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Prolog
Das Bellen hinter ihr wurde immer lauter.
Erschöpft hechtete sie durch das Gehölz. Den Schmerz, der sich langsam unter ihren Füssen und an ihren Beinen ausbreitete, merkte sie nicht. Die Lumpen an ihren Füssen schützten sie längst nicht mehr vor spitzen Ästen und Dornen im Wald. Gehetzt drehte sie sich immer wieder um, die Hunde kamen immer näher. Sie sammelte noch einmal alles an Kraft, was ihr auf ihrer Flucht geblieben war und sprang über eine Erdspalte, in der vielleicht ein verängstigtes Kaninchen hockte und darauf wartete, dass der Lärm vorüberzog. Sie konnte es nicht spüren, sie war zu schwach. Sie musste es zum Fluss schaffen, dann hatte sie eine Chance.
Am Himmel kreiste ein Falke, der sie zu beobachten schien. Sie nahm es nur noch am Rande wahr, die letzten Reserven sammelnd, hechtete sie weiter durch den Wald. 'Sie kommen, beeil dich' summte es in ihrem Kopf. Mitten im Lauf hielt sie erschrocken an, wunderte sich, was das war. Das Summen wurde lauter und floß durch ihren Kopf. 'Nicht stehenbleiben, weiter!'
"Geh weg!" schrie sie panisch und versuchte die Stimme mit den Armen zu verscheuchen. Das Summen rasselte, als wäre es ein Lachen.
'Dummerchen..Jetzt weiter...schnell...Sie kommen!' In diesem Moment erscholl das Bellen wieder, diesmal nur etwas näher. Erschrocken lief sie weiter.'Zum Fluß' summte es wieder.
"Hör auf, lass mich in Ruhe!" kreischte sie.
'Ich will dir nur helfen, hab keine Angst.Gleich hinter den Büschen ist der Fluß, dort musst du hin.'
Das Bellen kam immer näher, jetzt konnte sie sogar die Stimmen ihrer Verfolger hören. Aber auch den Fluß hörte sie schon ganz deutlich. 'Geh über die Steine, über die Steine....' summte es.
Am Flussbett angekommen sah sie, dass große runde Steine aus dem Wasser ragten. Der Abstand zueinander war gerade groß genug, um von einem zum anderen zu springen. Sie zögerte. 'Hab keine Angst, nur ein Stück noch, dann ist es sicher.'
Allen Mut zusammenraffend lief sie auf den ersten Stein zu und sprang. Sie erreichte ihn sicher, genauso wie die nächsten drei. In diesem Moment brachen die Hunde und ihre Verfolger aus dem Dickicht. Erschrocken drehte sie sich um und sah, dass in diesem Moment die Steine hinter ihr wieder im Wasser verschwanden. Ihre Verfolger sahen etwas ratlos aus, die Hunden liefen am Ufer nervös hin und her. Hektisch wandte sie sich wieder um und sprang weiter.
Jeder Stein, den sie hinter sich ließ, versank wieder in den Tiefen des Flusses.
Verfolger und Hunde stürmten zum Wasser, da ertönte vom gegenüber liegenden Ufer eine laute Stimme:
" Thin-ay mur enmorth en el fleth!"
Die Hunde stoppten und fingen an zu jammern. Die menschlichen Verfolger jedoch preschten weiter schimpfend ins Wasser. Sie hatte mittlerweile das andere Ufer erreicht und sah gerade noch, wie der letzte Stein im Wasser versank.
'Geh weiter, das willst du nicht sehen.' summte es erneut. Neugierig starrte sie zu ihren Verfolgern und sah, wie sie immer wieder auf sie deuteten und immer tiefer ins Wasser hasteten. Auf einmal wurde es windstill, die Vögel hörten auf zu zwitschern. Sogar das Rauschen des Wassers schien leiser zu werden, bis auf ein kleiner Bereich, in dem ein kleiner schwarzer Punkt auftauchte und immer größer und schneller wurde. Die Männer erstarrten und schauten gebannt auf die Stelle. Sie standen schon bis zur Brust im Wasser. Der Punkt steuerte genau auf die Männer zu und verschwand, kurz bevor er sie erreichte. Die Männer erwachten aus Ihrer Starre und begannen weiter zu waten.
Auf einmal schoß hinter ihnen eine große schwarze Wand in die Höhe. Die Hunde verschwanden aufjaulend im Wald. Ein großer Blöthrwurm hatte sich hinter den Männern aufgebaut und versperrte den einzigen Fluchtweg zum rettenden Ufer. Am Ende, wo der Kopf sitzen sollte, öffnete sich ein großes Loch und entblößte eine spitze, zweireihige Zahnreihe. Panik fuhr in die Männer, rudernd versuchten sie das entgegengesetzte Ufer zu erreichen. Blitzartig schoß die riesige Maulöffnung auf zwei Männer zu und verschlang sie zur Gänze. Ihre Schreie wurden mit einem grauenerregenden Knacken beendet.
Während sie schaudernd zusah, wie die Männer, die sie hatten töten wollen, einen schrecklichen Tod erlitten, lief ihr eine kalte Welle nach der andern ihren Rücken runter.'Komm, du kannst nichts für sie tun.'summte es eindringlich.

"Wer bist du?" flüsterte sie.


Freunde




Wie in Trance wanderte sie erschöpft auf den Wald zu. Jetzt merkte sie ihre Blasen, die schmerzenden Beine und die kleinen Wunden.
Sie war so erschöpft, sie wollte sich einfach nur hinlegen und genau an dieser Stelle schlafen.
'Nicht jetzt.Weiter, ein kleines Stück noch.Du hast es gleich geschafft.'
"Ich kann nicht mehr! Ich bin müde!"
'Du bist gleich da, dann kannst du dich ausruhen und auch deine Wunden werden versorgt.Unsere Schwestern sind schon auf dem Weg zu dir.'
Die Erschöpfung war schon deutlich spürbar, stolpernd wanderte sie weiter. Die Vögel zwitscherten wieder und eine sanfte, warme Brise umspülte sie. Ein paar Meter weiter schien der Wald sich zu lichten.
Sie schleppte sich dorthin und wenige Minuten später durchbrach sie das Dickicht. Die Sonne überraschte sie so sehr, dass sie im ersten Moment wie geblendet war. Sie bedeckte die Augen mit ihrer Hand, um ihnen die Möglichkeit zur Gewöhnung zu geben.
Ein schwacher Gesang wehte ihr entgegen und auf der anderen Seite der Lichtung tauchten die ersten Gestalten auf.
Sie blinzelte ein paar Mal und sah im ersten Moment nur kleine schwarze Punkte. Die Gestalten kamen auf sie zu.
Ihre Augen hatten sich zwischenzeitlich an die helle Sonne gewöhnt und so erkannte sie, dass die Gestalten weiblich waren.Sie spannte die Muskeln an - bereit, jeden Moment zu fliehen..da summte es wieder: ' Warte! Dir droht keine Gefahr.Sie werden dir helfen.'
Die Frauen waren schon so nah, dass sie erkennen konnte, dass sie eine Art Tracht trugen. Das Oberteil bestand aus dunkelgrünem Leinen und hatte mehr den praktisch ausgerichteten Schnitt, als dass er modisch war. Weite, bauschige Ärmel ließen viel Bewegungsfreiheit zu. Der lange braune Rock war an den Seiten bis zur Hüfte geschlitzt und ließ den Blick frei auf enge beige Hosen und dunkelbraune Wildlederstiefel.
Eine rothaarige Frau blieb vor ihr stehen, wachsam beobachtete sie sie. Die Rothaarige hob die rechte Hand und führte sie mit dem Handinneren voran zu ihrem Herz und formte dann mit Daumen und Zeigefingern ein L.
"Sei gegrüßt, Schwester! Wir sind so schnell wie möglich aufgebrochen, um dir zu helfen. Aber ich sehe, bis auf ein paar Kratzer ist dir nichts passiert." Ihre warme, weiche Stimme klang wie das Plätschern des Flusses. "Ich bin Helaris und du, Schwester?"
"Selena." krächzte sie und bemerkte erneut ihre Müdigkeit.
Selenas Knie fingen an zu zittern und sie konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sofort umringten Sie die Frauen und fingen leise zu summen an. "Ruh dich aus. Du hast einen weiten Weg hinter dir!" Helaris legte ihr die Hand auf die Stirn und sofort breitete sich eine wohltuende Wärme auf Ihrer Haut aus. Selena verlor schlagartig das Bewußtsein, sie spürte aber noch wie man sie hochhub.

Als sie wieder die Augen öffnete, konnte sie ihre Umgebung nicht gut erkennen. Sie war in einer dunklen Hütte untergebracht, das Fenster war mit Tierfell bedeckt, wehte aber leicht mit dem Wind und so kam abundzu ein Sonnenstrahl herein. Von draussen hörte sie Kinderlachen und Gespräche von Erwachsenen, auch die Geräusche von Tieren.
Selena wollte sich aufsetzen, aber in diesem Moment schoß ein scharfer Schmerz durch Ihren Kopf. Ihr wurde schwindelig und schnell legte sie sich wieder hin und schloss die Augen. Langsam zählte sie bis einhundert und öffnete ihre Augen langsam. Sie ließ den Blick schweifen und erkannte allmählich ihre Umgebung. Selena befand sich in einer runden Lehmhütte, in der Mitte brannte ein kleines Kochfeuer und der Rauch stieg langsam zur Öffnung im Dach hoch. Gegenüber befand sich die Türöffnung, welche ebenfalls mit einem langen Tierfell bedeckt war.
Selena schaute an sich runter. Sie lag auf einem Heubett, überzogen mit weichem Fell. Ihre Füsse waren dick eingepackt in Zmirrlinblätter. Sie kannte diese Blätter, weil ihre Mutter so kleine Verbrennungen geheilt hatte, die Selena sich als kleines Kind immer wieder am offenen Feuer zugezogen hatte.
'Mutter', Selena seufzte, eine kleine Träne rollte ihre Wange hinunter. Die Erinnerung an ihre Mutter und die vergangenen Tage bahnte sich einen Weg. Immer schneller liefen die Tränen und Selena konnte ein schniefen nicht unterdrücken.
In dem Moment wurde das Tierfell zum Eingang zurückgeschlagen und eine Frau trat ein. Selena fuhr zusammen und setzte sich ruckartig auf, in dem Moment fing ihr Kopf wieder zu hämmern an.
"Du brauchst keine Angst haben, Selena. Du bist hier in Sicherheit."
Sofort erkannte Selena, dass es Helaris war, die gesprochen hatte und entspannte sich.
"Was macht dein Kopf?" Helaris kam näher. "Darf ich mir das mal näher anschauen? Es tut nicht weh."
Selena war sich unschlüssig und zögerte. "Ich weiß nicht. Ich ..." Selena stockte.'Alles gut.Helaris weiß, was sie tut.Lass sie uns untersuchen.' Da war die Stimme wieder.
"Er hat recht, weißt du? Es ist alles in Ordnung.Ich bin Heilerin und ich weiß was ich tue." Helaris nahm einen Hocker und setzte sich neben sie. "Wenn du Fragen hast, dann frag mich einfach."
Selena glaubte den Verstand zu verlieren, sie hörte Stimmen, war auf der Flucht vor Hexenjägern, hatte sich an einem Blöthrwurm vorbeigeschlichen und lebte noch. Jetzt lag sie in der Hütte einer Fremden und alles sollte in Ordnung sein.
"Nichts ist in Ordnung", flüsterte sie.
"Ich weiß." Mehr sagte Helaris nicht.
"Woher weißt du,.."Selena brach ab.
"Dass du verfolgt wurdest,dass du auf dem Weg zu uns warst und Hilfe brauchtest oder dass du eine Stimme hörst?" Helaris beobachtete wie Selena mit der letzten Äußerung zusammenfuhr.
"Du bist nicht verrückt. Nur dass du es weißt."Helaris stand auf und ging an die andere Seite der Ecke und kramte einen Beutel hervor. Selena verfolgte wachsam, was da vor sich ging.
"Darf ich mir jetzt einmal anschauen, wie deine Heilung voranschreitet?"
Selena nickte, neugierig darauf, woher Helaris wußte, was in ihr vor sich ging.
"Entspann dich und lerne." Helaris legte ihre Fingerspitzen an Selenas Schläfen.
"Atme langsam ein und dann ganz langsam wieder aus. Stell dir vor du schwebst im Raum und von irgendwoher scheint warm die Sonne auf dein Gesicht."
Selena lauschte auf Helaris' warme und sanfte Stimme und sofort kam sie sich unsagbar leicht vor. Ihr Gesicht erwärmte sich und in ihrem Inneren breitete sich ein Summen aus, welches langsam zum Kopf hochwanderte. Bilder ihrer Verfolgung erschienen ruckartig vor ihrem inneren Augen, Wut und Schmerz zerrten an ihr. Verzweiflung und Panik drohten aus ihr herauszubrechen, dann war auf ein mal alles vorbei. Ihr erschien ihre Mutter, umringt von sanftem Licht. Lächelnd hob sie die Hände und klatschte. Ein kleiner Junge mit goldblondem Haar lief auf ihre Mutter zu und ließ sich in ihre Arme fallen. Sie waren glücklich und lachten. Der Junge drehte sich um, und lachte Selena an. Dann bewegte sich sein Mund: 'Selena, schön dass du uns gefunden hast!Du brauchst dich nicht zu fürchten, wir sind immer bei dir.Helaris wird dir helfen. Vertrau nur ihr, bis ich da bin.' Die Vision wurde schwächer, ihre Mutter und der Junge verschwanden. "Warte!" schrie Selena. Doch sie war bereits erwacht, lag mit dem Kopf auf Helaris' Schoß und versuchte zu verstehen, was da gerade passierte. Als sie zu Helaris hochschaute, sah sie, dass sie sie beobachtete. "Nun kleine Wanderin, was hast du gesehen?"
"Ich..weiß es nicht. Ich verstehe nicht, was gerade mit mir passiert."Selena sah fragend hoch.
" Weißt du, es gibt Menschen, die haben eine Gabe.Die Gabe der Magie, der Hellsichtigkeit oder die der Wanderung. Jede Gabe kann nur einmal in jedem Menschen leben. Die Legende besagt jedoch, dass eines Tages ein Kind geboren wird, welche alle Gaben in sich vereint...." Draussen wurde es auf einmal laut.Die Hunde bellten, Kinder schrien durcheinander. Helaris schreckte hoch. "Du wartest hier! Ich muss sehen, was da los ist.Ganz gleich was passiert, komm nicht raus." Selena nickte. Helaris schaute sie nocheinmal prüfend an und eilte dann nach draussen.
Selena versuchte erneut sich von ihrem Krankenbett zu erheben, diesmal etwas langsamer. Sie bemerkte ein leichtes Pochen im Hinterkopf, aber der Schwindel kehrte nicht wieder. Vorsichtig erhob sie sich und taumelte auf wackligen Beinen und schmerzenden Füssen zum Fenster.

Gefahr



Selena klammerte sich am steinernen Fenstersims fest und lugte nach draussen. Sie hatte Blick auf eine kleine schmale Holzbrücke, die über einen schmalen Fluss führte. Am anderen Ende der Brücke stand ein einzelner Reiter. Er hielt in der rechten Hand die Fahne des Herrscherhauses, mit der rechten stützte er sich an seiner Hüfte ab um größer zu erscheinen.
"Bewohner !" brüllte er und wartete kurz, bis er Aufmerksamkeit fand. Er wiederholte: "Bewohner! Im Namen des Meisters befehle ich euch, eure Kinder hervorzubringen, auf dass wir sie prüfen."
Einen Raunen fuhr durch die Menge und die Älteren Kinder stellten sich schützend vor die Kleinen.
Helaris schritt auf den Reiter zu und hob herausfordernd den Kopf. Auch der Reiter richtete sich auf seinem Pferd auf und schob die Brust nach vorne. " Helaris", sagte er leise. Sie erwiderte nichts, sondern verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.
Sie schienen sich eine zeitlang einfach nur anzustarren, bis dann schliesslich der Reiter das Schweigen durchbrach. "Du weisst, dass ich euch nicht ewig ignorieren kann. Der Meister hat..." Helaris erhob die Hand und unterbrach ihn. " Hör auf, Ingmar! Du brauchst mir das nicht zu erzählen. Was immer ER befiehlt, muss ausgeführt werden...aber wage es nicht, dieses Recht mit Gewalt einzufordern." Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll zu seinem Degen, der dekorativ an seiner Seite baumelte. "Wir bringen die Kinder, wohin auch immer sie hin sollen und nehmen sie dann anschlessend wieder mit."
"Du weißt, dass ich dir das nicht versprechen kann. Was, wenn eines dieser Kinder das Gesuchte ist. ER wird es nicht gehen lassen," sagte Ingmar.
Helaris lachte laut heraus." Du glaubst doch nicht etwa an diese Ammenmärchen. Ingmar, ich hab dich für erwachsen gehalten."
Ingmar lief rot an und zischte:" Misch dich nicht ein Helaris, ich sag es dir. ER glaubt daran, also werde ich auch daran glauben!"Er beugte sich vor."Die Kinder werden hier geprüft und ich sorge dafür, dass es alle sind."
Er richtete sich wieder auf und hob die Hand. Daraufhin erschien eine Reihe von bewaffneten Reitern, die langsam auf das Dorf zuritten.
Selena hatte das Schauspiel vom Fenster aus beobachtet, sie zitterte. `Sie sind wieder da!´Panik erfüllte sie. In ihren Gedanken sah sie erneut, wie die Männer in ihr Dorf einfielen und wahllos Menschen zusammentrieben, indem sie auf sie einprügelten.Sie roch noch den Rauch, der aus einigen Hütten, welche die Männer in Brand gesteckt hatten.
Sie schüttelte den Kopf um diese Bilder zu vertreiben. Selenas Blick wanderte wieder zu Helaris, die den Reiter nun zu einer Hütte führte.
Es dauerte eine Weile, bis alle Kinder aus dem Dorf sich vor der Hütte versammelt hatten. Selena sah, dass eine große Unsicherheit herrschte. Keiner wollte von dem Fremden mitgenommen werden. Nach und nach wurde ein Kind nach dem Anderen in die Hütte gerufen und wenn sie wieder entlassen wurden, zog sich ein beruhigter Blick über die Gesichter der Erwachsenen und die Kinder liefen erleichtert zu ihren Elternteilen.
Das Fell, welches den Eingang verdeckte wurde beiseite geschoben und der Fremde kam mit einem kleinen blonden Mädchen heraus und schobe es vor sich her. Ein erstickter Aufschrei kam aus der Menge. Eine Frau, welche anscheinend zu dem Kind gehörte, brach in Tränen aus und wollte schon auf den Fremden losgehen. Da hob er die Hand um der Menge zu signalisieren, dass er etwas mitzuteilen hatte. Die aufgebrachte Frau wurde von zwei Männern festgehalten und versuchte sich lautstark aus deren griff zu entwinden- es gelang ihr nur nicht und sie wurde immer verzweifelter. Als sich langsam der größte Lärm gelegt hatte, fing der Fremde zu reden an." Bewohner, ich bedanke mich für eure Kooperation. Muss jedoch leider feststellen, dass ihr nicht ganz ehrlich zu mir wart. Keines der mir vorgestellten Kinder entspricht den Voraussetzungen oder hat den Test bestanden. Gisele, du darfst zurück zu deiner Mutter." Damit schob er das Kind vorwärts und die erleichterte Mutter schloss sie sofort in ihre Arme. Sie hob es auf und drängte sich durch die Menge, um ihr Kind möglichst weit von diesem Fremden wegzubringen.
"Bewohner, es ist ein Fremder unter euch, die mir nicht vorgstellt wurde." Er machte eine bedeutungsvolle Pause.Langsam hob er die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die Menge, die sich wie zusammengescheuchte Schafe auf einer Stelle dicht zusammendrängten. "Wer Fremde beherbergt, sollte dafür sorgen, dass sie hier vor mir erscheinen. So will es das Gesetz. Solltet ihr dem nicht folgeleisten, so bestrafe ich euch alle!" Wie auf einen stummen Befehl traten die Soldaten, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten, nach vorne und zogen ihre Schwerter.
Selena wurde am Fenster ganz übel. Ihr war heiss, ihr ganzer Körper schmerzte und das Hämmern und Pochen war in ihren Schädel zurückgekehrt.
"Ich warte." Er wandte seinen Blick Helaris zu, sie stand jedoch ruhig da, als hätte sie von all dem nichts gehört. Sie hielt seinem Blick stand, die Luft zwischen ihnen schien förmlich zu knistern.
"Was bringt dich auf die Idee, wir würden hier Fremde beherbergen, noch dazu in diesen Zeiten. Würden uns alle in Gefahr bringen, unsere Kinder, Alten und Kranken ? Sag mir was für einen Grund sollte es geben?" Ihre Stimme wurde lauter. "Ihr habt uns schon unsere Männer genommen, unsere Söhne erzieht ihr zu hirnlosen Kreaturen, die arglose Dorfbewohner bedrohen." Sie deutete auf die Soldatenreihe. "Ihr stellt euch in den Dienst eines Mannes, den weder euer Schicksal, noch eure Vergangenheit interessiert. Der..."
"Schweig, Weib! Oder ich schneide dir die Zunge raus!"schrie der Fremde Helaris an und unterbrach sie so wüst, dass sie kurz zusammenzuckte. Er schritt in großen Schritten auf sie zu und baute sich bedrohlich vor ihr auf.Er zischte ihr leise zu:" Ich weiß, dass sie hier ist. Helaris, wir kennen uns schonso lange.Du kannst mich nicht belügen.Wir werden hier alles auf den Kopf stellen. Ich sagte eben schon, dass ich euch nicht weiter beschützen kann." Seine Stimme wurde versöhnlicher."So versteh doch. Es erregt Argwohn jemanden zu verstecken und sich dann zu weigern, zu kooperieren."
Helaris´ Miene versteinerte sich."Komm mir nicht so, Ingmar ! Ich werde deinem verfluchten Herrn nichts ausliefern, weder unsere Kinder noch Fremde die Zuflucht suchen sollten. Unser aller Herr.." Ingmar verdrehte die Augen und unterbrach sie. "Der kann dir jetzt nicht helfen. Nehmt sie fest.!" Zwei der Soldaten gingen auf Helaris zu und griffen sie bei den Armen.Ein Aufschrei ging durch die Menge.

Selena stand am Fenstersims, ihre Fingernägel krallten sich in den Stein. Wut stieg in ihr hoch. Wie konnten diese Männer nur solche Drohungen ausstoßen? Sie war hin- und hergerissen. Helaris hatte gesagt, sie solle im Haus bleiben, aber konnte sie das? Helaris hatte sie gerettet, hatte ihr geholfen, sie gepflegt...nein, sie konnte hier nicht rumstehen und sich verstecken, während Helaris gefangen genommen wurde. Sie musste was unternehmen.

Da ertönte es von draussen: "Durchsucht die Häuser, die kleine Gisele..." Helaris lachte laut auf. "Ihr schenkt einem Kind Glauben? Einer vierjährigen, die mit imaginären Freunden spielt und in anderen Welten mit Tieren sprechen kann. Dann seid ihr einfältiger als ich vermutete." Die Menschen ringsrum lachten vorsichtig. Der Mann, der Ingmar genannt wurde drehte sich um und Selena konnte nun seinen Gesichtsausdruck zwar nicht erkennen, aber sie konnte fühlen, dass er jetzt richtig sauer wurde. "Helaris...nein..." flüsterte sie. Selena spürte, dass der Mann gefährlich werden konnte. Sie löste ihre Hände, die sich schon verkrampft hatten vom Fenstersims und öffnete und schloss sie mehrmals hintereinander. Selena atmete tief durch, sie würde sich stellen. Sie sammelte gerade allen Mut zusammen, um nach draußen zu gehen als sich eine neue Stimme laut draussen zu Wort meldete.

"Wartet!" Selena machte wieder einen Schritt vor zum Fenstersims und schaute suchend nach draussen. Ihr Blick traf eine Frau, die entschlossenen Schrittes auf Ingmar zumarschierte. Sie trug die gleichen Sachen wie Helaris, hatte aber einen großem prachtvollen Wanderstab aus Eschenholz dabei. Verschiedenste Schnitzereien und Verzierungen konnte Selena auf ihm erkennen und an der Spitze thronte ein riesiger Amethyst. Ehrfurchstvoll traten die Menschen bei Seite und machten mit gesenkten Köpfen Platz für den Neuankömmling. Die Frau bewegt sich wie eine Feloidea, dachte Selena. Sie sah, wie die Frau sich geschmeidig auf den Soldaten zubewegte und ihn anlächelte. "Guter Mann," sprach sie ihn an und beobachtete ihn. "Ich bin Aglaie von Kjell. Ich heiße es nicht gut, wie ihr euch hier verhaltet und bitte euch höflichst zu gehen." Selena verdrehte die Augen.Herrbitte, was glaubt die wer sie ist. Mit Bitte, Bitte verschwindet der nicht, dachte sie erbost. Aglaie drehte sich im gleichen Moment zur Hütte von Helaris um und schaute zum Fenster, an dem Selena leicht verborgen hinausschaute. Selena drückte sich zurück in den Schatten und hielt die Luft an. Aglaie erhob erneut das Wort. "Ich persönlich habe unseren Besucher heute morgen in die Hauptstadt gebracht. Es war der ehrwürdige Belos." Ein Raunen ging durch die Menge und der Mann Ingmar räusperte sich. "Davon habe ich nichts gehört. Man hätte uns als Eskorte rufen lassen, wenn es so wäre."

"Guter Mann," fing Aglaie an." Meinen Informationen nach wart ihr heute morgen noch in Teris. Das ist mehrere Meilen entfernt. Sollte ich den überaus ehrwürdigen Belos etwa Stunden auf euch warten lassen? Das ist nicht zumutbar, daher habe ich ihn höchstselbst begleitet und euer Meister war sehr dankbar dafür, dass ihr deswegen eure Arbeit nicht unterbrechen musstet. Ihr könnt ihn gern persönlich fragen." Aglaies Blick wandte sich prüfend an Ingmar, der anscheinend mit sich haderte, ob er ihr Glauben schenken dürfe. Da trat ein anderer Mann an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ingmar schaute ihn an und nickte. Er räusperte sich und erhob die Stimme: "Bewohner!" Selena zuckte zusammen. Sie hielt die Luft an und wartete. Als Ingmar sich sicher war, dass er alle Aufmerksamkeit hatte, fuhr er fort:" Die vierteljährliche Prüfung ist nun beendet. Ich erwarte, dass ihr dann wieder so kooperativ seid." Er machte ein Handzeichen und die Soldaten versammelten sich. Er stieg auf sein Pferd und ritt an Helaris vorbei und zischte:"Nächstes mal Weib lasse ich dir die Wiederworte nicht durchgehen!" Helaris liess das unkommentiert und wandte sich an Aglaie. Selena ließ wieder Luft in ihre schmerzenden Lungen fließen, die Anspannung wich und große Erschöpfung machte sich wieder breit.

Helaris führte ihre rechte Hand mit dem Handinneren voran zu ihrem Herz und formte dann mit Daumen und Zeigefingern ein L. Aglaie erwiderte den Gruß in gleicher Form und umarmte sie anschließend herzlich. Langsam kehrte wieder Ruhe im Dorf ein und ein jeder ging zurück zu seiner Aufgabe.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.11.2010

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