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Das Vorsprechen

„Hören Sie, das war ein Missverständnis. Lea, jetzt sag doch auch mal was!“ Marie stand vor einer langweilig grauen Tür, hinter ihr eine Horde schnatternder Mädchen, vor ihr eine genervte Studioassistentin.

„Ach, sei doch nicht so. Geh da einfach rein und gut ist!“, erklärte Lea leicht geistesabwesend. In Gedanken war sie schon bei ihrer Präsentation. Sie bewegte lautlos die Lippen, als sie ihren Text nochmal wiederholte. Marie stöhnte auf und verdrehte genervt die Augen. Warum war sie überhaupt mitgekommen? Natürlich weil Lea den absoluten Killer-Hundeblick drauf hatte und außerdem ihre beste Freundin war.

Sie wollte gerade zu einem erneuten Protest ansetzen, als sich die schlichte Tür öffnete und ein tränenüberströmtes Mädchen herausstürzte. Also entweder war sie das naivste Ding auf Erden oder da drin saß jemand wirklich fieses. Marie tippte auf eine Kombination aus beidem. Doch bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte ertönte eine harsche Stimme. „Nächste!“ Marie spürte, wie ihr Arm gepackt wurde und sie mit einem „Das bist du!“ in den Raum geschubst wurde.

„Hey!“, motzte sie, während sie ein paar Schritte nach Vorne stolperte. „Das geht auch ein bisschen freundlicher.“

„Stell dich vor das Mikrofon!“ Der Befehl kam aus einem dunkleren Teil des Raumes. Verwirrt blinzelte Marie gegen das Licht, bis sie den schmalen schwarzen Ständer entdeckte. Sie warf einen letzten Blick zur Tür, doch die war längst verschlossen und so beschloss sie mit einem Schulter zucken den Anweisungen zu folgen.

Sie stellte sich hinter das Mikrofon und versuchte wieder die Leute im Dunkeln zu erkennen. Es waren drei, das war aber auch schon das einzige, was sich mit Sicherheit sagen ließ. Marie fuhr sich genervt durch die langen rötlich schimmernden Haare und verdrehte die Augen. Die brauchten es aber auch besonders dramatisch!

„Hören Sie...“, begann das Mädchen und wollte die Situation erklären, damit sie wieder gehen konnte.

„Fragen erst hinterher“, wurde sie rüde unterbrochen. Eine Frau, erkannte sie. „Antworten Sie bitte kurz und präzise.“

Marie zog die Augenbrauen hoch sagte aber nichts mehr. Von Höflichkeit hatten die wohl auch noch nie was gehört.

„Warum denken Sie, dass gerade Sie perfekt für die Rolle sind?“ Die Stimmer war sanfter und klang jünger. Marie blinzelte, doch mehr als Schemen waren nicht zu sehen.

Sie seufzte. „Denke ich ja gar nicht. Das ist auch das, was ich schon die ganze Zeit versuche zu erklären. Ich bin nur wegen meiner perfekt passenden Freundin hier, aber ihre selten dämliche Assistentin da draußen hat das nicht geschnallt!“

Ein leises Lachen ließ ihr einen kleinen Schauer über den Rücken laufen.

„Was machst du dann hier? Was denkst du wer du bist? Verschwendet die einfach meine Zeit!“ Das war wieder der befehlende Typ. „Nächste!“

„Ähm, das war ja wohl nicht meine Schuld“, stellte Marie klar. „Darf ich dann jetzt gehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten drehte sie sich um, doch die sanfte Stimme hielt sie auf.

„Warte bitte.“ Unentschlossen hielt sie inne. Sollte sie warten? Aber eigentlich war sie hier fertig und sie wollte auch gar nicht hier sein. Sie setzte sich wieder in Bewegung, während hinter ihr eifrig gemurmelt wurde.

Sie war schon fast an der Tür, als sie am Arm gepackt wurde. Erschrocken fuhr sie herum und blickte in warme braune Augen.

„Ich denke, du bist perfekt.“ Bitte was?!

Hüterin der Träume

Das Mädchen zitterte. Mit den Armen um die Beine geschlungen hockte sie in einer Ecke der kalten Zelle und weinte still vor sich hin. Ihre nackten Füße waren Dreck verschmiert ebenso wie die Reste ihres ehemals weißen Kleides.

Sie spürte, wie sich jemand vor sie hockte und hob langsam den Kopf. Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln und sie schniefte leise. Das vertraute Gesicht ihres Gefährten verzog sich zu einem sanften Lächeln, doch in seinen Augen las sie Erschöpfung.

»Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll«, flüsterte sie und aus ihren Worten sprach die Verzweiflung.

Er hob die Hand und strich ihr sanft eine Strähne ihres weißblonden Haares hinters Ohr. »Du bist stark. Gemeinsam werden wir es durchstehen. Irgendwann werden sie uns finden und dann wird alles wieder gut.« Seine raue Stimme war fest und zuversichtlich.

»Wie kannst du dir da sicher sein?« Sanft nahm er ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Seine Wärme durchströmte ihre Finger. Kraftvoll und regelmäßig spürte sie das Pochen seines Herzens unter ihren Fingerspitzen.

»Mein Herz sagt es mir. Es ist nicht unser Schicksal hier zu sterben.« Sie nickte zaghaft. »Wenn wir es glauben, dann wird es wahr. Du darfst nur niemals aufgeben zu hoffen. Versprich es mir.«

Sein Blick war fest und unerschrocken. Hoffnung und Zuversicht durchströmten sie wie eine wohltuende Welle.

Entschlossen hob sie das Kinn. »Ich verspreche es. Niemals aufgeben.«

Er lächelte wieder. »Das ist die Prinzessin, die ich kenne. Willst du es also nochmal probieren?«

Sie atmete tief durch und schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren. Neben sich spürte sie die beruhigende Anwesenheit ihres Gefährten.

»Auf jeden Fall. So lange, bis es endlich klappt.«

Ermutigend drückte er ihre Hand. »Egal was passiert, er darf nicht gewinnen!«, flüsterte er.

Das Ende

So sah es also aus. Mein Ende.

Irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt. Größer vielleicht. Irgendwie dramatischer. Nicht so jedenfalls. So heimlich. So angsteinflößend. So ungerecht.

Ich stellte mir vor, wie ich mutig und aufrecht dastehen würde. Blass und zerzaust, aber mit ungebrochenem Willen.

Das Kratzen von winzigen Pfoten auf dem Steinboden ließ mich zusammen zucken. Schaudernd zog ich meine Knie noch näher an meine Brust und klammerte mich mit den Armen daran fest.

Das hier war mein Ende. Dreckig, allein und total verängstigt würde ich einfach hier verrotten. Ganz leise und undramatisch. Dabei war ich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen! Hätte ich doch bloß nicht-

„Pst!“ Ich zuckte zusammen. „Hey, da drüben!“ Verwirrt blinzelte ich in die Richtung aus der das Flüstern gekommen war. Da war ein blasses Gesicht zwischen den Gitterstäben der gegenüberliegenden Zelle.

„Pst!“, machte das Gesicht schon wieder und winkte mich heran. Zögernd, jedoch immernoch meine Beine umklammernd, robbte ich näher zum Gang. Blaue Augen starrten mich durchdringend an. Das dämmrige Licht machte es schwer mehr zu erkennen.

Die Augen huschten kurz nach links und rechts, bevor sie sich wieder auf mich fokussierten. Unter dem durchdringenden Blick war mir etwas unheimlich zumute. "Wer bist du?", fragte ich und ärgerte mich sofort darüber, wie ängstlich ich klang. Aber ich konnte mir nicht helfen. Die endlosen Stunden in der Dunkelheit hatten mich in ein überspanntes Etwas verwandelt.

"Das kommt ganz drauf an."

"Worauf?" Immernoch zittrig. Reiß dich zusammen, Kara!

"Warum bist du hier?" Unter dem prüfenden Blick hatte ich das Gefühl mich keinen Millimeter rühren zu können. Warum nur hatte ich das Gefühl, dass mein Leben von dieser Antwort abhängen könnte? Und was war die richtige Antwort?

"I-ich... es war eine Verwechslung!" Ängstlich hielt ich die Luft an. Ich wusste gar nicht warum mir die Antwort dieser Unbekannten so wichtig war.

"Eine Verwechslung? Heißt das etwa, dass du auf deren Seite bist?"

"Was? Nein! ICh habe mit diesem dämlichen Streit nichts zu tun!" Ich konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken. "Ich will doch einfach nur, dass alles wieder so wird wie vorher." Warum nur? Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Ein paar Leute mit Machtkomplex stritten sich und schon versank das ganze Land im Chaos. Wo war nur die Hoffnung geblieben?

Ein lautes Schnauben ertönte aus der gegenüberliegenden Zelle. "So wie vorher? Du meinst, dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer? Dass sich jeder nur um sich selbst kümmert? Wir leben in einer selbtsüchtigen Gesellschaft, die sich um nichts schert als ihrem Äußeren! Was für ein trostloser und kalter Ort. Ist das die Welt in der du deine Kinder aufwachsen sehen willst? Wenn es das ist, was du dir zurück wünschst bist du entweder naiv oder unglaublich dämlich!" Die Leidenschaft in der Stimme der anderen Gefangenen überraschte mich.

Hatte sie recht? War es dumm sich das Gestern herbei zu wünschen?

"Aber selbst wenn ich es nicht mag... Es war nicht alles schlecht. Und immerhin hat es funktioniert - irgendwie..." Ich zuckte mit den Schultern. Was konnte ein Einzelner schon erreichen? Besonders ich? Ich war schwach und unbedeutend. Wer würde mir schon zuhören.

"Ha! Das hieße sich mit dem Zweitbesten zufrieden geben. Und dazu bin ich noch lange nicht bereit! Jeder hat eine Stimme und jede Stimme zählt! Du würdest nicht glauben, wie viele es gibt, die genauso denken wie ich."

Zweifelnd sah ich sie an. Mehr die so dachten wie sie? Irgendwie glaubte ichdas nicht. Niemand würde sich trauen so etwas laut auszusprechen. Alle hatten zu viel Angst. Es gab zu viele mächtige Männer, denen Gespräche wie diese gewaltig gegen den Strich gingen.

Eine schmale Hand schob sich durch die Gitterstäbe. "Mein Name ist Mia."

Ich zögerte. Das hier war mehr als ein simpler Namensaustausch. Es war ein Bündnis. Ich wusste es und sie wusste es auch. Ohne mein Zutun zuckte meine rechte Hand hoch. Ich musste meinen Arm bis zur Schulter durch das Gitter schieben, um Mias Hand zu erreichen.

"Kara." Der Händedruck war erschreckend fest.

"Schön dich kennenzulernen, Kara." Die Hand verschwand wieder in der Dunkelheit. "Dann können wir uns ja jetzt den wichtigen Fragen zuwenden."

"Zum Beispiel?"

"Zum Beispiel wie wir hier am Schnellsten rauskommen. Irgendwelche Ideen?"

Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus und vertrieb die ängstliche Spannung. Ich hatte keine Ahnung wieso, aber ich vertraute Mia. Ich wusste nicht, ob ich jemals aus diesem Verlies herauskommen würde, doch mit Mia war die Möglichkeit wieder in mein Leben getreten. Ein unaufhaltsames Lächeln wollte sich auf meinen Lippen ausbreiten. Erschrocken schlug ich die Hand vor den Mund. Was war nur mit mir los? Wurde ich etwa doch verrückt?

Ich fühlte mich ganz leicht. So als wäre alles auf einmal weniger schlimm. Irgendwie war alles weiter weg. Irgendwie kleiner, irgendwie -

"Ich nenne es Hoffnung." Ich konnte das Lächeln in Mias Stimme hören.

Irgendwie hoffnungsvoll.

Hexenjagd

Winter 1163, nicht weit von Breslau

Die Nacht war ungemütlich und kalt. Der scharfe Wind jagte die Wolken vor sich her und erzeugte verwirrende Schattenspiele auf dem endlos scheinenden Weg. Es war eine denkbar schlechte Zeit zum Reisen, doch die einsame Reiterin kümmerte sich nicht darum. Unerbittlich jagte sie ihr Pferd den unebenen Pfad entlang, der Wind peitschte durch ihre offenen Haare und zerrte sie in alle Richtungen. Die junge Frau ließ sich davon nicht irritieren. Sie wollte einfach nur weg, ihre Vergangenheit und vor allem ihre Gefühle hinter sich lassen. Gefühle, die sich so richtig anfühlten, und doch so falsch waren.

„Ich liebe dich.“ Seine Stimme dröhnte in ihrem Kopf. „Geh nicht.“ Sie kniff die Augen zusammen. Sofort hatte sie sein vertrautes so sehr geliebtes Gesicht vor Augen. Seine braunen Augen sahen sie flehend an und sein Mund formte die verhängnisvollen Worte: „Ich liebe dich.“ Worte, die alles bedeuteten und alles zerstörten. Ich liebe dich auch, wollte sie schreien, wollte es der ganzen Welt sagen, doch das war unmöglich. Er war doch ihr Bruder.

Das Pferd stolperte und sie riss die Augen wieder auf, während Tränen darin brannten. Es ist besser so, sagte sie sich, es war die richtige, die einzige Entscheidung. Doch ihr Herz sprach eine andere Sprache und nicht einmal in ihren Gedanken hörte es sich überzeugend an. Schon jetzt sehnte sie sich so sehr nach Zuhause.

Sie könnte umdrehen, es war noch nicht zu spät. Sie wusste, er würde auf sie warten, sie in seine Arme schließen und alles wäre wieder gut. Aber es ging nicht. Es durfte nicht sein. Sie durfte nicht nur an sich denken. Ihn zu verlassen war ihre einzige Option. Es war besser, ihre Eltern verloren ihre Tochter, als ihr Leben.

Er würde sie natürlich suchen, so viel war sicher. Er würde nicht einfach aufgeben, das sähe ihm nicht ähnlich. Er würde hartnäckig sein, deshalb musste sie gut aufpassen, vorsichtig sein.

Es war eine Flucht, die sie in die Nacht hinaus trieb, in der Hoffnung genug Vorsprung zu bekommen und gleichzeitig mit dem Wunsch im Herzen er würde sie finden und aufhalten. Aber es geschah nicht und es war besser so. Das sagte sie sich immer wieder. Um die zu schützen, die sie am meisten liebte. Sie musste sich verstecken und hoffen. Dass er vergessen konnte, ein besseres Leben zu führen in der Lage war.

Für sich machte sie sich keine Hoffnungen. Sie war eine Frau, alleine in einer dunklen Welt. Und sie wusste, sie würde niemals vergessen.

Jakob.

 

Sommer 1167, Köln

Sie war auf dem Marktplatz, als sie die Neuigkeit erfuhr. Sie hörte es nur zufällig und hätte es gar nicht wahrgenommen, doch ein bekannter Name ließ sie aufhorchen.

„Morgen beginnen sie schon früh mit dem Aufbau. Vielleicht ist ihnen eine helfende Hand ein paar Taler wert.“

„Wer weiß. Auf jeden Fall sind sie gut für's Geschäft. Weißt du, wie viele Bedienstete und Soldaten die Herrschaften dabei haben? Das ist eine ganze Armee, und die will ja irgendwie versorgt werden.“

„Ja, das stimmt... Aber hättest du das gedacht?“

„Und das in unserem friedlichen Städtchen!“

„Ich kann gar nicht glauben, dass die alte Becky eine Hexe sein soll.“

„Meine Frau war letztens noch bei ihr, du weißt ja, sie hat's im Rücken...“

„Schlimme Sache.“

„Ja, jedenfalls hat sie erzählt es war richtig unheimlich und die Alte hat die ganze Zeit so unsinniges Zeug vor sich hingemurmelt.“

„Das wir das nicht schon früher gemerkt haben...“

„Unglaublich!“

Die beiden Männer wechselten bald das Thema und sie konnte ihren Lauschposten unauffällig verlassen. Wutentbrannt stürmte sie über den Platz. Diese ungebildeten Dummköpfe! Die alte Becky eine Hexe? Das war, als würde man einen Fuchs beschuldigen ein Baum zu sein. Ein Ding der Unmöglichkeit. Sie verfluchte den ängstlichen Nichtsnutz, der dieses unsinnige Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Becky war nur eine liebe hilfsbereite Frau, die sich mit Kräutern auskannte. Damit hatte sie schon mehr als einem dieser undankbaren Taugenichtse das Leben gerettet.

Überhaupt war diese ganze Hexen-Hysterie doch totaler Quatsch. Unter dem Deckmantel des Gerichts wurden unliebsame Leute beseitigt. Ob dabei auch Unschuldige hingerichtet wurden war egal. Der Zweck heiligte die Mittel und je größer das Spektakel war, desto weniger Leute hinterfragten es.

„Annabel! Annabel, jetzt warte doch!“ Erst als sie am Arm gepackt wurde blieb die Junge Frau stehen. Sie hatte sich immer noch nicht an den Namen gewöhnt. Neue Stadt, neuer Name, das war die Regel, die sie die letzten Jahre am Leben gehalten hatte. Wer sie vorher war, existierte nicht mehr. Das hieß jedoch nicht, dass sie vergessen konnte.

„Kathi“, begrüßte sie die junge Frau und rang sich ein Lächeln ab. „Schön dich zu sehen.“

„Wie auch immer“, winkte die andere ungeduldig ab. „Ich muss dir was Wichtiges...“ Sie brach ab, kniff die Augen zusammen und zischte dann: „Widerling auf zwölf Uhr!“

Annabel zog die Augenbrauen hoch. „Was?“

„Dein Verehrer ist im Anmarsch und er sieht heute besonders widerlich aus.“

„Na toll“, stöhnte Annabel. „Das fehlte mir gerade noch.“ Katharina sah sie fragend an, doch bevor sie ihr alles erklären konnte, trat ihr persönlicher Albtraum an sie heran.

„Oh, schöne Annabel. Du siehst heute wieder besonders bezaubernd aus.“
In der Hoffnung, ihn möglichst schnell abzuwimmeln schenkte sie Martin nur ein äußerst abweisendes Lächeln. Doch da er ihrer kühlen Art nun schon seit Wochen mit unverfrorener Aufdringlichkeit begegnete, machte sie sich keine großen Hoffnungen. Jetzt sah er sie erwartungsvoll an. Vielleicht würde Schweigen ihn vertreiben. Immerhin hatte er ihr auch keine Frage gestellt.

Eigentlich war Martin kein schlechter Fang. Tatsächlich gab es viele Mädchen, die Annabel um seine Aufmerksamkeit beneideten, denn er war nicht nur reich, sondern sah auch sehr akzeptabel aus. Dass er schon längst kein junger Mann mehr war und außerdem keine Neigung zeigte seine kurzen Eroberungen zugunsten einer Hochzeit aufzugeben, war den meisten in ihrem Ehrgeiz ganz egal.

Auch unter seinen Kollegen, den Kaufmännern, hatte er nicht unbedingt den besten Ruf. Er galt als unzuverlässig und gierig. Außerdem war Annabels Herz schon längst vergeben. Sie könnte diese Liebe nicht vergessen, auch wenn sie sie ganz tief in sich vergraben hatte. Und eine Hochzeit käme ihr wie ein Betrug vor. Das wäre weder ihrem Ehemann noch ihr gegenüber gerecht.

Warum Martin sich ausgerechnet Annabel ausgesucht hatte, um ihr seine Gunst zu erweisen, blieb ihr und ihren Neidern allerdings schleierhaft. Einzig Kathi konnte seine Aufmerksamkeit, wenn schon nicht billigen, so wenigstens verstehen.

„Du bist die geheimnisvolle Schöne“, war stets ihre Antwort und dabei zupfte sie bedeutsam an den auffällig kupferroten Haaren ihrer Freundin, die sich in einem Wasserfall aus Locken über ihren Rücken ergossen. „Du solltest öfter grün tragen“, fügte sie regelmäßig hinzu. Annabel reagierte auf diese Begeisterung immer eher zurückhaltend. Die Farbe ihrer Haare hatte ihr schon oft Schwierigkeiten eingebracht. Teufelsfarbe nannten die Leute das rot, Hexenwerk. Sie bemühte sich immer, sie zu verstecken.

„Was willst du?“, fragte Kathi in das unangenehme Schweigen hinein.

Martin warf ihr einen kurzen Blick zu, sah dann jedoch wieder Annabel an. „Ich sah dich hier stehen und musste dir einfach ein Kompliment machen.“

„Danke“, murmelte sie und drehte sich unmerklich von ihm weg.

„Habt ihr schon von der Festnahme gehört? Die Hinrichtung wird garantiert ein tolles Spektakel!“ Er lächelte versonnen. „Und sie soll schon morgen stattfinden. Ungewöhnlich, diese Eile, aber nur richtig. Diese Hexen müssen entlarvt werden, bevor sie eine echte Gefahr werden können.“ Während seiner Worte hatte sich Annabel immer mehr angespannt.

Schon morgen? Ihr Kopf schwirrte. Sie musste etwas tun. Sie konnte und wollte nicht dabei zusehen, wie eine Unschuldige auf diese grausame Weise starb. Sie schüttelte sich innerlich. Welcher grausame Mensch hatte sich den Verbrennungstod als Strafe ausgedacht? Das war so unnatürlich.

„Ich hoffe, ihr kommt auch. Das sollte man wirklich nicht verpassen. Es ist so eine Ehre für unsere Stadt! Der Bischof höchstselbst ist gekommen. Das ist ein historisches Ereignis.“

Annabel wurde übel. Auch Kathi verzog angewidert das Gesicht. Martin bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken, er plauderte fröhlich weiter.

„Verzeihung“, brachte Annabel schließlich hervor. Martin hielt erstaunt in seinem Monolog inne. „Mir ist nicht so gut. Ich werde besser nach Hause gehen.“

„Soll ich dich begleiten?“, bot er fürsorglich an, doch die Rothaarige packte schnell den Arm ihrer Freundin.

„Nein, schon gut. Kathi begleitet mich. Danke.“ Sie kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. Noch mehr selbstgefälliges Gerede konnte sie jetzt nicht ertragen.

„Ja, genau.“ Zum Glück schaltete die junge Frau schnell. Auch sie wollte dem Gespräch so schnell wie möglich entfliehen.

„Nun gut, dann bis bald.“ Die Frauen warfen ihm nur ein schnelles Lächeln zu und eilten dann quer über den Platz.

In der Mitte des Platzes liefen die Vorbereitungen für den nächsten Tag schon auf Hochtouren und Annabel wandte die Augen ab. Sie konnte diesen Anblick nicht ertragen.

Sobald sie in einer der Gassen verschwunden waren, atmete Annabel erleichtert aus.

„Zum Glück sind wir ihn los. Ich verstehe einfach nicht, was er von mir will. Ich habe ihn doch in keinster Weise ermutigt... oder?“

Kathi lächelte verständnisvoll. „Ich glaube, gerade das ist das Problem.“ Annabel sah nun noch verwirrter aus und Kathis Lächeln wurde breiter. „Sieh mal: Du bist eine junge hübsche Frau im heiratsfähigen Alter. Aber egal, wie die Männer sich um dich bemühen, du bleibst immer abweisend.“

„Ja und?“

„Na ja... du bist halt eine Herausforderung für sie!“, platzte die Blonde schließlich heraus. „Und gerade Martin ist ein schlechter Verlierer. Er wird nicht aufgeben bis er dich gewonnen hat. Sozusagen.“

Annabel seufzte. Vielleicht wäre es mal wieder an der Zeit den Ort zu wechseln. Sie war jetzt schon ein Jahr hier. Das war die Längste Zeit, die sie seit ihrer Flucht in einer Stadt verbracht hatte. Am Anfang war sie höchsens zwei Monate geblieben. Zu groß war die Angst und gleichzeitig die Hoffnung – diese dumme, nicht zu vertreibende Hoffnung – gewesen, dass er sie aufspüren würde.

Er. Jakob. Sie seufzte. Geliebter und Bruder. Selbst nach all den Jahren hatte sie ihn nicht vergessen. Wie er jetzt wohl aussah? Was er wohl gerade tat? Ob er sie schon vergessen hatte? Es war sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ja, sie musste unbedingt weiter ziehen. Morgen. Heute Nacht hatte sie noch etwas zu erledigen.

 

Es war Neumond, was ihr Vorhaben sehr begünstigte. Trotzdem hatte Annabel lange auf die Dunkelheit warten müssen, die sich im Sommer nur langsam ausbreitete. Doch schließlich war es so weit.

Die angeklagten Hexen wurden in stabilen Holzkäfigen vor den Toren der Stadt gefangen gehalten. Da sie wusste, dass es nachts ohne Sondererlaubnis so gut wie unmöglich war, die Tore der Stadt zu passieren, egal in welcher Richtung, hatte sie sich schon zur Abendzeit auf den Weg gemacht.

Es war ein Wunder, dass sie es in all den Jahren immer geschafft hatte, genug Geld für sich und ihr Pferd aufzutreiben, aber das Wunder war geschehen. Ohne den pechschwarzen Wallach wäre sie nicht so weit gekommen.

Seine auffällige Zeichnung, eine Blesse, die die rechte Hälfte seines Kopfes bedeckte, war zwar ein Risikofaktor, doch sie konnte es nicht über sich bringen, auch ihre letzte Verbindung nach Zuhause einfach zu verkaufen. Er war ihr bestes Heilmittel gegen Heimweh und hatte sich als treuer Freund erwiesen.

So auch heute Nacht.

Im Schutz der Dunkelheit schlich sie sich an die hölzernen Käfige heran. Sie wurden nur spärlich bewacht. Die Mauerwache schaute einmal auf ihrer Runde vorbei, doch auch das war eigentlich unnötig. Die Menschen hatten viel zu viel Angst, sich der Hexe zu nähern. Sie war ein unheimliches Märchen, dass vor den Toren der Stadt lebendig geworden war. Wenn überhaupt, dann wurde sie aus sicherer Entfernung beschimpft, verspottet und mit faulem Obst beworfen, denn die Furcht vor einem Fluchwort war groß. Aber die Mehrheit machte einfach einen großen Bogen um diesen Ort, erst recht nachts.

Annabel sollte es nur recht sein. So stand ihrer Rettungsaktion nichts im Weg.

Vorsichtig näherte sich Annabel den hölzernen Gebilden. Das fahle Mondlicht warf lange undurchdringliche Schattenbilder und ihre Schritte klangen verräterisch laut in ihren Ohren. Wenige Schritte vor ihrem Ziel hielt sie inne und lauschte angestrengt. Doch sie hörte nichts und der Rappe prustete ruhig vor sich hin. Erleichtert warf die junge Frau einen letzten Blick nach links und rechts, bevor sie die restliche Strecke zurück legte. Im letzten Käfig der Reihe entdeckte sie die zusammen gesunkene Gestalt ihrer Freundin. Erschrocken eilte sie an das Gefängnis und umklammerte die glatten Holzstreben.

„Becky!“, rief sie halblaut und senkte mit einem raschen Blick über die Schulter die Stimme.

„Becky“, flüsterte sie ein weiteres Mal eindringlich. Endlich kam Bewegung in die schmale Gestalt. Ein fahles eingefallenes Gesicht tauchte aus den Falten eines dünnen Mantels auf.

„Annabel?“, krächzte die alte Frau.

Annabel lächelte. „Ja, ich bin's. Ich hole dich hier raus.“

„Nein!“ Schneller als erwartet war die Gefangene auf den Beinen und stand Annabel auf der anderen Seite des Gitters gegenüber. „Du musst gehen! Es ist viel zu gefährlich! Wenn sie dich hier entdecken...“

„Deshalb müssen wir uns beeilen“, fiel ihr die Jüngere ins Wort. Ohne auf weitere Proteste zu achten, machte sie sich an dem Metallriegel zu schaffen. Er schien nachlässig mit einem Seil gesichert, das sich bei genauerer Untersuchung jedoch als erstaunlich widerstandsfähig erwies. Egal wie sehr sie auch zog und zerrte, der Knoten wollte sich einfach nicht lösen.

„Gib es auf. Es wird nicht klappen. Geh lieber und rette dich. Geh!“

„Nein!“, zischte Annabel und machte verbissen weiter. „Ich lasse das nicht zu!“ Sie bemerkte, dass sich der Strick langsam an einer Kante aufscheuerte und machte mit neuer Energie weiter. „Sie werden morgen nicht noch eine Unschuldige töten!“ Daraufhin verstummte Becky und sah der Jüngeren schweigend zu. Kurz darauf löste sich die letzte Faser mit einem Ruck und Annabel stolperte einen Schritt zurück. Sie fing sich schnell wieder und schob den Riegel nach oben.

„Los, komm, mein Pferd steht dort Vorne!“

Die Befreite schob sich erstaunlich flink durch die Tür und folgte ihrer jungen Freundin. Sobald sie das Pferd erreichten, machte sich Annabel an den Zügeln zu schaffen. Sie bedeutete Becky, zuerst aufzusteigen, und half ihr in den Sattel.

Plötzlich ertönte hinter ihnen eine Männerstimme. „Halt! Wer da?“

Annabel fuhr herum. Die Wache! Gleich war sie hier, sie konnte schon das Trampeln der Stiefel hören. Sie sah hoch in das erschrockene Gesicht der alten Frau. Ihr blieb keine Zeit etwas zu sagen. Entschlossen versetzte sie dem Wallach einen Schlag auf die Kruppe. Das Pferd gab ein erstauntes Wiehern von sich, bevor es losstürmte. Auf seinem Rücken die zusammen gekauerte Gestalt einer Frau. Annabel drehte sich um.

Vielleicht sollte es so enden.

Hier.

Jetzt.

 

Nicht weit entfernt

Jakob war müde.

Nicht nur, weil es spät war und er immer noch keine Herberge gefunden hatte, sondern einfach durch und durch erschöpft. Er hatte nicht gewusst, dass Müdigkeit ein so umfassendes Gefühl sein konnte.

Mit der Müdigkeit kam die Hoffnungslosigkeit. Es war schon so lange her, dass Kristina von Zuhause fortgelaufen war. Zuerst war er erleichtert. Traurig, aber erleichtert, denn sie jeden Tag zu sehen und doch zu wissen, dass er seine Gefühle für sie niemals zeigen durfte – es war reine Folter. Also hatte er sie schließlich gehen lassen. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, nicht weiter nach ihr zu suchen, als auch alle anderen aufgaben.

Er war in einer tiefen Dunkelheit versunken, einem Loch aus Verzweiflung und Einsamkeit, aus dem ihn nichts herausziehen konnte. Niemand hatte ihm sagen können, dass Liebe derart schmerzen konnte. Er hatte sich geschworen zu vergessen, weiterzuleben, vorwärts zu kommen, nie wieder zu lieben.

Doch dann kam der glücklichste Tag seines Lebens. Er erinnerte sich in aller Deutlichkeit, obwohl es schon beinahe zwei Jahre her war, dass er seine Suche wieder aufgenommen hatte. Seitdem reiste er durch das ganze Reich und hatte Gebiete besucht, von denen er nicht gewusst hatte, dass sie existierten.

Ihre Spur führte ihn quer durch das Land. Jetzt war er kurz vor den Toren der Stadt Köln. Dorthin führte ihn der letzte Hinweis, doch die Erfahrung hatte ihn gelehrt, nicht zu viele Erwartungen zu hegen. Wahrscheinlich war sie nicht mehr dort und selbst wenn, er würde sie in dieser riesigen Stadt niemals finden.

Hektisches Hufgetrappel riss ihn aus seinen Gedanken. Vorsichtshalber trieb er seine Stute an den Wegrand. Man wusste nie, was für Gesindel sich um diese Zeit auf den Straßen herumtrieb.

Aber was dann um die Ecke stürmte, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen, um dann umso schneller wieder einzusetzen. Er kannte dieses Pferd!

„Kristina“, stieß er atemlos hervor. Dann noch einmal, lauter diesmal: „Kristina!“ In diesem Namen schwangen alle Gefühle mit, die er die letzten Jahre mit sich herumgeschleppt hatte. Doch das Pferd wurde nicht langsamer.

Entschlossen sprang Jakob aus dem Sattel. Er würde ihr nicht noch einmal die Chance geben, zu entkommen. Er stellte sich mitten auf den Weg und riss die Arme hoch. Das Tier rollte panisch mit den Augen und kam kurz vor ihm rutschend zum Stehen.

Jakob ergriff die Zügel und eilte an die Flanke des Tieres. Jetzt gab es für ihn keine Zweifel mehr. Es war Kristinas Pferd.

„Kristina“, flüsterte er erneut und griff nach dem Arm der zusammen gesunkenen Gestalt.

Eine alte Frau hob den Kopf und sah ihn verwirrt an.

Jakob erstarrte und spürte, wie sich ein kalter Ring um sein Herz legte. Er packte die Schulter der Unbekannten und schüttelte sie energisch. „Wer bist du und was hast du mit Kristina gemacht?!“

 

Kristina spürte, wie der grobe Strick ihre Hände und Fußgelenke aufscheuerte, doch diese Schmerzen waren nichts, verglichen mit dem, was sie die vergangenen Tage hatte ertragen müssen. Ihr Körper war übersät mit Striemen, ihre Lippe aufgeplatzt und jeder Schritt war eine Qual. Die Rufe aus der Menge hörte sie schon gar nicht mehr.

„Hexe!“

„Satansbrut!“

„Teufelskind!“

„Mörderin!“

Alle Geräusche drangen nur gedämpft an ihre Ohren. Ein Mann trat neben sie und Kristina straffte die Schultern. Er würde gleich die Anklage verlesen. Sie wollte schreien, allen erklären, was für eine große Lüge dies alles war, dass es so etwas wie Magie nicht gab und auch nie geben würde, doch sie blieb stumm.

Die letzten Tage hatte sie nur der Gedanke an Beckys erfolgreiche Flucht am Leben erhalten. Sie hoffte, dass diese ganze Hysterie bald aufhören würde und Becky einen Ort finden würde, wo sie in Frieden leben könnte. Sie selbst fühlte sich seltsam frei, jetzt, im Anblick des Todes. Es war richtig, dass sie an der Stelle ihrer Freundin sterben sollte. Wenigstens würde ihr Leben mit einer noblen Tat enden. Vielleicht wog das für ihre Sünden auf.

Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Sie hatte sich den Tod nie so einsam vorgestellt.

"... durch Verbrennung. Dieses Urteil wird unter der Autorität des Bischofs von Köln am heutigen Tage ausgeführt. Fackelträger!" Der Mann beendete den Urteilsspruch und stieg von dem hölzernen Podest, auf dem sie stand. Undeutlich nahm sie den goldenen Schein der Fackeln wahr, die sich dem aufgestapelten Holz näherten. Sie ließ ihren Blick ein letztes Mal über die Menge schweifen. Diese Menschen bedeuteten ihr nichts. Was für eine jämmerliche Art zu sterben, dachte sie plötzlich. Umgeben von so viel Hass und Leid und Ungerechtigkeit.

Plötzlich sah sie ein vertrautes Gesicht in der Menge aufblitzen. Jakob? Schnell unterdrückte sie die aufkeimende Hoffnung. Natürlich war er es nicht. Doch auf einmal machte sich Unruhe in der Menge breit. Ein Mann drängelte sich unter lauten Rufen nach vorne. "Haltet ein", schrie er wieder und wieder. "Haltet ein!" Verwirrt stockten die Fackelträger in ihrem Gang und sahen sich nach ihrem Befehlshaber um. Doch bevor dieser ihnen befehlen konnte weiterzumachen, hatte der Mann das Podest erreicht.

"Jakob!", keuchte Kristina entsetzt. Jakob war mit einem Sprung auf der Plattform und überwand die Distanz zwischen ihnen in zwei großen Schritten.

"Kristina." Seine Hände legten sich auf ihre Wangen und ein Lächeln erhellte sein erschöpftes Gesicht.

"Was tust du hier? Wie hast du mich gefunden?" Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus.

"Junger Mann!" Die dröhnende Stimme ließ beide zusammenzucken. Jakob drehte sich um und sah sich vier gezückten Schwertern gegenüber. "Junger Mann, diese Frau ist eine Hexe. Also weg von ihr, damit wir ihr nutzloses Dasein beenden können!", sagte einer der Soldaten barsch.

Jakob straffte die Schultern. "Nun, es tut mir leid Eure Pläne zu durchkreuzen, guter Mann." Kristina schnaubte und fing sich einen warnenden Blick von Jakob ein. "Aber ich liebe diese Frau und ich werde Euch nicht erlauben meine Verlobte zu verbrennen!" Ein Teil von ihr wollte jauchzen und springen, während der Rest ihm einfach nur den Hals umdrehen wollte. Warum hatte er sie nicht einfach in Ruhe sterben lassen können, anstatt ihnen beiden ein Leben in Schande zu bescheren? Doch ein weiterer Blick von Jakob ließ Kristina stumm bleiben.

Inzwischen hatte der Bischof die Bühne betreten. "Ist das wahr?", wandte er sich an Jakob. "Ihr gedenkt diese Frau zu heiraten?"

"Ja. Ich liebe sie."

"Nun", erklärte der Bischof. "In diesem Fall werden wir wohl dem Gesetz folgen müssen. Aber ihr haltet eure Zukünftige lieber unter Kontrolle." Er machte eine Handbewegung zu den Soldaten und kurz darauf fühlte Kristina wie sich der Druck an ihren Händen löste. Erleichtert fiel sie Jakob in die Arme. Und sobald sie die Wärme seiner Umarmung spürte, lösten sich die ersten Tränen aus ihren Augen.

"Was hast du nur getan Jakob? Ich kann nicht! Ich kann dich nicht heiraten. Es geht einfach nicht hörst du?", schluchzte sie in sein Hemd.

"Nein, du hörst mir jetzt mal zu. Wir sind keine Geschwister." Sie hob ihren tränenverschleierten Blick. "Mutter und Vater haben mir alles erzählt. Meine wahren Eltern sind im Krieg gestorben. Sie waren gute Freunde deiner Eltern und deshalb haben sie mich aufgenommen und beschlossen, uns wie Geschwister großzuziehen."

"Ist das wahr?", fragte Kristina zaghaft. Mein ganzes Inneres zog sich zusammen. Konnte es sein? Konnte es wirklich sein? Ihre Gefühle keine Abartigkeit, sondern erwidert?

"So wahr ich hier stehe." Sie fühlte sich, als würde ihr Inneres zerbrechen und wieder neu zusammengesetzt werden. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus und sie schmiegte sich ganz nah an Jakob.

"Ich liebe dich", flüsterte Kristina. Endlich konnte sie diese Worte ohne Scham sprechen. Sie hatte so lange auf diesen Tag gewartet und doch niemals zu hoffen gewagt, dass er jemals kommen würde. "Ich liebe dich so sehr."

"Ich liebe dich auch."

Der Mann im schwarzen Mantel

 

Der Mann erregte großes Aufsehen, als er über den asphaltierten Vorplatz des Schiller Gymnasiums schritt. Er trug einen schlichten schwarzen Mantel, der sorgfältig zugeknöpft war, und eine verspiegelte Sonnenbrille, an denen die neugierigen Blicke und das verstohlene Getuschel der Schüler abprallten. Sein Gesicht blieb unbewegt, während er sich seinen Weg durch die Schülergruppen bahnte, die ihm bereitwillig Platz machten.

Alle spürten – ob bewusst oder unbewusst – die Spannung in der Luft. Es war als hielte die Welt für ein paar Sekunden die Luft an. Dann trat der Mann durch die Eingangstüren und man hörte die Erleichterung in den Stimmen der Jugendlichen.

„Mann, war das unheimlich!“, sagte ein Junge und schüttelte sich unwillkürlich.

„Was?“ Fragen sah sein Freund von den bekritzelten Blättern auf.

„Na, der Mann eben gerade.“ Er machte eine unbestimmte Handbewegung Richtung Tür. Der Ausdruck seines Gegenübers wurde noch verwirrter.

„Hä?“, machte er.

Der Erste winkte ab. „Egal, lern lieber weiter.“

 

Inzwischen war der schwarz gekleidete Mann zielstrebig auf das Sekretariat zugegangen. Dort fand er eine mürrisch aussehende Frau vor.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Frau Meier barsch. „Die Rektorin ist gerade außer Haus.“

„Ich suche zwei Schüler.“ Die Stimme des Fremden war kratzig. Er hatte sie lange nicht genutzt. So viele Jahre waren vergangen, seit er sich an die Oberfläche gewagt hatte. „Zwillinge. Ungefähr 18 Jahre alt.“

Der Blick der Frau wurde wenn möglich noch grimmiger. „Sie meinen bestimmt Tom und JJ. Was haben die beiden jetzt schon wieder kaputt gemacht? Warten Sie einen Moment, ich lasse die Zwei ausrufen.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten beugte sie sich vor und drückte auf einen roten Knopf. „Tom und JJ ihr meldet euch jetzt sofort im Sekretariat!“ Sie wandte sich wieder an den Besucher. „Sie sind gleich da.“

„Danke. Ich werde draußen auf sie warten.“ Er schloss die Tür fest hinter sich und lehnte sich daneben an die Wand.

Gefallene Stadt

Sie ließ ihre Haare wie einen schützenden Vorhang zwischen sie fallen.

„Ich denke, das ist keine gute Idee“, flüsterte sie.

Er strich vorsichtig ein paar der glatten Strähnen hinter ihr Ohr. „Warum?“, fragte er sanft und hob ihr Kinn leicht an, doch ihre Augen blieben gesenkt.

„Weil…“, sie stockte, als er einen halben Schritt näher kam.

„Weil…?“, raunte er ihr ins Ohr und sein warmer Atem löste eine Gänsehaut auf ihrem Hals aus. Ihr Kopf war wie leer gefegt. „Versuch, zu vergessen, kleine Blume.“

Plötzlich drehte sie sich weg und stützte sich auf dem Fensterbrett ab. Da war es wieder, dieses Wort: vergessen. Tief atmete sie die klare Nachtluft ein. Über der dunklen Stadt funkelten die Sterne.

„Ich wünschte, ich könnte es“, seufzte sie leise in die Dunkelheit, doch er hatte sie gehört.

„Könntest was?“

„Vergessen.“ Wie angenehm es wäre, wie wohltuend. Die leichte Leere des Vergessens.

„Wieso kannst du es nicht?“

Sie drehte sich langsam wieder um. Er war ein paar Schritte zurückgetreten, die Schatten verdeckten ihn fast.

Sie lächelte gequält. „Ich habe nicht die Freiheit zu vergessen.“ Sie machte eine Handbewegung, die die ganze Stadt einschloss. „Wir haben nicht die Freiheit zu vergessen.“ 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Am Ende wird alles gut sein und wenn es nicht gut ist dann ist es nicht das Ende. Auf das wir alle unser Happy End erleben!

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