Cover

Gesammelte Werke (unvollständig)

Teamfindung am Montag

Liebes Tagebuch,
heute ist Montag. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hat sich die Geschäftsleitung mal wieder etwas ganz Besonderes einfallen lassen.
Anstatt uns mit den immer gleichen Memos und aktuellen News für das anstehende Sommerfest zu quälen, wollten die Damen und Herren der oberen Etage etwas für das gemeinsame Wohlbefinden und Motivation der Belegschaft tun.
Zu diesem Zweck wurde extra ein hochbezahlter Unternehmenscoach eingekauft, der den Zusammenhalt der Belegschaft stärken soll.
Nun, so eine Veranstaltung ist immer noch besser als sich durch den Wust an Arbeit zu quälen, welcher mich von meinen wohlverdienten Kaffeepausen und dem lesen der Sportnachrichten im Internet abhält.
Wir fanden uns also im Besprechungsraum ein, der sinnigerweise mit kaputtem Fenster und ohne Klimaanlage ausgestattet ist, dafür aber auf der Sonnenseite des Gebäudes liegt, was zur Mittagszeit tropische Temperaturen garantiert..
Nach einem wortreichen Eröffnungsbeitrag des Mental-Coach und dem unvermeidlichen „wir lernen uns jetzt mal alle ganz doll kennen, obwohl wir uns seit 6 Jahren täglich 8-12 Stunden sehen“- Spiels, sollte jeder seine aktuellen Gefühle zur Sprache bringen.
Kollege R. rollte mit den Augen, gefolgt von einem verächtlichen Schnaufen, was die sensible Kollegin J. auf die Palme trieb. Es folgte eine kurze aber heftige Diskussion über das für und wider verächtlichen Schnaubens im Berufsalltag, was R. durch den massiven Gebrauch diverser Kraftausdrücke eindeutig gewann. J. zog sich schmollend zurück und der Mental-Coach versuchte durch gütiges Lächeln und beschwichtigende Worte die Wogen der Erregung zu glätten. Mit mäßigem Erfolg.

Kollege D. aus der Buchhaltung baute gelangweilt an dem Inhalt eines Überraschungseis, T. vom Betriebsrat wollte durch Fleiß auffallen und machte sich zu jedem noch so unwichtigen Thema Stichpunkte in dem akkurat gepflegtem Notizblock.
Azubi E. wurde dann angewiesen, seine Rolle in der Firma darzulegen.
Er kritisierte, dass er das Auto von R. jeden Mittwoch bei gutem Wetter waschen solle und dass ja wohl nicht zu seinen Ausbildungsaufgaben gehöre. Die ebenfalls anwesende Kollegin aus der Geschäftsführung bemerkte daraufhin, dass man mit Kollege R. nochmal drüber reden werde, R. wiederum bedachte Azubi E. mit einem eiskalten Blick, der nichts Gutes für E´s zukünftigen Verbleib in der Abteilung aussagte.
D. baute derweil noch immer teilnahmslos an dem Inhalt seines Ü-Eis und kam eindeutig nicht voran. „Nicht für Kinder unter 3 Jahren und Buchhalter geeignet“ feixte Kollege B. aus der EDV.

Der Mental-Coach versuchte abermals gute Stimmung zu verbreiten indem er uns einen Motivationsfilm über eine Truppe vom Seatteler Fischmarkt zeigte.
Kollege R. rang mit der Fassung. Was der Quatsch denn jetzt solle, er hätte noch genug zu tun, als seine Zeit mit dem Mist zu verschwenden und überhaupt: Wann käme denn eigentlich die Einladung für das Sommerfest. Er hätte schließlich noch andere Termine im Voraus zu planen.

Wie die Wilden fingen sich nun alle an zu streiten. Ein Ü-Ei flog über den Tisch und verfehlte den EDV-Muckel nur ganz knapp am linken Ohr. Kollegin J brach in Tränen aus. R. hatte den Azubi im Schwitzkasten. Die Assistentin der Geschäftsleitung ruderte hektisch mit Armen und der Mental-Coach versuchte noch gestenreich Ruhe in das Handgemenge zu bekommen, ehe er unsanft von Betriebsrat T. mit dem aufgebauten Flipchart ins Reich der Träume geschickt wurde.

Ich verzog mich derweil in den Innenhof um meine Pause etwas „auszudehnen“ und Zeitung zu lesen. Wann begreifen die es da oben endlich? Niemals nicht sollten Teamfindungsseminare auf einen Montag gelegt werden. Die Leute sind einfach zu gereizt.

Auf eine schöne Arbeitswoche liebes Tagebuch.

 

 

 

Tagebucheintrag Nr.126

 

Liebes Tagebuch,

seit Stunden liegst du vor mir.
Ein weißes Blatt Papier, leblos und ungefüllt.
Lechzend nach Zeilen, Worten, nach greifbaren Gedanken.
Eine Zigarette nach der anderen findet ihren Tod in meinem Aschenbecher.
Ein Teebeutel verendet in den Weiten einer leicht ausgeblichenen Tasse aus dem letzten Jahrtausend.
Im Hintergrund singt Tocotronic vom Mittelmaß und dem Pfad der Dämmerung.
Kreativität ist ein Arschloch, liebes Tagebuch.
Sie sollte eine Hure sein, die auf Bestellung kommt und dir die tiefsten Abgründe offenbart.
Tut sie aber nicht.
Draußen werfen Kinder Kieselsteine an mein Fenster, weil sie mich scheiße finden.
Ich habe mich daran gewöhnt.
Menschen finden mich gut oder scheiße. Einen Mittelweg scheint es nicht zu geben.
Und wenn, wäre es mir egal.
Was habe ich auch davon?
Zumal mir die Nachbarskinder eh auf den Zeiger gehen.
Warum?
Aus purem Neid. Neid auf die Unbeschwertheit der Kröten.

Ich befinde mich an einem Scheidepunkt, liebes Tagebuch.
Und ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich früher bei dem Wort „Scheide“ noch infantil grinsen musste. Und erwähne es trotzdem.
Ich bemerke eine neue Ernsthaftigkeit in mir empor kriechen.
Und es widert mich an.
Mein Magen grimmt, die Alarmleuchten gehen an.
Ich habe seltsame Träume die sich mit einsamen Segeltouren auf dem Atlantik beschäftigen.
Und dann wache ich schweißgebadet auf, weil ich immer noch nicht weiß wie man einen ordentlichen Seemannsknoten bindet.
Ich bin froh, dass ich nicht mehr auf Schuhe mit Klettverschluss angewiesen bin.
Wobei diese Jahrtausenderfindung für Einarmige sicherlich ein Gottesgeschenk ist.
Ich gehe stark auf die 30 zu, liebes Tagebuch.
Und ich beschäftige mich tatsächlich mit ernsten Sachen. Fange an nachzudenken und mich der Schwermut hinzugeben. Höre progressive und dunkle Musik um mich daran zu erfreuen.
Ich habe letztlich darüber nachgedacht mir eine düstere Frisur zuzulegen.
Die Typberaterin beim örtlichen Friseur hatte da ihre Bedenken.
Ich solle doch den jugendlichen Charakter meines Gesichtes unterstreichen.
Auch eine Art der Umschreibung für das Wort „Babyface“. Danke an dieser Stelle.
Um der Friseurinnung eins auszuwischen habe ich mir eine Haarschneidemaschine gekauft.
Meine späte Rache an der Handwerkskammer.
Leider stellte der erste Versuch einen Fehlschlag dar. Mein Kopf hatte frappierende Ähnlichkeit mit Nagasaki 45.
Das war dann die Rache der Friseurinnung.

Also versuchte ich etwas anderes: ich kaufte mir Hemden.
Wollte irgendwie lässig und seriös zugleich wirken.
Ein weiterer Fehlschlag, liebes Tagebuch.
Eine gute Freundin sagte zu mir „ Du siehst aber niedlich aus in diesem schwarzem Hemd.“
Niedlich...der verbale Todesstoß für die Männlichkeit und das maskuline Selbstbild.
Von den zu engen und bunten Hosen will ich gar nicht erst anfangen.
Wer trägt so was? Vor allem freiwillig?

Ach was solls?
Ich bin keine Schlange die sich ständig häuten muss um weiter zu leben.
Ich werde eine Schreckschusspistole erwerben, und es den Kindern draußen mit gleicher Münze zurückzahlen.
Vielleicht nicht morgen oder nächste Woche, sondern dann, wenn sie am wenigsten damit rechnen.
Rache schmeckt kalt serviert immer noch am besten.

Ich werde mir nur noch Sachen kaufen, die mir gefallen und nichts was „meine Augen unterstreicht“.
Ich werde Karneval wieder als vulgärer und ordinärer Papst gehen, und ich bin nicht mal katholisch!
Ich werde Galilei wieder auf meine Liste der Ketzer setzen.
Ich werde mir CD´s kaufen, von Bands die keiner kennt, und dann so tun als wäre ich der musikalische Obernerd, während die anderen nur schaumschlagenden Mainstream hören.
Ich pfeife auf die gesellschaftliche Vorschrift immer und überall eine Hose tragen zu müssen.
Ich werde auch weiterhin den ÖPNV nutzen und mich der Erfindung des Automobils verweigern. Und zwar aus reiner Bequemlichkeit und nicht aus Umweltschutzgründen.
Was geht mich der Wald an?
Hat der scheiß Wald jemals was für mich getan? Irgendein Elephant, der mit mir mal was trinken gehen wollte? Eine Robbe die mir half, als ich in der 4. Klasse vom viel größeren und stärkeren (im übrigen auch dickeren) Sven verkloppt wurde?
Ich werde auch keine Haustiere halten, weil ich es einfach nicht einsehe das Haus öfter verlassen zu müssen, als nötig, damit Waldi den Gehsteig vollkacken kann. Auch wenn ich gerne Kinder darin ausrutschen sehen würde.
Ich werde das Haus eh kaum noch verlassen, liebes Tagebuch.
Das Wetter ist einfach beschissen. Punkt.
In den vier Wänden regele ich die Klimatisierung und trage einen Teil zum Wohlgefühl bei, wohingegen der mäßige Westwind mit leichtem Niederschlag bei mir nur selten Anflüge von Verzückung hervorruft.
Und überhaupt: Diese Menschen da draußen!
Jeder hat zwei Arme, zwei Augen und zwei Ohren. Und doch hält sich jeder für etwas besonderes.
Alles kann, nix muss, so das Motto.
Aber wer nicht alles macht ist ein Verlierer.
Ich werde Anne Will weiterhin obszöne E-Mails schreiben und drei Mal die Woche beim ZDF anrufen und die sofortige Entlassung Markus Lanz fordern.
Ich werde ebenso weiterhin die Flamingos im Tierpark versuchen zu zwingen auf zwei Beinen zu stehen. Diese penetrant zur Schau gestellte Lässigkeit dieser pinken Viecher ist mir seit langem ein Dorn im Auge. Ach was sag ich, ein ganzer Dornenbusch!

Bin ich komisch, liebes Tagebuch?

Ja vielleicht. Aber ich kann damit leben.
Auf bald.

Endlich Nichtraucher?

Fragwürdig war es allemal, der Versuch das Rauchen endgültig dranzugeben,

Nicht unbedingt aus medizinischen Gründen fragwürdig, eher aus Gründen des sozialen Miteinanders, denn, so hatte ich mir vorher sagen lassen, es beginnt mit der letzten Zigarette unausweichlich eine Zeit der vorübergehenden Trennung von Körper und Geist.

Nun, erzählen wir die Geschichte von Anfang an:

26. Dezember

Frierend stehe ich im nasskalten Nieselregen eines angeblichen lauen Dezemberabends.
Nix lau. Das einzige was lau war, ist die Vorhersage des Wettervogels im Frühstücksfernsehen gewesen.
Schreibe ihn gedanklich auf meine „People to Kill“ Liste, auf die bei Leibe nicht jeder kommt.

Ich friere weiter und beschließe, mit dem Rauchen im neuen Jahr aufzuhören. Endlich ein guter Vorsatz für das kommende Jahr, medizinisch sinnvoll und überhaupt: deine ganzen Nichtraucherfreunde werden dich für deine Standhaftigkeit bewundern. Und das ganze Geld was man dabei spart. Jawoll! So wird es gemacht.

31.Dezember - Silvester

Die letzte Rauchernacht naht. Nicht nur die Schwefeldämpfe von explodierten Knallkörpern und Tischfeuerwerken, nein auch die lieb gewonnenen Tabakdämpfe werden an diesem Abend ein letztes mal meine Lungenflügel heimsuchen. Nieder mit dir, teuflische Sucht! Nieder mit der Zigarettenindustrie, der Tabaklobby, nieder mit dem Marlboro-Mann! +

01.Januar - Neujahr

Was für ein Kater…
Ich fühle mich, als hätte mich ein Vulkan verschlungen und eine afrikanische Elefantenherde mit meinem Kopf Fussball gespielt.

Das die Silvesterparty gestern Abend gut gewesen ist, versuche ich einfach mal zu glauben.
Bei Aufräumarbeiten stelle ich mehrere Stangen Jin Ling fest, welche allesamt geraucht worden sind.
Die Nebelschwaden im Wohnzimmer sagen mir das gleiche.
Ich huste einen Brocken Asche.
Nie stand mein Entschluss mit dem Aufhören anzufangen fester als heute. Aua.

03. Januar

Die ersten Tage waren erstaunlich einfach.
Gut, aus Gründen der Wirtschaftlichkeit habe ich die verbliebenen Schachteln noch geraucht, und bin nicht komplett rauchfrei ins neue Jahr gegangen, aber es kommt ja auf den grundsätzlichen Willen und nicht auf das genaue Datum an!

Ich habe mir die Nichtraucher-App geladen, welche mir auf dem Smartphone Fortschritt und Zeit meines Nichtraucherdaseins anzeigt, und eine Familienpackung Kaugummis bereitgelegt.
Der Anfang kann kommen.
Ein leichtes Kribbeln macht sich in meiner rechten Hand breit. Die Finger versuchen unweigerlich einen Glimmstengel aus der nicht vorhandenen Packung zu fischen.
Ich werfe einen Blick auf die App. 17 Minuten rauchfrei. Es kann nur besser werden.
Aber ich fühle mich gut!
Das Radio spielt Smoke on the water .

04. Januar

Die erste Nacht überstanden.
Zittern, schweißgebadet und von Kältewellen umwabert. Aber überstanden.
Ich rede mir ein, dass mir das gut tun wird und ich standhaft bleiben muss.
Schleppe mich zum Bad und versuche mit für die Arbeit fertig zu machen.

Vergeblich zittert meine rechte Hand wieder in Richtung nicht vorhandene Schachtel, wie jeden Morgen um diese Zeit. Esse direkt 12 Kaugummis. Das wird helfen.
Gegen die Schweißausbrüche und die Kälteschocks habe ich noch kein Mittel.

Die App sagt, dass ich jetzt 22 Stunden rauchfrei bin.
Ich fühle mich gut.

Im Radio läuft Tex Williams mit Smoke! Smoke! Smoke! (that cigarette)

04. Februar

Gut einen Monat lang konnte ich mich den Verlockungen des Kamels, des Cowboys und dem Herrn John Player erwehren. Erfolgreich wie ich hinzufügen möchte.
Entzugserscheinungen machen sich allerdings immer noch bemerkbar.
Um nicht in Versuchung zu geraten, bewege ich mich außer zum Einkaufen und zur Arbeit nicht mehr aus dem Haus.
Erste Freunde wenden sich ab.
Andere stellen intime Fragen nach Krankheiten, psychischen Problemen oder fehlgeschlagenen Frauengeschichten, was wiederum automatisch auch zu den Punkten 1 und 2 führt.
Ich verneine alles und gebe mich weiter der Schwermut hin, welche die Nikotinsucht in mir hinterlässt.
Träume von brennenden Häusern und Nikotinpflastern.
Aber im Grunde fühle ich mich gut.

21. Februar

Mein Mutter ruft an. Sie beschwert sich, dass sie seit dem Jahreswechsel nichts mehr von mir gehört hat.
ich erwidere, dass ich der teuflischen Zigarettensucht den Kampf angesagt und mein Leben zu diesem Zwecke auf ein Minimum begrenzt habe.
Ernte ein höhnisches „Viel Spaß dabei“ und vernehme die lautstarke Forderung sich doch mal wieder blicken zu lassen. Alleine schon aus erbrechtlichen Gründen.
Schalte danach den Fernseher ein. Auf RTL und RTL2 schreien viele Menschen durcheinander, schlagen Türen zu und weinen. Anschließend rauchen sie eine Zigarette um „wieder runter zu kommen“. Mitten im Leben und Frauentausch heißen die Sendungen.
Überall wird nur geschrien, werden Türen geknallt, geweint und anschließend geraucht. Da rauchen alle. Oma, Opa, Mutter, neuer Freund der Mutter, Stiefsohn der Mutter und das neugeborene Kind. Selbst die Haustiere rauchen. In einer Folge geht es um einen nikotinabhängigen Golden Retriever.
Es führt mich kurzzeitig in Versuchung, aber ich bleibe standhaft. Schalte um.
Auf ein Bonanza Special.
Heute zeigt das ZDF all die zensierten Folgen in denen Hoss Cartwright geraucht hat.
Danke, öffentlich-rechtliches Fernsehen. Da sind meine Zwangsabgaben ja gut investiert.
Lese stattdessen ein Buch von Hemingway.

22. Februar

Hemingway war keine gute Idee.
Habe direkt zwei Flaschen Rum geleert und, neben dem unbändigen Drang mich zu übergeben, den Ruf des Nikotins verspürt.
Vorteil: Aufgrund der leichten Alkoholvergiftung war ich nicht in der Lage mir eine Packung Zigaretten am Automaten zu holen.
Mir fällt allerdings erst nach 35 Minuten auf, dass es kein Zigarettenautomat sondern ein Parkscheinautomat ist, in den ich unaufhaltsam Kleingeld feuere, in der Hoffnung auf eine Packung LM Red. Mir wird das leider zu spät bewusst, dafür darf ich nun 27 mal für 4 Tage hier parken.
Ich habe nur leider kein Auto.
Dafür am nächsten Tag einen riesigen Kater und eine lustige Pfütze Erbrochenes, welche sich lustig von der Eingangstür durch den Flur ins Wohnzimmer zieht, ja fast mäandert.
Man kann halt nicht immer gewinnen, außer an Erfahrung…

01. April

Ich habe mich abgeschottet, der Außenwelt den Kampf angesagt.
Meinen Job aufgegeben – die Kollegen rauchen zu viel. Überall wird man in den Schlund der verrauchten Versuchung geführt.
An keiner Grundschule kommt man vorbei, ohne dass einem paffende I-Dötze fies ins Gesicht grinsen.
Mich bekommst du nicht wieder zurück Peter Stuyvesant!!!

Lebensmittel lasse ich mir von BoFrost liefern.
Mehrere Tage ernähre ich mich nur von Gulasch, Fertigschnitzeln und kleine Steaks.
Als Nachtisch habe ich mir mehrere Pumuckl-Torten bereit gestellt.
Kontakte zu engsten Freunden halte ich nur noch per Webcam und Telefon, und auch die nur sehr sporadisch.
Niemand wird mich in Versuchung führen.
Die bösen Schwaden sind überall!
Ich höre Stimmen, halluziniere, schwitze und friere zugleich. Manchmal zittere ich wie Espenlaub.
Aber ich bekomme besser Luft, lebe gesünder, führe ein sündenfreies Leben. Welch Vorteil.

14. April

Meine andauernden Schüttelattacken haben nicht nur die kümmerlichen Reste meines Privatlebens merklich beeinträchtigt.
Auch körperlich und geistig nagt der Entzug sehr an mir.
An die Stimmen in meinem Kopf, die mich ständig zum Mord an diversen C-Prominenten auffordern, habe ich ja mittlerweile gewöhnt.
Auch das ich überall schleierne Geister fliegen sehe, kann ich inzwischen verwinden.

Aber mein Rücken schmerzt, und das gefiepe in meinen Ohren treibt so sehr in den Wahnsinn, dass ich kaum noch schlafe.
Manchmal rufe ich des Nachts bei Telefonhotlines an, um die Sachbearbeiter nach ihren Schlafgewohnheiten zu fragen.
Auch die verruchten Sexhotlines bleiben nicht von mir verschont.
Aber die Nebenwirkungen des Entzugs töten sämtliche amourösen Gefühle in mir, meine Libido liegt förmlich brach.
Dafür trinke ich als Ersatzbefriedigung nun Unmengen an Kaffee. Dies bestärkt den Schlafmangel und das Zittern natürlich signifikant, und trägt nebenbei zur Bildung eines 1A Magengeschwüres bei.

Als letzter Ausweg bleibt mir nur der Gang zum Arzt.
Die Notfallnummer 112 nimmt mich nicht mehr ernst.
Selbst die Tiernothilfe hat meine Nummer inzwischen auf die schwarze Liste gesetzt.

Ich wehre mich und ringe innerlich mit mir, versuche den Gang zum Arzt hinauszuziehen, taumele aber doch irgendwann leicht benommen auf die Straße.

Das Gezwitscher der Vögel, die warmen Sonnenstrahlen die meine blass fahle Haut kitzeln, Tau auf den Morgenblättern, rote Fußgängerampeln…all das wirkt mir so seltsam fremd.

Irgendwo in der ferne hupt ein Auto. Verschwommen nehme ich die näher kommende Silhouette eines 40 Tonnen schweren Lasters wahr.

Die Reste meines Nervensystems bäumen sich auf. Versuchen mich zu warnen. Mein Sehnerv versucht vergeblich, dass Objekt zu fokussieren.
Mein Blick wandert, halb geistesabwesend, auf einen kleinen roten Mann zu, welcher die Arme ausgebreitet von sich streckt.
Ich wundere mich über die Geste, weil diese Körperhaltung auf Dauer für kleine Menschen doch recht anstrengend sein müsste, als plötzlich Reifen quietschen und es dunkel wird.

Aus der Dunkelheit erhebt sich ein grauer Punkt, welcher schnell heller wird und näher kommt.

Ein Mann mit Cowboyhut kommt auf mich zu, in der Hand hält er die Zügel eines Kamels.

„Was ist passiert?“ frage ich den Hut tragenden Fremden.
„Du wurdest von einem Teerlaster überfahren.“ antwortet der Marlboro-Mann – „Komm mit ins Licht.“

Von einem Teerlaster überfahren. Meine Überreste werden eingeäschert. Welch bittere Ironie.
Ich folge dem Cowboy, der mir eine Zigarette anbietet. Dankbar zünde ich den Glimmstengel an und genieße es im blauen Dunst zu schwelgen.

Raucher sterben eben doch früher. Aber glücklich?

 

Wie ich mir einmal Mut antrank

Liebes Tagebuch,
erschreckenderweise bin ich vor kurzem den Genüssen des Alltags erlegen.
Nach einer anstrengenden Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, belästigt durch mitreisende Kinder, Haustiere und Menschen im allgemeinen, suchte ich Zerstreuung in der nahe gelegenen Bahnhofsgastronomie, welche vermutlich niemals den wohlverdienten Michelin Stern erhalten wird.
Ausschlaggebend dürften die Zustände auf dem Herren-WC sein, an dem gastronomisch dargebotenem gibt es nämlich nichts zu meckern.
Bockwurst, Frikadelle und Ende. Mehr braucht man in einer Kneipe nicht an essbarem Material.

Nach dem hastigen Genuss mehrerer Biere Pilsener Brauart, verfing sich mein Blick an einem weiblichen und wohlgebautem Wesen, welches man nur selten in einer Bahnhofsgastronomie anzutreffen vermag.
Leicht angeschottert beschloss ich, meinem aktuellem Single Dasein ein berechtigtes Ende zu bereiten und machte entschloss mich zum Angriff überzugehen.
Nicht aber ohne vorher noch zwei Sambuca zu exen, gefolgt von einem weiteren großen Pils der örtlichen Familienbrauerei.
Getragen wie auf Armors Flügeln wankte ich mit der Grazilität einer Gazelle in die Nähe des Objektes meiner Begierde.
Zuerst wollte ich ihrem Gespräch mit der Wirtin lauschen. Einzelheiten erfahren.
Sie roch gut, sah bezaubernd aus. Ein Engelsgeschöpf.

Ich bestellte weltmännisch einen Single Malt und eine Zigarre. Irgendwie dachte ich, dass das sehr verführerisch auf Frauen wirken müsste.
Doch sie hustete nur und rutschte einen Platz weiter, als ich ihr zärtlich den Rauch meiner Zigarre ins Gesicht blies.
Ok, eine Herausforderung. Sie will die harte Tour, dachte sich mein alkoholgeschwängertes Kleinhirn und fuhr das harte Programm.
Zwei weitere Biere und Single Malt später beschloss ich zur Attacke zu blasen.‘
Naja, eigentlich musste ich erst einmal aufs Klo, rutschte dabei auf der Treppe nach unten ein wenig aus und verstauchte mir den Steiß, was meiner Körperhaltung im Verlauf des restlichen Abend nicht unbedingt zuträglich sein sollte.
Aber das ficht mich doch nicht an, liebes Tagebuch!
Wieder am Tresen angekommen, hob ich laut meiner Erinnerung zu folgendem Dialog an:

„Einen wunderschönen guten Tag Teuerste. Sie sind mir sogleich aufgefallen. Nur selten verirren sich Engel wie Sie einer sind in dieses Reich der Dunkelheit. Ihre Schönheit und Anmut bezaubern mich.
Erlauben Sie, dass ich ihnen etwas zu trinken kredenze und wir ein wenig plaudern, den schönen Sonnenuntergang genießen und danach gemeinsam im fahlen Mondlicht spazieren, bis der neue Tag sein Kommen ankündigen mag?“

Laut dem Erinnerungsprotokoll der Betroffenen in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft stellte sich der Vorgang allerdings etwas anders dar.

Offenbar taumelte ich die Treppe vom WC empor, bestellte lallend am Tresen einen Pernod-Cola und erbrach mich daraufhin fürchterlich.
Umstehende Gegenstände, die Tasche der jungen Dame eingeschlossen, nahmen Schaden.
Nachdem ich leicht in Schlagseite geriet, versuchte ich mich an der Bluse der jungen Frau festzuhalten, zerriss ihr dabei Teile der besagten Seidenbluse und lallte etwas was sich wie „Ey du! Ich find dich voll…voll…schön und so. Auch was trinken? Vielleicht danach n bisschen ficken? Bin total romantisch und sowas. Ich find dich voll schön und so…ehrlich. Geile Titten…“

Danach erbrach ich ein weiteres Mal heftig und versank in einer Ohnmacht, welche von den gerufenen Kräften der Berufsfeuerwehr mit Hilfe von Infusionen beendet wurde. Ich erinnere mich noch schemenhaft, dass der Fahrer des Rettungswagens so schnell und gewagt fuhr, als wolle er die 24 Stunden von Le Mans schon in 12 Stunden gewinnen.

Durch die Anzeige bei der Polizei weiß ich aber dafür ihren Namen, liebes Tagebuch.
Ich denke ich sollte einen neuen Versuch wagen und mich von meiner besten Seite zeigen.
Und eventuell sollte ich dabei vorher weniger trinken.
Sie wird mir sicher eine zweite Chance geben. Spätestens zur Verhandlung der Strafsache sehe ich sie ja wieder.
Mein Herz hüpft vor Freude und Verliebtheit liebes Tagebuch!

Auf bald,
dein Freiherr von Zahnstein

 

Hangover

Ich wache langsam auf und versuche die Augen zu öffnen.
Das grelle Licht der Sonne schmerzt in Augen und Kopf.
Ich taste langsam die Gegend um mich ab. Bekomme Gras zu fassen.
Gras? Wiese? Och nö...nicht schon wieder!
Ich richte mich auf und stelle fest, dass ich nur noch eine Boxershort und Schuhe trage, dafür aber inmitten einer großen Waldlichtung zu liegen scheine.
Das schönste daran: ich habe nicht den geringsten Schimmer wie ich da hin gekommen bin.
Meine Erinnerungen an den vergangenen Abend sind mit „bruchstückhaft“ noch recht euphemistisch umschrieben.

Eigentlich wollte ich mit den Jungs nur auf 2 maximal 3 Bier in die Kneipe. So ganz auf ruhig. Wir sind ja alle keine 20 mehr und ein paar haben schon Familie.
Dann weiß ich noch, dass wir nach dem geschätzten 14. Herrengedeck noch eine Runde Bus-Roulette spielen wollten: Wer kotzt verliert.
Ich stieg dann am Marktplatz aus, weil ich der Meinung war am Bahnhof angelangt zu sein.
Das beide Ziele nicht in der Nähe meiner Wohnung liegen, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen, tue es aber trotzdem.
Auf den ersten Schock das der nächste Bus erst um 5 Uhr früh wieder fährt, suchte ich einen Zigarettenautomaten auf. Sucht kann ätzend sein.
Ich traf auf ein junges Pärchen, welches mich auf eine Party einlud.
Ich tanzte und trank, trank und tanzte. Knutschte eine etwas zu kurz geratene Rothaarige mit großem Vorbau und trank und tanzte weiter.
Prügelte mich mit einem Schirmständer und erbrach vom Balkon. Wurde rausgeschmissen.
Ende der Aufzeichnung.

Und nun liege ich hier, halbnackt, auf einer beschissenen Lichtung. Mitten im nirgendwo.
Der aufkeimenden Morgenerektion werfe ich ein zischendes „nicht jetzt, General!“ entgegen und richte mich selbst stattdessen mal komplett auf.
Von weiter weg höre ich noch Geräusche von Fahrzeugen.
„Immerhin nicht ganz abgeschossen von der Zivilisation.“ denke ich noch und mache mich auf den Weg in Richtung der Autogeräusche.
Mein Kopf fühlt sich an wie ein Truppenübungsplatz nach einem NATO-Manöver mit schwerem Gerät.
Dafür werden meine Nippel hart, weil der aufkommende Westwind heute morgen doch etwas zu stark auf meinen unterkühlten Laib weht.
Nach 15 Minuten Fußmarsch und der Erkenntnis, dass Nachdurst echt eine widerliche Geißel der Menschheit sein kann, erspähe ich in der Ferne eine Straße und ein nahe liegendes Gebäude. Offensichtlich so etwas wie eine Bäckerei.
Immerhin, dort kann ich fragen wo ich mich befinde und den Heimweg zu organisieren.
Ich schleife meinen zerschundenen Körper über die Straße und ignoriere das penetrante Hupen der vorbeifahrenden Autos.
Diese Spötter. Was wissen die schon? Vermutlich genauso viel wie ich gerade jetzt.
Zitternd und fröstelnd öffne ich die Tür der Bäckerei und ein pfeifender Tonfrosch auf dem Boden kündet von meinem erscheinen.
Im Laden befinden sich, außer mir, nur noch drei weitere Personen. Eine ältere Dame, die gerade das Paderborner Krustenbrot bestellt. Eine Backwarenfachverkäuferin mittleren Alters, welche die Bestellung entgegen nimmt. Und eine jüngere Frau, offensichtlich Azubine im Backwarenfachverkäuferinnengewerbe.
Die Blicke der drei lassen ein etwas komplizierteres Gespräch erwarten.

Die ältere Verkäuferin sieht mich mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen, mit starker Tendenz zu letzterem an. Die Kundin kiekst kurz auf und geht ein paar Schritte in Richtung sicheren Ausgang. Die Azubin grinst.
Überlege noch mir eine Ausrede einfallen zu lassen, in welcher Außerirdische eine nicht unwesentliche Rolle spielen, als mich die ältere Verkäuferin anherrscht:
„Junger Mann, sie haben ja nichts an!“
„Das ist nicht ganz korrekt. Ich trage Schuhe und verhülle mein Gemächt mit Baumwolle.“ murmele ich zurück.
Auf soviel Schlagfertigkeit ist die Verkäuferin nicht gefasst, und ich bewundere mich in dem Moment selbst ein wenig.
Die Kundin tut derweil Kund, dass sie die Polizei rufen werde.
„Sagen sie denen, die sollen eine Decke mitbringen. Draußen ist es sehr frisch.“

Ich fasse es nicht. Nach einer durchzechten Nacht fallen mir tatsächlich mal geniale Konter ein, die mir im tristen nüchternen Alltag verwehrt bleiben.
Vielleicht sollte ich mich öfter...

„Wo bin ich eigentlich?“ frage ich, an die Azubine gewandt.
„In einer Bäckerei.“ antworte diese kichernd.
Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Brötchen und Backwaren in der Auslage. Und das in einer Bäckerei. Donnerwetter.
Die Kundin nestelt derweil an ihrem Mobiltelefon herum und ruft die Ordnungsmacht.
„Eventuell würde mir eine Ortsbeschreibung weiterhelfen, Gnädigste.“ erwidere ich höflich auf die doch sehr einfache Antwort der Azubine.
„Bäckerei Zurmüller in Gerstein.“
Ach du meine Güte.
„Wo ist das?“
„In der Nähe von Himmelsbach.“
Toll...das hilft mir echt weiter.
„Du könntest mir jetzt auch die Längen- und Breitengrade nennen und ich wüsste genauso viel wie vorher.“

Im Hintergrund telefoniert die Kundin mit den Jungs in blau.
„Ja, hier steht ein nackter Mann in der Bäckerei und belästigt uns.“
„Moment mal! Ich bin, wie vorhin bereits erwähnt nicht nackt. Und belästigen würde ich, wenn überhaupt, nur die Auszubildende da vorne. Vorher muss sie mir aber den Ausweis zeigen. Ach, erwähnen sie noch bitte die mitzubringende Decke.“
„Und er wird anzüglich! Kommen sie schnell!“

Anzüglich. Sicher. Du hast mich noch nie anzüglich erlebt, du alte Gichtqualle.
Aufkeimender Hunger bricht sich bei mir Bahn.

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein belegtes Brötchen und einen Kaffee aufs Haus bekomme, während wir auf die Polizei warten?“ frage ich, in einem engelsgleichen Tonfall.
Leider ernte ich nur zwei schüttelnde Köpfe der älteren Damen und ein quietschendes Kichern der Azubine.
Ich schätze da beiße ich auf Granit.

Draußen künden Sirenen von der Ankunft der Ordnungshüter. Zwei Polizistinnen. Beide sehr attraktiv. Eine blond, die andere brünett.
Sie betreten den Verkaufsraum und mustern mich erst mal eingehend.
„Ist er das?“ fragt die Brünette.
„Nein.“ erwidere ich. „Der andere Nackte ist gerade in der Backstube und verfeinert das Croissantrezept des Hauses, während er dabei auf dem Banjo spielt“

Alles was ich ernte ist ein böser Blick aus zwei wunderhübschen braunen Augen.
Diese Göttin in Uniform.

„Junger Mann, ihren Ausweis bitte.“ wendet sich die Blonde, in einem autoritären Tonfall an mich.
„Was vermuten sie wo der sein könnte? Kleiner Tipp: In meiner Brusttasche ist er nicht.“
„Werden sie mal nicht frech!“
„Verzeihung, aber es ist doch wohl offensichtlich, dass ich meinen Ausweis nicht bei mir trage.“
„Vielleicht haben sie den in der Unterwäsche.“

Das erinnert mich an einen Vorschlag meiner Ex-Freundin im Bett doch mal was neues auszuprobieren, was mir aber etwas zu weit in den rektalen Bereich abglitt.

„Nein, habe ich nicht.“ entgegne ich der Beamtin. „Sie können mich ja gerne abtasten.“
„Darauf verzichten wir mal besser.“
„Das ist bedauerlich.“
„Was habe ich ihnen zum Thema frech werden gesagt? Sie bekommen gleich Handschellen angelegt!“

So weit sind wir also schon? Gegen Handschellen beim Liebesspiel habe ich nichts, so lange der Kerzenwachs außen vor bleibt. Das bekommt man so schlecht aus der Brustbehaarung.

„Ist ja gut.“
„Kooperieren sie nun?“
„Habe ich mich jemals gewehrt?“
„Nein.“
„Na also. Wo bin ich hier eigentlich?“
„In Gerstein, nahe Himmelsbach.“

Grandios.

„Zügeln sie sich, Junger Mann!“ herrscht mich die Brünette nun an.
„Was ist denn schon wieder?“ antworte ich, mir keiner Schuld bewusst.
„Sie sind also ein Perverser?“ erhalte ich zurück.

In diesem Moment stelle ich fest, dass mein Blutkreislauf doch über meinen Verstand gesiegt hat und sich die morgendliche Erektion fröhlich ihren Platz in meiner Schiesser Feinripp gemacht hat.
Ungünstiger Moment. Sehr ungünstig.
Wie das eine Mal in der Pubertät. Zweite Stunde Mathe. Und ich an der Tafel...andere Geschichte.

Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, schaue ich an mir runter und ringe mir ein „Na, wie kommst du denn jetzt dahin?“ ab.
Das rettet die Situation nicht wirklich.

Wenige Minuten, etwas Pfefferspray und eine Fahrt im Streifenwagen, inklusive Verarztung mittels Schlagstock und Handschellen später, befinde ich mich auch schon auf der Wache.
An eine Decke haben die beiden natürlich nicht gedacht.

Der diensthabende Wachbeamte klärt mich über meine Rechte auf.
Er schließt mit den Worten: „Und sie werden Post erhalten. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Nötigung von Amtspersonen.“
„Und von wem?“
„Vom Bezirk Gerstein, nahe Himmelsbach.“

 

Tagebucheintrag Nr. 127

 

Liebes Tagebuch,

heute muss ich dir kurz von einer nicht weit entfernten Vergangenheit berichten.

Kürzlich hat meine Freundin mit mir Schluss gemacht.
Sie sagte ich würde zu viel weinen.
Ich erwiderte, dass das nicht stimme und bat sie unter Tränen doch zu bleiben.
Es war zwecklos liebes Tagebuch.

Die Woche darauf war hart.
Ich verspürte einen tiefen inneren Schmerz und stand schwer unter Druck, eine neue Partnerin zu erwer...äh, zu finden.
Durch meine innere Unruhe geplagt, suchte ich den Arzt meines Vertrauens auf.
Wie sich erst viel später herausstellte, war er gar kein Arzt sondern ein gelernter Maschinenschlosser aus Kettwig und ein gesuchter Trickbetrüger, aber das ist eine andere Geschichte.
Außerdem nahm er alle Kassen. Aber egal.
Er empfahl mir meine innere Mitte zu finden und ließ mich mit diesem Rat allein.
An diesem besagten Tag fand ich meine Mitte gleich mehrfach, konnte aber nicht einordnen ob und wie mir dies bei meinen Problemen helfen würde, außer das ich mehrere Taschentücher benötigte.
Auch entwickelte sich dieses finden meiner Mitte bald zu einem großen Problem.
Ich lernte schnell wieder eine Frau kennen, welche mich ebenso schnell ihren Eltern vorstellen wollte.
Wie du dir sicher denken kannst, liebes Tagebuch, stand ich an diesem Tag unter besonders schwerem Druck.
Mir kam da was. Und zwar zuerst eine Idee.
Ich befolgte natürlich auch diesmal den Rat meines angeblichen Arztes, ohne zu ahnen, dass die Türen des elterlichen Badezimmers nicht abschließbar waren.
Nun, was soll ich sagen?
Der Mutter meiner neuen Eroberung schoss nicht gerade vor Freude die Milch ein, als sie mich in flagranti mit ihrer neuen Ausgabe von „Jagd und Hund“ überraschte.
Das sorgte doch für einige Verwirrung und endete in einem Fiasko.
Ich habe dieses Mädchen nie wieder gesehen.
Die Mutter noch einmal. Bei einem Vorstellungsgespräch eine Woche darauf.
Sie war die Personalchefin.
Ich habe den Job nur ganz knapp nicht bekommen, liebes Tagebuch.
Daraufhin ging ich nach Hause und ärgerte mich über mich selber.
Ich fing an in Selbstgesprächen mit mir zu streiten.
Und was soll ich sagen?
Das beste an einem Streit ist doch immer der Versöhnungssex danach.

In diesem Sinne, auf bald liebes Tagebuch

Dein Freiherr von Zahnstein

 

 

Der Arbeitstag

 

Ich dokumentiere mal einen nicht so ganz typischen Arbeitstag, nennen wir ihn Montag:

07:15 Uhr
Nachdem ich das Haus unter schwerstem Protest meines Bettes verlassen habe, stehe ich nun an der Haltestelle meiner U-Bahn. Neben mir nur eine Studentin die etwas verschämt ihre E-Mails checkt, ein Mensch der Putzkolonne der eifrig Breche vom Wochenende wegwischt und ein paar müde Schüler die sich einen Guten-Morgen-Joint drehen.

Ganz normaler Montag eigentlich.

07:30 Uhr
Der allmorgendliche Kampf mit der Kaffeemaschine wird aufgenommen. Natürlich müssen Satzbehälter geleert und Wasserbehältnis gefült werden.
Unter maximaler Geräuschkulisse quält sich eine kaffeähnliche Substanz in meinen Kaffeebecher. während die Maschine mir böse hinterher zu schauen scheint.
Das allmorgendliche Ritual ist halt auch für Elektroknechte nicht immer angenehm.




07:45 Uhr
Die ersten E-Mails werden gecheckt.Eine zuerst dubios erscheinende Nachricht aus Simbabwe erregt meine Aufmerksamkeit.Rebellenführer Kwomombo erbittet finanzielle Unterstützung gegen den angeblich unrechtmäßigen Präsidenten.

Ein kurzer Blick auf mein Che Guevara Shirt erinnert mich an mein heimliches Rebellen-Dasein. Also trage ich pflichtbewusst die Bankverbindung unserer Konkurrenz in das beigefügte Mailformular ein, weche ich vorher im Internet recherchiert habe.

Inzwischen sind auch die ersten verschlafenen Kolleginnen eingetroffen und mosern über die Uhrzeit.Kollegin S. mahnt mich an die Blumen zu gießen die mir nicht gehören.

Ein Blick auf das verdorrte Restgestrüpp verrät mir, dass da nicht mehr viel zu gießen ist.Also sätze ich ein Lächeln auf und tue so, als würde ich die Anweisung irgendwann zwischen jetzt und der nächsten Eiszeit ausführen.
Gegen Mittag sollte das ganze vergessen sein.



08:30 Uhr
Die erste Routinearbeit ist soweit vollendet. Zeit ein wenig das allmorgendliche Fensterlotto zu beobachten.

Während Kollegin F. friert und das, vor 2 Minuten leicht geöffnete, Fenster schließt, spurtet Kollegin D. nur Nanosekundebruchteile später wieder los um das Fenster erneut zu öffnen.

Das Spiel wird sich, mit wechselnden Kolleginnen, bis ungefähr 10:30 Uhr wiederholen.Dann ist der Boden in dieser Jahreszeit erfahrungsgemäß soweit aufgeheizt, dass sowohl Bürowarm- als auch Kaltblüter einen erträglichen Kompromiss geschlossen haben.



09:30 Uhr
Nach dem fünften Kaffe blättere ich, noch leicht verschlafen, in einem der 12 Klatschmagazine welche in der Küche ausliegen.Angelina Jolies Brüste sind nicht symmetrisch! Na sowas, das muss ich näher betrachten.
So bis etwa

10:11 Uhr
Oh, eine Airline hat ein neues Handbuch zu Buchungsverfahren herausgebracht und das als pdf-Datei herausgebracht.
Kollegin W. will das mal fix ausdrucken, wählt aber den falschen Drucker aus ohne es zu merken.Ich vermute, dass die Situation noch witzig werden könnte und sage mal nix.

10:23 Uhr
Die IT ruft an. Warum wir auf deren Drucker ein 470 Seiten starkes Dokument 20 mal in Druckauftrag gegeben hätten?

Deren Azubi muss jetzt los und neues Papier holen.

Außerdem wird beschäftigt sein, die Handbuchseiten zu sortieren und sauber ordentlich zu heften, damit sie anschließend an alle Abteilungsleiter ausgeteilt werden können.
Erfahrungsgemäß gute Schmierblattvorlagen.

Mit zuckersüßer Stimme erkläre ich der IT, dass ich mir das auch nicht erklären kann und das der Rechner der Kollegin einen schweren Netzwerkfehler im Modul 1337 angezeigt hat. Muss also ein Problem beim Server sein oder sowas.
Das sollte die Jungs eine Weile beschäftigen. Wäre doch schade, wen die sich an einem sonnigen Tag wie heute langweilen würden.



11:10 Uhr
Der Kopierer streikt, was Kollegin F. gerade etwas zur Weißglut treibt.Vermutlich die Hormone. Seit einigen Ausfällen durch Schwangerschaften in den letzten Monaten, mische ich heimlich ein Hormonpräparat in den Kaffee.Im Prinzip völlig harmlos, nur empfängnisverhütend. Und leicht bartwuchsfördernd. In letzter Zeit werden daher Epilierungs-Broschüren heiß gehandelt.

Ich erkläre der Kollegin achselzuckend, dass die Anzeige "Toner leer" durchaus einen tieferen Sinn ergeben könnte.Kollegin F. streicht sich gedankenverloren durch den Vollbart und grummelt was wie "Muss wohl die IT anrufen".



11:30 Uhr
Der Anruf bei der IT ist, wie erwartet, erfolglos geblieben.Der Azubi kauft im Großmarkt 27 Paletten Druckerpapier, was der Buchhaltung zwei zusätzliche Bypässe und ihm eine Abmahnung einbringen wird.

Die anderen beiden Computer-Muckel löten derweil noch an Drähten im Serverraum, welcher inzwischen mit 45 Grad angenehm temperiert ist, und suchen den ominösen Netzwerkfehler von vorhin, der in keinem Handbuch auftaucht.



11:40 Uhr
Der Notstand am Kopierer nimmt hysterische Ausmaße an. Es wird geschrien, geflucht, an den Haaren gezogen und auch geweint.Kollegin R. nimmt sich nun des Problems an, ohne zu ahnen was nun folgen wird.11:50 Uhr

Ein kurzer Knall, gefolgt von einem "flüssigen" Geräusch reißt mich aus meinem pre-Mittagspausen-Schlaf.
Kollegin R. hat versucht eine Kopierertonerkartusche zu wechseln.
Das Ding ist nicht ohne Grund verschlossen und sollte nur vom Fachmann getauscht werden.

Sieht Kollegin R. nun auch ein. Leider ist das halbe Büro inzwischen schwarz, inklusive Kollegin R., da der Toner beschlossen hat an diesem schönen Montagmorgen zu explodieren.

Mein Hinweis "Oh oh, das wird teuer." ist irgendwie Gift für die Stimmung.

12:10 Uhr
Nach einem kurzen Handgemenge zwischen Angestellten, Abteilungsleitung und mittlerem Management ist die Schuldfrage geklärt.

Der Azubi wars. Da der aber nicht greifbar ist, wird die Schuld auf den nächsten männlichen Angestellten geladen der greifbar ist. Das wäre dann ich...natürlich, wer sonst?

Mein Einwand, dass ich gerne vor der Schuldverteilung vom Betriebsrat angehört werden möchte, wird mit der Begründung ausgeschlagen, dass Kollegin R. im Betriebsrat sitzt.

12:30 Uhr
Es folgt ein Gespräch beim Geschäftsführer, der gar nicht begeistert ist, dass die versammelte weibliche Entourage ein vorschnelles Urteil gefällt hat.

Gestenreich beschwört er den Zusammenhalt der verbliebenen männlichen Belegschaft. Anschließend überreicht er mir die Kündigung mit einem traurigen Blick und den Worten "Konnte nix machen, die R. ist doch im Betriebsrat."

Ach, ich mache ihm keine Vorwürfe.

12:40 Uhr
Auf dem Weg nach draussen, begegne ich auf dem Flur einem der IT-Muckel der kopschüttelnd die Worte "Netzwerkfehler 1337" wiederholt und aufgeregt in seinen Tablet PC schlägt.

12:45 Uhr
Die Bahn zum Arbeitsamt hat heute 5 Minuten Verspätung.

 

Supermarkt

Gesichtswurst oder doch die streichechte Teewurst?
Wonach ist mir heute?

Es ist viertel nach Sieben Abends, ich habe einen beschissenen Arbeitstag hinter mir und verirre mich in dem endlos erscheinenden Angebot des örtlichen Discounters.

Gesichtswurst heitert auf, so viel steht mal fest. Und aus diesem Grund schlägt die Packung Gesichtswurst auch die Streichechte.

Gedankenverloren werfe ich einen Blick in meinen Einkaufswagen, um die bisherige Ausbeute mit dem Inhalt meines Geldbeutels abzugleichen.

Bis auf der obligatorischen Packung Tee und 7 Flaschen Weißwein hat sich nur besagt Gesichtswurst dorthin verirrt.
Ich versuche mir vor meinem geistigen Auge aus den bereits vorhandenen Zutaten ein Gericht vorzustellen. Vergeblich. Nicht weiter überraschend.

Vor mir steht eine Frau und mustert kritisch meinen Weinvorrat, wendet sich dann aber wieder dem Zeitschriftenregal zu.
Ihr Kleinkind, welches in diesen integrierten Kindersitzen im Einkaufswagen Platz genommen hat, schneidet mir obszöne Grimassen.
Mir fällt spontan wieder ein, warum ich Kinder hasse, nehme aber den Wettstreit an. Die Mutter wühlt sich derweil weiter durch das Angebot an Bunte, Gala und Bild der Frau.
Die Rotznase streckt mir die Zunge raus, also tue ich es ihm gleich.
Wir verrenken abwechselnd unsere Gesichtsmuskeln und liefern uns einen erbitterten Wettstreit um die fieseste Grimasse.
Irgendwann muss ich die Waffen strecken und meine Geheimwaffe, den doppelten Mittelfinger, rausholen um den kleinen Schuft zu übertrumpfen.
Genau in diesem Moment zupft der kleine, schelmisch grinsend, am Arm seiner Mutter und deutet auf mich.
Leider lassen meine, von 9 1/2 Stunden Folter auf der Arbeit geschwächten sonst aber raubtierartigen, Reflexe eine zeitlich angemessene Reaktion nicht mehr zu.

Die Mutter sieht micht mit weit aufgerissenen Augen an beschimpft mich wüst ich sei "ordinär" und überhaupt: Was ich mir in Gegenwart ihres kleinen Engels eigentlich erlauben würde.
Ich stammele noch ein "Aber er hat angefangen!" aber sie dreht schon, immer noch schimpfend, ab. Der kleine Bastard winkt mir noch siegesberauscht hinterher.
Ok, die Runde geht an ihn. Aber man sieht sich immer zwei mal, du kleiner Nazi.

Irgendwie war das jetzt nicht weiter förderlich für mein Selbstwertgefühl. Erst die Abmahnung wegen eines, nennen wir es "Unfalls", mit der Azubine.
Dann die Trennung von meiner Freundin, welche mir nach 4 1/2 Jahren Beziehung gestand, dass sie nun eher dem weiblichen Geschlecht zugetan sei, dankbar aber meinen Hund, die sauteure Stereoanlage und die Mikrowelle mit in die neue Wohnung genommen hat.
Ein Single ohne Mikrowelle. Ein unsagbar hässlicher Umstand. Ich komme mir vor wie die Neandertaler, die ihr erlegtes Wild über offenem Feuer brieten. Wie unsäglich rückständig!
Ich tigere zurück zum Weinregal um weiteren Weißwein einzuladen. Dafür brauche ich keine Mikro.

Am Brotregal entscheide ich mich gegen das Paderborner Krustenbrot vom Vortag im Angebot, zugunsten eines Aufbackbaguettes, oder Stangenbrot wie es mein alter Lateinlehrer immer nannte. Er hasste die Franzosen. Ich glaube er hasste so ziemlich alle Menschen, welche nicht bei dem Satz "Hurra, der Kaiser ist wieder da" fröhlich zu den Waffen griffen, um Elsaß-Lothringen heim zu holen.

Neben mir diskutiert angeregt ein Pärchen. Augenscheinlich Mitte dreißig.
Er hat offensichtlich nicht viel zu sagen, seine gebückte und devote Körperhaltung verrät da eigentlich schon alles.
Die Frau Gemahlin dagegen ist zu grell auf unter 30 geschminkt, und sieht auch ansonsten nicht unbedingt so aus, als wenn das Tageslicht ihr bester Freund wäre.
Die billigen Leoparden-Leggins, eine rausgewachsenen Dauerwelle und ein , für meinen Geschmack, zu offenherziges Dekollete´ sprechen Bände über ihren Gesamtzustand.
Dafür hält sie eine Packung Brot hoch, liest die Inhaltsangabe und versucht Aufmerksamkeit durch Sätze wie "Oh ne, da bin ich gegen allergisch. Hm, das geht auch nicht, wegen der Glutenunverträglichkeit. Uiii, Milch, und das mit meiner Laktoseintoleranz. Geht gar nicht."
Ihr Sklave nickt immer nur verständnisvoll zustimmend, sagt aber nichts. Vermutlich auch besser so. Er macht eh nicht den Eindruck die hellste Kerze auf dem Kuchen zu sein.

Ich überlege kurz sie zu fragen ob sie Vegetarierin sei, um anschließend den Witz mit den Vegetariern und Oralsex zu bringen, entschließe mich aufgrund der Niederlage von vorhin, ausnahmsweise mal meine Schnauze zu halten.
Käptn Fettnäpfchen muss auch mal Pause machen.

Also weiter zur Frischfleischtheke, an der mich neben der einladenden Fleichwarenfachverkäuferin Cindy auch eine Schlange von Rentnern erwartet, die sich allesamt mal wieder nicht entscheiden können, ob es nun 38 oder 39 Gramm Paprika-Lyoner sein dürfen.


Ich habe nichts gegen Rentner, bitte nicht missverstehen.
Im Grunde hoffe ich, eines Tages auch mal Rentner zu sein.

Ich wäre dann einer der verbitterten Sorte, der Falschparker aufschreibt und Radfahrer auf fehlendes Licht hinweist und solche Dinge.
Ein wenig freu ich mich daraf ja - ach was sag ich, ich freu mich riesig darauf!

Ungestraft Volksmusik hören zu dürfen; mit einem Kissen und einer Flache Bier auf dem Fensterbrett lehnend und die Fussball pöenden Blagen auf dem Hof zur Ordnung rufend.
HERLLICH!
Nun ja. Ein Blick an mir und meinem adonisgleichen Körper verrät mir, dass es bis zur Rente noch viele viele Sommer sind, und die Aussicht auf renitente Pedanterie noch ein wenig auf sich warten lassen wird.
Vor mir in der Schlange tut sich nicht viel. Frau Meyer aus 5b lutscht verbissen auf einem Schoko-Minz Bonbon herum, Nöttge und Remmond aus der Bachstrasse diskutieren über den Boxkampf von gestern Abend.

"Hasse gesehen wie der Russe den Mexikaner verwemmst hat, Herbert?"

"Boah hör mich auf. Der hat gesuppt wie ein Schwein!"
Zumindest thematisch sind wir an der Fleischtheke richtig.

Ich zähle die verbleibenden Minuten zum Ladenschluss und stelle mir innerlich die Frage, was ich denn heute Abend lustiges mit mir selbst anzufangen gedenke.
Eigentlich könnte ich mal wieder Jessi anrufen. Aber die ist irgendwie schlecht auf mich zu sprechen seit der Trennung vor 5 Jahren und dem angezündeten Auto ihres damaligen neuen Freundes.

Ja ich gestehe: Ich neige in Ausnahmesituationen zu Übersprungshandlungen. Aber wer tut das nicht? Es war nur ein alter Ford, und ich habe die 2500 Euro Geldstrafe und 6 Monate auf Bewährung mit dem süßen Lächeln des Sieges auf den Lippen stolz entgegen genommen.

Es waren eben harte Zeiten und jeder musste sehen wo er bleibt.
Aus einem Bauchgefühl heraus beschließe ich, Jessi nicht anzurufen.

In der Schlange tut sich etwas. Vor Nöttge und Remmond steht nur noch die alte Hergens aus dem Seniorenstift an der Beckstrasse.
Warum die noch selbst einkaufen geht, wollte mir früher nicht in den Sinn.
Nachdem ich aber die Oma vom einem guten Freund in dem Seniorenheim besucht habe, wurde mir schlagartig klar, warum man mit knapp 700 Jahren noch den beschwerlichen 390-Meter Weg zum Supermarkt auf sich nimmt.
Das Essen dort war, nun sagen wir mal gewöhnungsbedürftig für einen Gaumen der ansonsten selbst kaum Ansprüche hat.
Auch wenn diese Menschen vertrocknet und eingefallen sein mögen, eine Rindsroullade bricht sich keinen Zacken aus der Krone wenn man sie Sonntags mit Gürkchen serviert!

Die alte Hergens hat aber ganz offensichtlich Findungsprobleme zwischen der Pfälzer Leberwurst und dem Putenaufschnitt.
Langsam werde auch ich unruhig und lasse mich zu einer ersten, unbedachten Äußerung hinreisen:

"Hörnse ma Frau Hergens, wird dat heut noch watt? Um 20:15 kommt auffem erste eine Dokumentation über Kaiser Nero, den kennense doch noch persönlich oder? Nehmse die Pute, dat is nich so fettich!"
"Nich hetzen Junger Mann, gut Ding will Weile haben."

"Dat hat seine Ex-Freundin auch immer gesacht, nich war Hebbert?" fallen die beiden Rentner vor mir ins Wort und klopfen sich lachend auf die Schenkel.
"Nimmet nich so schwer Kleiner, ein bisschen Handarbeit hat noch keinem geschadet, und die nächste fast erblindete wird sich sicher bald finden."

Die Rentnergang bekommt langsam Oberwasser.

"Wat bringst du alter Knochen hier jetzt unnötigerweise Schärfe in das Gespräch?" zische ich noch, während die amüsierten Herrschaften nun von der bezaubernden Cindy bedient werden, weil die olle Hergens nun endlich den Aufschnitt für ihre dämliche Katze gekauft hat.

Ich beobachte derweil geknickt einen sechsjährigen wie er versucht die, vom Supermarkt-Azubi mühsam errichtete, Konservendosenpyramide zu erklimmen. Im übrigen ohne hinreichenden Erfolg, was eine bestimmte Nachhaltigkeit in Punkto Geräusch der zusammenfallenden Pyramide und einem anschließenden Chaos aus rollenden Dosen zur Folge hat.

Bestürzt ob der unsicheren Statik dieses Konstrukts, verlangt das Muttertier des sechsjährigen den Supermarktleiter zu sprechen.
Wie unsicher es hier sei, und überhaupt, in diesem Laden würde sie nie wieder einkaufen da nicht kindgerecht.

Der Kunde, in diesem Falle die Schnepfe, ist eben immer König und so wird der unschuldige Azubi erst vor allen Anwesenden zur Schnecke gemacht und zur Beseitigung des Malheurs gedrungen.
Mit einem tief befriedigtem Lächeln zieht das Muttertier siegessicher von dannen.
Möge sie von einem großen Laster überfahren werden! Mehrfach! Vorwärts und Rückwärts!
Ich hasse diese aufdringlichen Mütter, die ihren Kindern kein Benimm beigebracht haben und grundsätzlich die Schuld bei anderen verorten, wenn die eigene Brut wieder Mist gebaut hat.

Die ran gezüchteten Unternehmensberater und Investmentbanker werden beschützt und in Watte gepackt bis zum geht nicht mehr. Kein Wunder das diese später niemals Schuld eingestehen können, und bei gemachten Fehlern andere dafür verantworten werden.

Aber soll mich das kümmern? Der Kinderwunsch liegt mir aktuell so nahe wie der Wunsch nach einer Darmspiegelung ohne Narkose.
Sollen sich doch andere um ihre verzogenen Ableger kümmern.
Kein Gott, kein Staat, kein Führer. So haben wir es früher auf die Wände in unserem Viertel geschmiert. Und ich werde nun nicht anfangen, frühere Werte in Frage zu stellen.
Außer "die Richtige" liefe mir just über den Weg.
Nach einer gefühlten Dekade des Siechtums und Wartens werde ich von Cindy bedient.
Bezauberndes Geschöpf, beschissener Name.

"Was darfs sein?" schalmeit sie mir mit ihrer güldenen Stimme und den wallenden Korkenzieherlocken entgegen.

"195 Gramm Leberpastete und 1 Pfund Gehacktes, halb und halb bitte." schnurre ich zurück wie ein liebestoller Kater.

"Warum nehmense nich 2 Pfund Gehacktes, da hamse unterm Strich eins mehr?"
Donnerwetter. Diese Logik ist erschütternd einleuchtend.
Dankbar nehme ich den Vorschlag an. Sie ist nicht nur wunderschön, nein, sie ist auch noch klug!

Natürlich bin ich mir einerseits nicht sicher, ob ich schon wieder bereit für eine neue Beziehung bin.
Andererseits, was soll schon schief gehen? Sie arbeitet an der Fleischtheke. Sie ist schön, ich bin schön.

Wir hätten wunderschöne Kinder und immer Schnitzel im Haus.
Anstatt eines veganen Hundes namens Attila, hätten wir einen carnivoren Dalmatiner der auf den Namen Graf Rüdiger hört.

Ach, weh mir oh Zukunft!
Während ich dahin schmachte, vernehme ich schon die Bestellung der Person hinter mir und mir wird gewahr, dass der flüchtige Moment des Bestellens und Bedienens bereits vollendet ist.

Das Glück ist eine Hure!
Das Supermarktradio versucht meine Laune zu heben, indem es mitten im August auf die gerade frisch eingetroffenen Nikoläuse und Lebkuchen hinweist. Nicht aber ohne zuvor eine abartig geschmacklose Version von Jingle Bells zu intonieren, gefolgt von einem tiefen "Ho Ho Ho".
Wundersamerweise befand ich mich am Wochenende noch am Baggersee, habe fremden Frauen ohne Bikinioberteil am Strand nachgestellt und war um jede Erfrischung dankbar.
Nun soll ich mich, laut Werbung, also schon mit Weihnachten beschäftigen. Ich denke gar nicht daran! Mitnichten werde ich als Konsumsklave enden, wie all die verdorbenen Idioten vor mir an der Kassenschlange, die sich um jeden Millimeter Kassenband balgen, wie zwei Streuner um eine Kotelett.

Kinder plärren nach Süßigkeiten, Mütter plärren nach ihren Bälgern, Kassiererinnen plärren nach neuem Kleingeld, Väter plärren nach Bier, Hunde plärren weil der Rest plärrt.

Alle plärren. Unerträglich.

Mit einem kräftig intoniertem "Könnt ihr nicht mal fünf Minuten die Schauze halten?!" versuche ich pflichtbewusst Ordnung in dem akustischen Chaos zu generieren, was mich gerade zur Weißglut treibt.
Einige Sekunden halten die Menschen vor mir kurz inne, starren mich verhohlen an.

Augenblicke später verfallen sie in den selben Schallpegel und meine aufgestaute Wut will sich erneut Bahn brechen, als ich den Kontrahenten im Grimassenschneiden zwei Einkaufswagen vor mir entdecke.

Ich muss tief Luft holen.
Nun bekommst du deine Abreibung du garstiger Zwerg!
Höhnisch blitzen seine fiesen Augen mich an.
Wie ihm Wahn greife ich nach dem Erstbesten was mir in die Finger gerät.
Die Passionsfrucht trifft den kleinen Terroristen hart an der Stirn und eine vorübergehende Ohnmacht befällt ihn.

In dem darauf folgenden Handgemenge mit diversen Umstehenden, der Mutter, der Kassiererin und letztlich auch dem Supermarktleiter schlage ich mich eigentlich ganz gut.

Bis zu dem Moment in dem die herbeigerufenen Schiedsrichter in Blau (die mit den lustigen Lichtern auf dem Dach) mit Pefferspray und Knüppel dem Spaß ein Ende bereiten.

Das Wochenende in der Zelle war eigentlich ganz angenehm. Das Essen kam pünktlich und war einigermaßen warm, und ein paar Unterhaltsame Gespräche mit einem Psychologen hatte ich auch.
Dieser versprach mir einen längeren Urlaub in einem Etablissement zur mentalen Rekonvaleszenz. Ich denke das wird das richtige sein. Vorerst.


Aber der Sieg über dieses abartige Kind war meiner!

 

Wahrheiten vom Kinderspielplatz

Es ist Samstag Mittag, kurz nach ein Uhr und ich schiebe einhändig einen Kinderbuggy vor mir her.
Sein 3 jähriger Besitzer lehnt sich leicht dösend in den Sitz und sabbert fröhlich eine Melange aus Bananensaftresten und Löffelbiscuit, dessen Überreste er noch in der linken Hand zu halten versucht.
Seine 2 Jahre ältere Schwester wackelt brav an der meiner anderen Hand neben mir her.

Ich auf dem Weg zum Kinderspielplatz. Wie konnte das geschehen?
Nun, Svenja stand gestern bei mir vor der Tür.
Svenja ist die äußerst heiße Nachbarin von schräg gegenüber und einer schönen Dame schlägt man keinen Wunsch ab.
Sie bemerkte mit einem Augenzwinkern, dass sie und ihr Mann gerne mal wieder "etwas Zeit für sich hätten" und sich niemand fände, der auf die beiden Engel Lukas und Lena aufpassen könnte.

Die Vorstellung Sex mit Svenja zu haben, lässt meine linke Gehirnhälfte kurzzeitig aussetzen und während ich insgeheim hochgradig neidisch auf ihren Mann bin, höre ich mich selbst die Unheil versprechenden Worte "Klar pass ich auf die Kinder auf, gar kein Problem." sagen.
Und das, wo ich doch zum wichtigen Spiel meiner Mannschaft nach Dresden fahren wollte...Mist!

Da bin ich also: Auf dem Weg zum Kinderspielplatz.
Nachdem meine Bekannte Julia der Ansicht war, dass ein Auswärtsspiel bei Dynamo Dresden
oder wenigstens eine verrauchte Kneipe, in der schon Mittags Bier und Korn in Strömen fliessen, nicht die richtigen Orte für 3 bzw 5 Jahre alte Kinder seien.

Kurz vor dem Spielplatz erwacht Lukas aus seinem Halbschlaf und stößt einen kieksig hohen Schrei aus, der einen Steinadler neidisch machen würde.
Ich deute das als Vorfreude auf Sand, Schaukel, Rutschen und Katzenkacke. Er hat Witterung aufgenommen.

Spätestens als sich Lena von meiner Hand losreißt und zielstrebig einen Gleichaltrigen gekonnt von der Schaukel stößt, zippelt auch der Kurze aufgeregt an seinem Sicherheitsgurt.

Ich mache erst gar keine Anstalten Lena aufzuhalten, da die Taschen mit Kinderzubehör, welche Svenja mir mitgegeben hat, mich in meiner Bewegungsfreiheit maximal einschränken.
"Nur das nötigste" hatte sie mir mitgegeben.
Mit dem "nötigsten" könnte man eine Kompanie Panzergrenadiere 2 Wochen lang im afghanischen Hinterland großzügig versorgen und würde am Ende noch was mit zurück bringen.
Aber gut, Mütter wissen besser als ich was ihre Ableger benötigen.

Während ich auf eine der bereitgestellten Elternparkplätze namens Parkbank zusteuere, fällt mir die Packung Löffelbiscuits in den Sand.
Im Hintergrund ertönt das leise wimmern des von der Schaukel geschubsten.
Ich versuche die Kekse aufzuheben, Lukas aus seinem Gefängnis zu befreien und gleichzeitig das "nötigste" neben der Bank zu verstauen.
Es gelingt mir semi-toll. Die Kekse sind natürlich in Sand gefallen und sehen nicht mehr wirklich appetitlich aus.

"Dat is noch gut. Dreck reinigt den Magen, den Blagen macht dat nix aus!" höre ich eine gutgelaunte Männerstimme neben mir sagen.
Ich setze mich auf den freien Platz neben den Mann, der ein kleines Radio und eine Flasche Pils in seinen Händen hält.
"Auch eins? Ich hab ne Kühlbox dabei, is noch genuch da!" schallt es mir fröhlich entgegen.
Ich bedanke mich, nehme eine Flasche gut gekühltes Bier entgegen und frage höflich ob der Mann denn auch Fussball hören würde.
"Klar läuft Fussball Junge! Wenn ich schon Blagendienst am Samstach habe, dann will ich wenigstens mitbekommen ob die Idioten wieder verkacken. Prost! "

Der Himmel hat ein Einsehen. Wenigstens auf eine Radioübertragung und ein Bier muss ich nicht verzichten.

"Sind dat deine?" fragt der Mann, der sich als Herbert vorstellt.

"Ne ne, Nachbarskinder. Aber ich habe versprochen auf die beiden mal ein paar Stunden aufzupassen" entgegne ich.

"Lass mich raten: Die Nachbarsschnecke ist rollig? Kümmerling?"

Ich bejahe beides und leere rasch den gereichten Magenbitter.

Im Radio erklingt die Stimme des Bochumer Kultreporters Günther Pohl mit den ersten vagen Andeutungen, dass sich in Dresden offenbar gerade kein Fussballklassiker abzeichnet. Egal.
Das Runde muss in das Eckige, denke ich laut.
"Wie beim poppen!" grinst Herbert und zündet sich eine Marlboro an.


"Dschaaaaastin!" ertönt eine Bank weiter eine schrille Frauenstimme.
"Lass dat mit dem Sand schmeissen auf die Nikita! Hör auf dat wat die Mutti dir sagen tut!"
Justin hat vorhin seine Zielsicherheit mit einer gefüllten Schippe Sand auf ein anderes Kind eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Der unterlegene Kontrahent heult laut auf.
Lena schaukelt derweil fröhlich weiter und Lukas baut eine Sandburg.

"Boah, da hinten kommt die Birte. Die und ihre Walldorfblagen gehen mir auf den Sack. Pass auf, gleich beschwert sie sich wieder, wegen dem bisschen Pils. Kümmerling?" fragt Herbert.
Ich bejahe ein weiteres Mal und nehme nach dem zweiten Magenbitter einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche.
Die Schlagzahl gefällt mir schon mal. Eine gewisse Lockerheit macht sich in mir breit, während ich Birte und ihre Kinder auf das Spielplatzgelände zukommen sehe.


"Guten Tag Herr Schubert. Sagen Sie mal, muss das mit den alkoholischen Getränken so früh schon sein?

Lasse, Tjorben, geht schon mal zur schaukeln, aber fragt das Mädchen vorher ob ihr die Schaukel auch benutzen dürft." sagt Birte und verstaut ihre Ausrüstung und den Kinderwagen auf einer weiteren Bank neben uns.

"Is nur für den Kreislauf." erwidert Herbert leicht genervt und nimmt ebenfalls einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
"Möhrensaft wäre besser." sagt Birte.
"Ich trinke nie Salat. Bin seit 30 Jahren Pilot, da fließt nur noch Bier und Schnaps in den Adern."
Ich erwarte zwar eine hitzige Diskussion zwischen den beiden, aber Birte schüttelt nur den Kopf und schlägt einen Artikel in dem Magazin Eltern heute auf.

Lena macht derweil keine Anstalten auch nur darüber nachzudenken den beiden Luschen Platz
auf der Schaukel zu machen. Moderne Emanzipation eben.
Die kleinen Weicheier wagen aber auch keinen zweiten Versuch und setzen sich artig neben die Schaukel.

Wieder eine Live-Schaltung nach Dresden. Günther klingt hektisch. Schein irgendwas passiert zu sein.
Herbert und ich beigen uns leicht zum Radion vor, während Herbert behände zwei weitere reservierte Flaschen Pils und zwei Magenbitter aus der neben ihm stehenden Kühlbox fischt.
Ich nehme beides blind entgegen und versuche zu erhören, was in Dresden passiert ist, als wieder ein lautes
"Dschaaaaastin, wat hat die Mutti gesacht? Wat hat die Mutti gesacht???" ertönt.
"Ecke Bochum" brummelt Herbert. "Seit dem Darek haben wir keine gute Ecken mehr gehabt. Wat macht der zukünftige Knastbruder denn wieder?" Herbert sieht mit einem Auge auf und wir beide sehen Justin ein anderes Kind mit der Schippe verhauen.

Lukas baut derweil weiter an seinem Sandschloss. In dem Kurzen steckt wohl ein kleiner Architekt.
Der VfL verhämmert die Ecke mal wieder hoffnungslos und Herbert und ich lassen unser Pils zischen.
Lasse und Tjorben geraten derweil in handfesten Streit mit Lena, die des schaukelns nicht überdrüssig wird, aber die beiden Spießerkinder offenbar ein wenig ärgern will.

Nach kurzer Diskussion tauscht Lena handfeste Argumente mit den beiden aus, und Lasse und Tjorben liegen heulend im Sand-Scherben-Katzenkot Gemisch.

"Ist das ihre Tochter?" fragt Birte mit einem Ausdruck des Entsetzens in den Augen.
Ich verneine wahrheitsgemäß und denke mir, dass die kleine echt Rasse hat. In 20 Jahren hat die mal die Buchsen in einer Beziehung an.
Ich muss innerlich grinsen, während das Radio einen Elfmeter in Dresden beschreit.

"Für wen? Für wen? brüllt Herbert aufgeregt.
"Also wenn ich mich mal kurz einmischen darf..:" versucht Birte unsere Aufmerksamkeit zu erregen.
"Ruhe getz, da passiert doch wat...Elfer für uns!!!" schreit Herbert.

Währenddessen kommt sein Sohn Paul zu uns, holt sich eine Banane aus dem Buggy und setzt sich zu Lukas.
Die beiden besprechen gerade den Anbau ans Sandschloss und setzen ihren Entwurf auch umgehend um.
Der Radiomoderator ist einem Infarkt nahe, da der georgische Neuzugang den Elfmeter für Bochum antreten wird.

"Der versaut dat doch der Arsch!"

"Dschaaaaastin, getz hör doch mal auf die MuttI"

"Also ich finde das nicht in Ordnung, was ihre Tochter da macht!"

Zu viele Stimmen, ich kann mich nicht beherrschen: "Halt doch mal die Zahnreihen zusammen, Frau Obstsalat, es geht um
den Aufstieg!" zische ich Birte entgegen.

Und an die Elter mit dem Asi-Kind: "Grab den Kurzen ein oder sei leise, und wenn es schnell geht macht dat nix!"Der Alkohol lockert offenbar meine Zunge.

"TOOOOOOOOOR!" brüllen Herbert, Günther und ich gleichzeitig, prosten uns kurz zu, klatschen uns ab und öffnen weitere

Pilsbier und Magenbitter.

"Eins Null, getz müssen die dat nur noch halten, die Idioten" wischt sich Herbert eine Freudenträne vom Gesicht.

Ich platze innerlich. Klar, die Kinder sind ruhig, und Lena verpasst den aufgeblasenen Spiesserkindern gerade die Abreibung die sie fürs Leben stählen wird.
Aber die Vorstellung in einem ausrastenden Auswärtsmob zu stehen und eine Bierdusche nach der anderen zu verpassen, zerrt an meinem Zwölffingerdarm.
Und Svenja bekommt es gerade wahrscheinlich richtig besorgt.
Nur leider nicht von mir.

 

Ok ok, man sollte als kurzzeitiger Kinderbeauftragter sicher nicht so viel auf einem Spielplatz trinken.
Andererseits: Is´Fussball! Wie man im Pott so schön sagt und damit im Grunde auch immer eine Ausrede für alles hat.

"Bring den Müll runter!" - "Ne, is Fussball!"
"Fahr mich zu Arzt, ich bin im Keller schlimm gestürzt." - "Ne Spatz, is grad Fussball!"
"Tiefer Schatz, und schneller!" - "Och ker, lass mich doch. Is grad Fussball!"

Generationen von weiblichen Psychologen haben zu ergründen versucht, warum Männer von Bällen magisch angezogen werden.
Egal welche Größe und Beschaffenheit, rund muss es sein. Das ist der wahre Grund, warum wir auf Titten stehen.
Wir sind da recht einfach gestrickt.
Die Frau kann noch so schön sein, so klug, belesen und toll sein. Wenn die Hupen nicht stimmen und ich Abseits vergebens mit Schachfiguren nachstellen muss, dann...ja dann hilft eigentlich nur noch ein Herrengedeck. Vögeln kann man nach dem Spiel ja immer noch.

Gut, zurück aus der komplexen Welt der Primaten in die Welt des vorher beschriebenen Nachmittags.
Herbert war mittlerweile gut drauf, die Stimmung auf unserer Bank näherte sich dem Siedepunkt.
Nicht nur das der geliebte Verein in der fremde Neufünflands völlig zurecht und absolut verdient führte, das konnte man der unparteiischen Weitsicht der Zuhörer und der Unvoreingenommenheit des Moderators klar entnehmen. Nein, auch das schier unendliche Fassungsvermögen von Herberts Kühlbox tat ihr übriges.
Ein Pilsbier nach dem anderen strömten daraus hervor.
So viele, dass ich mir insgeheim versuchte auszumalen was passiert wäre, hätte Herbert die alle alleine trinken müssen.
In diesem Moment war ich kurz stolz darauf, ihm tatkräftig zur Seite stehen, pardon sitzen, zu dürfen.

Die Kinder waren mir in diesem Moment völlig egal.
Sie hätten eine Bank ausrauben und Geiseln nehmen können, ich hätte im anschließenden Verhör vermutlich nur Wortfragmente wie "Bbbbier", "Gelashvili" und "Siiiiiiiiieg!" rauspressen können.

Aber die Gefahr war bei Lena und Lukas nicht akut.
Lukas ging seiner Leidenschaft, dem Bauhandwerk, weiter nach. Eine recht wirklichkeitsnahe Abbildung des Taj Mahal aus Sand erreicht meinen leicht alkoholgetrübten Stirnlappen.

Lena hat sich derweil die beiden Ökokinder zu Sklaven erzogen. Einer spielt einen Hund für sie, der andere sitzt ehrfürchtig und devot am Rande.
Die hat die beiden echt gut unter Kontrolle.

Dschaaaastin derweil ist auf einem runden Karussel, was sich sehr schnell drehen kann, wie ich aus leidlicher eigener Erfahrung zu berichten weiß.
Insgeheim hoffe ich auf einen kleinen Aufreger nach dem Spiel, welches sich dem Ende neigt. Eventuell ist sogar ein ausgeschlagener Milchzahn drin?

Herbert nestelt nervös an seinem Bier.
Ein prüfender Blick in die Kühlbox verrät ihm, dass der Vorrat so gerade eben die letzten 15 Minuten bis Spielende für uns reichen dürfte.

"Nur noch 7 Granaten und zwei Batterien Kurze für jeden, wird knapp mein Jung" merkt er kritisch an.
Das Frühstücksei in meinem Magen dreht eh schon Extrarunden, dennoch will ich keine Schwäche zeigen.
"Oh ne, das wird knapp wa?" versuche ich enttäuscht zu klingen.
"Kann auch noch eben zur Tanke fahren, wenn du willst" entgegnet Herbert aufopferungsvoll.
"Lass mal, wir gehen anschließend zu Ferdi in die Goldene Sau, da is heute Herrengedeck 1,90" sprudelt es aus mir heraus.

Irgendwie beschleicht mich das dumme Gefühl, dass diese unheilige Symbiose aus Fussballradioübertragung, einer Menge Alkohol und Kinderspielplatz kein gutes Ende nehmen könnte.

"Sie wollen doch wohl nicht mit den Kindern noch in eine Gastwirtschaft?" zischt Birte zu uns herüber und formt ihre Augen zu Schlitzen.

"Ne, inne Kneipe!" Herbert lacht laut.

Es kommt, wie es kommen musste: Der beliebte Radiomoderator überbringt die Nachricht des recht späten Ausgleichs nach klarer Abseitsposition. 1:1 - Dresden steht Kopf gegen den Favoriten.
Unter dem lauten Zischen meines Flaschenverschlusses verdrehen Herbert und ich die Augen und nehmen jeweils einen kräftigen Schluck aus unseren Pullen.
"Hab ich´s doch gewusst, hab ich es doch gewusst, verdammte Kacke!" wimmert mein neu gewonnener Trinkkumpan.
"Die drehen dat noch, wirst schon sehen." versuche ich ihn aufzubauen.
"Fussball ist doch eh ein Sport für Idioten. 22 Mann laufen einem Ball hinterher..." zischt Birte wieder, wird aber von einem zweikehligen Chor durch ein gleichzeitiges und lautes "FRESSE!" unterbrochen.
Kopfschüttelnd widmet sie sich wieder ihrer Zeitung.

Dschaaaaastin derweil lernt die wunderbare Welt der Fliehkräfte auf dem Drehkarussell kennen.
Sein Flug endet drastischerweise knapp vor dem Begrenzungsstein des Sandkastens.
Nach kurzem schütteln stürzt sich die Rotznase ein weiteres Mal auf das Karussell.
Innerlich verfluche ich den Bauherrn des Spielplatzes und widme mich wieder der Radioübertragung.

Während Metallica mit Enter Sandman die letzten Minuten der Radioübertragung einläutet, widmen Herbert und ich uns den verblieben Kräuterschnäpsen.

Plötzlich eine hektische Unterbrechung des Liedes. Das bedeutet in der Regel, dass ein Tor gefallen ist.
Nervös bewegen sich unsere Oberkörper nach vorne, in der Hoffnung noch mehr von der Übertragung in uns einsaugen zu können.
"Nu sach schon wat los is du Penner!" wird Herbert abermals laut.
"Herbert, jetzt hören sie doch mal auf zu fluchen." Birte ist schon wieder in ihrem Element.
"FRESSE!" schallt es ihr erneut und parallel entgegen.

"Tooooooor für den VfL!" krächzt es aus dem Weltempfänger
Wir reißen beide die Arme hoch und drücken uns. Die Freude scheint grenzenlos angesichts der hochprozentigen Unterstützung.
Wir erfahren, dass abermals der Georgier nach einem tollen 40 Meter Sololauf durch die Dresdner Abwehr ein wunderschönes Tor erzielt hat.

Und nun: Abpfiff! Sieg!
Herbert und ich kennen kein halten mehr.
Während ich mich trotz der Freude noch darüber wundere, wo Herbert die Magnumflasche Sekt her gezaubert haben könnte, ist dieser schon dabei den halben Inhalt zu verspritzen wie ein Formel 1 Fahrer bei der Siegerehrung.

Birte nimmt Schaden, aber ihr Gezeter geht im allgemeinen Jubel unter.
Die Kinder schauen uns verwirrt an und halten inne.
Wir leeren jeweils abwechselnd den verbliebenen Inhalt er Blubberbrausenflasche und prosten uns zu.

Nur Dschaaastin bekommt aufgrund der aufkommenden Hektik der Ereignisse plötzlich Probleme mit der Arm/Bein Koordination.
Abermals macht er Erfahrungen mit den Fliehkräften und Mutter Schwerkraft hat ein Einsehen. Diesmal gibt es keine Abzüge in der B-Note, der Racker mault sich mit der vorderen Zahnleiste am Begrenzungsstein des Sandkastens, nicht ohne vorher das Sand gewordene Taj Mahal von Lukas im Flug zu zerstören.
Dieser quittiert diese Missachtung seiner Kunst direkt mit einem Schippenhieb auf den am Boden liegenden und Sand vollblutenden Dschaaastin.
Abermals brandet Jubel bei mir und Herbert auf.

Seine Konstitution ist echt bewundernswert. Der zukünftige U-Bahnschläger weint noch nicht mal, sondern hält nur erstaunt die zwei abgebrochenen Milchzähne seines ramponierten Esszimmers in Hand, während seine Mutter ihn gekonnt packt und mit ihm offenbar in Richtung medizinische Erstversorgung entschwindet.

Auch Birte hat zwischenzeitlich ihre beiden Luschen eingepackt und ist unter derben Flüchen von dannen gezogen.

Während Herbert mir erklärt, dass er als Berufspilot langsam zum Flughafen müsste, schließlich habe er heute Abend noch eine Boeing nach Mallorca zu fliegen, bemerke ich zwei Kinderhände, welche links und rechts an meinem Hemd ziehen.

Lena und Lukas haben wohl für heute genug, und meine Leber lallt mir auch schon ein lsutiges "Auszeit!" entgegen.
Glücklich über den Sieg, und gar nicht unglücklich über die abgesagte Kneipentour, verfrachte ich Lukas in seinen Rennwagenbuggy und nehme Lena pflichtbewusst an die Hand.
Per Google Maps App auf Lenas Smartphone laufen wir auch nur einen kleinen Umweg von ca. 45 Minuten, da meine navigatorischen Sinne leicht überfordert sind.

An der Tür begrüßt mich Svenja im Morgenmantel und mit einem glücklichen und entspannten Gesicht.
So in etwa stelle ich mir den Blick eines frisch gefickten Eichhörnchens vor.

"Und, alles gut gegangen? Waren die beiden brav?" fragt sie mich lächelnd, während ich versuche das Gleichgewicht zu halten.
"Die reinsten Engel" stammele ich noch und versuche dabei so nüchtern wie irgendwie möglich zu wirken.
Auf dem Heimweg versuche ich die Vor- und Nachteile eines verpassten Auswärtsspieles mit dem heutigen Tag abzugleichen.

Zwei Wochen später wird Birte meine neue Abteilungsleiterin, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

 

 

 

Will ich das wirklich? (Beitrag für Bierglaslyrik/ Ausgabe 18)

 

Liebes Tagebuch,

 

der Nachteil an berufsbedingten Ortswechseln beinhaltet leider auch, dass meine Wohnung

zwangsläufig aufgeben und sich eine neue Bleibe suchen muss.

Auch bei mir war es mal wieder so weit, und so begann ich in meiner neuen Heimat eine

bezahlbare Unterkunft zu suchen, was aufgrund meiner monetären Situation die Möglichkeiten arg

einschränkte.

So blieben mir am Ende nur noch bezahlbare Alternativen im Bereich der so genannten

Wohngemeinschaften oder ein Zelt im Volkspark. Bei den aktuell widrigen Witterungsbedingungen

war die zweite Lösung nicht gerade meine erste Wahl.

Aber wollte ich wirklich in einer Gemeinschaft mit mir völlig Fremden leben?

Meinen Namen mit Filzstift auf meine Lebensmittel schreiben in der Hoffnung, dass nach

einem langen Arbeitstag noch mein französischer Weichkäse und die Zitronenlimonade im mir

zugewiesenen Fach im Kühlschrank überdauert haben?

Wollte ich mich wirklich einem Spülplan unterwerfen, welcher mir vorschreibt wann ich die

Essensreste mir völlig fremder Personen von zusammengesuchtem IKEA Besteck zu kratzen hätte?

Wollte ich wirklich mein Badezimmer und die mir lieb gewonnen Eigenschaften, wie das Lesen

eines halben Romans im Zeitraum einer morgendlichen Sitzung, aufgeben und ein Schnellduscher

werden, um den Tagesablauf der Fremden nicht völlig durcheinander zu bringen?

Wollte ich mich wirklich auf WG-Parties einlassen, die in unschöner Regelmäßigkeit über mich

hereinbrechen würden, vor allem dann, wenn ich es am wenigsten ausstehen können würde?

Auf denen mir noch weitaus fremdere Personen in die Ecke des Balkons kotzen, weil sie das

Mischungsverhältnis Pernod zu Cola überschätzt haben?

Wollte ich es riskieren, dass mich meine Mitbewohner bei zügellosen Schäferstündchen mit meiner

neuesten Eroberung belauschen, sich gar amüsieren und eventuell heimlich mitfilmen?

Was würde Mutti denken, wenn diese Filme im Internet kursieren würden?

Was würde ich denken, wenn ich wüsste, dass Mutti diese Filme gesehen hätte?

Würde ich damit nicht meine gesamte berufliche Zukunft, meine Reputation, aufs Spiel setzen?

Für eine günstige Wohnungsalternative, irgendwo zwischen Klassenfahrt und Übernachtung bei

guten Freunden im Kindesalter, nur mit mehr Pornos, Alkohol und Parties?

 

Wollte ich das wirklich riskieren?

Was wäre, wenn ich mich mit den Mitbewohnern nicht verstehe?

Was wäre, wenn ich vergesse die Flurwoche einzuhalten?

Was wäre, wenn ich mit zwei gutaussehenden Sportstudentinnen zusammenleben würde, welche

ständig halbnackt durch die Räume flitzen, wie in so vielen Filmen, in denen es um Liebe geht und

am Ende nicht geheiratet wird?

Was wäre, wenn, was viel wahrscheinlicher ist, meine Mitbewohner männlich und unreinlich sind,

nur Pizza essen und schlimme laute Musik aus den Charts hören?

Was wäre, wenn der Spülplan plötzlich verschwindet und eine Verschwörungstheorie entsteht,

welche in einem blutigen Eklat häuslicher Gewalt, geschlichtet durch die Polizei unter massivem

Einsatz von Pfefferspray, endet?

 

Liebes Tagebuch, ich habe mich überwunden und schweren Herzens eine Entscheidung getroffen,

Aber ich muss nun Schluss machen und das Zelt heizen. Es soll heute Nacht wieder Frost geben.

Bis bald, liebes Tagebuch!

 

Freiherr von Zahnstein (mag am liebsten Moritz Fiege Pils aus Bochum)

Impressum

Texte: Dominik Gardzitz
Bildmaterialien: Dominik Gardzitz
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /