Zweck ich keine näheren Vermutungen anstellen wollte, setzte er sich auf die dünne Matratze. Ehrlich gesagt wartete ich nur darauf, dass ein bulliger Wachmann, vorzugsweise mit nur einem Auge, eine Durchreiche in der Tür öffnete und uns Essen in einem Blechteller vor die Füße schleuderte. Zum Glück kam es nicht so, denn ich glaube, dann wäre ich durchgedreht. Ich konnte mich mit ein bisschen Sarkasmus über Wasser halten, aber sobald ich aus Versehen näher über unsere Situation nachdachte überkam mich Panik.

Wir waren hier, wo auch immer dieses hier sein mochte, gefangen für wer weiß wie lange, bewacht von Leuten, die sich in Löwen verwandeln konnten. So, wie mein Freund und seine ganze Familie.

Ich würde doch durchdrehen. Ich wusste von Anfang an, dass es an diesem Ort nur Verrückte gab. Nervös lief ich auf und ab. Ich fühlte mich wie ein Goldfisch. Eingesperrt auf kleinem Raum, von überall durch, zugegebenermaßen nicht existierende Fenster, beobachtet...

Ich schreckte zurück als jemand meine Hand packte, doch es war nur Leon. Trotzdem schlug mein Herz bis zum Hals.

"Setz dich hin", befahl er mir sanft. "Mit diesem ganzen Herumgelaufe machst du uns beide ganz nervös." Er war ja witzig. Dennoch ließ ich mich auf der harten Unterlage nieder. Kurz saß ich still, dann fingen meine Finger an auf mein Knie zu trommeln und ich wippte unruhig mit dem Fuß. Leons warme Hand legte sich auf meine und brachte mich dazu aufzuhören.

"Also gut, frag mich." Ich sah ihn irritiert an. "Frag mich, was du wissen willst, ich werde alles beantworten." Verlockendes Angebot. Also los.

"Wer ist Robert und warum hat er dich... uns entführt? Was läuft hier? Das ist doch nicht normal." Leon räusperte sich und sah mich ernst an.

„Erinnerst du dich noch an unser Gespräch am Strand? Über unsere Familien?“ Natürlich. Wie könnte ich das vergessen. „Ich hab dir gesagt mein Vater wäre bei einem Unfall gestorben.“

„Ja.“ Worauf wollte er hinaus?

„Na ja, der Unfall war eigentlich eine Grenzstreitigkeit...“ Er stockte kurz. Ich sah die verschiedenen Emotionen, die über sein Gesicht zogen. Wut. Trauer. Hauptsächlich Wut. „... mit Robert. Also, das ist eine etwas längere Geschichte.“

„Tja, ich sehe hier nichts, was uns unterbrechen könnte.“

Ich rückte ein bisschen auf der harten Matratze herum, bis ich einigermaßen bequem sitzen konnte. Dann erzählte Leon mir eine Geschichte, die eher in einen Krimi passen würde.

„Ich fasse das mal kurz zusammen: Robert will euer Anführer sein, und um das zu erreichen, bringt er euch alle um?“ Leon nickte. „Wow, das ist krank!“, ergänzte ich aus tiefstem Herzen. „Wir müssen hier definitiv raus.“

„Und wie sollen wir das bitte anstellen? Dieser Raum ist ausbruchssicher und es ist ja nicht so, als könnte ich einfach meine Familie anrufen und...“ Er griff in seine Hosentasche und holte ein Handy hervor. „... ihnen sagen, wo wir sind.“

„Oh Mann, dieser Robert ist nicht gerade der Hellste, oder?“ Wie konnte man nur so dumm sein, seinem Gefangenen das Handy zu lassen? Was für ein Anfänger. Bestimmt hatte er keinen Fernseher.

„Wir können sie zwar jetzt anrufen, aber... wissen wir denn überhaupt, wo wir sind?“ Guter Einwand, wirklich guter Einwand.

„Na ja, laut deinem Handy ist es jetzt... ach du scheiße, schon halb fünf?“ Ich gähnte herzhaft. „Lass uns lieber schlafen und morgen darüber nachdenken.“ Ich ließ mich der Länge nach aufs Bett fallen. „Autsch!“ Das hätte ich lieber nicht getan.

Leon legte sich neben mich. „Und was hat sich nach ein paar Stunden Schlaf geändert?“

Ich legte mich auf den Bauch und zog eine der Decken über mich. „Ich kann wieder denken und wir können denjenigen fragen, der das Frühstück bringt“, nuschelte ich in mein Kissen. „Wenn die alle so dämlich sind wie ihr Anführer, verrät er es uns bestimmt.“ Ich spürte noch, wie sich die Matratze bewegte, als Leon es sich gemütlich machte, dann war ich trotz der absurden Situation eingeschlafen.

 

Als wir aufwachten stand das Frühstück schon auf dem Boden vor der Tür. Wir hatten unsere Chance schlicht und einfach verschlafen. Frustriert machten wir uns über das zugegebenermaßen etwas Fleischlastige Frühstück her.

„Kann ich dir noch eine Frage stellen?“, fragte ich, nachdem wir die Teller wieder vor die Tür gestellt hatten.

„Klar.“ Er setzte sich aufs Bett. „Nur raus damit.“

„Ich liege wahrscheinlich richtig mit der Annahme, dass die Gestaltwandlersache Schuld daran war, dass du mich so auf Distanz gehalten hast.“ Er nickte verlegen. „Warum hast du es mir dann nicht schon früher erzählt? Nach meinem Geburtstag zum Beispiel.“ Das beschäftigte mich schon etwas länger. Denn offensichtlich konnte er es mir ja sagen. Warum also erst jetzt?

"Der Grund, warum ich dir noch nicht früher davon erzählt habe, ist nicht, dass ich dich nicht mag..." Als er zögerte hielt ich gespannt den Atem an. Er holte einmal tief Luft, dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. "Bei den Löwen gibt es nur eine Regel: Das Rudel steht an erster Stelle. Deshalb bewahren wir unser Geheimnis so sehr, deshalb freunden wir uns auch nicht mit Menschen an. Um das Rudel zu schützen. Das hat was mit der Genetik der Wandler zu tun." Seine Wangen färbten sich leicht rosa. Süß. "Bei der... bei der Fortpflanzung ist es so, dass nur ein Kind, dass mehr als 50 Prozent Gestaltwandlergene in sich trägt, die Fähigkeiten der Gestaltwandler erbt. Das bedeutet, menschliche Freundinnen sind tabu. Es geht immer um den Erhalt des Rudels, darum, das Richtige zu tun." Ich war wie betäubt. Menschliche Freundinnen sind tabu. Ich hatte mich wohl verhört. Was war dann bitte gestern? Aber Leon war noch nicht fertig. "Simon hat mir das Versprechen abgenommen mich von dir fern zu halten. Das habe ich versucht, wirklich, aber..." Er raufte sich die Haare und sah mich aus verletzlichen braunen Augen an. "...du hast ja gesehen, wohin das geführt hat." Ja, das hatte ich. Und ich war mit der Entwicklung nicht unzufrieden. Zumindest, bis er mir gesagt hatte, dass seine Familie was gegen mich hatte. Auf Grund meiner Rasse. Ich hätte ihnen ja alles zugetraut, aber das war schlimmer als... nein, das war Rassismus. Verwirrend. "Aber am Samstag wurde mir klar, dass mir Simon egal ist. Er hat doch keine Ahnung von mir. Von dir und mir." Hatte er das gerade wirklich gesagt? Wow, das war so ungefähr das süßeste und berührendste, was jemals jemand zu mir gesagt hatte. Mit Tränen in den Augen warf ich mich in seine Arme. Dann besann ich mich wieder. Ich rückte ein Stück von ihm weg und wischte mir die Tränen aus den Augen.

„Das kannst du nicht machen.“

„Doch, kann ich.“ Ich wünschte es mir so sehr. Aber ich konnte nicht zulassen, dass er seine Familie für mich aufgab. Das konnte ich nicht von ihm verlangen.

„Das kann es doch nicht sein. Familie ist eines der Wichtigsten Dinge im Leben, neben der Liebe. Und wenn das eine nur ohne das andere existieren kann... dann ist eins nicht wahr. Und das ist nicht deine Familie.“

„Was... was willst... was willst du damit sagen?“, stotterte Leon und griff nach meiner Hand. Ich erwiderte den Druck.

„Damit will ich sagen: Ich will nicht der Grund sein, weswegen du dich von deiner Familie abwendest. Irgendwann wirst du das bereuen, und das möchte ich nicht.“ Ich entzog ihm vorsichtig meine Hand. „Um meine Familie wieder zu sehen, würde ich alles tun. Wie könnte ich dich da von deiner trennen?“

„Aber Sofia...“

„Lass es gut sein, Leon. Es ist besser so.“ Ich wusste, dass es das Richtige war. Aber es fühlte sich so schrecklich an. Es zerriss mich innerlich und ich konnte noch nicht mal Leon die Schuld geben.

Leon starrte mich ein paar Sekunden an, dann stand er auf und ging zur anderen Seite des Raumes. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ehrlich gesagt hatte ich ein bisschen Angst. Ein Löwe unter Stress war bestimmt nicht die beste Kombination. Doch nach ein paar spannungsgeladenen Momenten beobachtete ich, wie sich seine Hände entspannten.

Mit unbeweglichem Gesicht drehte er sich zu mir. „Also gut, wir müssen hier raus.“ Erleichtert über den Themawechsel fing ich an zu überlegen.

„Wir sind ungefähr eine halbe Stunde mit dem Auto gefahren. Wie weit kommt man da maximal?“

„Bei Nacht? Auf leeren Straßen? Wenn die sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten haben, könnten wir überall sein.“ Das war eine entmutigende Prognose.

„Können wir nicht dem Wärter eins überziehen und dann türmen?“ In den Filmen funktionierte das immer. Da beherrschten die Helden allerdings auch meistens Karate oder sonst eine nützliche Kampfsportart. „Du kannst nicht zufällig Karate?“

„Was? Nein.“

„Tja, dann wird das wohl nicht funktionieren“, stellte ich fest.

„Sag bloß“, erwiderte er spöttisch. Aber es klang irgendwie nicht so richtig überzeugend.

Andererseits konnte mein Held sich in einen Löwen verwandeln. Nicht mein Held. Nicht mehr. Und ich konnte noch nicht mal ihm die Schuld geben. Diese Gedanken verursachten einen Anfall von Mutlosigkeit. Wie sollten wir hier jemals rauskommen?

„Ich hab eine Idee“, erklärte ich nach ein paar Minuten schweigen. „Dein Handy hat doch bestimmt GPS, oder?“

„Ja, klar, aber... oh. Brillant“, lobte er mich und zog aufgeregt sein Handy aus der Tasche.

Nach ein paar Mal klingeln nahm jemand am anderen Ende der Leitung ab.

„Du wirst nicht glauben, was passiert ist“, begann Leon betont fröhlich. „Nein. Nein. Nein, auch nicht. Daniel! Jetzt hör mir zu!“ Ich musste kichern. Typisch Daniel. „Hör zu, wir wurden von Robert entführt. Nein, das ist kein Scherz. Mann, Daniel! Ja. Gut. Danke.“ Ich konnte mir ungefähr vorstellen, was sich da gerade auf der anderen Seite der Verbindung abspielte. „Ja, genau. Also ihr ortet mich über mein Handy. Aber seid vorsichtig, er ist nicht alleine. Ja, keine Sorge, ich passe auf sie auf.“ Er verdrehte kurz die Augen in meine Richtung. Süß von Daniel. „Gut, bis dann.“ Er drehte sich zu mir um. „Sie kommen. Und Daniel ist ein Idiot.“

Ich grinste. „Ist doch schön, dass er die Ruhe bewahrt, und sich um mich Sorgen macht.“

„Er hat gesagt, sowas könnte auch nur mir passieren“, murrte Leon.

„Und, hat er recht?“

„Wahrscheinlich.“ Ich musste wieder lachen. Die beiden waren einfach unbezahlbar.

Geräusche an der Tür ließen uns herumfahren und ich trat unwillkürlich näher zu Leon. Die Tür öffnete sich und Robert, flankiert von zwei weiteren Männern betrat den Raum.

„Das Handy, bitte“, forderte er und streckte die Hand aus. „Es ist doch immer wieder schön, wenn ein Plan aufgeht.“ Plan? Oh, verdammt! Anfängerfehler. Und das, obwohl ich einen Fernseher hatte.

21 Planänderung

Leon

Ich schäumte vor Wut. Innerlich. Ich war sauer auf Robert und auf meinen Bruder, aber am meisten auf mich selbst. Muss ich erwähnen, dass Sofias Zurückweisung es nicht gerade besser machte? Es machte mich verrückt, sie hier neben mir zu wissen, wenn sie gleichzeitig unerreichbar für mich war. Sie hatte ja Recht. Irgendwie hatten das die Leute in meiner Umgebung meistens. Aber wenn meine Familie sie nicht als meine Freundin akzeptieren konnte, wollte ich dann noch zu ihnen gehören?

Ich seufzte. Ja, wollte ich. Und jetzt waren sie wegen mir in Gefahr. Ich hatte zwar keine Ahnung, was Robert vor hatte, aber es war ganz bestimmt nichts Gutes. Ich war kurz davor Robert an die Kehle zu gehen, für seinen Verrat. Nur seine Begleiter hielten mich davon ab.

Die zwei ziemlich kräftigen Löwenmännchen, bei deren Anblick Sofia, warum auch immer, grinsen musste, packten uns an den Armen und zerrten uns aus dem Zimmer. Ich versuchte mich aus dem Griff zu befreien, doch die Finger des Löwen lagen wie ein Schraubstock um meinen Arm. Mein Onkel – Robert - sank in meiner Achtung immer weiter Richtung absoluter Nullpunkt. Die Gänge waren düster – wie hätte es anders sein können – und eher kahl. Überhaupt wirkte alles wie in diesen Hollywoodstreifen. Fehlte nur noch, dass er uns jetzt seinen absolut brillanten Plan erklärte, den wir dann natürlich in letzter Sekunde durchkreuzen würden. Und dann lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Von wegen, das Leben war kein Märchen. Und wenn doch, dann war das bis jetzt irgendwie an uns vorbei gegangen.

"Immer herein spaziert meine Lieben, setzt euch, setzt euch." Robert rieb sich in freudiger Erwartung die Hände, während er wie eine aufgeschreckte Gazelle durch den Raum sprang und uns alle nervös machte. Die Muskelmänner wurden mit einer knappen Handbewegung hinauskomplimentiert und ich entspannte mich etwas.

"Setzt euch doch", forderte mein Onkel uns ungeduldig auf. Widerstrebend befolgte ich die Anweisung. Ich mochte es nicht, hier mit dem Rücken zur Tür sitzen zu müssen. Auch Sofia rutschte unruhig auf dem zugegebenermaßen ziemlich bequemen Stuhl herum.

Endlich hörte unser Entführer auf sinnlos in der Gegend herumzutigern, das gehörte sich einfach nicht für einen Löwen, und setzte sich uns gegenüber. Genüsslich lehnte er sich zurück, die Ellbogen auf den Stuhllehnen abgestützt.

„Wisst ihr, einen Moment lang habe ich wirklich gedacht ihr wärt schlau genug, das Handy nicht zu benutzen.“ Er grinste triumphierend. „Aber auf die Jugendlichen von heute ist eben Verlass.“

Ich knurrte. „Was willst du?“

„Ich will, dass deine kleine Freundin hier die wahre Geschichte hört. Möchtest du nicht wissen, warum ich das alles hier mache?“ Er war wahnsinnig ganz eindeutig. Ich war froh, dass Sofia die Story schon kannte.

"Sie sind ein irrer Psychopath und ein Entführer. Glauben Sie wirklich, ich will irgendetwas von Ihnen wissen?" Diesmal war es an mir zu grinsen.

Doch Robert ließ sich davon nicht beirren. "Sein Vater", er deutete mit dem Finger auf mich und der Hass blitzte in seinen Augen auf, "und sein Bruder haben mich um das gebracht was mir rechtmäßig zustand!"

Sofia gähnte. "Eine Irrenanstalt?"

"Du!" Robert schoss nach Vorne und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass wir beide zusammen zuckten. "Deine große Klappe wird dir schon noch vergehen." Sofia senkte den Blick. Ich sah, wie sie ihre Armlehnen umklammerte. Das wirst du mir büßen, Robert!

Robert lehnte sich wieder zurück. "Leons Großvater, mein Vater, gab als er alt wurde das Amt des Rudelführers weiter", fuhr er fort. Ich schwieg. Es brachte nichts ihn unnötig zu provozieren. "Doch nicht an mich, wie es die Erbfolge verlangt hätte, sondern an diesen fremden Löwen. Leons Vater!" Roberts Stimme wurde immer lauter. "Wie konnte er das wagen! Mich, seinen einzigen Sohn, so zu hintergehen. Dieser... dieser Fremde hatte es nicht verdient das Rudel anzuführen! Doch auf mich wollte ja keiner hören... Alle wandten sich von mir ab. Diese Verräter, diese verweichlichten Hauskatzen! Allen voran meine Schwester. Sie dachte wirklich, er würde sie lieben." Seine höhnischen Worte erfüllten den Raum.

Wütend sprang ich auf. Jetzt reichte es endgültig! Ich würde nicht zulassen, dass er solche Lügen über meine Familie verbreitete. Unbeeindruckt von meiner Wut musterte Robert mich, wie man eine exotische Schlange taxieren würde. Mit Faszination und Abscheu zugleich.

Eine kleine kühle Hand auf meinem Arm bewahrte mich vor meinem ersten Mord.

"Das ist er nicht wert", flüsterte eine leise Stimme in mein Ohr und ich ließ mich, wenn auch widerstrebend, zurück auf meinen Platz ziehen.

"Schade. Das wäre bestimmt ein interessanter Kampf geworden." Nur Sofias Hand in meiner hinderte mich daran diesem dreisten Kerl eine runter zu hauen. Wütend fixierte ich den Mann, der für so viel Leid in meinem Leben verantwortlich war. "Also weiter im Text, die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende, nicht wahr? Nachdem ich so hintergangen worden war, war die Demütigung noch nicht vorbei. Vor aller Augen verbannte mich mein Schwager aus dem Rudel."

"Du hast vergessen zu erwähnen, dass du ein Attentat auf ihn geplant hast. Zum Glück ist es schief gegangen", stellte ich richtig. Wenn er die Geschichte schon unbedingt erzählen wollte, dann auch vollständig.

"Nur, weil dieser Dummkopf von..." Er atmete tief durch. "Unwichtige Nebensächlichkeit. Sie verbannten mich, doch ich gab mich nicht so leicht zu schlagen. Das Schicksal war mir wohlgesonnen und schickte mir ein Rudel junger Löwen. Die Armen schrien ja geradezu nach einer Aufgabe. Und heute werden sie sie endlich erfüllen können." Robert machte eine kurze Pause, doch wenn er Applaus erwartet hatte, dann wurde er enttäuscht.

Er seufzte. "Ich hatte auch schon besseres Publikum. Jedenfalls, nach diesem überaus bedauerlichen Grenzvorfall mussten wir uns zurückziehen, um Kräfte zu sammeln und um euch die Chance zu geben mich zu vergessen." Wie hätten wir ihn je vergessen können. "Als ich ihn zu Boden drückte, um ihn zu töten, da sah dein Vater gar nicht mehr so mutig aus." Roberts Stimme senkte sich zu einem Flüstern. "Er hatte Angst. Ich habe es in seinen Augen gesehen, als er starb." Ich sprang auf. Wie konnte er es wagen so über meinen Vater zu reden! Auch Sofia konnte mich nicht bremsen. Wie von selbst ballte sich meine Hand zur Faust und ich schlug Robert ins Gesicht. Das dumpfe Geräusch bereitete mir eine morbide Zufriedenheit und wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie sein Kopf nach hinten geschleudert wurde.

Bevor ich ein weiteres Mal zuschlagen konnte wurde die Tür aufgerissen und die beiden Bodyguards stürmten herein. Sie packten mich an den Armen und wollten mich aus dem Raum bringen, doch Robert hielt sie auf.

„Lasst ihn, lasst ihn.“ Er betastete mit den Fingerspitzen seine aufgeplatzte Lippe. „Ich hab es vielleicht etwas übertrieben.“ Er tupfte mit einem Taschentuch vorsichtig das Blut weg. „Die Wahrheit ist halt manchmal schwer zu ertragen.“ Ich wollte wieder auf ihn losgehen, doch die beiden Aufpasser drückten mich mit Gewalt in meinen Stuhl. Kochend vor Wut hörte ich schließlich auf, mich zu wehren. Einzig und allein der Gedanke, dass meine Familie bald hier wäre konnte mich beruhigen.

„Das witzige daran ist ja eigentlich, dass du noch gar nicht die ganze Geschichte kennst. Sie hörte nämlich nicht mit dem Tod deines Vaters auf, oh nein.“ Ich atmete tief durch. Lass dich nicht provozieren. Bald sind sie da und stopfen diesem Arschloch sein riesiges Maul. „Jetzt gerade macht sich deine Familie wahrscheinlich auf den Weg, um den verlorenen Sohn zu retten. Aber was sie nicht wissen: In dem Moment, in dem sie ihr Revier verlassen, werden meine Männer zuschlagen. Sie stehen schon seit Tagen bereit.“

„Simon wäre nie so dumm, das Revier ungeschützt zurück zu lassen“, unterbrach ich ihn.

„Nun, das vielleicht nicht, aber ich habe einen Insider. Einen... Verräter, wenn du so willst. Deshalb wird es für mich und meine Männer ein leichtes sein, bei euch einzudringen. Und dann, bekomme ich endlich, was mir rechtmäßig zusteht.“ Ich war wie gelähmt. Das alles... Jahrelang hatten wir einen Verräter in unserer Mitte? Ich hörte Robert wie durch Watte reden, über seinen Plan und seine Genialität. Doch ich hörte ihm nicht mehr zu.

Verzweiflung durchströmte mich. Ich musste sie warnen, aber wie? Was konnte ich noch tun?

„Und nachdem ich von deiner Zuneigung zu diesem Mädchen gehört hatte war es fast schon zu einfach. Daniels Unfall war natürlich ein Glückfall, aber ich hätte es auch so geschafft, sie irgendwie einzuschleusen. Sie war die perfekte Ablenkung für dich, Neffe. Also, danke für eure Hilfe. Ich mache mich jetzt auf den Weg und hole mir zurück, was von Anfang mir gehören sollte!“

Mit diesen Worten wurden wir entlassen. Ich wehrte mich nicht als die Männer mich vorwärts schubsten. Es war vorbei. Ich hatte versagt. In unserer Zelle ließ ich mich aufs Bett sinken schlug die Hände vors Gesicht. Verdammt, ich war doch nur ein Teenager. Das hier ging einfach über meine Kräfte. Ich gab auf. Das war zu viel. Heute würde ich meine Familie verlieren. Und es war meine Schuld.

Ich weiß nicht, wie lange ich da saß und mich in Selbstmitleid suhlte. Ich bekam nichts um mich herum mit. Bis Sofia genug hatte.

„Scheiße, Leon!“, schnauzte sie mich an. „Hör endlich auf mit dem Gejammere und fang an nachzudenken. Wir müssen hier raus!“

Ich schüttelte den Kopf ohne die Hände vom Gesicht wegzunehmen. „Das hat doch keinen Sinn“, erklärte ich matt. Ich hatte meinen Mut aufgebraucht. „Sieh es endlich ein, er hat gewonnen.“

„Nichts hat er. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben.“ Sie hockte sich vor mich hin und zog meine Hände runter. „Wir sind ihre einzige Hoffnung.“ Hoffnung? Wo sah sie denn noch Hoffnung? Ich konnte nur an meine kleinen Cousins und Cousinen denken, meine Halbgeschwister, die bald in der Gewalt dieses Irren sein würden.

Ein scharfer Geruch stieg mir in die Nase und bereitete mir Kopfschmerzen. Ich brauchte einen Moment, um ihn zu identifizieren. Angst.

Gedämpft drangen Geräusche an mein Ohr. Stimmen. Schlagende Autotüren. Schließlich das tiefe Brummen der Motoren. Es ist vorbei. Sie sind weg.

„Denk nach, Leon“, bat sie mich eindringlich. „Irgendetwas muss es doch geben, was wir tun können.“ Sie sprang auf und rang verzweifelt die Hände. „Wie wir hier rauskommen. Was übersehen wir?“ Sie begann auf und ab zu gehen.

Ich versuchte es, versuchte wirklich mir etwas zu überlegen. Aber es war aussichtslos. Robert war mit seinen Männern schon unterwegs, um...

„Das ist es!“, stieß ich hervor. Sofort war Sofia an meiner Seite.

„Was? Was ist dir eingefallen?“

Ich richtete mich auf. „Was Robert vorhin erzählt hat. Seine Männer sind schon bei uns zu Hause, das heißt, hier sind vielleicht noch zwei, oder drei Leute, um uns zu bewachen.“

Sie sah mich fest an. „Und mit denen kannst du es aufnehmen?“

„Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite, aber du musst sehr tapfer sein.“

„Es geht um deine Familie. Leg los.“ Ich legte eine Hand an ihre Wange. Das war mein Mädchen.

„Okay, ich werde mich wandeln. Als Löwe bin ich stärker als sie. Du musst Lärm machen. Klopf an die Tür, sag das du auf Klo musst, irgendwas, damit sie hier reinkommen.“ Sie atmete tief durch und nickte mir dann zu. „Noch eine Kleinigkeit. Ich muss mich für die Wandlung ausziehen.“

„Oh. Ja, klar...“ Sie wurde rot und drehte sich dann um. Ich musste daran denken, sie niemals wieder gehen zu lassen. Aber dafür war ein anderes Mal Zeit.

„Wenn ich die Wärter... erledigt habe folgst du mir einfach und... nimm bitte meine Sachen mit“, instruierte ich sie, während ich mich auszog.

Ich hörte ein leises Kichern. „Ich fühl mich wie im Film.“

„Leider der falsche Film“, knurrte ich, dann begann ich mit der Wandlung. Kurz bevor ich nicht mehr sprechen konnte musste ich noch eins loswerden: „Ich liebe dich, Sofia.“ Dann war ich ein Löwe.

Ich streckte mich einmal genüsslich und spürte, wie die Kraft durch meinen Körper floss. Jetzt würde ich es diesem Mistkerl heimzahlen. Ich stupste Sofia an, damit sie sich umdrehte und entfernte mich ein paar Schritte. Ich wollte sie nicht erschrecken.

Doch als sie sich umwandte wirkte sie eher fasziniert als geschockt. Vorsichtig streckte sie die Hand nach mir aus und ich ließ zu, dass sie ihre Finger in meiner Mähne vergrub. Sanft strich sie mir über die Schnauze. Ich stieß ein abgehacktes Schnurren aus und schloss für einen Augenblick genießerisch die Augen. Dann machte ich eine auffordernde Kopfbewegung Richtung Tür.

Sie lachte. „Schon gut.“ Mit ein paar Handgriffen hatte sie meine Klamotten zusammen gerafft und ging zur Tür. Ich brachte mich daneben in Position. Sie musste nicht lange klopfen, bis wir das Geräusch eines herumdrehenden Schlüssels hörten. Sofia machte ein paar Schritte zurück und ich duckte mich. Das hier durfte ich jetzt nicht vermasseln.

Die Tür wurde aufgestoßen und ich drückte mich im gleichen Moment vom Boden ab. Mit meinem ganzen Körpergewicht warf ich mich auf den Mann und stieß ihn gegen die Flurwand. Er sackte bewusstlos zu Boden. Aus dem Augenwinkel sah ich einen Zweiten, der gerade im Begriff war sich zu wandeln. Mit einem Knurren warf ich mich auf ihn und verbiss mich in seiner Schulter. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden. Ich packte sein Hosenbein und zerrte ihn in unsere ehemalige Zelle. Sofia verstand sofort. Sie durchsuchte seine Taschen und nahm sein Handy an sich. Auch den anderen Mann durchsuchte sie.

Mit einem Knall schloss sich die Tür hinter uns. Wir waren frei.

Jetzt musste ich meine Familie retten.

 

22 Erste Hilfe

Kapitel 22 Erste Hilfe

Sofia

Ich folgte dem Löwen durch das Haus. Wahrscheinlich hätte es mich erschrecken müssen, als auf einmal ein Löwe in meiner Zelle stand. Aber erstens war ich darauf vorbereitet, und zweitens war es Leon, der in dieser Haut steckte oder besser: in diesem Fell. Und er hatte mir kurz vorher seine Liebe gestanden.

Trotzdem war es beängstigend ihn in Aktion zu erleben. Ich wollte ihn wirklich nicht zum Feind haben.

Leon brauchte nicht lange, um den Weg nach draußen zu finden. Er machte noch einen kurzen Kontrollgang, aber anscheinend waren wir allein, denn ich merkte, wie er sich zurück wandelte. In dem Moment war ich echt froh, dass ich seine Klamotten mitgenommen hatte.

„Also gut“, ertönte seine Stimme hinter meinem Rücken und in dem naiven Glauben er wäre schon fertig umgezogen drehte ich mich um. Für ein paar peinliche Sekunden starrte ich sein Sixpack an, dann redete er mit einem selbstgefälligen Grinsen weiter. „Du hast doch die Schlüssel von dem einen Typen, oder?“

„Äh... klar, ich... ähm... hier.“ Ich zog den Schlüsselbund aus der Jackentasche und reichte ihn weiter. „Bilde dir bloß nichts drauf ein“, setzte ich noch hinterher. Mal ehrlich... Er lachte, sagte aber nichts weiter. „Was willst du überhaupt mit den Schlüsseln?“

„Na, irgendwie müssen wir doch hier wegkommen.“

„Du bist noch nicht 18“, merkte ich an.

Leon blieb ungerührt. „Aber fast“, meinte er und ging auf ein Auto zu, das ich noch gar nicht bemerkt hatte. Es war ein schwarzer BMW. Natürlich in schwarz. Sein Onkel hatte offensichtlich ziemlich Kohle. „Es ist sogar ein Automatikwagen.“ Er schloss das Auto auf. Erst dann schien er zu bemerken, dass ich immer noch an Ort und Stelle verweilte. „Kommst du?“

Ich warf resignierend die Hände in die Luft. Bei dem, was ich heute schon alles erlebt hatte... Warum nicht noch eine Straftat hinzufügen? Obwohl ich ja nicht fahren würde. Das beruhigte mich soweit, dass ich in den Wagen einsteigen konnte.

„Sollten wir nicht jetzt mal bei deiner Familie anrufen?“ Ich zückte das Handy des Wachmannes und hielt es ihm entgegen. „Irgendeine Nummer wirst du ja wohl auswendig können.“ Er nahm es mir ab und tippte drauflos. Es war ein gutes Gefühl, wenn alles klappte.

Leon startete den Motor, während er mit angespanntem Gesicht dem Tuten in der Leitung lauschte. Er stellte den Schalthebel auf 'R' und manövrierte den Wagen souverän aus der Einfahrt. Kurz vor der Straße hielt er Inne und drückte mir das Handy mit einem Fluch in die Hand.

„Kein Empfang. Ich kriege keine Verbindung.“

„Lass uns ein Stück Richtung Stadt fahren, dann wird der Empfang bestimmt besser“, schlug ich vor.

Grimmig wendete Leon den Wagen und fuhr los. Ich starrte gebannt auf den Handybildschirm, bereit, sofort Alarm zu geben, wenn sich etwas tat. Wir mussten eine spannungsgeladene Viertelstunde fahren, bevor ich endlich den ersehnten schwarzen Strich entdeckte.

„Halt an“, schrie ich und Leon trat die Bremse durch. „'Tschuldigung“, sagte ich reuevoll und reichte ihm das Telefon.

Er lächelte angespannt und tippte die Nummer erneut ein. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad ein, während er dem gleichmäßigen Tuten lauschte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte man endlich eine Stimme aus dem Lautsprecher, doch es war nur eine automatische Mailboxansage. Leon hieb mit der geschlossenen Faust aufs Lenkrad, bevor er seinem Bruder eine Nachricht hinterließ.

„Simon, wenn du das hier hörst, bevor ich dich erreiche, mach dich sofort wieder auf den Weg nach Hause. Es ist eine Falle! Robert ist wahrscheinlich schon längst da.“ Er legte auf und umklammerte das Telefon.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich leise.

Leon stieß wortlos die Tür auf und begann sich auszuziehen. Verlegen drehte ich den Kopf weg, während immer mehr Kleidungsstücke auf dem Rücksitz landeten.

Wir werden gar nichts tun“, knurrte er schließlich. „Aber ich werde jetzt die anderen suchen. Wir haben noch ein Chance und jede Sekunde ist kostbar.“

„Aber ich...“, wollte ich protestieren, doch Leon unterbrach mich, indem er sich nur in Boxershorts gekleidet über den Fahrersitz beugte und mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund gab.

„Bitte.“ Seine Augen flehten mich an. „Ich kann es nicht ertragen, dich nochmal in Gefahr zu bringen.“

„Okay“, gab ich nach. „Wir sehen uns zu Hause.“

„Alles wird gut“, versprach er mir und machte Anstalten sich auch aus seinem letzten Kleidungsstück zu befreien. Als ich mich wieder umdrehte war er verschwunden.

Ich lehnte mich zurück und überlegte. Leon hatte Recht, ich würde mich nur in Gefahr bringen. Schließlich war ich im Gegensatz zu ihm keine blutrünstige Raubkatze. Aber ich konnte auch nicht untätig herumsitzen und Däumchen drehen. Irgendetwas musste es doch geben, das ich tun konnte.

Planlos sah ich mich im Auto um. Im Handschuhfach entdeckte ich ein Navi und – ich sog erschrocken die Luft ein – eine Handfeuerwaffe. Nun, das war ein Anfang. Ich nahm das Navi heraus und vergewisserte mich dreimal, ob die Klappe auch richtig geschlossen war. Nicht, dass die Pistole sich auf einmal selbstständig machte.

Ich stieg aus und umrundete das Auto. Der Kofferraum war nicht abgeschlossen und tatsächlich entdeckte ich dort allerlei nützliches Zeug. War wohl doch keine so schlechte Idee gewesen, das Auto zu nehmen. Ich kramte ein Fernglas, einen Erste Hilfe Koffer – auch Verbrecher hielten sich anscheinend an einige Vorschriften – und eine topographische Karte hervor. Nach einem eingehenden Studium entdeckte ich, dass es sich um das Gebiet rund um das Ahlfeldt-Anwesen handelte. Darauf waren einige Punkte mit Rotstift markiert. Daneben standen kryptische Abkürzungen. Hinter ihren Sinn musste ich zwar noch kommen, aber ich hoffte einfach, dass sie wichtig und hilfreich für mich waren.

Kopfschüttelnd nahm ich die Sachen an mich und schlug den Kofferraum zu. Robert war ja meinetwegen ein kriminelles Superhirn, aber seine Leute waren es eindeutig nicht. Wer ließ denn so etwas in einem Auto liegen? Ts, ts, ts. Und das bei der hohen Jugendkriminalität.

Ich legte meine Ausrüstung auf den Beifahrersitz und gab die richtige Adresse ins Navi ein. Der Plan war, Robert ein bisschen auszuspionieren. So konnte ich auch etwas zur Geiselrettung beitragen und fühlte mich nicht völlig nutzlos. Verbrecherauto macht's möglich.

Inzwischen hatte das Navi die Route berechnet und gab mir mit ruhiger Stimme Anweisung, dem Straßenverlauf zu folgen. Doch mir begegnete erstmal ein viel größeres Problem: Ich konnte zwar Auto fahren, hatte aber noch nie hinter dem Steuer eines Automatikwagens gesessen.

Ich drehte den Schlüssel herum und mit einem leisen Stottern sprang der Motor an. Dann studierte ich aufmerksam den Schalthebel. 'R' stand für 'Rückwärts', das wusste ich von vorhin. 'P' konnte nichts anderes als 'Parken' bedeuten und soweit ich das aus meinem lückenhaften Allgemeinwissen zusammen kramen konnte, stand 'D' für 'Drive'. Nur was 'N' bedeuten sollte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Mit einem Schulterzucken tat ich es als nebensächlich ein und schob den Schalthebel nach vorn. Vorsichtig tippte ich aufs Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz nach Vorne und stand wieder still, der Motor war aus. Abgewürgt.

Mit klopfendem Herzen legte ich den Sicherheitsgurt an und versuchte es nochmal. Diesmal funktionierte es und ich entspannte mich ein bisschen.

Nach zehn Minuten Fahrt fühlte ich mich sicher genug, dass ich das meinen Griff um das Lenkrad ein wenig lockern konnte. Ich ging sogar so weit das Radio einzuschalten. Für einen Moment vergaß ich, was ich eigentlich tat und summte fröhlich bei den Charts mit.

Erst als mir eines der blau weißen Autos entgegen kam, traf es mich mit voller Wucht. Ich fuhr hier gerade illegal Auto. Wenn ich in eine Polizeikontrolle geraten sollte, war ich sowas von tot. Ich stellte das Radio wieder aus.

Den Rest der Fahrt zitterte ich fast vor Anspannung. Bei jedem Auto, das mich überholte, zuckte ich panisch zusammen und ich hielt mich exakt an alle Vorschriften. Ich konnte gar nicht richtig genießen, wie angenehm ein Automatikauto war.

Kurz vor dem Ortsschild fuhr ich rechts ran. Ich war völlig durchgeschwitzt und als ich meine Hände vom Lenkrad löste zitterten sie unkontrolliert. Ich atmete ein paar Mal tief durch, bis ich mich soweit beruhigt hatte, dass ich wieder vernünftig denken konnte.

Es war zum Glück Sonntag, dementsprechend war bei uns im Ort nichts los, aber ich wollte nicht riskieren, dass mich trotzdem irgendwer sah. Ich schnappte mir die Karte vom Beifahrersitz und breitete sie über dem Lenkrad aus. Nach zwei erfolglosen Versuchen hielt ich sie endlich richtig rum.

Die Abkürzungen konnte ich immer noch nicht entschlüsseln, aber dafür hatte ich einen guten Platz gefunden, um Robert ein bisschen auszuspionieren. Ein eingezeichneter Wanderweg führte an einem Wäldchen auf einer Anhöhe vorbei.

Das war nah genug, um mit dem Fernglas etwas erkennen zu können, und hoch genug, damit die Mauer kein Problem mehr darstellte. Ich faltete die Karte möglichst klein zusammen und verstaute sie in meiner Hosentasche. Das Fernglas hängte ich mir um den Hals und beschloss, den Erste Hilfe Kasten liegen zu lassen. Er war schlicht und einfach zu sperrig. Und es zeugte doch von Optimismus ihn nicht mitzunehmen, oder?

Ich wollte gerade aussteigen, als mit die Waffe wieder einfiel. Ich hatte zwar noch nie eine in der Hand gehalten, aber das mussten ja die anderen nicht wissen. Nach ein paar Mal hin und her entschloss ich mich schließlich sie mitzunehmen. Sicher war sicher.

Und ich fühlte mich eindeutig besser, wenn ich auch etwas hatte, womit ich mich verteidigen konnte. Ich zog die Karte ein letztes Mal hervor, um mir den Weg einzuprägen. Dann öffnete ich das Handschuhfach und entnahm ihm vorsichtig die Pistole.

Der Griff lag kühl und glatt in meiner Hand. Es war ein seltsames Gefühl, dieses Stück Metall in der Hand zu halten, in dem vollen Bewusstsein, dass es vielleicht schon mal ein Menschenleben ausgelöscht hatte. Ich hatte Respekt vor diesem unscheinbaren Ding und gleichzeitig spürte ich die Macht, die mit ihrem Besitz einherging.

Ich kontrollierte, ob sie gesichert war, zumindest hoffte ich, dass ich die richtige Stelle überprüfte, ich hatte mein Wissen nur aus Hollywood, und steckte die Waffe dann in meine Jackentasche. Sie passte nicht ganz hinein, deshalb hielt ich sie die ganze Zeit umklammert.

Ich war nicht weit von dem Beginn des Wanderweges entfernt und während ich den ausgetretenen Weg entlanglief überlegte ich, wie es eigentlich dazu gekommen war, dass ich mich jetzt in so einer unmöglichen Situation befand. Ich war alleine Auto gefahren und trug eine wahrscheinlich geladene Waffe bei mir, von der ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. So was kam doch eigentlich nur in völlig vorhersehbaren Filmen vor.

Nina und die anderen würden mir das nie im Leben abkaufen. Niemals. Ich lachte bei dem Gedanken an ihre Reaktion.

Mir fiel ein, wo ich jetzt wäre, wenn mein Leben in irgendeiner Weise normal verlaufen wäre. Ich stünde jetzt auf einem Fußballplatz und würde versuchen ein Stipendium zu bekommen. Der Gedanke daran kam mir völlig absurd vor. Trotzdem stimmte es mich auch ein wenig traurig. Das Geld hätte ich gut gebrauchen können.

Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte hatte ich die Anhöhe erreicht. Ich schlug am Wegrand ins Gebüsch, bis ich zur anderen Seite kam. Dort legte ich mich im Schutz eines Busches auf den Boden. Die Pistole drückte unangenehm in meinen Bauch, deshalb legte ich sie griffbereit neben mich. Ich zückte das Fernglas und hoffte, dass es keine Lichtreflexe verursachen würde, und wenn doch, dass sie es da unten nicht bemerken würde.

Gespannt sah ich durchs Fernglas. Ich suchte langsam das ganze Gelände ab. Im Inneren des Hauses konnte ich nichts erkennen, aber auf dem Rasen und außerhalb der Mauern sah ich mehrere gemischte Patrouillen herumlaufen. Sie hielten anscheinend regelmäßigen Funkkontakt. Alle menschlichen Wachen hatten Waffen dabei. Das könnte kritisch werden.

Weitere Sicherheitsvorkehrungen konnte ich glücklicherweise nicht erkennen. Jetzt blieb mir nur noch zu hoffen, dass es allen da drin gut ging.

Plötzlich tat sich etwas auf dem Hof. Robert trat aus der Tür und an seiner Seite war eine Frau. Ich kniff die Augen zu wütenden Schlitzen zusammen. Das war wahrscheinlich die Verräterin.

Ein lautes Knacken ließ mich hochschrecken. Hatte mich eine der Patrouillen entdeckt?

Ich schnappte mir die Waffe und fuhr in derselben Bewegung herum, den zitternden Lauf der Waffe von mir weggerichtet.

Es standen wirklich fünf Löwen hinter mir, doch da drei von ihnen weiblichen Geschlechts waren, hielt ich eine Panikattacke zurück. Bei Robert hatte ich nur Männchen gesehen.

Davon trat ein prächtiges Exemplar ein paar gemessene Schritte auf mich zu. Der Löwe sah so selbstsicher und imposant aus, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, wer er sein könnte.

Ich senkte langsam die Waffe, als Zeichen meiner Kooperationsbereitschaft. „Du bist bestimmt Simon“, stellte ich fest und versuchte, nicht allzu ängstlich auszusehen. Der Löwe gab ein leises Grollen von sich und legte den Kopf zur Seite. „Nur so eine Vermutung“, erklärte ich hastig. „Und ich weiß, dass ich eigentlich nicht hier sein sollte, aber ich habe da etwas, das dich interessieren könnte.“

23 Überraschungsmoment

 

Kapitel 23 Überraschungsmoment

Leon

Ich rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben. Ich hielt nur an, um die Nase in den Wind zu stecken, dann wetzte ich wieder los. Es war mir egal, wer mich sah, jetzt war nur eins wichtig.

Als mir der ersehnte Geruch endlich in die Nase stieg hätte ich einen Luftsprung machen können vor Freude. Ich konnte mehr als zehn verschiedene Gerüche ausmachen. Die Nase dicht am Boden folgte ich der Spur, die sich durch Gebüsch und hinter Hecken entlangschlängelte. Nach ein paar hundert Metern wurde die Duftspur intensiver. Sie hatten das Tempo verlangsamt.

Fünf Minuten später hatte ich sie eingeholt. Sie hatten mich ebenfalls wahrgenommen und waren stehen geblieben. Ich konnte die Fragen in ihren Augen sehen, als sie mich wirklich vor sich sahen, doch ich schüttelte den Kopf und bedeutete ihnen mit mir zu kommen. So schnell ich konnte folgte ich der Spur zurück zu ihren Autos. Es war zwar meine Familie, aber deshalb musste ich mich noch lange nicht vor ihnen zurück wandeln, wenn ich nichts trug.

Mama verstand mein Problem sofort und reichte mir eine Boxershorts, mit der ich mich hinter einen Wagen verzog. Zum Glück hatten wir immer genug Wechselzeug dabei. Als alle wieder Menschen waren, konnten sie mich gar nicht schnell genug mit Fragen bombardieren.

Ich hob beschwichtigend die Hände. „Beruhigt euch, ich erzähl ja schon alles.“ Abrupt verstummten die Fragen und ich hatte die nicht unberechtigte Vermutung, dass mein Bruder da seine Finger im Spiel hatte.

Er nickte mir zu. „Die Kurzfassung, bitte.“

„Gut.“ Ich sammelte meine Gedanken, um die wichtigsten Fakten herauszufiltern. „Robert hat uns reingelegt. Während ihr hierher gekommen seid, hat er seine Männer nach Hause geschickt, um das Haus in seine Gewalt zu bringen. Er hat einen Insider, wen hat er uns nicht verraten. Ich vermute er will uns“ - ich deutete von Simon zu mir - „zwingen zu gehen. Vielleicht auch Samuel und Daniel.“

Es herrschte betroffenes Schweigen. Hier stand unser Leben auf dem Spiel.

„Also gut“, brach Simon schließlich die Stille. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Immerhin warte ich schon seit vier Jahren auf eine Revanche.“ Das riss die meisten aus ihrer Schockstarre. Wir waren Löwen, ein Rudel, und würden nicht kampflos aufgeben. „Leon, Sam, Aron, ihr fahrt mit mir. Ich will jedes Detail wissen. Und zieh dir bitte etwas mehr an, soviel Zeit muss sein.“

Ich grinste und tat, wie mir befohlen. Die Fahrt war kurz, weil Aron rücksichtslos alle Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorierte. Währenddessen quetschten mich Samuel und Simon aus und entwarfen einen groben Plan. Mir war Angst und Bange. Klar, wir hatten den Heimvorteil, und es hatte sich einiges geändert seit Roberts Verbannung, aber so wie ich das verstanden hatte, spionierte uns dieser Mistkerl schon länger hinterher.

Ich war nur froh, dass Sofia aus der Schusslinie war.

Wir fuhren so nah ran, wie wir uns trauten. Unser größter Vorteil war Roberts Ahnungslosigkeit und den wollten wir uns nicht verbauen. Solange er dachte, die anderen würden immer noch im Dunkeln tappen, konnten wir ihm eine schöne Überraschung bereiten.

Wir stiegen aus und Simon verklickerte den anderen seinen Plan. Wir würden uns von verschiedenen Seiten heranschleichen. Es gab außer dem Haupttor noch zwei weitere Eingänge in der Mauer. Wir mussten vorsichtig vorgehen und Patrouillen möglichst unauffällig einzeln ausschalten.

Wir hatten keinen Notfallplan. Es musste einfach funktionieren.

Wir teilten uns in drei Gruppen auf. Ab da war jeder auf sich allein gestellt. Wenn wir nicht auf uns aufmerksam machen wollten, gab es keine Möglichkeit über längere Entfernungen zu kommunizieren.

Mit gespitzten Ohren und ausreichend Sicherheitsabstand schlichen wir uns um das Anwesen herum. Wir entdeckten mehrere Patrouillen, aber da sie keine Anstalten machten uns zu bemerken, ließen wir sie weiter laufen. Sie waren nicht unsere Aufgabe.

Auf unserer Seite der Mauer konnten wir vier Löwen und zwei Männer entdecken. Zu unserem Glück richteten sie ihre Aufmerksamkeit mehr nach Innen. Sie bewachten und verteidigten nicht. Das würde ein böses Erwachen geben.

Nur sporadisch schweiften ihre Blicke in unsere Richtung, doch unser sandfarbenes Fell war Tarnung genug. Wir duckten uns hinter das hohe Dünengras und beobachteten die Männer eine Weile. Sie hielten regelmäßigen Funkkontakt. Hoffentlich nur mit den anderen Wachen.
Wir warteten den nächsten Funkspruch ab. Währenddessen schoben wir uns so nah wie möglich an unsere Gegner. Mit den Augen verständigten wir uns und teilten uns dann auf. Ich würde mit Alina und Laura die rechte Gruppe, bestehend aus zwei Löwen und einem Menschen übernehmen.

Da! Unsere Chance! Das Funkgerät knackte und rauschte, während die Männer ein paar kurze Worte austauschten. Er hakte das Ding wieder an seinen Gürtel und sagte etwas zu seinen Löwenkameraden. Unser Stichwort!

Mit einem Knurren sprang ich aus meiner Deckung und einem der Löwen auf den Rücken. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die beiden Mädels den anderen ordentlich einheizten. Sie kamen klar. Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Gegner.

Ich krallte mich an seinem Rücken fest, während ich irgendwie versuchte an seine Kehle zu kommen. Doch er gab sich nicht so schnell geschlagen. Mit einem Ruck warf er sich auf den Rücken und begrub mich unter sich. Mit einem Schlag wurde die Luft aus meinen Lungen gepresst und ich lag bewegungsunfähig da. Das reichte meinem Gegner auf die Pfoten zu springen. Bevor er sich an meinem empfindlichen Bauch zu schaffen machen konnte, rappelte ich mich wieder hoch.

Ich schlug mit ausgefahrenen Krallen nach dem Löwen, um ihn ein bisschen auf Abstand zu halten und durchzuatmen. Doch mir war nur eine kurze Pause gegönnt. Mit einem heiseren Brüllen stürzte sich mein Gegner nach vorne. Ich wich leicht zur Seite aus und versetzte ihm in der gleichen Bewegung einen Hieb in die Seite. Mit Befriedigung sah ich die roten Striemen, die meine Krallen hinterlassen hatten.

Diesmal führte ich den ersten Schritt aus. Ich stürzte mich frontal auf Roberts Wache. Ich ignorierte seine Krallen, die sich in mein Fell bohrten. Mit einem wilden Knurren verbiss ich mich seinem Nacken. Der Löwe wehrte sich, trat, schlug und biss um sich, doch ich ließ nicht locker. Mit aller Kraft presste ich meine Kiefer aufeinander. Das dumpfe Knacken klang in meinen Ohren nach. Ich öffnete das Maul und der leblose Körper sackte in sich zusammen.

Mit einem Schlag wurde mir bewusst, was ich gerade getan hatte. Ich hatte getötet. Meine Instinkte hatten die Führung ergriffen. Ich hatte einen Menschen getötet. Ich taumelte ein paar Schritte zur Seite und sackte zu Boden. Getötet. Ich habe ihn getötet.

Laura kam zu mir herüber getrottet und stieß mich ein paar Mal in die Seite. Ich sah das Mitgefühl in ihren Augen. Sie machte eine Kopfbewegung Richtung Mauer. Ich rief mir wieder in Erinnerung, weshalb wir hier waren.

Entschlossen erhob ich mich und leckte einmal kräftig über meine Wunden. Sie waren eher lästig als lebensgefährlich. Ich schüttelte meine Mähne und sah mich kurz um. Die andere Patrouille auf dieser Seite der Mauer war ebenfalls ausgeschaltet. Ich hoffte, dass die anderen auch so erfolgreich waren.

Ich musterte die Mauer vor mir. Sie war das letzte Hindernis zwischen mir und Robert. Die Sandsteine waren nur grob behauen. Die anderen waren schon damit beschäftigt irgendwie die Tür zu öffnen, doch das war mir zu umständlich.

Ich machte ein paar Schritte zurück. Ich atmete kurz durch. Drei Meter. Ich war schon höher geklettert. Mit kräftigen Sätzen stürmte ich auf die sandfarbene Mauer zu. Anderthalb Meter davor drückte ich mich mit aller Kraft vom Boden ab. Meine Muskeln katapultierten mich in die Luft. Mit ausgefahrenen Krallen erreichte ich die Mauerkrone. Mit den Hinterbeinen strampelte ich für einen atemlosen Moment in der Luft, dann fand ich Halt und schob mich hoch.

Auf der anderen Seite verschaffte ich mir erstmal einen Überblick. Bei den Nebengebäuden entdeckte ich mehrere Löwenknäule, aber es sah nicht so aus, als würde irgendjemand Hilfe brauchen. Vor dem Haupthaus konnte ich nichts erkennen, aber Robert war bestimmt dort.

Ich tastete mich mit den Vorderpfoten ein Stück an der Mauer runter, bevor ich elegant sprang und sicher landete.

Ich machte mich gerade auf den Weg zur Vordertür, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Da wollte sich doch wirklich einer aus dem Staub machen! Mit großen Sprüngen setzte ich dem Flüchtigen nach und stellte mich ihm in den Weg. Doch bevor ich angreifen konnte, stieg mir ein bekannter Geruch in die Nase. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Mark? Wieso machte er sich davon? Er war der Bruder von Anna... die Roberts Frau war.

Ich kniff die Augen zusammen und gab ein lautes Grollen von mir. Mark zog den Kopf ein und schlich vor mir her zurück zum Haus. So ein Feigling.

Dort bot sich ein faszinierendes Bild.

Simon und Lia hatten einen Löwen in die Ecke gedrängt. Die Großkatz fauchte und schlug um sich, doch es sah verzweifelt aus. Die Tigerin und der Löwe schienen jedenfalls nicht sehr beeindruckt. Ich packte Mark bei der Schulter, als er sich unauffällig verdrücken wollte und der ältere drückte sich wimmernd neben mich auf den Boden. Was für ein Weichei. Dann beobachtete ich gespannt, was passieren würde.

Simon und Lia schienen eine Art stumme Zweisprache zu führen. Dauernd bewegte einer den Kopf, knurrte kurz oder wedelte mit der Pfote in der Luft herum. Endlich kamen sie zu einer Einigung. Mit drohend gesenkten Köpfen und gefletschten Zähnen dirigierten sie Robert ins Haus. Ich stieß Mark an und folgte ihnen. Wir sperrten die beiden in das große Wohnzimmer. Simon wandelte sich kurz zurück, um abzuschließen. Dann liefen wir wieder nach draußen. Die meisten hatten inzwischen gemerkt, dass ihr Anführer nicht mehr da war.

Auf dem Vorplatz blieb Simon stehen und reckte dann den Kopf. Und für alle, die es bis dahin noch nicht gecheckt hatten ließ er sein lautestes und stolzestes Siegesgebrüll hören. Am liebsten hätte ich jetzt bis über beide Ohren gegrinst, stattdessen tat ich das, was jeder normale Löwe tun würde. Ich stieg mit ein. Unsere Stimmen verschmolzen miteinander. Immer mehr und mehr vertraute Stimmen gesellten sich zu uns. Endlich verstummten wir.

Immer mehr und mehr Löwen fanden sich vor uns ein. Unsere Gefangenen wurden in der Mitte zusammen getrieben.

Schließlich machte Simon den Anfang und wandelte sich. Wie taten es ihm ausnahmslos gleich. Es hätte lächerlich aussehen können, wie wir hier standen. Eine Gruppe halbnackter Menschen. Doch aus irgendeinem Grund war das nicht der Fall.

„Ihr habt zwei Möglichkeiten“, erklärte Simon den Gefangenen mit lauter Stimme. Auch Roberts Frau befand sich unter ihnen. „Entweder, ihr verschwindet von hier und lasst euch niemals wieder hier blicken.“ Er fixierte die Männer. „Das nächste Mal bin ich nicht mehr so gnädig. Oder ihr schließt euch unserem Rudel an und schwört mir die Treue. Ihr habt fünf Minuten Bedenkzeit.“ Er nickte Samuel zu, der Roberts Frau packte und nach drinnen brachte.

„Laura, Antonia, kümmert euch um die Verletzten“, gab Simon weiter Anweisung. Jetzt erst fiel mir auf, wie erschöpft alle aussahen. Manche konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. „Aron, Jakob, ihr kümmert euch um die Toten.“ Die beiden Männer nickten mit ernsten Gesichtern. Ich schluckte. Gab es auch in unseren Reihen Opfer? Aufmerksam musterte ich jedes einzelne Gesicht, doch zu meiner Erleichterung vermisste ich auf den ersten Blick niemanden.

Plötzlich fielen mir Daniel und die anderen ein, die während Roberts Angriff hier gewesen waren. Ich überließ Simon seinen Pflichten, lief ins Haus und eilte die Treppe hoch. Die Armen mussten ja schon krank vor Sorge sein. Auch Sofia spukte wieder in meinen Gedanken herum. Wo war sie? War sie sicher zu Hause angekommen? Ich schob die Fragen fürs erste beiseite. Im Moment konnte ich sowieso nichts für sie tun.

Ich durchsuchte einen Raum nach dem anderen. Letztendlich wurde ich in den Schlafzimmern fündig. Sie saßen auf den Betten und starrten mich erleichtert an. Ich musste mir ein paar tränenreiche Umarmungen von meinen Cousinen gefallen lassen und lachte über die haarsträubenden Erzählungen meiner kleinen Halbbrüder.

Daniel kam kopfschüttelnd und bis über beide Ohren grinsend auf mich zu. „Wie gesagt, sowas kann nur dir passieren.“

Ich verdrehte die Augen. „Klar. Und wenn du da gewesen wärst, dann wäre natürlich alles anders gelaufen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts dafür.“

„Idiot“, grinste ich und zog ihn in eine kurze Umarmung.

Daniel erwiderte sie. „Gut, dass dir nichts passiert ist.“

Ich nickte. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich muss Sofia suchen.“

„Sofia? Wieso, war sie denn nicht bei dir?“, fragte Daniel besorgt nach.

„Wir haben uns getrennt, als ich Simon gesucht hab, weil er schon gewandelt war. Ich weiß nicht, was sie danach gemacht hat“, erklärte ich meinem Zwilling, der daraufhin die Augen zusammen kniff und gerade ansetzte mich zusammen zu stauchen, als er schon unterbrochen wurde.

„Ich weiß es.“ Erschrocken fuhr ich herum.

Du?!“ Ich starrte Simon verblüfft an. „Woher...?“

„Tja, deine ziemlich freche Freundin war schon vor uns hier und hat in eurem Fluchtauto einige Sachen entdeckt.“ Er sah leicht pikiert drein. „Unter anderem eine Pistole, mit der sie mich bedroht hat.“ Ich lachte. Das war mein Mädchen.

„Wo ist sie?“

Simon gestattete sich ein halbes Lächeln, dass ich einfach mal als positives Zeichen wertete. „Sie wartet unten auf dich.“ Ich war schon halb aus der Tür, da drehte ich mich nochmal um.

„Wir sind übrigens zusammen und was ihr dazu sagt geht mir am Arsch vorbei.“ Dann stürmte ich nach unten, Daniels Lachen im Ohr.

24 Zuhause

 

Sofia

Ich beobachtete das ganze Chaos von dem sicheren Hügel aus. Nachdem Simon und seine Truppe verschwunden waren, konnte ich nichts anderes mehr tun. Ich sah Leons spektakulären Sprung über die Mauer und erlebte sozusagen hautnah Simons Sieg mit. Es war schrecklich und zugleich von fesselnder Faszination.

Als die da unten allerdings mit dem Gebrüll anfingen, zuckte ich trotzdem zusammen. Nichts, wirklich gar nichts kann dich auf die ohrenbetäubende Lautstärke eines Löwenrudels vorbereiten. Es war ein Naturschauspiel das seinesgleichen suchte.

Ihre Verwandlung in Menschen nahm ich mir zum Anlass den Ahlfeldts endlich mal einen Besuch abzustatten. Ich hatte mit mir gerungen, denn eigentlich hatte ich meine Entscheidung getroffen, auch wenn Leon das nicht einsehen wollte. Ich würde nicht diejenige sein, die ihn von seiner Familie trennte. Und ich wollte auch nicht diejenige sein, die er irgendwann verließ, um sich wieder mit seiner Familie auszusöhnen.

Aber trotz dieser vernünftigen Entscheidung konnte ich meine Gefühle nicht von jetzt auf gleich abstellen. Ich musste einfach wissen, ob es ihm gut ging.

Zwanzig Minuten später setzte ich als erste Normalsterbliche – wenn man Joel Glauben schenken wollte - einen Fuß auf das Ahlfeldt-Anwesen. Das Tor stand offen, deshalb machte ich mir keine Mühe zu klingeln.

Ehrlich gesagt hatte ich es mir imposanter vorgestellt. Nicht, dass es nicht schön war, das nicht. Aber es hatte mehr was von einem betuchten Gutshof als von einer geheimnisvollen Villa. Das größte Gebäude am Ende der geschwungenen Auffahrt war mehrstöckig und hätte bestimmt einen interessanten Dachboden zu bieten. Es war ein Fachwerkhaus und die Stufen die zu seiner doppelflügeligen Eingangstür führten wirkten eher rustikal und zweckmäßig als elegant. Aber das Grundstück war gut gepflegt. Blumenbeete säumten die ordentlich geharkten Sandwege, die zu weiteren kleinen Nebengebäuden führten. Ehemalige Wirtschaftsgebäude vielleicht, jetzt wahrscheinlich zu Wohnungen zweckentfremdet.

Der ganze Eindruck wurde außerdem ein bisschen von den halbbekleideten Leuten getrübt, die hier überall herumliefen. Keiner beachtete mich, was mir ganz recht war, und so gelangte ich ungehindert bis zur Eingangstür.

Dort stieß ich auf den einzigen normal gekleideten Menschen in diesem merkwürdigen Haus. Der offensichtlichen Familienähnlichkeit zufolge musste das Simon sein. Der große Anführer. Er entdeckte mich im gleichen Moment, warf mir einen missbilligenden Blick zu, bei dem ich unwillkürlich den Kopf einzog, und winkte mir, ihm zu folgen.

Der Flur empfing uns mit dem Geruch nach Schuhen und... uäh! Käsefüßen! Mann! Die hatten garantiert nie Besuch. Simon schien das nicht zu stören. Er eilte so schnell und zielstrebig durch mehrere Türen, dass ich gar nicht hinterher kam. Aber was ich vom restlichen Haus mitbekam waren helle Farben und große Fenster. Vielleicht diente der Flur ja der Abschreckung unerwünschter Eindringlinge – Vertreter und so. Als ob das Tor nicht unheimlich genug wäre.

Ich war so damit beschäftigt mir vorzustellen, wie Leon durch bloßes Türöffnen jeden Vertreter vergraulte, dass ich regelrecht zusammen zuckte, als sich plötzlich jemand räusperte. Wir waren anscheinend in Simons Arbeitszimmer angekommen und ich hatte zum ersten Mal die Gelegenheit ihn ganz unbekümmert zu mustern.

Die Familienähnlichkeit sprang einen ja regelrecht an, wobei ich fand, dass er mehr Ähnlichkeit mit Leon als mit Daniel hatte. Das lag womöglich an den Haaren, die noch mähnenartiger wirkten als Leons, natürlich waren sie blond, allerdings mehr von einem blondbraun mit verschiedenen Schattierungen. Ob das wohl gefärbt war? Auch diese geschmeidige Haltung erinnerte mich an Leon und Daniel, vor allem beim Fußball spielen.

Simon - oder sollte ich lieber sagen Herr Ahlfeldt? - war sogar noch größer als Lia. Er füllte den Platz hinter seinem bestimmt sehr alten Sekretär gut aus. Also nicht falsch verstehen, er war nicht dick, mehr athletisch, es war einfach diese Aura, diese Präsenz, die er ausstrahlte, als wäre er sich seiner Macht und seiner Wirkung sehr genau bewusst. Aber anstatt arrogant zu wirken schien es mehr seiner Natur zu entsprechen.

Als Mensch war er fast noch einschüchternder als in Löwengestalt.

"Du bist also Sofia. Schön, dass wir uns endlich mal unterhalten können." Brr. Gänsehaut, Schauer über den Rücken, das ganze Programm. Seine Stimme verursachte in mir den Drang ganz schnell wegzulaufen und mich unter meinem Bett zu verkriechen und zwar für immer. So wie er meinen Namen sagte hatte ich Angst bald sechs Fuß unter der Erde zu liegen oder in dem gruseligen Keller zu verrotten, den dieses Haus garantiert hatte.

"Mann Simon, jetzt mach hier nicht einen auf Mafiaboss. Sie kann doch nichts dafür, dass deine Brüder nichts geschissen kriegen", mischte sich Lia ein, wo auch immer sie jetzt schon wieder hergekommen war, und zerstörte die ganze Gangster-Atmosphäre.

"Ja", fand ich zu meiner alten Form zurück, "Leon hat von dir erzählt." Unter anderem, dass du was gegen Menschen hast. Simon fixierte mich mit seinen braunen Augen. Heißt es nicht normalerweise braune Augen sind warm und liebevoll und so was? Pustekuchen! Wer diese These aufgestellt hat kennt Simon Ahlfeldt nicht. Trotzig erwiderte ich seinen abschätzenden Blick. Er hörte wohl nicht oft auf seine beste Freundin.

"Ach, hat er das?", fragte er schließlich.

"Stell dir vor", erwiderte ich patzig. Ich beschloss, dass ich ihn nicht siezen würde. Er runzelte verärgert die Stirn. „Unter anderem, dass du was gegen mich hast, obwohl du mich gar nicht kennst.“

"Das ist eine ziemlich große Klappe für so ein kleines Mädchen."

"Also erstens: Ich bin nicht klein", Lia versuchte ein Lachen zu unterdrücken, "und zweitens hat meine Körpergröße nichts mit meiner Artikulationsfähigkeit oder meinem Wortschatz zu tun." Verblüfftes Schweigen seitens Simon und leises Kichern aus Lias Ecke. Punkt für mich.

"Also gibt’s jetzt noch was Wichtiges zu klären? Wo ist die Geheimhaltungsverpflichtung, die ich unterschreiben soll? Ich hätte dann da nämlich noch was Wichtiges mit deinem Bruder zu klären", meldete ich etwas genervt an.

Simon schüttelte den Kopf. "Jetzt beruhige dich mal wieder", sagte er beschwichtigend. „Ich wollte mich eigentlich bei dir bedanken.“ Ups. „So wie Leon das erzählt hat haben wir dir einiges zu verdanken.“

"Sehr richtig“, warf ich ein. Endlich mal jemand, der das genauso sah wie ich.

"Außerdem denke ich, dass Leon und du schon zu Genüge bewiesen habt, dass ihr zusammen gehört." Ich warf Lia einen kurzen Blick zu. Jede Wette, sie hatte ihre Finger da drin.

Ich lächelte sie dankbar an und wandte mich dann wieder an Simon. „Du wirst also nichts mehr dagegen sagen?“, fragte ich nach.

„Nie mehr.“

„Und ich werde auch nicht mehr unhöflich weggeschickt, wenn ich hier auftauche?“

Er seufzte, als wäre ich eine Fünfjährige. Dabei wollte ich nur auf Nummer sicher gehen.

„Sofia. Dass wir hier keinen Besuch reinlassen ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, damit niemand unser Geheimnis entdeckt. Du hast doch schon alles gesehen und...“

„... und ich wurde von einem Irren entführt, weil ihr eure Familienfehden nicht zivilisiert lösen könnt.“

„Und das“, gab er seufzend zu. Lia hinter mir prustete los.

„Wenn du nichts Produktives beizutragen hast, kannst du gerne gehen“, motzte er sie beleidigt an.

Lia winkte lachend ab. „Danke für das Angebot, aber ich bleibe.“

Simon grinste kurz. Das machte ihn gleich weit weniger unheimlich. Aber es hielt nicht lange an.

„Also gut, wo wir das geklärt haben, werde ich mal...

"Simon Schätzchen, was ist denn hier los?"

"... Leon Bescheid sagen." Der arme Simon. Er konnte sein Gangsterbossimage doch nicht aufrecht erhalten, wenn er nie richtig zu Wort kam. In der Tür stand eine Frau mit zur Abwechslung mal freundlichen Augen.

"Hey Mama", seufzte Simon resignierend. Ah, das war also die Mutter dieser Rasselbande. Ich musterte die Frau mit neuem Interesse. Sie hielt sich sehr gerade. Ihre ganze Person strahlte Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen gleichzeitig aber auch Geborgenheit und ja, auch Liebe aus. Ich hatte sofort totalen Respekt vor ihr.

"Tja, Tamara, du stehst vor Sofia“, beantwortete Lia schließlich ihre Frage. "dem Mädchen, das deinem Sohn den Kopf verdreht hat."

"Ihr habe ich also auch dieses ganze Chaos hier zu verdanken?" Sie lächelte mir zu und ich fühlte mich gleich viel wohler. "Respekt Sofia, du musst etwas ganz Besonderes sein." Wie sie von 'ein von dir verursachtes Chaos' zu 'du bist etwas Besonderes' kam, konnte ich nicht nachvollziehen, und bevor ich die Chance hatte mich für ihr Kompliment – in der Hoffnung, dass es auch ein Kompliment war - zu bedanken, wurden wir schon wieder gestört. Ein dunkelhaariger Wirbelwind kam hereingestürmt, warf sich erst Lia, dann Tamara um den Hals und kam direkt vor mir zu stehen.

"Ist sie das? Ist sie das?" Hier kam man echt auf keinen grünen Zweig. Der Meinung schien auch Simon zu sein.

"Kann man sich hier nicht mal mehr ungestört unterhalten? Das hier war mal ein Privatraum."

"Ach Simon, jetzt sei doch nicht so. Felix hat mir von ihr erzählt und ich wollte sie unbedingt persönlich kennen lernen", winkte der Wirbelwind ab. "Ich bin übrigens Penny, Felix' Schwester." Ich grinste sie an. Auch, wenn sie über mich sprach als wäre ich ein exotischer Vogel, okay war ich im übertragenen Sinne wahrscheinlich auch, war sie mir sympathisch.

"Freut mich Penny, ich bin Sofia." Anstatt mir die Hand zu schütteln, wie ich es irgendwie erwartet hatte, fiel sie mir ebenfalls um den Hals. Etwas verblüfft erwiderte ich die Umarmung.

"Komm, ich muss dir unbedingt was zeigen. Sorry, Sam!", rief sie dem großen Mann, der plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war, zu, während sie mich mit sich zog und ihn dabei fast umrannte. Ich schenkte diesem Sam ein entschuldigendes Lächeln, das etwas verrutschte, weil ich in diesem Moment über eine Teppichfalte stolperte und mich bemühen musste nicht voll auf die Nase zu knallen.

Penny zog mich unterdessen durch verwirrend viele Gänge, Türen und Zimmer. Ich hatte den leisen Verdacht, dass auch einige Geheimgänge dabei waren.

„Penny!“, rief ich, sobald ich wieder vernünftig lief. „Warte!“ Sie blieb so abrupt stehen, dass ich es nur mit Mühe vermeiden konnte, in sie rein zu rennen.

„Was?“, fragte sie mich aus großen Augen.

„Es tut mir leid, aber eigentlich wollte ich jetzt erstmal mit Leon reden“, erklärte ich ihr.

Sie strahlte mich an. „Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt?“

"Ein Frage hätte ich vorher noch“, sagte ich schnell. Sie sah so aus, als würde sie es mir nicht übel nehmen, und es brannte mir schon die ganze Zeit auf der Zunge. Penny sah mich erwartungsvoll an. „Warum haben alle immer so wenig an, wenn sie sich verwandeln?“, platzte ich heraus. Das war etwas, was mich wirklich schon eine ganze Weile beschäftigte.

Penny lachte. „Wandeln. Man sagt nur wandeln. Und dabei wandeln sich eben nur tierische Produkte mit. Wenn du also nicht im Seidenkimono rumlaufen willst, müssen es halt Boxershorts oder Lederbikinis sein.“ Klang irgendwie logisch.

„Tut es eigentlich weh? Also die Verwandlung?", wollte ich noch wissen. Ich wartete gespannt auf ihre Antwort. Es sah so unnatürlich aus, aber... Keine Ahnung, ich wollte es einfach wissen.

Doch Penny wich meinem Blick aus. "Ich denke das fragst du lieber Leon. Komm mit, ich bring dich zu ihm." Damit verschwand sie im Haus und ich hechtete hinterher, um nicht in diesem Labyrinth aus Gängen verloren zu gehen. Da würden sie mich erst nach Tagen wiederfinden. Naja, Simon wäre das bestimmt ganz recht.

Wie durch ein Wunder kamen wir wieder in der Eingangshalle an. Ich folgte Penny die Treppenstufen hoch, als aus dem Nichts Leon auf dem Treppenabsatz auftauchte und mich in seine Arme riss. Er hatte immer noch nicht mehr als seine Boxershorts an, aber damit würde ich wohl leben müssen.

„Es geht dir gut“, jubelte er. „Und egal was meine beschränkte Verwandtschaft dir erzählt hat, ich liebe dich und das wird sich nicht ändern.“ Völlig überrumpelt erwiderte ich die Umarmung. Dann schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Er liebte mich.

"Also...", setzte ich an und zögerte. Leon trat einen Schritt zurück, um mir in die Augen zu sehen, sah mich gespannt an. Er hatte mir seine Liebe gestanden, heute Morgen und jetzt noch einmal, und ich hatte ihm noch keine Antwort gegeben. Ich hatte ernst gemeint, was ich gesagt hatte. Dass die Familie das Wichtigste ist. Aber das hatte sich ja jetzt geklärt oder? Ich wurde zähneknirschend akzeptiert..

Aber konnte ich das? Ihm vertrauen?

Eigentlich kannte ich die Antwort schon. Vertraute ich ihm nicht schon längst? Ich musste es mir nur selbst eingestehen.

Ich atmete tief durch. "Als du mich mitten in der Nacht aus meinem Zimmer geholt hast, hätte ich mit allem gerechnet, aber nicht mit dem hier.“ Ich machte eine alles umfassende Handbewegung. „Ich wurde entführt, habe eine Straftat begangen und erfahren, dass es Leute gibt, die sich in blutrünstige Großkatzen verwandeln können. Ich hoffe immer noch, dass ich nie jemandem begegne, der zur Hälfte ein Elefant ist.“ Leon musterte mich besorgt. Ich lächelte ihn liebevoll an. „Eigentlich hätte ich heute nur auf dem Fußballplatz stehen sollen. Aber es gibt keinen Ort, an dem ich heute lieber wäre, als hier bei dir. Ich liebe dich, Leon Ahlfeldt." Mit diesen Worten breitete sich das schönste der Strahlen der Welt auf seinem Gesicht aus. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten wurde ich in eine atemraubende Umarmung gezogen.

Glücklich ließ ich den Kopf an seine Schulter sinken. „Simon hat uns übrigens seinen Segen gegeben. Ich finde also, du solltest mit deiner Meinung über deine Verwandten ein bisschen hinter dem Berg halten“, murmelte ich in seine Schulter. „Es mag dich vielleicht schockieren, aber sie können sich in Löwen verwandeln.“ Leons Brustkorb vibrierte vor Lachen und ich grinste zu ihm hoch.

Unser Kuss schmeckte nach loslassen und nach ankommen.

Epilog

 

In naher Zukunft

 

"Mami?", flüstere ich und taste mich durch das stockdunkle Schlafzimmer bis zum Bett. "Mami? Ich kann nicht schlafen." Die Decke raschelt und eine Hand tastet nach dem Schalter der Nachttischlampe. Mit einem Mal ist es hell im Zimmer. Ich kann Mamas verschlafenes Gesicht und ihre zerwuschelten Haare erkennen. Sie reibt sich über die Augen. Dann hebt sie die Decke und klopft neben sich auf die Matratze.

"Na komm schon her." Glücklich klettere ich zu ihr aufs Bett und schmiege mich an sie. Neben uns dreht sich Paps herum.

"Na, mein kleiner Adler, kannst du nicht schlafen?" Ich nicke zaghaft.

"Der Wind ist so laut." Mama knipst das Licht wieder aus.

"Das ist nur ein Sturm, der geht vorbei. Komm, schlaf jetzt, morgen wird ein aufregender Tag." Sie zieht mich in ihre Arme und wickelt die Decke fest um uns. Wir sind wie in einem Kokon. Einem warmen sicheren Kokon. Leise vor sich hinsummend streicht Mama mir beruhigend über die Haare, bis ich ganz beruhigt einschlafe.

 

Ich schreckte hoch.

"Mama?" Nur ein Traum. Eine Erinnerung, nichts weiter. Ich drehte mich zur Seite und beobachtete Leons Gesichtszüge beim Schlafen. Sie waren so friedlich.

Ich vermisste meine Familie, jeden Tag. Das würde sich auch niemals ändern. Aber hier hatte ich eine neue Familie gefunden. Beruhigt schmiegte ich mich näher an Leons Brust. Er murmelte etwas Unverständliches und legte seine Arme um mich.

Geborgenheit. Liebe. Frieden.

Hier war mein Zuhause.

 

Ende.

Impressum

Texte: SassiX
Bildmaterialien: CC0 Creative Commons//pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die ein Löwenherz haben - oder gerne eins hätten

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