Das Haus war eines der imposantesten in der engen Straße und sein Besitzer - der erfolgreiche Geschäftsmann Carlos Sanchez - bei allen bekannt. Er wurde stets freundlich begrüßt, wenn er durch das kleine spanische Dorf lief... oder besser: er stolzierte. Er wusste, was er erreicht hatte, und ihm war klar, dass die meisten der Bewohner, die ihn freundlich grüßten, dies nur taten, weil sie finanziell von ihm abhängig waren. Doch zur Zeit war ihm diese Tatsache noch unwichtiger, als eh schon. Er hatte ein anderes Problem. Ein familiäres - und damit verstand er wesentlich weniger geschickt umzugehen, als wenn es um seine Geschäfte ging.
Er war seit vielen Jahren von seiner ersten Frau Catalina geschieden. Ihr gemeinsamer Sohn Leandro wohnte seit der Scheidung bei ihm. Das war auch nie ein Problem gewesen, zumal Catalina eine Weile ihr Glück in Deutschland gesucht - und gefunden - hatte. Selbst, als er wieder geheiratet hatte, war Leandro bei ihnen geblieben und hatte ein freundliches, wenn auch distanziertes Verhältnis zu seiner Stiefmutter Raquel aufgebaut.
Doch seit ein paar Wochen machte sich der erfolgreiche Geschäftsmann Sorgen um die Entwicklung seines inzwischen fast siebzehnjährigen Sohnes. Der zeigte nur wenig Interesse an den Geschäften seines Vaters, ging lieber viel aus und traf sich mit seinen Freunden. Das wäre nicht einmal ein Problem gewesen - immerhin war auch Carlos Sanchez einmal ein Teenager gewesen - doch was ihn verwirrte, war die Tatsache, dass Leandro sich laut Aussagen einiger seiner Geschäftspartner verdächtig häufig mit einem bestimmten Jungen traf, der Carlos ob seines Rufes schon lange ein Dorn im Auge war: Julian Garcia.
Der bereits Achtzehnjährige war vor wenigen Monaten mit seiner Familie aus der Hauptstadt in das kleine, spanische Dörfchen gezogen, in denen die Familie Sanchez lebte und ihm wurde nachgesagt, er sei homosexuell veranlagt. Und das war etwas, was in den Augen von Carlos Sanchez einfach nur krank und unnormal war. Er wollte und konnte nicht zulassen, dass Leandro von diesem Großstadtkind Julian in irgend etwas hineingezogen wurde.
Leandro allerdings genoss das Zusammensein mit seinem neuen Freund. Und das Wort Freund war in ihrem Fall wörtlich zu nehmen. Die zwei Jungs waren ein Paar. Gut, angesichts dessen, dass es außer ihnen niemand gab, der den Mut hatte zuzugeben, schwul zu sein, blieb ihnen auch nicht viel Auswahl. Doch die wollte Leandro auch nicht.
Anfangs hatte er Julian nur dafür bewundert, dass der so offen mit seiner sexuellen Orientierung umging.
Vielleicht lag das ja daran, dass er aus der Großstadt kam.
Vielleicht war Homosexualität dort etwas ganz Normales.
Der Jüngere der beiden hatte sogar schon ernsthaft mit den Gedanken gespielt, Julian zu bitten, ihm sein altes Zuhause zu zeigen, doch dazu war es bisher noch nicht gekommen.
So ziemlich alle wussten Bescheid.
Nur einer nicht: Carlos Sanchez.
Nicht nur Leandro hatte es nicht eilig, seinen Vater einzuweihen... auch seine Freunde - und allen voran Julian - hatten nichts dagegen, den Mann vorerst im Ungewissen zu lassen. Dessen konservative Einstellung war nur zu bekannt.
“Er weiß es also echt immer noch nicht?”
Leandro und Julian waren mal wieder an die Küste gefahren, um den Blicken der Dorfbewohner aus dem Weg zu gehen, und Julian fischte gerade seine Zitrone aus dem Cola-Glas. Warum vergaß er immer zu sagen, dass er keine Zitrusfrüchte wollte? Er hasste die Dinger.
Leandro sah ihm lächelnd bei seinen Bemühungen zu, während er sagte: “Naja, kann sein, dass er etwas ahnt, aber gesagt hat er noch nichts... hey...”
Julian war erfolgreich gewesen und hatte die gelbe Fruchtscheibe in Leandros Wasserglas fallen lassen.
“Was? Ob da jetzt eine oder zwei drin sind, ist doch egal.” Er lehnte sich in dem Korbstuhl zurück und schenkte seinem Freund ein freches Lachen, wohl wissend, dass Leandro diesem nicht widerstehen konnte.
“Idiot”, grummelte dieser tatsächlich auch nur noch und rührte mit seinem neongelben Strohhalm durch das Getränk. Die Eiswürfel klirrten, wenn sie aneinander oder gegen das Glas stießen und die Obstscheiben verteidigten ihren Platz gegen den Trinkhalm.
Er hatte ein ungutes Gefühl.
Sein Vater war am Morgen sehr wortkarg gewesen. Er war zwar nie der große Redner - es sei denn, er saß in einem geschäftlichen Meeting - doch als sie sich heute Morgen in der kleinen, gemütlichen Küche getroffen hatten, hatte er Leandro nur zugenickt, als der ihn freundlich begrüßt hatte.
“Was machst du an deinem Geburtstag?” Julians Stimme holte Leandro zurück in die Gegenwart. “Irgendwelche Pläne?”
“Nope. Irgendwelche Vorschläge?”
“Och, ich denke, uns würde da schon was einfallen... oder?” Im Laufe der Worte hatte Julian sich nach vorn gebeugt und seine Hand auf die von Leandro gelegt. Tief sah er ihm in die Augen. “Ich hätte da vielleicht... ein Geschenk für dich...”, raunte er und legte unter dem Tisch die andere Hand auf Leandros Knie, ließ sie langsam und lasziv über den Oberschenkel höher wandern.
Leandro atmete tief durch. Er musste nicht fragen, worum es sich bei dem Geschenk handelte, und Julian brauchte nicht deutlicher zu werden. Sie hatten bisher noch nicht miteinander geschlafen. Küssen, Kuscheln, Petting... all das war passiert und wunderschön gewesen, doch es war nie zu mehr gekommen.
Lächelnd legte Leandro eine Hand auf Julians und verschlang seine Finger mit denen von seinem Freund. “Da bin ich ja mal gespannt”, flüsterte er und hoffte, einfach nur verführerisch zu klingen, und dass Julian die leise Panik in den Worten nicht hörte.
Als sie sich am Abend trennten - es wurde schon recht früh dunkel, denn der November näherte sich dem Ende und der Dezember - der Monat, in dem Leandro seinen siebzehnten Geburtstag feierte - lag in den Startlöchern, machte Leandro freiwillig einen Umweg. Er brachte Julian bis vor dessen Haustür, und es vergingen noch etliche, wertvolle Sekunden, bis sie ihren Abschiedskuss lösten und er nicht mehr umhin kam, nach Hause zu gehen.
Fröstelnd zog er die Schultern hoch und steckte die Hände in die Jeanstaschen. Der Wind war ungewöhnlich eisig und wehte die letzten Blätter von den Bäumen. Langsam segelten sie zu Boden, wo sie liegen blieben und - wenn sie Glück hatten - nicht von einem Fußgänger, Radfahrer oder gar Auto überrollt wurden.
Viele Leute hatten angefangen, ihr Haus weihnachtlich zu schmücken. Beleuchtete Strohsterne hingen in den Fenstern und tauchten die Wohnungen dahinter in ein warmes Licht. Die Nachbarn der Familie Sanchez waren sogar schon so weit gegangen, den bunten Schlitten in den Garten zu stellen, der über und über mit Lichterketten umwickelt war. Einzig der dicke Santa Claus hatte sich wohl noch nicht an die frische Luft gewagt.
Leandro gefiel diese Jahreszeit. Nicht die Kälte in der Luft. Nein, die Wärme, die plötzlich in so vielem zu erkennen war. Kinderaugen strahlten und konnten den Heiligen Abend nicht erwarten und auch, wenn die Eltern oft gestresst waren, fanden die meisten immer noch Zeit, um sich abends gemütlich bei Kerzenschein zusammenzusetzen und Musik zu hören oder zu reden. Er freute sich schon jetzt darauf, die Geschenke für seine Familie einpacken zu dürfen. Das tat er für sein Leben gern. Überhaupt war er ein überaus kreativer Mensch.
Doch für Leandro hieß Vorweihnachtszeit auch Geburtstagszeit. Kurz nach Nikolaus war sein großer Tag. Und in diesem Jahr konnte er ihn noch weniger erwarten, als in all den Jahren zuvor. Was genau Julian wohl vor hatte? Nun, er wusste, was sein Freund vor hatte, aber hatte er etwas drum herum geplant? Gab es sozusagen ein Rundumpaket?
Während Leandro sich immer noch in leuchtenden Farben ausmalte, was Julian vielleicht für sie organisiert hatte, betrat er lächelnd das Haus.
Es war still. Nur aus dem Wohnzimmer klang leise die Abschlussmusik der Spätnachrichten... und die tiefe Stimme seines Vaters.
“Leandro? Bist du das?”
“Ja.” Schnell sah er auf seine Armbanduhr. “Bin ich zu spät?”
“Nein.” Carlos Sanchez war in der Tür zum Korridor erschienen. “Nein, bist du nicht. Ich habe auf dich gewartet.”
Leandro kam nicht umhin, überrascht zu sein. “Gewartet? Was ist los? Ist etwas passiert?” Er sah sich um, während er aus den Turnschuhen und in seine warmen Kuschelpantoffeln stieg. “Wo ist Raquel?” Er nannte seine Stiefmutter nur beim Vornamen, auch, wenn sie ihm anfangs angeboten hatte, er könne sie ruhig ‘Mama’ nennen. Aber das schien ihm nicht richtig. Seine leibliche Mutter war seine Ma. Und niemand anderes. Also hatte er höflich aber bestimmt abgelehnt, und sie hatte es distanziert wie alles, was er sagte, hingenommen.
“Sie ist mit einer Freundin ausgegangen”, beantwortete sein Vater die Frage und deutete Leandro an, er möge doch bitte ins Wohnzimmer gehen.
In dem offenen Kamin knisterte ein Feuer. Irgend jemand hatte ein wenig Tanne hineingeworfen, so dass es im Raum bereits weihnachtlich duftete. Leandro blieb vor dem Feuer stehen, um seine Finger zu wärmen und wartete nervös, dass sein Vater den Anfang machen würde. Was der auch tat.
“Ich höre, du bist oft mit Julian Garcia zusammen.”
Leandro atmete kurz durch, dann sagte er: “Ja.” Mehr nicht. Das musste reichen. Er wollte von seinem Vater hören, worauf dieser hinaus wollte.
“Nun”, Carlos Sanchez hatte sich in seinen Fernsehsessel gesetzt und die Hände im Schoß gefaltet, “ich möchte nur nicht, dass du deine anderen Freunde seinetwegen vernachlässigst.”
Das war so typisch für seinen Vater. Immer schön um den heißen Brei herumreden. Doch das war etwas, was Leandro inzwischen von ihm gelernt hatte.
“Tu ich nicht”, antwortete er eben so tonlos. Wenn er erwartet hatte, dass Carlos Sanchez jetzt das Gegenteil behaupten würde, dann hatte er sich geirrt. Der Mann zog lediglich die Augenbrauen hoch, murmelte ‘Gut’ und widmete sich dann seiner Tageszeitung, die er vom Tisch genommen hatte. Geräuschvoll schlug er sie auf. Für Leandro war dies das Zeichen, dass er gehen konnte.
Die nächsten Tage schleppten sich so dahin.
Die Adventszeit begann und Leandro versuchte, sich auf die Suche nach den passenden Geschenken für seinen Vater (was extrem schwer war), seine Stiefmutter (Parfum oder ein Buch - wie immer) und restliche Familie zu konzentrieren. Seine Mutter hatte inzwischen ebenfalls wieder geheiratet, und er hatte zwei jüngere Schwestern, die er - obwohl er sie so selten sah - sehr lieb hatte. Das Schwierigste war allerdings, etwas für Julian zu finden. Leandro wollte einfach nichts passendes einfallen.
Jegliche Anfragen, ob er an seinem Geburtstag feiern würde, wiegelte er ab. Einzig einem Treffen in ihrem Lieblingscafé nach dem Frühstück, auf welches seine Freunde bestanden, ließ er zu. Doch im Grunde zählte in diesen Tagen für ihn nur Julian.
Sein Geburtstag fiel in diesem Jahr auf einen Samstag. Als Leandro morgens die Augen aufschlug, weigerte sein Körper sich zunächst, aufzustehen. Nachdenklich sah er an die Decke, während seine rechte Hand über seinen Oberkörper tiefer unter die Bettdecke glitt. Hölle... wovon hatte er geträumt? Es musste heftig gewesen sein. Im Schutz des Federbettes befreite er sich aus seiner dunkelblauen Schlafanzughose und seinen Shorts und fing an, sich zu streicheln. Neugierig ob dessen, was ihn heute vielleicht erwartete, ließ er seine Hand tiefer gleiten, keuchte auf, als seine Finger über seine Hoden glitten und biss sich auf die Unterlippe, als er das kleine Loch ertastete. Die Vorstellung, Julians Penis heute Abend genau dort zu spüren, sorgte beinahe dafür, dass er nicht weiter Hand anzulegen brauchte, um zu kommen. Geistesgegenwärtig stieß er das dicke Oberbett auf den Boden, dann ließ er seinen Orgasmus mit einem leisen Seufzer zu.
Heftig atmend, lag er noch eine ganze Weile da, dann endlich raffte er sich auf und verschwand im Bad. Er zog das Shirt über den Kopf, knüllte es zusammen und warf es in die bereitstehende hellbraune Wäschetonne. Dann stellte er den Temperaturregler ein, so dass der Wasserstrahl, der ihn traf, so heiß war, wie er es liebte. Er sah zu, wie das Sperma über seinen Bauch und die Innenseiten der Oberschenkel hinab glitt und schließlich im Ausguss verschwand. Dann hielt er das Gesicht in den heißen Wasserstrahl und fuhr sich mit den Händen durch die kurzen, brünetten Haare.
Als er fertig angezogen in der gemütlichen Küche erschien, staunte er nicht schlecht, denn der Tisch war gedeckt und da, wo er gewöhnlich saß, lag ein bunt eingepacktes Geschenk. Sein Vater stand auf und trat auf Leandro zu.
“Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn”, sagte er und zog ihn in eine väterliche Umarmung.
Raquel Sanchez begnügte sich mit einem kurzen Händedruck, begleitet von einem eher kühlen Lächeln.
Leandro setzte sich.
“Oh, das Geschenk ist von deiner Mutter”, erklärte Carlos gezwungen. “Es ist heute Morgen mit der Post gekommen. Wir haben wie gewohnt entschieden, es bei einem Geldbetrag zu lassen, damit du selber entscheiden kannst, was du dir kaufen möchtest.”
Leandro sah auf den Umschlag. Ohne hineinzusehen, nickte er. “Danke.” Es juckte ihn in den Fingern, das Päckchen aufzumachen, doch er wusste, dass sein Vater dieses am Frühstückstisch nicht gutheißen würde.
Nachdem er den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, legte Carlos Sanchez die weiße Serviette neben seinen Teller und sah seinen Sohn fragend an. “Was hast du heute vor?”
“Ich treffe mich nachher mit meinen Freunden”, antwortete Leandro ehrlich und trank seinen Orangensaft aus.
Sein Vater schien zufrieden. “Schön. Grüß sie alle herzlich von mir.”
Fast hätte Leandro ‘Wirklich alle?’ gefragt, doch er verkniff es sich gerade noch und nickte statt dessen. “Natürlich.”
Zwanzig Minuten später war er wieder auf seinem Zimmer und wischte sich verstohlen kleine Tränen aus den Augenwinkeln. Sofia, seine kleine Schwester, hatte ein ungelenkes Bild für ihn gemalt, worauf nicht wirklich viel zu erkennen war. Doch sie war ja auch erst drei Jahre alt. Seine große Schwester Luisa hatte ihm ein kleines Gedicht geschrieben. Sie konnte schon immer gut mit Worten umgehen. Seine Mutter Catalina hatte bedauert, dass sie ihn nicht besuchen konnte, aber ihr Mann Peter hatte in seinem Job keinen Urlaub bekommen, aber sie freute sich auf ihr nächstes Treffen und hoffte, dass er sich über die selbstgenähte Patchwork-Decke freuen würde.
Er zog das bunte Flickwerk, woran seine Mutter, da war er sicher, lange gearbeitet hatte, aus dem Päckchen und drückte es an seine Wange. In solchen Momenten vermisste er sie einfach schrecklich.
Noch einmal fuhr er sich über die feuchten Wangen, dann breitete er die Decke liebevoll über seinem gemachten Bett aus und legte das Gedicht, den Brief und das Bild in seine Nachttischschublade.
Der Umschlag von seinem Vater steckte in seinem Rucksack, als er die dicke Jeansjacke überzog, in seine Turnschuhe stieg und mit einem ‘Ich übernachte bei einem Freund’ aus dem Haus verschwand.
In der Tat hatte er heute Morgen beim Frühstück nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass er sich mit seinen Freunden treffen würde. Genau das tat er auch - jedenfalls zunächst.
Zwei seiner besten Kumpels warteten schon mit ihren Freundinnen auf ihn in dem kleinen Café. Nachdem sie alle überschwänglich und liebevoll gratuliert hatten, bestellten sie Cappuccino und Latte Macchiato. Dario, Leandros bester Freund, sah fragend auf den prallgefüllten Rucksack.
“Habe ich was verpasst?”
“Ich übernachte bei Julian... glaube ich jedenfalls...”, murmelte Leandro, der sich sehr wunderte, dass sein Freund nirgends zu sehen war.
“Glaubst du?”
“Ja, ich... dachte, das wäre... abgesprochen.” Jetzt war sich der brünette junge Mann nicht mehr so sicher. Er lächelte verlegen und trank noch einen Schluck von seinem Milchkaffee. Er wollte die Tasse gerade absetzen, als ihm die Augen zugehalten wurden.
“Hey”, beschwerte er sich nicht ganz ernsthaft. Er spürte, wie ihm die Tasse abgenommen und abgestellt wurde, dann hörte er Stühle rücken, Geld, das klimpernd auf den Tisch gelegt wurde und Schritte, die sich entfernten. Er legte seine Hände auf die, die ihm die Sicht raubten und zog sie sanft weg.
“Alles Liebe zum Geburtstag”, lächelte Julian und küsste den anderen zärtlich auf die Wange.
Der kam nicht umhin, sich unsicher umzusehen. Doch es war weit und breit niemand zu sehen - selbst die Bedienung war abgelenkt. Er wollte gerade erleichtert ausatmen, als Julian wispernd fragte: “Und? Hast du dir schon einen Geburtstags-Orgasmus verpasst?” Reflexartig sah er in seinen Schoß, als erwarte er verräterische Flecken.
Julian lachte leise auf, küsste Leandro noch einmal kurz und setzte sich ihm dann gegenüber. “Ich sehe, du bist gut gerüstet”, meinte er mit Blick auf den Rucksack, der auf einem der Stühle lag.
“Ja, ich...”, wieder wurde Leandro unsicher, “ich meine... ich kann auch nach Hause gehen... gleich... also...”
“Und dann soll ich dir mein Geschenk dort geben? In deinem... Kinderzimmer?” Julian lehnte sich mit einem lasziven Lächeln auf den Lippen zurück. “Auch gut.”
Dezent beleidigt zog Leandro einen Schmollmund, worauf Julian lachen musste. “Na los, lass uns von hier verschwinden”, schlug er vor und stand auf.
Sie deponierten Leandros Rucksack bei Julians Eltern, die dem Freund ihres Sohnes lächelnd gratulierten und fuhren dann mit dem Bus bis in die nächstgrößere Stadt, wo sie durch die weihnachtlich geschmückten Straßen schlenderten, sich immer wieder schnelle Blicke zuwarfen und süße Küsse tauschten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten.
Leandro, der das Geld aus den Umschlag genommen hatte, ließ sich von Julian zu einem Shirt überreden, das enger war, als alle, die er bisher getragen hatte.
Als sein Freund ihn allerdings frech grinsend aufforderte, in einer Drogerie Gleitgel zu kaufen, weigerte er sich beharrlich. Eher würde er auf sein Geschenk verzichten.
Nachmittags saßen sie in einem Café. Julian hatte sein Geschenk seit der Drogerie-Geschichte nicht mehr erwähnt. Und auch jetzt saß er nur lässig da, schnippte immer wieder eine Münze in die Luft und fing sie geschickt wieder auf.
“Bist du jetzt sauer?” Leandro musste es wissen.
“Warum?” Julian lehnte sich in dem breiten Sessel zurück und legte einen Fuß auf das Knie, ohne das Spiel mit der Münze und schon gar nicht den Blickkontakt mit Leandro zu unterbrechen. “Fang”, rief er plötzlich und die Münze änderte ihre Richtung und segelte auf Leandro zu. Der war viel zu überrascht, um schnell genug zu reagieren, und so traf ihn das Geldstück voll an der Stirn und fiel ihm in den Schoß.
“Was soll das?”, fragte er dezent gereizt.
“Hey, werd mal locker”, lachte Julian. “Wollen wir zurück?”
Leandro nickte und legte die Münze als Trinkgeld zu denen, mit denen Julian bezahlte.
Als sie später in Julians Zimmer standen, wurde Leandro richtig nervös. Bisher hatten sie sich immer nur in der Stadt oder in der Schule getroffen. Nie war er hier oder Julian bei ihm gewesen.
Sein Freund hatte anscheinend keinen Sinn für weihnachtlichen Zierrat, und er schien auch keinen Wert darauf zu legen, sein Zimmer überhaupt halbwegs wohnlich einzurichten. Das war schon daran zu erkennen, dass es hier außer einem Kleiderschrank und einer dicken Matratze, auf der etliche Kissen lagen, keine weiteren Möbel gab.
Julian, der Leandros Blick bemerkt hatte, erklärte: “Ich weigere mich, mich hier häuslich einzurichten. Ich habe nicht vor, hier länger zu bleiben, als nötig. Alles, was ich brauche, gibt es doch.” Er deutete zwinkernd auf die Liegestätte mitten im Raum. Dann ging er noch einmal zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss um und musterte Leandro, der mitten im Zimmer stand, amüsiert.
Genau das machte diesen wütend. Er sah den anderen aus seinen dunkelblauen Augen an und knurrte leise. “Hör auf damit.”
“Womit denn?” Julian schritt langsam auf seinen Freund zu.
“Damit, dich über mich lustig zu machen.”
“Tu ich das denn?” Julians Worte waren mehr ein dunkles Grollen.
“Ich... ja... du hast... oh Gooott...” Leandro schloss ergeben die Augen. Sein Freund war um ihn herum gegangen und hatte seine Hände über Leandros Bauch fordernd tiefer geschoben, streichelten jetzt fest über dessen Oberschenkel.
“Was habe ich?”, fragte Julian leise nah an Leandros Ohr und leckte im nächsten Augenblick darüber.
“Über mich... gelacht”, stöhnte der Jüngere. Wie immer, wenn Julian ihm so nah war... und ihn so berührte, setzte sein Verstand aus und er fühlte nur noch die fordernden Hände auf seinem Körper.
Julian wusste das. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie sich näher kamen. Bisher hatten diese Treffen allerdings lediglich auf Schultoiletten oder in anderen Verstecken, wie die Hütte im Wald oder das alte, baufällige Hotel am Strand stattgefunden. Das hier... diese fast schon intime Umgebung, die war neu.
“Lass dich einfach fallen”, raunte er, während er dem Jüngeren das Shirt aus der Hose zog und über die weiche Haut darunter fuhr. Gott... Leandro machte ihn wahnsinnig. Eigentlich war es ein Wunder, dass er sich so lange hatte zurückhalten können. Der junge Spanier, der irgendwo in seinem Stammbaum auch eine deutsche Linie hatte, der er seine für einen Südländer ungewöhnlichen blauen Augen verdankte, war einfach eine Augenweide.
Die pure Versuchung.
Schon an seinem ersten Schultag hatte Julian gespürt, dass der Junge mit den langen dunklen Wimpern in seiner Liga spielte.
Zu seinem großen Glück.
Als Leandro am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wunderte er sich nicht über das Lächeln auf seinen Lippen. Er hatte etwas Einmaliges erlebt. Etwas, was ihn bestärkt hatte in dem, was er sich schon gedacht hatte.
Er hatte mit einem Jungen geschlafen.
Er war definitiv schwul.
Julian war sehr zärtlich gewesen. Ja, es hatte wehgetan, aber der Blick in die warmen Augen seines Freundes, einzutauchen in dieses Braun, das ihn förmlich einzusaugen suchte, hatte es erträglich gemacht. Und dann war der Schmerz einer wahren Explosion von Gefühlen gewichen, von denen Leandro niemals gedacht hatte, dass es möglich war, so etwas zu empfinden. Julian war leidenschaftlicher geworden und zu sehen, wie wunderschön und weich dessen Gesichtszüge wurden, als er in Leandro gekommen war, hatte dazu geführt, dass auch er über eine Klippe gesprungen war, die so hoch war, dass er glaubte - und vielleicht auch hoffte - niemals unten anzukommen.
Nachdem sie sich gesäubert und schwer atmend aber entspannt nebeneinander gelegen hatten, hätte Leandro sich gern noch näher an seinen Freund gekuschelt und ihm lagen Worte auf den Lippen, die er nur mühsam zurückhalten konnte. Doch er war sicher, dass Julian sie nicht gutheißen würden.
Nicht jetzt schon.
Vielleicht niemals...
Mit einem leisen Seufzen drehte er sich um und erwartete, Julian dort zu finden. Doch da war niemand. Er lag völlig allein auf der Matratze. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seinen Freund auch schon hätte spüren müssen, wenn er hier gewesen wäre. Nervös setzte er sich auf.
“Julian?”, rief er leise.
Nichts.
Das war ein Scherz, oder?
Ein schlechter Scherz.
Was sollte er denn jetzt tun?
Als er aufstand, um sich anzuziehen, spürte er das leichte Ziehen an seinem Gesäß. Noch ein Beweis dafür, dass sie es tatsächlich getan hatten. Andere stumme Zeugen lagen neben dem Bett: die leere Kondompackung und die Tube mit dem Gleitgel, welche Julian aus seinem Kleiderschrank geholt hatte, als es ernst wurde.
Leandro trug schon seine Shorts, die er aus dem Klamottenstapel gesucht hatte und war gerade dabei, das schwarze Shirt über den Kopf zu ziehen, als die Tür aufging.
“Willst du schon gehen?”
Leandro zerrte das Shirt runter und funkelte Julian wütend an. “Naja, du scheinst ja keinen Wert auf meine Gesellschaft zu legen.”
“Äh...” Julian schien wirklich verwirrt. “Und wie kommst du zu dieser Überzeugung, wenn ich fragen darf?” Der Ältere trug eine legere Jogginghose, die ihm gefährlich tief auf die Hüften gerutscht war und offenbarte, dass er darauf verzichtet hatte, auch seine Shorts anzuziehen.
“Du warst nicht hier, als ich aufgewacht bin, richtig?” Leandro sah sich nach seiner Jeans um.
“Stimmt. Ich hätte auch ins Bett pinkeln können, aber das riecht nicht gut und ist auch im ganzen eher unangenehm. Man, Leandro, ich war auf der Toilette. Entschuldige bitte, dass ich keinen Zettel geschrieben habe.” Der Sarkasmus in den Worten sprang Leandro förmlich ins Gesicht. Julian bückte sich, um Leandros Hose aufzuheben. Dabei legte seine eigene mehr frei, als sie verdeckte, und der Jüngere keuchte leise auf. Mit zwei Schritten war er bei ihm und presste sich an den Rücken seines Freundes, der sich aufgerichtet hatte. “Ich will dich”, knurrte er, ohne zu wissen, woher der Mut kam, so offen zu sein.
Julian zog die Augenbrauen hoch, warf die Jeans mit einem ‘die brauchen wir dann ja erstmal nicht’ zurück auf den Boden und drehte sich schnell um. “Dann zeig mal, was du gelernt hast, Kleiner...”
Als Leandro gegen Mittag endlich vor der eigenen Haustür stand, hatte er seine Unschuld also in beiden Richtungen verloren... und überlegte immer noch, was ihm besser gefallen hatte, als er die Tür aufschloss.
“Du hast die Messe verpasst”, hörte er die Stimme seines Vaters aus dem Esszimmer.
Wow.
Leandro zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Messe? War er im falschen Film? Sein Vater war katholisch, ja, und auch Leandro war so getauft worden, doch die Messe besuchten sie für gewöhnlich nur an Feiertagen oder zu besonderen Ereignissen. Was war heute? Ein Tag nach seinem Geburtstag - aber das war nie ein Grund gewesen, in die Kirche zu gehen.
Leandro warf seinen Rucksack auf sein Bett und betrat dann das Esszimmer. Sein Vater und Raquel saßen schweigend am Tisch, und der Mann musterte seinen Sohn abschätzend von oben bis unten.
“Setz dich. Du solltest etwas essen.”
Wieder war es an Leandro, überrascht zu sein. Er hatte erwartet, dass sein Vater ihn fragen würde, bei wem er gewesen war. Und Leandro war bereit gewesen, ihm endlich reinen Wein einzuschenken. So aber ging er um den Tisch herum, setzte sich auf seinen Platz und zog den Teller mit dem Sonntagsbraten zu sich heran.
Das Jahr ging vorbei, ohne, dass Carlos Sanchez noch einmal irgendwelche Andeutungen darüber machte, dass ihm Leandros Umgang mit Julian Garcia nicht gefiel.
Über Silvester wurde es extrem kalt, doch es schneite nicht. Leandro hätte sich über Schnee gefreut, doch das war hier in Spanien eine absolute Seltenheit. Sein Stiefvater Per hatte ihm Fotos von verschneiten Bergen gezeigt, von Leuten, die Ski fuhren, oder ihre Autos freischaufelten. Er hatte gesagt, dass er den Schnee nicht vermissen würde, doch Leandro hatte die Bilder mit schiefgelegtem Kopf betrachtet und sich vorgestellt, wie es wäre, sich hineinfallen zu lassen und in den wolkenlosen, tiefblauen Himmel über ihn zu sehen. Der Schnee hatte auf den Fotos so etwas reines an sich. Er wirkte so unschuldig. Wie konnte man ihn nicht mögen?
Anfang Juni, als die Sonne schon hoch am Himmel stand und die Spanier sich auf einen heißen Sommer freuten - vor allem Carlos Sanchez, dessen Immobilien von den Touristen lebten -, kam es zum Eklat zwischen Leandro und seinem Vater.
Es waren nur noch zwei Wochen bis zu den Schulferien, als der Schüler vor der Schule von niemand anderem als seinem Vater erwartet wurde.
“Was wird das denn?”, fragte er völlig ahnungslos.
“Was das wird?” Die Stimme von Carlos Sanchez war leise und ruhig. Kein gutes Zeichen, wie Leandro wusste. Er sah zu, wie sein Vater auf den anthrazitfarbenen Firmenwagen zuging und folgte ihm mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Am liebsten wäre er zu Fuß gegangen.
Die Klimaanlage hätten sie sich sparen können, denn die Luft zwischen ihnen war so eiskalt, dass sich über Leandros nackte Arme eine dicke Gänsehaut zog. Carlos Sanchez würdigte seinen Sohn mit keinem Blick und konzentrierte sich mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen auf den Straßenverkehr.
Leandro war sicher, zu wissen, worum es ging. Worum es nur gehen konnte. Doch er nahm sich noch im Auto vor, zu seinen Gefühlen und zu Julian zu stehen.
Vor ihrem Haus angekommen, warf sein Vater geräuschvoll die Autotür zu und sein Gang glich einem militärischen Paradeschritt, als er auf die Tür zu marschierte.
Mit einem leisen Seufzen folgte Leandro ihm.
Kaum waren sie allein in einem Raum, kam Carlos Sanchez zur Sache.
“Dein Lehrer hat mich angerufen. Ich war heute Morgen bei ihm.” Mit stechendem Blick musterte er seinen Sohn.
Tapfer erwiderte Leandro den Blick. “Ach ja? Was wollte er? Werde ich nicht versetzt?” Er wusste, dass das nicht der Grund gewesen sein konnte, aus dem Señor Valdez seinen Vater hergebeten hatte, denn seine Noten waren wie gewohnt sehr gut.
Deshalb war es auch keine Überraschung, als sein Vater den Kopf schüttelte. “Nein. Und das weißt du sehr gut. Es ging um diesen Garcia-Jungen.”
“Julian.”
“Ja, kann sein. Ist mir ehrlich gesagt egal, wie er heißt”, bellte sein Vater, der immer lauter wurde, ohne es wahrscheinlich selbst zu merken. “Ich will, dass du dich nicht mehr mit dem Jungen triffst.”
“Und warum?” Leandro wollte es endlich aus dem Mund seines Vaters hören.
“Weil er dich auf dumme Gedanken bringt”, wich der wieder einmal aus.
Doch Leandro wollte sich nicht mehr verstecken.
Auch nicht vor seinem Vater.
“Und wie sollen die aussehen?”, fragte er provozierend. Als sein Vater ihn nur schweigend anfunkelte, redete er weiter. “Was denn, Vater? Kannst du es nicht aussprechen? Ich bin gern mit Julian zusammen. Und ja, ich habe ihn geküsst”, dass sie schon mehr getan hatten, ging seinen Vater nichts an, “und ich werde den Teufel tun und den Kontakt aufgeben.”
“Das ist krank, Leandro, und das weißt du”, keifte sein Vater, der jetzt hochrot im Gesicht war. Seine Nasenflügel blähten sich und seine Augen schienen Funken zu sprühen - vor Wut und ganz offensichtlich auch vor Abscheu.
“Krank? Was ist daran krank, wenn man sich zu jemandem hingezogen fühlt? Was...”
“Es ist krank und unnormal, wenn ein Mann einen anderen Mann küsst”, wurde Leandro von seinem Vater barsch unterbrochen. “Und ich verlange, dass du den Kontakt auf der Stelle abbrichst.” Die Hände des Mannes waren zu Fäusten geballt und zitterten.
“Und was”, fragte Leandro, der das sehr wohl bemerkt hatte, “willst du tun, wenn ich ihn weiterhin treffe? Schlägst du mich dann?” Sein Blick war stur und herausfordernd. Er würde sich seine Freundschaft... oder war es schon mehr? ... zu Julian nicht kaputtmachen lassen.
“Nein”, sagte sein Vater, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er für sich einen Entschluss gefasst hatte. “Ich würde dich niemals schlagen. Ich bin kein Schläger. Aber ich werde andere Wege finden...” Das war ein Versprechen, das war Leandro klar.
“Ist das alles?”, fragte er ungewöhnlich aufmüpfig und als sein Vater kurz und knapp nickte, lief er in sein Zimmer und rief Julian an. Er musste ihn sehen. Der Ältere hatte ein Recht zu erfahren, was gerade passiert war.
Nur eine Stunde später stand Leandro am verabredeten Treffpunkt und wartete mit schwitzigen Händen und von einem Fuß auf den anderen tretend, auf seinen Freund. Und als der endlich um die Ecke kam, hielt ihn nichts mehr. Er stürzte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.
“Hey, hey, langsam”, lachte der Ältere, hielt seinen jungen Freund jedoch fest im Arm und küsste ihn kurz auf die Schläfe. “Dein Vater ist also endlich auch dahinter gekommen? Wurde ja auch mal Zeit. Für so begriffsstutzig habe ich ihn gar nicht gehalten.”
“Er ist nicht begriffsstutzig. Er wollte es nicht wahrhaben”, murmelte Leandro an den Hals seines Freundes. “Er hatte ja sogar eben noch ein Problem damit, es laut auszusprechen.” Er lehnte sich ein Stück zurück, sah seinem Freund fest in die Augen und dann küsste er ihn. Nicht sanft und zärtlich, nein in diesem Kuss lag seine ganze Verzweiflung und der feste Entschluss, zukünftig zu seinen Gefühlen zu stehen.
Kurz war Julian überrascht, denn bisher war es immer Leandro gewesen, der peinlichst darauf geachtet hatte, dass sie sich in der Öffentlichkeit zurückhielten. Doch schnell hatte er sich gefangen und mit einem dreckigen Grinsen stieg er in den Kuss ein, vertiefte ihn noch, indem er den Kopf neigte und seine Zunge frech in den Mund des Jüngeren schob.
Minutenlang standen sie küssend da, streichelten Nacken und Hintern und stöhnten leise in die heißen Küsse, bis es Leandro war, der sich von seinem Freund löste. Lange sah er ihm in die Augen. Die Worte, die ihm am Morgen nach ihrem ersten Sex schon auf den Lippen gelegen hatten, drängten erneut nach außen, doch das amüsierte Funkeln in Julians Augen ließ sie ihn hinunterschlucken. “Warum lachst du?”, wollte er stattdessen wissen.
“Ich bin stolz auf dich”, lachte Julian leise, doch irgendetwas ließ Leandro aufhorchen.
“Stolz?”
“Ja, weil du es deinem Alten endlich gezeigt hast.” Julian trat auf Leandro zu. “Komm mal her, Kleiner.” Er zog ihn erneut fest in seine Arme.
Doch Leandro machte sich sofort wieder los. “Ich bin nicht dein ‘Kleiner’, Julian. Ich bin siebzehn...”
“Ja, und ich achtzehn.”
“...und warum stolz? Ich habe unsere... Beziehung nie versteckt. Du hast es doch auch nie darauf angelegt, dass mein Vater davon erfährt.” Leandro war wirklich enttäuscht. Glaubte Julian wirklich, dass Leandro ihn vor seinem Vater absichtlich geheimgehalten hatte?
Julians Blick wanderte an Leandro auf und ab. “Du bist wahnsinnig sexy, wenn du sauer bist, weißt du das?”
“Was? Ich...”
Damit hatte Julian dem Jüngeren wieder einmal den Wind aus den Segeln genommen. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte, deshalb stand er nur da und hob hilflos die Hände, und sein Blick irrte durch die Gegend.
“Jetzt lass uns nicht streiten. In ein paar Tagen sind endlich Ferien. Hast du schon was vor?” Das war so typisch für Julian. Er nahm nichts wirklich ernst, lebte einfach in den Tag hinein und ließ sich von niemandem etwas sagen. Das war auch etwas, was Leandro an ihm bewunderte. Langsam schüttelte er mit dem Kopf. “Nein. Noch nicht. Vielleicht... fahre ich zu meiner Mutter... für ein paar Tage.” Das hatte Leandro geplant, doch es war noch nichts fest gebucht, denn so gern, wie er seine Mutter, seinen Stiefvater und seine Schwestern sehen wollte, so wenig wollte er Julian verlassen. Er wollte bei ihm sein. Am liebsten rund um die Uhr.
Und genau darum tat dessen lässiges ‘Cool’ extrem weh. Es schien dem anderen egal zu sein, ob Leandro da war, oder nicht.
“Ja... das wird sicher schön...” Kurz standen sie einfach nur da, dann fragte Leandro. “Und du? Fährst du... weg?” ‘Bitte sag nein... bitte sag nein...
“Nein.”
Danke, lieber Gott.
“Leider.”
Ja, war klar.
Julian kickte einen Kiesel vom Fußweg. “Ich würde gern zurück nach Madrid, aber die Kohle reicht nicht, und meine Eltern geben einfach nichts dazu. Idioten”, grummelte er.
Traurig senkte Leandro den Kopf. Es tat weh zu hören, dass Julian nichts hier zu halten schien, wenn er die Chance bekäme, in die Hauptstadt zurückzukehren.
Und wenn Leandro dachte, dass dieses Wissen schon schlimm genug wäre, dann hatte er sich getäuscht. Es sollte noch viel härter kommen. Und zwar noch am selben Abend.
Es war bereits spät, als er so leise wie möglich die Haustür aufschloss und in den finsteren Korridor trat. Er war froh gewesen, als das ganze Haus im Dunkeln gelegen hatte, in keinem der Fenster noch Licht brannte. Um so erschrockener war er, als er plötzlich die eiserne Stimme seines Vaters hörte. “Leandro? Ins Wohnzimmer!”
Leandro schloss kurz die Augen. Den Befehlston kannte er nur zu gut. Er atmete tief durch, wappnete sich für eine harte Diskussion und betrat das Wohnzimmer.
Carlos Sanchez saß in der Tat im Dunkeln. Das Feuer im Kamin war natürlich zu dieser Jahreszeit aus und nur das, was der Tag, der sich dem Ende neigte, noch an Licht zu geben hatte, ließ zu, dass Leandro seinen Vater erkannte.
Schweigend stand Leandro im Raum und versuchte, in der Finsternis in den Augen seines Vaters zu lesen. Doch bevor er zu einem Ergebnis gekommen war, hatte dieser schon die Stimme erhoben... und Leandro mit seinen Worten den Boden unter den Füßen weggerissen. “Ich will, das du packen gehst.”
“Wa... was?”
“Du hast mich sehr gut verstanden. Du packst. Du wirst Felix verlassen.”
Verzweifelt versuchte Leandro, Luft in seine Lungen zu bekommen. “Aber... wohin? Wann? Und... warum?”, stammelte er.
“Zuerst über die Ferien zu deiner Mutter und anschließend nach Deutschland. Morgen. Und den Grund kennst du”, war die knappe Antwort auf die vielen Fragen.
“Deutschland? Was... was soll ich da? Und morgen schon?” Ja, den Grund konnte er sich denken. Aber niemals hätte Leandro gedacht, dass sein Vater so weit gehen und ihn wegschicken würde.
“Ja. Mein Freund Gustavo hat mir ein Gymnasium in Berlin empfohlen. Ich habe alles geklärt. Du kannst das nächste Schuljahr dort machen und bei Gustavo wohnen. Er wird... ein Auge auf dich haben.”
“Ein... ein Auge?” Leandro atmete immer noch schwer. Er konnte all das nicht glauben.
Das war ein Albtraum.
Ein verdammter Albtraum.
“Was, wenn ich mich weigere?”
“Das wirst du nicht. Deine Mutter ist einverstanden!”
Während Leandro nach dem ersten Teil der Antwort noch protestieren wollte, klappte bei dem Rest sein Mund einfach zu. “Ma ist... einverstanden?” Das konnte er nun so überhaupt nicht glauben. “Wann hast du mit ihr gesprochen?”
“Vor zwei Stunden. Kurz, nachdem ich die Sache mit der Schule und Gustavo geklärt hatte. Ich habe ihr gesagt, dass das für dich eine einmalige Chance ist. Dein Deutsch ist gut genug, und ein Schuljahr im Ausland macht sich auf Bewerbungen immer gut.”
Leandro spürte, wie unbändige Wut in ihm hoch kochte, wie Quecksilber in einem Thermometer, welches man in eine offene Flamme hielt. “Wann endlich schaffst du es, den wahren Grund zu nennen?” Er wollte, dass sein Vater endlich einmal den Mund aufmachte. “Jetzt sag schon.”
“Ich hatte dich gebeten, den Kontakt zu diesem Garcia-Jungen...”
“Julian.”
“...abzubrechen. Du hast dich heute Nachmittag trotzdem mit ihm getroffen. Man hat euch gesehen. Zurückhaltung scheint nicht eine der Stärken des jungen Mannes zu sein.” Tiefe Abscheu lag in Carlos Sanchez’ Stimme.
Leandro, dessen Augen sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt hatten, starrte seinen Vater hasserfüllt an. “Okay. Was ist mit der Schule hier? Es sind noch zwei Wochen bis zu den Ferien. Ich habe noch kein Zeugnis.” Wenn er zunächst zu seiner Mutter fahren würde, hätte er zumindest noch die Chance, Julian am Wochenende zu sehen, denn Catalina Sanchez-Korber, wie sie jetzt hieß, wohnte mit ihrer Familie in einem kleinen Ort namens Cieza, das nicht all zu weit entfernt lag - nur wenige Kilometer die Küste hinauf.
“Ich spreche morgen mit dem Schulleiter. Er wird es verstehen. Ich schicke dir dein Zeugnis dann zu.”
Wow.
Leandro konnte nicht glauben, was er hörte. Er kannte seinen Vater als harten Geschäftsmann, aber bisher war dieser immer ein verständnis- und liebevoller Vater gewesen. Die Kälte, die Leandro jetzt entgegen schlug, ließ ihn innerlich zittern.
Abgrundtief enttäuscht nickte er nur und verließ, ohne die Aufforderung oder gar Erlaubnis seines Vaters abzuwarten, das Zimmer.
Er kramte sein Mobiltelefon aus der Jeanstasche und überlegte kurz, ob er Julian anrufen sollte. Doch es war schon spät, also entschied er sich für eine SMS.
“Fahre morgen früh schon zu meiner Mutter. Stress mit Vater. Rufe morgen an. Leandro.”
Er schickte die Kurznachricht ab, warf das Handy auf sein Bett und ging ins Bad, um sich für die Nacht fertig zu machen.
Als er nach einer schnellen Dusche, Zähneputzen und einem prüfenden Blick in den Spiegel zurück in sein Zimmer kam, kündigte sein Telefon eine Nachricht an. Hastig griff er danach, drückte die entsprechenden Tasten und spürte förmlich, wie seine Enttäuschung nochmals anstieg. Ein simples ‘Ok’ war alles, was dort stand. Dass die Nachricht von Julian kam erkannte er am Absender. Und doch hatte er mehr erwartet. Kein Bitten und Flehen, zu bleiben, aber war ein kleiner Trost zu viel verlangt?
Frustriert legte Leandro das Handy auf den Nachttisch und ging, ohne zu packen, zu Bett.
Der Abschied am nächsten Tag fiel erwartet nüchtern aus.
Carlos Sanchez überreichte seinem Sohn einen Brief an seine Ex-Frau, und Raquel Sanchez hatte sich entschuldigen lassen und war, da war Leandro sicher, in der Stadt shoppen.
Bei seiner Mutter und deren Familie angekommen, war Leandro zunächst nichts anderes, als erleichtert. Und nachdem sein Stiefvater sich diskret zurückgezogen und die Mädchen mitgenommen hatte - als Leandro endlich mit seiner Mutter allein war - brachen spätestens alle Dämme, als sie ihn fest in ihre Arme zog und leise fragte, was passiert sei.
Unter Tränen berichtete er, was in den letzten Wochen und Monaten vorgefallen war. Er sparte dabei nichts aus. Nicht Julian, nicht die Gefühle, die er für den anderen hatte und auch nicht, dass sie bereits miteinander geschlafen hatten.
Zu seiner Überraschung nickte Catalina Sanchez-Korber an der Stelle lächelnd.
“Ich bin froh, dass du mir gegenüber so offen darüber redest”, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. Dann deutete sie auf den Brief, der auf dem Gartentisch lag, an dem sie saßen. “Dein Vater hat mir zu verstehen gegeben, dass ich doch bitte dafür sorgen solle, dass du wieder”, sie lachte leise, “normal wirst.”
“Was?”
“Ja. Aber mach dir bitte keine Sorgen. Ich werde nichts dergleichen tun, denn in meinen Augen bist du so normal, wie ein Mensch nur sein kann. Du bist verliebt. Gibt es etwas Schöneres?” Sie strahlte ihn zärtlich an. “Ich freue mich für dich Leo.”
Leo. So durfte ihn nur seine Mutter nennen. Seine Freunde hatten diese naheliegende Abkürzung auch kurzzeitig zu gebrauchen versucht, doch er hatte ihnen schnell klargemacht, dass er darauf nicht reagieren würde. Pure Erleichterung zeigte sich in seinem Gesicht, und er beugte sich vor und umarmte seine Mutter fest. “Danke. Danke, dass du das so siehst.” Dann lehnte er sich zurück. “Und was ist mit Per? Wie sieht er das? Hat er den... Brief gelesen?”
“Hat er.”
Per Korber stand lächelnd in der Tür zum Haus und sah kopfschüttelnd zu Leandro. “Du glaubst nicht wirklich, dass ich die Ansichten deines Vaters teile, oder? Ich hatte angenommen, du kennst mich inzwischen. Leandro, du bist wie ein Sohn für mich. Und es kann kommen was will... ich werde immer zu meinen Kindern stehen.”
Ergriffen schloss Leandro die Augen, und als er die wieder aufschlug, stand sein Stiefvater vor ihm und hatte die Arme auffordernd ausgebreitet. Dankbar nahm der junge Mann das Angebot an und ließ sich in die Umarmung fallen, die er bei seinem leiblichen Vater schon so lange nicht mehr hatte erfahren dürfen. “Tut mir leid”, murmelte er. “Ich wollte dich nicht beleidigen, indem ich dich mit... meinem Vater vergleiche.” Mist. Warum weinte er schon wieder?
Doch genau diese Tränen wischte er im nächsten Moment schon wieder hastig von den Wangen, denn seine inzwischen vierjährige Schwester kam auf ihn zugestürmt und sprang ihm fröhlich lachend in die Arme. Als ihre kleinen Ärmchen sich um seinen Hals legten, konnte er nicht anders, als erleichtert zu lächeln. Über die schmale Schulter der Kleinen hinweg, schenkte er auch seiner großen Schwester Luisa, die ebenfalls auf die Terrasse getreten war, ein liebevolles Lächeln.
Die nächsten Tage waren wunderschön und hart gleichzeitig.
Wunderschön, weil er mit Menschen zusammen war, die ihn bedingungslos liebten, ihn im Fall der kleinen Sofia regelrecht vergötterten, (er beschäftigte sich gern und viel mit den Mädchen) und hart, weil Julian auf keinen seiner Anrufe oder Kurznachrichten reagierte. Leandro erreichte nur dessen Voicemail und seine Bitten um Rückruf wurden eben so wenig beantwortet, wie die zahlreichen SMS.
Am Freitag war er schon fest entschlossen am nächsten Morgen mit dem Bus zurück nach Felix zu fahren, als er endlich einen Anruf von seinem Freund erhielt.
“Ach, du lebst noch?” Mit diesen Worten, die abfällig klingen sollten - es wohl aber nicht wirklich taten - begrüßte er den nächtlichen Anrufer. Es war in der Tat mitten in der Nacht zum Samstag und Julian hörte sich für Leandros Geschmack viel zu gut gelaunt an. Er hörte das geliebte Lachen und lehnte sich zurück in die Kissen.
“Ja. Sorry, dass ich erst jetzt zurückrufe. Mein Handy hat den Geist aufgegeben. Habe aber schon ein neues - alte Nummer. Oh und außerdem war hier extrem viel los. Du bist da draußen ja schon in Ferienstimmung, aber hier ist noch Schule. Naja, jedenfalls so halb - meist wird nur noch dumm rumgequatscht. Heute war die halbe Klasse nicht anwesend, weil sie lieber an den Strand gegangen sind bei dem saugeilen Wetter.” Julian redete ohne Punkt und Komma, und Leandro hörte zu.
Erst, als der andere einmal Luft holen musste, fragte er leise: “Sehen wir uns morgen?”
“Was? Sehen? Wie denn? Du bist zig Kilometer entfernt.”
Es war, als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über Leandro ausgeschüttet. Er hatte doch wirklich angenommen, Julian würde sich genau so auf ein Treffen freuen, wie er. Er blinzelte ein paar Mal, dann knurrte er mit einen unüberhörbaren sarkastischen Unterton: “Ja, wohl wahr. Busse fahren ja auch nicht.”
“Willst du dich echt in so ein stickiges Überland-Ding setzen?”, kam es ungläubig zurück. “Mit alten Omis, die selbst bei dieser Hitze ihr Strickzeug rausholen und fetten Kerlen, die zwei Sitze auf einmal benötigen?”
“Na, du musst es ja wissen.” Julian war zwar immer mit Leandro und den anderen mit dem Bus an den Strand gefahren, doch die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten, und er hatte immer wieder angedeutet, wie unangenehm ihm diese notwendigen Fahrten waren.
“Ja, weiß ich auch. Ich bin mit so einem verdammten Bus aus Madrid gekommen.” Julian klang jetzt tatsächlich verärgert.
Leandro schluckte.
Madrid.
Da war der Name wieder. Und die Angst, Julian würde dorthin zurückgehen. Aber wieso eigentlich Angst? Er, Leandro, war es doch, der gehen würde. Und zwar ebenfalls in eine Hauptstadt. In die Hauptstadt eines anderen Landes.
“Bist du noch dran?”, hörte er Julians Stimme, für dessen Geschmack es wohl zu ruhig am Telefon war.
“Ja. Ja, bin ich. Also dann... vielleicht... sehen wir uns ja doch noch, bevor...”, Leandro schloss kurz die Augen, “...ich wegfahren muss.”
“Ja, vielleicht, oder... eher nicht”, druckste der andere jetzt rum. “Deswegen rufe ich auch an...”
Leandro wurde hellhörig. Weswegen? Er setzte sich auf. Er wusste nicht, ob er wollte, dass Julian weiterredete. Aufhalten konnte er ihn natürlich nicht.
“Ich werde mit meinen Eltern zu Verwandten fahren. Nach Constantina. Leandro, es tut mir leid. Ich würde auch lieber mit dir zusammen sein, als mit alten Tanten und Onkel an einem Tisch zu sitzen und über die neueste Wirtschaftskrise zu reden, oder ob Cousin Raffael sich das dritte Balg an den Hals geladen hat.”
‘Na schönen Dank auch’, schoss es Leandro durch den Kopf, und er hielt die Träne nicht auf, die über seine Wange kullerte. Constantina lag bei Sevilla und damit noch weiter entfernt von dem kleinen Ort Cieza, in dem er jetzt war, als schon Felix. “Na dann... viel Spaß...”, murmelte er und bevor er wusste, dass er das tun wollte, drückte er auf die Taste, welche das Gespräch rigoros beendete. Geschockt über sein eigenes Handeln sah er auf den Bildschirm - erwartete... hoffte..., dass es jeden Augenblick klingeln würde und Julian wieder am anderen Ende wäre, doch das Display wurde schwarz... und blieb es.
Zutiefst enttäuscht legte er das Mobiltelefon auf das Kopfkissen neben sich und starrte an die weißgetünchte Zimmerdecke. War’s das? Würde er Julian jetzt wirklich nicht mehr sehen, bevor er nach Deutschland aufbrechen musste? Und danach? Wann würde er zurückkommen können? In den Herbstferien? Zu Weihnachten? Immer mehr Tränen suchten sich ihren Weg aus seinen Augenwinkeln, rollten über die Ohren, tropften auf das helle Kissen und versickerten in dem kühlen Leinen. Leandro drehte sich auf die Seite, zog die Beine an und gab sich ganz diesem so unerwartet heftigen Trennungsschmerz hin.
Seine Mutter merkte schnell, dass ihr Sohn unglücklich war. Doch sie sprach ihn nur einmal darauf an und respektierte dann seinen Wunsch, nicht darüber reden zu wollen. Und so wurde der Name Julian während der nächsten drei Wochen nicht ein einziges Mal mehr erwähnt.
Von dessen Seite kam nur eine einzige SMS: ‘Sind in Catalina eingetroffen. Alles wie erwartet sterbenslangweilig. Lieben Gruß, Julian.’ So, als sei nichts gewesen. Leandro antwortete nicht. Er stellte sein Handy aus und warf es in die Nachttischschublade, wo es blieb, bis er zwei Wochen vor Schulbeginn nach Deutschland aufbrechen sollte. Sein Stiefvater würde ihn zum Flughafen nach Alicante bringen.
Der Abschied war herzlich. Catalina Sanchez-Korber nahm ihrem Sohn das Versprechen ab, sich regelmäßig bei ihr zu melden und nicht nur zu lernen, sondern auch - wie sie mit einem Zwinkern hinzufügte - das Leben zu genießen. Luisa verabschiedete sich mit einer liebevollen Umarmung und die kleine Sofia wollte ihren großen Bruder gar nicht loslassen. Schweren Herzens löste er sich von ihr, wischte ihr die Tränen von den Wangen und küsste sie auf die nassen Stellen. “Ich komme doch zurück, Süße.”
“Versprochen?”, schluchzte sie mit ihrer hellen Kinderstimme.
“Versprochen!” Leandro legte sich die Hand auf die Brust, wo sein Herz schlug und sah das Mädchen ernst an.
“Wehe, wenn nicht”, drohte sie mit versucht tiefer Stimme. “Dann komme ich nach Deutschland und hau dich.” Und bevor Leandro irgendwie auf diese Ansage reagieren konnte, drehte sie sich um und flitzte ins Haus.
Leandro atmete tief durch, umarmte seine Mutter noch einmal und stieg dann endlich in den Kombi seines Stiefvaters, an dem Per Korber geduldig wartete.
Dessen abschließende Worte am Flughafen trieben dem Jungen erneut die Tränen in die Augen.
“Denk dran, Leandro”, sagte er und sah seinem Stiefsohn dabei fest in die Augen, “egal, was es ist... wenn du ein Problem hast, dann melde dich bitte bei uns! Wir sind für dich da, und wir helfen dir. Okay?”
Mit vor Rührung zitternder Unterlippe nickte Leandro. Er wusste, dass sein Lächeln extrem schief ausfiel. So hatte er sich seinen Sommer ganz sicher nicht vorgestellt.
Er vermisste Julian.
Erst im Abflugbereich holte er sein Handy hervor, schaltete es an... und konnte nicht glauben, was er sah: 14 verpasste Anrufe und 21 SMS. Alle von Julian. Anfangs fragte er nur, warum Leandro nicht antwortete, dann wurden die Nachrichten besorgter, und er wollte wissen, ob alles okay wäre. Die letzte hatte er gestern geschickt. ‘Warum versuchst du, mir Angst zu machen?’ Kopfschüttelnd schnaubte Leandro leise. War klar, dass Julian sich keiner Schuld bewusst war. Na gut, Leandro war es gewesen, der das letzte Telefonat ohne Abschied beendet hatte und er war es auch, der Anrufe und Nachrichten ignoriert hatte, aber schließlich hatte er einen Grund gehabt. Er war traurig und enttäuscht gewesen, weil Julian ihn nicht hatte sehen wollen. Nach einem langen Zögern, klappte Leandro das Handy auf und startete eine SMS. “Bin auf dem Weg nach Berlin. Alles ok. Melde mich. Leandro’. Das musste reichen.
Gustavo Cortez stand am Flughafen Berlin/Tegel und wartete auf den Sohn seines Geschäftsfreundes Carlos Sanchez. Carlos hatte ihm erzählt, warum er Leandro nach Deutschland geschickt hatte. Allerdings hatte er seinen Freund auch gebeten, Leandro nicht zu sagen, dass er Bescheid wusste.
Leandro hatte den Mann nur ein einziges Mal persönlich gesehen, und das war auch schon mehr als drei Jahre her. Sich umsehend stand er auf dem großen Flughafen. Rucksack und Reisetasche hatte er sich über die Schultern geworfen und in der Hand hielt er den Griff des großen Koffers, als er angesprochen wurde.
“Leandro? Leandro Sanchez?”
Der Mann, der das gesagt hatte, hatte dunkle Haare, durch die sich die ersten grauen Fäden zogen, dunkle Augen, die jetzt fragend blickten, er trug einen taubenblauen Anzug und einen Bauchansatz vor sich her.
“Ich bin Gustavo Cortez”, erklärte er, als Leandro nickte. “Ein Geschäftsfreund deines Vaters. Willkommen in Berlin. Gehen wir. Der Fahrer wartet im Parkverbot.” Und ohne eine Antwort oder Begrüßung abzuwarten, wandte er sich ab und schritt voraus. Leandro beeilte sich, ihm zu folgen, was nicht so einfach war mit dem vielen Gepäck.
Draußen erwartete sie nicht nur der geräumige Mercedes des Geschäftsmannes, aus dem bei ihrem Erscheinen sofort ein Chauffeur sprang und Leandro endlich mit dem Koffer half, sondern auch der deutsche Sommer.
Es regnete.
‘Passt ja zur Stimmung’, schoss es Leandro durch den Kopf, und er zog die Schultern zusammen. Er hätte gern seine Jeansjacke aus dem Rucksack geholt, doch der lag zwischen Koffer und Reisetasche eingekeilt im Kofferraum.
Scheinbar interessiert sah er während der Fahrt aus dem Fenster. Doch schon nach wenigen Minuten sah er nichts mehr von dem Grau in Grau. Er dachte an zu Hause. An Spanien. An Bäume und Pflanzen, die in allen erdenklichen Grüntönen leuchteten, an den strahlendblauen Himmel, dessen Klarheit oft wochenlang höchstens von einem Flugzeug oder vorbeiziehenden Vögeln durchbrochen wurde. Leandro war sicher: Hier würde er sich nicht wohl fühlen. Und er würde alles daran setzen, so schnell wie möglich zurück nach Spanien zu kommen!
Doch zu seiner Überraschung gab es in dieser so kalt anmutenden Stadt auch grüne Flecken, denn nach einigen endlos erscheinenden Minuten waren da plötzlich blühende Bäume, Parkanlagen und große, wunderschöne Häuser mit liebevoll gestalteten Grünflächen.
Nur der Himmel blieb grau.
Der Himmel und Leandros Seele.
In dem Haus, welches für mindestens ein Jahr sein Zuhause sein sollte - und das eher dem einer Villa entsprach - wurden sie von einem Hausangestellten begrüßt, der Leandro auf sein Zimmer führte. Gustavo Cortez schien getan zu haben, was er seinem Geschäftsfreund versprochen hatte und entschuldigte sich. Er habe zu arbeiten.
Der Mann, der Leandro alles zeigte, was er wissen musste, war sehr nett. Piedro war schon über sechzig und seit mehr als dreißig Jahren bei der Familie Cortez beschäftigt. Mit einer angedeuteten Verbeugung, einem warmen Lächeln und dem Hinweis, dass um Punkt sechs Uhr das Abendbrot im großen Esszimmer serviert wurde, ließ er Leandro allein.
Der ging rüber zu dem großen Fenster, schob die schneeweißen Gardinen zur Seite, welche die Sicht unklar machten und bekam einen gepflegten Garten zu sehen, der ihm unter allen anderen Voraussetzungen sicher ein Lächeln auf die Lippen gezaubert hätte. Doch jetzt registrierte er beinahe teilnahmslos die farbenfrohen Blumen, welche vor dem Regen die Köpfe einzuziehen versuchten. Ja, es regnete noch immer.
Der Himmel war noch immer grau.
Mit einem Seufzen wandte Leandro sich ab und dem Zimmer zu. Alles hier drin war weiß. Weißer Holzfußboden, weiße Wände und auch die Möbel waren aus weißen Holz gemacht. Einzig die Tagesdecke über dem großen Bett hatte eine andere Farbe.
Sie war grau.
Leandro ließ sich auf die Bettkante fallen und kramte in seinem Rucksack, den jemand zusammen mit seinem Gepäck auf das Zimmer gebracht haben musste, während er Piedro gefolgt war und versucht hatte, sich den Weg zum Bad und in die anderen gefühlten tausend Räume zu merken. Endlich fand er, was er gesucht hatte.
Sein Handy.
Er klappte es auf, tippte die Pin-Nummer ein und wartete.
Eine neue Nachricht.
Nicht Julian.
Seine Mutter. Sie wollte wissen, ob er gut angekommen sei und bat um eine kurze Antwort. Natürlich bekam sie diese umgehend. Nachdem er die SMS abgeschickt hatte, zögerte er noch kurz, dann tippte er eine neue Nachricht. ‘Angekommen. Alles okay. Vermisse dich.’ Doch bevor er sie abschickte, löschte er das letzte Wort und ersetzte es durch ‘Spanien’. Mit zitternden Fingern suchte er Julians Nummer, und Sekunden später war die Nachricht unterwegs zu seinem Freund. Leandro war klar, dass er gelogen hatte. Aber er konnte und wollte Julian nichts vorheulen. Und schon gar nicht innerhalb von 120 Zeichen.
Zu seinem Staunen kam die Antwort schnell. ‘Super! Wünsche viel Spaß! Treib’s nicht zu doll! Man hört viel von Berlin ^^ J’
Beim Lesen der wenigen Worte, verschluckte Leandro sich förmlich an seiner eigenen Spucke. In etwa diese Worte hatte er sich im Gegenzug verkniffen. Er wusste, dass Julian in Felix nur schwer jemanden würde finden können, mit dem er seinen Freund betrügen könnte, doch Julian war ja nicht in Felix, sondern in Constantina. Und wie es da mit der homosexuellen Szene aussah, konnte Leandro nicht sagen. Aber vielleicht war das besser so.
Zwei Stunden später hatte er seinen Koffer ausgepackt, seine Toilettenartikel im angrenzenden Bad in das Regal neben dem Marmor-Waschbecken gestellt, geduscht und sich umgezogen.
Pünktlich um sechs Uhr stand er im gesuchten Esszimmer. Der Hausherr war bereits da und blätterte in einer Zeitung.
Piedro lächelte Leandro zu und forderte ihn mit einer diskreten Handbewegung seiner dünnen, knotigen Hand auf, näher zu kommen und wies ihm einen Platz links neben Gustavo Cortez zu. Leandro hätte gern an jedem anderen Platz gesessen, doch nur hier war eingedeckt. Nervös auf der Unterlippe kauend, saß er da und starrte auf den weißen Porzellanteller.
Endlich faltete Gustavo Cortez die Zeitung geräuschvoll zusammen und legte sie neben seinen Teller. “Wie bist du mit deinem Zimmer zufrieden?”, erkundigte er sich, ohne Leandro begrüßt zu haben.
Der war irritiert. Hätte er grüßen müssen, als er den Raum betreten hatte? “Ja, danke, er ist sehr schön”, antwortete er steif.
“Schön. Piedro wird dir nachher einen Stadtplan geben und dir darauf zeigen, wo das Gymnasium liegt. Es ist nicht weit von hier. Zehn Minuten zu Fuß. Das ist hoffentlich kein Problem. Ich benötige den Chauffeur um diese Zeit, um in mein Büro ins Zentrum zu gelangen.”
“Nein, das ist okay. Ich gehe gern zu Fuß”, beeilte Leandro sich zu sagen und fügte gedanklich hinzu: ‘Hauptsache, allein sein... meinetwegen auch im Regen’.
“Schön.” Das schien das Lieblingswort des Geschäftsmannes zu sein, schoss es Leandro durch den Kopf.
Das Abendessen wurde serviert und sie verzehrten es schweigend. Kaum hatte er die leere Espressotasse auf den Unterteller gestellt, erhob sich Gustavo Cortez. “Ich habe noch zu arbeiten. Wenn du Fragen hast, dann wende dich vertrauensvoll an Piedro. Er wird alles tun, was in seiner Macht steht, um dir zu helfen.” Er sah zu dem Butler, der sofort in eine Verneigung verfiel. “Schön. Ich wünsche dir noch einen netten Abend. Wir sehen uns morgen beim Abendbrot. Ich werde wohl schon weg sein, wenn du aufstehst.”
“Ja, also... danke”, stammelte Leandro, der ebenfalls hastig aufgestanden war. “Und... ihnen auch eine gute Nacht.”
“Danke.”
Der Mann verließ hocherhobenen Hauptes den Raum, und Leandro ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen.
Hölle, wo war er hier gelandet?
Genau das versuchte er in den nächsten zwei Wochen herauszufinden. Piedro überließ ihm in der Tat eine kleine Karte, die allerdings lediglich den exklusiven Stadtteil zeigte, in dem sie wohnten. Er lief einige Male den Weg zu dem Gymnasium ab, in welchem er die elfte Klasse besuchen sollte. Das Gebäude war nicht wirklich schön, aber was wollte man von einer Schule auch erwarten.
Ein preisgekröntes Highlight hingegen, war der Eingang zum U-Bahnhof von Dahlem. Zwei Tage lang schaffte Leandro es, daran vorbei zu gehen, ohne den unterirdischen Bahnhof zu betreten, doch dann siegte seine Neugier. Doch sein Ziel waren nicht die wenigen, liebevoll hergerichteten Geschäfte, oder die an- und abfahrenden Züge, sondern die kleine Anzeigetafel, worauf nachzulesen war, wann die genannten Züge wohin fahren würden. Er suchte eine Strecke heraus, die ins Zentrum führte - betrat das Verkehrsmittel jedoch nicht ein einziges Mal. Stattdessen schlenderte er durch die Museen des Ortes, besorgte die Schulmaterialien, die er benötigte und saß stundenlang im Park und starrte auf den kleinen Teich, auf dem Enten ihre Bahnen zogen und kleine Wellen hinter sich her zogen.
Mit Julian telefonierte er nur ein einziges Mal. Sein Freund hatte keine Zeit - war angeblich mit seinem Cousin verabredet, mit dem er in die Stadt gehen wollte.
Und dann war es soweit. Leandros erster Schultag in Deutschland stand unmittelbar bevor.
“Meine Damen und Herren, darf ich um Ruhe bitten!”
Wolfgang Surek war Lehrer für Deutsch und Psychologie am Nelly-Sachs-Gymnasium im Berliner Stadtteil Dahlem. Er war im Vergleich zu seinen Kollegen und Kolleginnen noch verhältnismäßig jung mit seinen 34 Jahren und trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - wurde er von seiner Klasse, einem jetzt elften Jahrgang, absolut respektiert. Und so war es auch heute - dem ersten Tag im neuen Schuljahr. Sobald die Schüler und Schülerinnen bemerkt hatten, dass er den Raum betreten hatte, wurde es still. Vielleicht, schoss es ihm durch den Kopf, lag das aber auch an seiner Begleitung.
Leandro war mit gemischten Gefühlen hier her gekommen. Einerseits war er froh, dass er diesen verhassten ersten Tag hinter sich bringen konnte, andererseits verspürte er so gar keine Lust, sich schulisch zu engagieren.
Mit in den Taschen vergrabenen Händen stand er seitlich hinter dem jungen Lehrer und sah sich in der Klasse um. Ihm war egal, ob es bemerkt wurde, oder nicht. Das Verhältnis Jungs zu Mädchen war halbwegs ausgeglichen... vielleicht waren die Mädels leicht in der Überzahl. Fast alle Augen waren auf ihn gerichtet.
Wie er das hasste.
“Ich weiß”, meldete der Pädagoge sich jetzt wieder zu Wort, “dass ihr euch alle viel zu erzählen habt nach den langen Ferien, aber alles Private verlegt doch bitte auf die Pausen.” Er wartete das leise Gemurmel und Kopfnicken ab, dann sah er kurz zu Leandro und lächelte ihm aufmunternd zu, bevor er sich wieder an seine Klasse wandte. “Ich habe Euch einen neuen Schüler mitgebracht. Leandro Sanchez kommt aus Spanien, wie Ihr am Namen sicher schon erkannt habt und wird sein Abitur hier bei uns in Deutschland machen.”
Leandro wusste, was sie sich alle fragten: Wie kann man freiwillig vom sonnigen Spanien in das verregnete Deutschland ziehen? Und dann auch noch, um hier zur Schule zu gehen? Und sprach er überhaupt deutsch? Und warum sah er überhaupt nicht so typisch spanisch aus?
Die Antwort auf die einige Frage bekamen sie, als Herr Surek Leandro aufforderte, sich doch kurz vorzustellen.
“Wie gesagt, mein Name ist Leandro Sanchez, und ich komme aus Felix/Andalusien in der Nähe der spanischen Costa del Almeria.”
“Das kenne ich”, rief ein Mädchen, welches Leandro anhimmelte, seit er die Klasse betreten hatte, “da war ich schon mal im Urlaub mit meiner Familie. Felix liegt aber mehr im Landesinneren und nicht direkt an der Küste, richtig?”
Leandro nickte.
Und das Mädchen strahlte.
“Du siehst nicht aus, wie ein Spanier”, sagte ein anderes Mädchen aus der hinteren Reihe. Sie hatte kurzes, dunkles Haar und trug eine eher altmodische Brille.
“Ja, kann sein. Liegt vielleicht daran, dass meine Großeltern Deutsche waren”, erklärte Leandro mit einem leichten Schulterzucken.
“Oh... okay.”
“Bist du mit deiner Familie hier? Wo wohnst du?”, wollte ein Junge wissen, der lässig auf seinem Stuhl saß und Leandro geradezu fixierte, als versuche er herauszufinden, ob dieser ein Opfer oder ein Freund werden würde.
“Ich bin allein hier. Und ich wohne bei einem Geschäftsfreund meines Vaters”, gab Leandro bereitwillig Auskunft.
Bevor weitere Fragen auf ihn niederprasseln konnten, ergriff Wolfgang Surek erneut das Wort. “Ihr könnt Leandro später noch weitere Fragen stellen. Jetzt möchte ich erstmal feststellen, ob wir wieder vollzählig sind, oder Verluste zu beklagen haben.”
Ein leises Lachen zog sich durch den Raum.
Der Lehrer nickte Leandro zu. “Du kannst, wenn du möchtest, gern sofort hier vorn sitzen”, er deutete auf einen Platz direkt vor dem Lehrerpult, “oder aber”, er sah sich im Raum um, “hinten sind auch noch Plätze frei.”
“Ja, danke.” Leandro musste nicht überlegen. Auch, wenn er persönlich nichts dagegen gehabt hätte, vorn zu sitzen, wusste er doch, dass er damit nur ein gefundenes Fressen für die anderen wäre. Kaum da und schon als Streber verschrieen. Nein, das musste er nicht haben. Also durchquerte er das Klassenzimmer, spürte dabei die Blicke der Mädchen auf sich und blieb vor dem Zweierpult stehen, an dem das Mädchen saß, das ihn offen auf sein Aussehen angesprochen hatte.
“Ist hier noch frei?”, fragte er und war überrascht, als das Mädchen dezent rot um die Nase wurde.
“Ja, klar.” War ihre Stimme eben schon nur dünn gewesen, war sie jetzt nur noch ein Flüstern.
Leandro warf den Rucksack neben den Tisch und setzte sich, wobei er seine Tischnachbarin neugierig musterte. ”Also... ich bin Leandro... immer noch.”
“Oh, ich”, sie schien wirklich schüchtern, “ich bin Mira.”
“Schön.” Leandro zuckte bei dem Wort, welches von Gustavo Cortez ständig gebraucht wurde, kurz zusammen. “Schöner Name, meine ich”, fügte er schnell hinzu und konzentrierte sich dann auf das, was Wolfgang Surek vorn sagte. Allerdings war der noch dabei, die anwesenden Schüler auf einer Liste abzuhaken. Mira meldete sich bei dem Namen ‘Petersen’ und sah dann verlegen lächelnd zu Leandro. Der erwiderte dieses freundlich und offen. Er hatte das Gefühl, eine Freundin gefunden zu haben. Jedenfalls war sie ihm wesentlich lieber, als die Modepüppchen, die eine Reihe vor ihm saßen und sich immer wieder kichernd zu ihm umdrehten und dabei ihre langen Haare schwungvoll über den Rücken warfen. Er ignorierte sie und musterte stattdessen lieber seine männlichen Mitschüler.
Da waren schon ein paar nette Exemplare darunter. Aber sicher alle Stock-Hetero.
Als es zur Pause klingelte, packten alle ihre Sachen zusammen und verließen den Raum. Auch Mira stand auf, sah allerdings abwartend zu Leandro.
“Was hast du jetzt? Kann ich dir irgendwie helfen? Etwas zeigen?”, fragte sie.
Leandro kramte den Zettel mit seinem Stundenplan heraus, den ihm die Direktorin am Morgen gegeben hatte. Er strich das etwas mitgenommene Papier auf dem Tisch glatt und sah nach. “Geschichte. In Raum 404.”
“Das ist im Nebengebäude”, erklärte sie. “Ich zeig’s dir. Aber zuerst einmal in die Pause. Ich müsste mal zur Toilette.”
“Ja, klar.” Leandro erhob sich ebenfalls, warf seinen Rucksack über die Schulter und folgte dem Mädchen, welches einen Kopf kleiner war als er, aus dem Raum...
durch etliche Korridore... und hinaus an die frische Luft.
Es regnete nicht.
Oh Wunder.
Mira zeigte ihm, wo die Toiletten waren. Diese sahen nicht besonders einladend aus, und Leandro nahm sich vor, es irgendwie zu verhindern, diese benutzen zu müssen.
Während er auf Mira wartete, wurde er von einer Gruppe bestehend aus zwei Mädchen und drei Jungs angesprochen, die alle in seiner Klasse gewesen waren.
“Hey. Ich bin Jan.” Der Typ, der ihn so intensivst gemustert hatte, streckte ihm jetzt die Hand entgegen.
Anscheinend hatte er sich für die Freund-Alternative entschieden.
Leandro ignorierte sie.
“Hast du Lust, mit uns in die Cafeteria zu kommen?” Das Mädchen mit den blonden Locken war hübsch, aber für Leandros Geschmack viel zu stark geschminkt. Sie hielt Händchen mit Jan. “Oh, ich bin übrigens Jeannine.”
Die anderen stellten sich ebenfalls vor. Diana, Andrea, Max und Carsten. Letzterer mit C, wie er betonte. Leandro war es egal. Er würde sich die Namen eh nicht so schnell merken.
“Also, kommst du mit?” Diana... oder Andrea? ... sah ihn fragend an.
“Ich warte hier auf Mira. Vielleicht kommen wir nach”, sagte er und im nächsten Moment tauchte eben diese Mira auch schon wieder auf. Allerdings blieb sie in einigem Abstand stehen.
Verwirrt hob Leandro die Augenbrauen.
Carsten, der seinem Blick gefolgt war, war nicht minder überrascht. “Die Petersen? Man, Junge, du solltest nochmal über deinen Geschmack nachdenken”, höhnte er. Die anderen vier lachten zustimmend.
“Na denn... wir sehen uns...”, verabschiedeten sie sich und ließen Leandro stehen, der den Blick nicht von dem Mädchen genommen hatte, das noch immer unsicher in der Nähe der Toilettenräume stand.
Erst, als das Quintett außer Hörweite war, kam sie auf ihn zu.
“Was war das denn?”, wollte Leandro wissen.
“Naja, sie haben doch sicher über mich geredet, oder?”, fragte sie leise und mit gesenktem Kopf.
“Nein. Kann es sein, dass du kein so wirklich gutes Verhältnis zu den anderen hast?”
Sie schüttelte mit dem Kopf, ging langsam auf eine der Holzbänke zu, die auf dem Schulhof verteilt standen und setzte sich. Dann erzählte sie, dass sie auch erst seit ungefähr einem Jahr in der Klasse sei und schnell den Ruf einer Streberin weg gehabt hatte. “Aber ich sehe nicht ein, absichtlich schlechte Noten zu schreiben, nur, damit diese Schicki-Micki-Clique mich akzeptiert”, erklärte sie beinahe trotzig.
Leandro nickte - und in den nächsten Tagen verbrachte er die Pausen mit Mira.
Sie hatten nicht all zu viele Stunden miteinander, aber das tat ihrer aufkeimenden Freundschaft keinen Abbruch. Sie redeten viel über ihre Familien (Miras Vater war bei der Army, und sie hatte schon sehr oft umziehen müssen), doch sein größtes Geheimnis behielt Leandro für sich.
Von Julian kamen anfangs noch SMS, und sie telefonierten zweimal miteinander, doch irgendwann blieb das Handy stumm, und wenn Leandro ihn anrief, teilte eine automatische Frauenstimme ihm mit, dass die Nummer nicht vergeben sei.
In den Herbstferien besuchte er seine Mutter und ihre Familie. Sie alle freuten sich sehr und besonders Luisa konnte nicht genug über Deutschland hören. Während Leandro erzählte, was er so tat (außer zur Schule zu gehen, war das im Grunde nicht viel), hatte Sofia sich auf seinem Schoß zusammengerollt, wie ein kleines Kätzchen.
Catalina Sanchez-Korber musterte ihren nachdenklich. Er sah nicht glücklich aus, und das bereitete auch ihr Sorgen. Sie wusste, dass er seinen Freund vermisste, doch sie hatte keine guten Neuigkeiten.
Als sie am ersten Abend gemeinsam in der Küche standen und Leandro seiner Mutter beim Abwasch half, war sie nicht überrascht, als er leise fragte: “Weißt du... wo er ist?”
Er war Julian.
Das war klar.
Catalina widmete sich dem Teller in ihrer Hand, um Zeit zu gewinnen.
Nachdem Leandro ihr das Geschirr abgenommen hatte, räusperte sie sich. “Er ist mit seinen Eltern zurück nach Madrid gezogen.” Sie lebte zwar nicht mehr in Felix, aber sie hatte immer noch Freunde und Bekannte dort. Und bei einem Kaffeetrinken mit ihrer besten Freundin Rosa hatte sie genau das erfahren. “Es tut mir leid”, fügte sie leise und absolut ehrlich hinzu.
Leandro sagte nichts. Er trocknete das Porzellan übertrieben gründlich ab, stellte es dann in den Schrank und sah zu seiner Mutter. “Machst du nicht weiter? Bleibt der Rest dreckig?” Er sah auf die letzten zwei Teller, die noch übrig waren. Tränen brannten in seinen Augen, doch er würde hier und jetzt vor seiner Mutter nicht weinen.
Nicht schon wieder.
Diese sah die nassen Augen, doch sie sagte nichts. Sie nahm ihn nicht einmal in den Arm, denn sie kannte ihren Sohn gut genug, um zu wissen, dass er die Tränen, die er nicht zeigen wollte, dann nicht würde aufhalten können. Also schenkte sie ihm nur ihr liebevollstes Lächeln und nahm einen neuen Teller aus dem Geschirrkorb.
Als Leandro zwei Stunden später alleine am Strand entlang schlenderte - die Hände tief in den Taschen der knielangen Jeans vergraben und immer wieder warmen Sand aufwirbelnd, wenn er gegen einen sanften Hügel trat - wusste er nicht, was er lieber tun wollte. Schreien, weil er wütend auf Julian war, weil der es nicht für nötig gehalten hatte, seinen Freund (wenn er es denn überhaupt noch so gesehen hatte) von seinem Umzug zu informieren, oder heulen, weil er sich plötzlich so allein fühlte.
Noch mehr, als schon in Deutschland.
Mira, seine einzige Freundin dort, war ehrlicher gewesen als Julian. Sie hatte Leandro schon vor zwei Wochen erzählt, dass sie nur noch bis zum Ende des Jahres in Berlin sei - danach würde sie mit ihrer Familie nach Toulouse/Frankreich, unweit der spanischen Grenze, ziehen, wohin ihr Vater versetzt worden war.
Ironie des Schicksals nannte man das wohl.
Irgendwann setzte Leandro sich auf den Rand eines Fischerbootes und sah zum Horizont raus.
Mit Mira verlor er den einzigen Menschen, der ihm in Deutschland noch aufrecht hielt. Ja, seine Mutter war auch immer für ihn da, aber sie war eben so weit weg. Und da sie sich schon immer geweigert hatte, sich mit der neuesten Kommunikationstechnik wie Handy oder Chatten über das Internet, auseinander zu setzen, für ihn unerreichbar.
Viel zu schnell waren die Ferien vorbei und er saß wieder im Flugzeug nach Deutschland... in sein Zimmer bei Gustavo Cortez... und ins Klassenzimmer neben Mira, die ein entsetzlich schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihren Freund allein ließ.
An ihrem letzten Schultag vor den Weihnachtsferien zog sie ihn in der Pause in eine ruhige Ecke und überreicht ihm ein kleines Päckchen.
“Was ist das?”, fragte Leandro verwirrt.
“Mach es auf”, bat sie leise.
Langsam hob er den Deckel von dem Pappkarton und schnappte nach Luft. Darin lag - auf Watte gebettet - ein Lederarmband, wie es Brian Kinney aus der Fernsehserie Queer as Folk trug. Beinahe ehrfürchtig strich er mit den Fingern darüber, dann sah er das Mädchen an.
Sie lächelte. “Trag es”, flüsterte sie sanft. “Steh dazu.”
“Was?”
“Komm schon, Leandro, ich bin nicht doof. Und blind auch nicht. So, wie du Jan anstarrst, wenn er mit seinen Kumpels quatscht... oder Max im Sportunterricht mit Blicken ausziehst... es ist okay.”
“Oh Gott...” Leandro wurde knallrot. “Haben... also... haben die anderen auch...” Er machte eine hilflose Handbewegung.
“Nein”, lachte sie leise, “nein, ich glaube nicht, dass jemand etwas gemerkt hat. Und trotzdem... oder gerade deswegen”, sie nahm das Armband und legte es um sein Handgelenk, “solltest du es tragen.”
“Und mich zusammenschlagen lassen?” Leandro hatte in den Nachrichten sehr wohl davon gehört, dass es Übergriffe auf homosexuelle Pärchen gegeben hatte.
Mira seufzte leise. “Tut mir leid. Ich kann dich natürlich nicht zwingen.”
Leandro hörte die Enttäuschung und lenkte sofort ein. “Ich trage es. Es ist wunderschön. Wirklich.” Er hob ihren Kopf an, indem er einen Finger unter ihr Kinn legte. “Du wirst mir fehlen.”
“Du mir auch.”
Die nächsten Tage verloren sich in einem immer wiederkehrenden Trott. Aufstehen
Langeweile
Schlafen
Die meiste Zeit verbrachte er allein im Park.
Die Feiertage waren nicht weniger eintönig. Hatte er ganz am Anfang noch Julian gehabt, mit dem er wenigstens gelegentlich hatte telefonieren können... und war später Mira da gewesen, mit der er lange Spaziergänge gemacht hatte, währenddessen sie geredet und viel gelacht hatten, war er jetzt wieder allein, saß wieder ohne Gesellschaft am See und spielte mehr als einmal mit dem Gedanken, einfach die Sachen zu packen und zurück nach Spanien zu fliegen.
Anfang Januar geschah etwas, was ihn hellhörig werden ließ. Zwei Mädchen aus seinem Jahrgang hatten es satt, sich vor ihren Freunden und Mitschülern zu verstecken und outeten sich - standen offen zu ihrer Liebe zueinander. Total überrascht beobachtete Leandro, dass sie keinerlei Probleme bekamen oder Anfeindungen in der Schule erlebten.
Im Gegenteil.
Die meisten anderen jungen Leute gingen offen mit der Neuigkeit um und stellten sogar interessiert Fragen.
Leandro sah nachdenklich auf das Armband, welches er selbstverständlich trug und hörte immer wieder Miras aufmunternde Worte: ‘Steh dazu’, die sich mit denen seiner Mutter vermischten: ‘Du bist so normal, wie ein Mensch nur sein kann’.
Hatten die Frauen Recht?
Waren sie einfach klüger als ihre männlichen Pendants?
Leandro beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Allerdings nicht hier in Dahlem. Es zog ihn nach Berlin-Kreuzberg. Er hatte gehört, dass die Möglichkeiten, das Ganze im Verborgenen angehen zu können, hier besser waren.
Und tatsächlich: Schon bei seinem ersten Besuch einer einschlägigen Homo-Bar - er war stundenlang darum herum geschlichen, bis er sich endlich hinein getraut hatte -, wurde er von einem sympathischen jungen Mann in seinem Alter angesprochen. Sie unterhielten sich lange - und die Nacht endete in einer Diskothek und für Leandro zum ersten Mal in seinem Leben in einem DarkRoom. Mit jedem Tag in der Stadt... jedem Besuch in bekannten und weniger bekannten Homo-Clubs, wurde er offener und freier - fand er neue, mehr oder weniger gute Freunde. Sein Sexleben spielte sich hauptsächlich in Nebenstraßen oder DarkRooms ab, aber das war ihm egal... damit konnte er leben.
Irgendwann wurde er in der Klasse von niemand anderem als Jan auf seine Homosexualität angesprochen.
Der Mitschüler zog ihn in einer Pause in eine Jungentoilette und sah ihn dort lange an.
“Was?”, fragte Leandro.
“Carstens Bruder hat dich gestern gesehen.”
“Ach ja? Schön für Carstens Bruder. War’s das?” Leandro versuchte, an Jan vorbei zur Tür zu gelangen.
“Willst du nicht wissen, wo?”
“Ganz ehrlich? Nein. Fertig?”
“Im Queer.”
Leandro hielt mitten in der Bewegung - seine Hand lag schon auf der Türklinke - inne. Ja, er war gestern dort gewesen. Und er war nicht allein gegangen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. “Und?”
“Das ist ein Homoladen.”
“Ich weiß. Nochmal: Und?” Leandro sah dem hübschen Jungen mit den blonden Locken und der Stupsnase fest in die Augen. “Was hast du jetzt vor?”
“Was ich vor habe?”, wiederholte der andere hörbar erschrocken. “Was denkst du denn, was ich tu? Dich zusammenschlagen? Wohl kaum. Man, Leandro, Philipp - Carstens Bruder - ist auch schwul. Das ist kein Problem. Nur... überraschend. Warum hast du nie etwas gesagt?”
Leandro nahm endlich die Finger von dem kalten Metall der Klinke und trat einen Schritt zurück. “Was hätte das geändert?”
Die Frage schien Jan zu irritieren. Er überlegte kurz, dann grinste er: “Dass so einige Mädels in der Klasse sich nicht in Tagträumereien verloren hätten.” Er zwinkerte dem anderen frech zu. “Was war das mit Mira?”
“Sie war... ist... eine Freundin.” Leandro hatte immer noch regelmäßig Kontakt per SMS oder E-Mail mit dem Mädchen, und sie war auch die Einzige, die von seinen Ausflügen nach Berlin-Mitte wusste.
“Na dann. Ey, Alter”, Jan legte Leandro eine Hand auf die Schulter, “steh dazu. Ist nicht wild, oder?”
“Danke. Nein... für euch vielleicht nicht...” Leandro dachte an seinen Vater und daran, wie schnell der Bescheid wüsste, wenn Gustavo Cortez nur den Hauch einer Vermutung hätte.
Wenn Leandro jetzt erwartet hatte, dass Jan Mülter Leandros Homosexualität an die große Glocke hängen würde, dann wurde er überrascht. Die Clique behielt dieses Wissen für sich und überließ es Leandro, ob er etwas sagen wollte, oder nicht. Und der zog es zunächst vor, alles so zu lassen, wie es war, denn so war es gut.
Doch so sollte es nicht bleiben.
Nicht nur Philip Körner - der Bruder von Leandros Mitschüler Carsten Körner - hatte ihn gesehen. Wer noch, das sollte Leandro im darauffolgenden März erfahren.
Er war schon mit einem unguten Gefühl in der Magengegend nach Hause gekommen, denn als er in der Stadt Geld hatte abheben wollen, war seine EC-Karte von keinem Geldautomaten akzeptiert worden. Und die Tatsache, dass sein Haustürschlüssel sich nicht im Schloss umdrehen ließ, führte nicht gerade dazu, dass er sich beruhigte. Chancenlos drückte er auf den Klingelknopf, hörte den tiefen Gongschlag, der sich durchs Haus zog und die trippelnden Schritte von Piedro, der ihm mit einem besorgten Gesichtsausdruck die Tür öffnete. Ohne eine Begrüßung abzuwarten, deutete er ihm an, ins Wohnzimmer zu gehen. “Senor Cortez erwartet Sie”, sagte er steif.
Sie? Piedro hatte ihn von Anfang an geduzt - und das war für Leandro mehr als in Ordnung gewesen. Warum jetzt plötzlich Sie?
In ihm zog sich alles zusammen. Zögernd betrat er den großen Raum, der mit seinen schweren dunklen Möbeln noch bedrückender wirkte, als er es bisher schon immer getan hatte.
Sein Aufpasser, wie Leandro Gustavo Cortez schon lange nannte, saß hinter einem wuchtigen Schreibtisch an der rechten Längsseite des Raumes und musterte ihn mit stechendem Blick.
Hartnäckig erwiderte Leandro diesen, doch dann nickte der Mann in eine Richtung und als Leandro dem Blick folgte, stockte ihm der Atem.
Da stand... sein Gepäck.
Er konnte sich noch so fest vorgenommen haben, selbstsicher und stark zu sein und auf alles, was passieren würde, gelassen zu reagieren, doch das hier, das ließ Leandro am ganzen Körper zittern.
“Was... soll das bedeuten?” ‘Doofe Frage, Sanchez’, schalt er sich innerlich.
“Das, Leandro”, kam es eiskalt von Carlos Cortez zurück, “bedeutet genau das, was du hier siehst.” Der Mann erhob sich, um seinen nächsten Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen: “ Deine Zeit in diesem Haus ist um.”
“Und... wo soll ich hin? Zurück?” Hoffnung schwang in Leandros Stimme mit, und er hasste sich dafür.
“Das kannst du gern tun. Das ist nicht mehr mein Problem. Dein Vater hat sämtliche finanziellen Mittel gesperrt. Du kannst tun, was du möchtest.”
“Was? Aber... wo soll ich denn hin? Ich kann doch nicht... soll ich auf der Straße schlafen?” So langsam machte sich Panik in Leandro breit. Er hatte wahrscheinlich nicht einmal mehr genug Geld, um ein Hotelzimmer bezahlen zu können.
Der Blick des Mannes hinter dem Schreibtisch blieb so frostig, wie die Worte, die er als nächstes sagte: “Dein Vater weiß über alles Bescheid. Deshalb hat er mich angewiesen, dich des Hauses zu verweisen.”
‘Ja, und da er alle fest im Griff hat, tust du das auch’, knurrte Leandro innerlich. Doch nach außen hin, traten ihm tatsächlich heiße Tränen in die Augen. “Das kann er nicht machen.”
“Er hat es bereits getan.” Carlos Cortez nickte Leandro noch einmal kurz und endgültig zu. “Auf Wiedersehen, Leandro.” Und ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum durch eine Tür hinter dem Schreibtisch.
Minutenlang stand Leandro da - unfähig sich zu bewegen - unfähig zu begreifen, was hier gerade passiert war.
War er jetzt obdachlos?
Er kramte sein Handy aus der Tasche, und zum ersten Mal, seit er Spanien verlassen hatte, wählte er die Nummer seines Vaters.
“Leandro”, meldete der sich der spanische Geschäftsmann, ohne sich mit Höflichkeitsfloskeln wie einer Begrüßung aufzuhalten, “was kann ich für dich tun?”
“Was... was du tun kannst? Du hast mich auf die Straße gesetzt.” Hilflos drehte Leandro sich im Kreis, als suche er so einen Ausweg aus der Situation.
“Nun, da scheinst du dich ja auch sehr wohl zu fühlen, wie ich höre.”
Leandro schnappte nach Luft. Woher wusste sein Vater von seinen nächtlichen Ausflügen? Andererseits war es doch nur eine Frage der Zeit gewesen. Das hatte Leandro immer gewusst. Aber mit diesen Folgen hatte er niemals gerechnet. “Das kannst du nicht machen. Dad... wo... wo soll ich denn hin?” Leandro hasste sich für die Unsicherheit... die Verletzlichkeit in seiner Stimme, aber er hatte absolut keine Idee, was er gerade anderes tun sollte.
“Du wirst schon etwas finden”, kam es scharf aus dem Mobiltelefon. “Jetzt kannst du zeigen, was dir wichtiger ist: ein Dach über dem Kopf oder deine abartigen... widerwärtigen... Gelüste. Viel Glück, Leandro.” Und bevor Leandro etwas erwidern konnte, zog sich eine dröhnende Stille durch sein Gehirn.
Sein Vater hatte aufgelegt.
Einfach so.
Die Hand mit dem Telefon sank kraftlos herab, baumelte an seiner Seite wie ein Fremdkörper, und Leandros Blick irrte abermals verzweifelt durch den Raum.. Was sollte er denn jetzt tun? Wo sollte er hin?
Zu seiner Mutter? Er wusste ja nicht einmal, ob das Geld, das er noch bei sich trug, für das Taxi zum Flughafen reichen würde, geschweige denn für ein Ticket nach Spanien.
Zu Mira? Super - selbes Problem.
Es zog ihn nach Kreuzberg, doch waren da Freunde, die er gut genug kannte? Die bereit waren, ihn von jetzt auf gleich und ohne viele Fragen zu stellen, aufzunehmen? Er war sich nicht sicher.
Die Minuten tröpfelten dahin, und vielleicht waren es auch Stunden, die er hier stand und sich total eingeengt fühlte. Ihm fehlte die Luft zum atmen. Er konnte nicht vor und nicht zurück. Sein Vater hatte es tatsächlich geschafft, ihn total aus der Bahn zu werfen. Bisher war immer alles geregelt gewesen. Es hatte klare Abläufe gegeben. Leandros Leben war klar strukturiert gewesen. Er hatte immer gewusst, wo er hingehen konnte. Und jetzt? Jetzt stand er vor einem tiefen, dunklen Abgrund...
...und hatte keine Ahnung, dass er irgendwann wirklich springen würde.
Doch hier und jetzt schoss ihm ein Name durch den Kopf: Jan. Würde der ihm helfen? Nach ihrem Gespräch im Waschraum hatten sie die Handy-Nummern getauscht. Leandro zögerte noch kurz, doch hatte er eine andere Wahl?
Nein.
Ohne auf die Uhr zu sehen, suchte er im Telefonregister nach Jan Mülter und drückte die ‘Wählen’ - Taste.
Es dauerte eine Weile.
So lange, dass er schon wieder auflegen wollte.
“Leandro? Was ist passiert?” Jan klang verpennt und erst jetzt sah Leandro auf seine Armbanduhr.
Halb drei in der Frühe.
Shit.
“Entschuldige bitte. Ich habe nicht auf die Uhr... also... schon okay. Schlaf weiter.”
Er klappte das Handy zu.
Na super.
Leandro schloss die Augen und setzte sich endlich. Nicht auf einen der wuchtigen Holzstühle. Nein, er hatte das Gefühl, diese jetzt nicht mehr benutzen zu dürfen. Der Koffer war nicht bequem, aber er musste als Sitzgelegenheit reichen.
Er hatte gerade beschlossen, zunächst einmal mit Sack und Pack in den Park zu gehen, als das Display seines Handys - welches auf stumm geschaltet war - aufleuchtete.
Jan.
Tief beschämt nahm Leandro das Gespräch an.
“Ey, Alter... jetzt bin ich wach, jetzt sag auch, was los ist”, kam sein Mitschüler sofort auf den Punkt.
Scheiße, war das peinlich. Aber es ging doch nicht anders. “DerGeschäftsfreundmeinesVatershatmichrausgeworfen”, ratterte er so schnell herunter, dass er sicher war, dass Jan nicht ein Wort verstanden hatte.
Doch Jan Mülter war nicht doof. “Oha. Lass mich raten: Er hat von deinen Ausflügen nach Kreuzberg gehört.”
“Ja... so ungefähr.”
“Und was habe ich...” Jan stockte. “Oh, du brauchst ein Bett. Worauf wartest du? Meine Adresse kennst du. Mein Zimmer liegt im Erdgeschoss. Ich mache Licht, damit du’s erkennst und das Fenster auf - der Rest der Sippe wird wohl noch in der Traumwelt weilen.”
Leandro atmete erleichtert auf. “Und... das ist okay? Also... auch für deine Eltern?”
“Na, die werde ich jetzt nicht aus den Betten werfen. Reicht, wenn sie es morgen erfahren. Und ich denke nicht, dass sie ein Problem damit haben. Sind ganz okay meine Erziehungsberechtigten. Mach also hinne...” Dann wurde das Gespräch unterbrochen.
Seine erste Nacht in der Schwebe verbrachte Leandro also auf dem Sofa im Zimmer von Jan Mülter Das war für einen Jungen von 1,80m eigentlich viel zu kurz, aber besser als nichts.
Am nächsten Tag - einem Sonntag - lernte er das Ehepaar Mülter kennen und stellte schnell fest, dass Jan nicht übertrieben hatte. Die beiden Erwachsenen nahmen es erstaunlich locker, dass ihr Sohn einen Übernachtungsgast hatte und waren auch damit einverstanden, dass dieser sich für längere Zeit bei ihnen einnistete. Für sie schien es auch selbstverständlich zu sein, dass Leandro mit ihnen am Tisch saß und mit ihnen gemeinsam aß.
Leandro allerdings war das alles unangenehm. Er hatte das Gefühl, Gastfreundschaft der Leute auszunutzen. Geld konnte er ihnen nicht anbieten und sowieso würde das bisschen, was er noch hatte, schnell aufgebraucht sein - und das auch, wenn er sich zunächst von Kreuzberg fernhalten würde.
Als er am folgenden Montag in einem Laden einen Aushang fand, mit dem Schüler oder Studenten als Aushilfe gesucht wurden, griff er sofort zu. Und von dem Tag an jobbte er nach der Schule regelmäßig in manchmal zwei Lebensmittelgeschäften gleichzeitig, um wenigstens am Wochenende auf eigenen Beinen stehen zu können und Jan nicht auch noch auf der Tasche liegen zu müssen. Sie trafen sich häufig mit Carsten und den anderen. Das war nett, aber Leandro zog es dann doch irgendwann wieder allein in Richtung Kreuzberg. Auch hier hatte er schließlich Bekannte... Freunde...
Diese hatten allerdings etwas für sich entdeckt, womit er nicht viel anfangen konnte: Drogen. Er ließ sich zu einer Ecstasy-Pille und einer Canabis-Zigarette überreden, stellte jedoch schnell fest, dass es a) seinen finanziellen Rahmen sprengte und ihm b) auch nicht dorthin brachte, wo er hinwollte . Also ließ er die Finger davon.
Es gab in dieser Zeit nur eins, was ihm wichtig war: Er wollte zurück nach Hause. Zurück nach Spanien. Doch das wenige Geld, was er verdiente, war immer viel zu schnell aufgebraucht. Er nahm weitere Gelegenheitsjobs an, schmiss die Schule, weil er sich nicht mehr konzentrieren konnte und zog bei Jan aus.
Von da an verbrachte er seine Nächte wieder in Kreuzberg, wohnte bei teilweise zwielichtigen Freunden und schlauchte sich durch, wenn Mitte des Monats das Geld schon wieder aufgebraucht war.
An den Wochenenden fand man ihn auf den Tanzflächen seiner Lieblings-Discos, in den DarkRooms und dunklen Seitenstraßen. Er lebte seine Homosexualität in allen erdenklichen Richtungen aus und spürte trotzdem mit jedem Tag deutlicher, dass ihm das nicht reichte. Spätestens abends, wenn er in Wohnungen kam, die nicht ihm gehörten, wenn er nur widerwillig und vor Ekel schaudernd unter schmutzigen Duschen stand und sich auf Matratzen oder lose hingeworfenen Kissen zusammenrollte, da überfiel ihn in regelmäßigen Abständen das Heimweh. Nicht selten weinte er sich in den Schlaf; sehnte sich nach ehrlicher Liebe, echten Gefühlen. Denn die fand er hier nicht.
Nirgends!
Nicht auf der Tanzfläche, wenn er sich bis zum Umfallen zu heißer Musik bewegte, nicht in dunklen Ecken, wenn er einen anderen Kerl fickte oder gefickt wurde... und selbst dann nicht, wenn er jemanden fand, der einfach nur reden wollte. Gespräche waren in den Kreisen, in denen er sich jetzt bewegte, eine Seltenheit... und endeten zu 90% mit der Frage: ‘Zu dir oder zu mir’.
Nein, er musste weg.
Er wollte weg.
Zurück.
So schnell wie möglich!
“Hey, Sanchez, alles okay?”, wurde er von Tom Weyer begrüßt, als er an einem Samstagabend ihre Stammkneipe ‘Queer’ betrat. Der brünette Junge mit den raspelkurzen Haaren, trat auf Leandro zu, küsste ihn auf beide Wangen und bot ihm dann eine selbstgedrehte Zigarette an.
Doch Leandro lehnte ab. “Nee, lass mal.” Er setzte sich an die Theke, schenkte dem Kellner Ian - einem waschechten Schotten - ein Lächeln und nahm dankbar das Bier entgegen.
“Was’n los?”, wollte Tom wissen, der sich auf den Stuhl neben Leandro geschoben hatte und dabei versuchte, seine Kippe mit einem offenbar fast leeren Feuerzeug anzuzünden.
“Was denn wohl?”, erwiderte Leandro sarkastisch. “Keine Kohle... wie immer...” Er hasste es, von anderen abhängig zu sein. Das Gefühl, sich aufzudrängen, nur, um sich etwas zu essen besorgen zu können, war ihm mehr als zuwider.
Und hinzu kam, dass seine Mutter gestern angerufen hatte. Sie wusste noch nicht einmal, dass er bei Carlos Cortez rausgeflogen war, denn sie mochte den Mann noch nie und hatte ihren Sohn immer nur auf dem Mobiltelefon angerufen - wobei Leandro sicher war, dass Luisa für sie hatte wählen müssen.
Und was hatte Leandro gestern getan? Er hatte seiner Mutter vorgeschwindelt, wie wunderbar alles wäre. In der Schule liefe es gut, er hätte eine Unmenge von Freunden und sei absolut mit sich und der Welt im Reinen. Ja, anderen etwas vormachen, konnte er anscheinend bestens, denn Catalina Korber-Sanchez hatte ganz offensichtlich nicht den Hauch von Verdacht geschöpft. Sie hatte sich mit ihrem Sohn gefreut und ihre Erleichterung mit glockenhellen Lachen zum Ausdruck gebracht.
Leandro hatte ein schlechtes Gewissen gehabt - hatte er im Grunde noch immer -, aber seine Mutter lachen zu hören, hatte ihm auch deutlich gemacht, dass sie niemals die Wahrheit erfahren durfte. Er musste einfach eine Möglichkeit finden, aus diesem Tief herauszukommen.
Und doch zog ein Teil von ihm - und der war nicht einmal besonders klein - ihn zurück nach Spanien. Er wollte sie alle wiedersehen: Seine Mutter... seinen Stiefvater Per, den er sich auch nicht traute, anzurufen... und vor allem seine Schwestern. Aber würde er Luisa bei den Lügen, wie toll es hier war, ins Gesicht sehen können? Würde er sie so... enttäuschen können? War er stark genug, eine Maske aufzusetzen, um allen eine heile Welt vorzuspielen? Er war sicher, dass ihn alle schneller durchschauen würden, als er ‘Schwul’ sagen konnte.
“...mit ins Goalgetter?”, hörte er Tom neben sich fragen, ob er mit ihm in eine beliebte Homo-Disco gehen würde.
“Tja, wollen schon...”, antwortete Leandro ausweichend und machte eine Geste, die seinem Freund zeigte, dass er sich den Eintritt nicht würde leisten können.
“Kein Ding”, grinste Tom, “ich lade dich ein. Oh, und keine Widerrede. Ich habe in zwei Monaten Geburtstag. Also, wenn das kein Grund ist”, lachte er. Und Leandro schüttelte nur zustimmend den Kopf. “Okay... gern.”
So standen sie also zwei Stunden später an einer anderen Bar. Diese war wesentlich edler, als die in ihrer Stammkneipe. Die dicke Glasplatte wurde von unten beleuchtet und ließ dadurch auch die Getränke die darauf standen, in den buntesten Farben leuchten. Mojito bekam ein giftigeres Grün, der Strawberry-Daiquiri leuchtete beinahe beängstigend blutrot und Toms Blue Iced Martini warf türkisfarbene Lichter auf den Tresen. Einzig Leandros Bacardi-Cola reihte sich nicht wirklich in diese Farbenpracht ein.
Wie passend.
Er trank gerade einen weiteren Schluck, während sein Blick über die zuckenden Körper auf der überfüllten Tanzfläche glitt, als ein anderer Bekannter sich zu ihnen gesellte.
Sören trank einen Schluck von Toms Cocktail, ‘bedankte’ sich mit einem tiefen Kuss und lehnte sich dann zufrieden mit dem Rücken an den Tresen. “Boah, Jungs... ich bin völlig alle. Und das nicht nur physisch”, fügte er grinsend hinzu, “sondern auch finanziell.”
Tom und Leandro zogen fragend die Augenbrauen hoch. Sören war von Berufs wegen Sohn eines Bankiers und einer erfolgreichen Anwältin. Geld spielte bei ihm normalerweise keine Rolle.
“Hast du den Koksvorrat deines Dealers aufgekauft?”, fragte Tom grinsend aber gerade nur so laut, dass lediglich Sören und Leandro ihn hören konnten.
Der Angesprochene schnaubte leise. “Nein... viel besser...”, spannte er die zwei Jungs auf die Folter. “Wollt ihr mehr wissen?”
“Nein”, höhnte Tom, “wir starren dich an, weil du so unglaublich sexy bist. Natürlich wollen wir mehr wissen. Na los, raus mit der Sprache: Wen hast du gefickt?”
Leandro verschluckte sich fast an seinem Mix-Getränk. An diese offene Sprache hatte er sich noch nicht wirklich gewöhnt.
Sören jedoch lachte laut auf. “Wenn du es doch schon weißt, warum fragst du dann?” Er seufzte erinnerungsselig und rieb seinen Schritt dabei. “Das war mal verdammt gut angelegtes Geld.”
Leandro wurde hellhörig.
Geld?
“Warst du bei einem Stricher?”, wollte Tom fassungslos wissen, und er schüttelte sich. “Wie bist du denn drauf? Das ist eklig... wer weiß, was du dir da alles ge...”
“Gar nichts habe ich mir weggeholt”, wurde er von Sören barsch unterbrochen. “Bevor ich zu einem ordinären Straßenstricher gehe, wird unser Bürgermeister eine Hete.” Er war inzwischen dazu über gegangen, mit seiner Hand Leandros Schritt zu streicheln. Lüstern sah er ihn an. “Na, Kleiner, an Details interessiert?”
Bevor Leandro wusste, dass er es wollte, nickte er... und eine Stunde - und einem äußerst befriedigenden Orgasmus im DarkRoom - später, war er informiert. Und neugieriger als zuvor.
“Okay”, versprach Sören, als sie zur Theke zurückkamen, wo Tom nicht mehr allein stand, sondern hemmungslos mit einem rothaarigen Jüngling knutschte, der aussah, als dürfte er noch nicht einmal wählen gehen. “Ich werde mal versuchen, den Süßen zu erreichen. Vielleicht hat er ja Zeit für dich.” Er zwinkerte Leandro zu. “Obwohl ich glaube, dass er äußerst beschäftigt ist... er ist... gut, wenn du verstehst, was ich meine.” Er zwinkerte noch einmal, zog sein Handy aus der Hosentasche und entfernte sich von den anderen, um raus zu gehen, wo der Empfang um Längen besser und es vor allem ruhiger war.
Nachdenklich sah Leandro ihm hinterher. Zwischen Stöhnen und Keuchen hatte Sören Dinge wie: 150,- Euro und Freundschaftspreis gestammelt. Das allein hatte Leandro letztendlich ziemlich heftig abspritzen lassen. Hölle, er musste diesen Typen treffen. Das konnte die Lösung all seiner Probleme sein. Er würde genug Geld verdienen, um damit einen Flug nach Spanien bezahlen zu können. Er würde sich eine Wohnung suchen und, ja, vielleicht sogar wieder zur Schule gehen, um sein Abitur zu machen.
Leise seufzend griff er nach seinem Glas, doch das war leer. Er fing Toms entschuldigenden Blick auf und schnaubte liebevoll. Er bestellte ein Mineralwasser, um nicht betrunken zu sein, wenn Sören mit dem Kerl zurückkommen würde und fixiert den Rundbogen in der Wand, durch welchen man in den Eingangsbereich des Tanztempels kam.
Und er musste gar nicht lange warten. Schon anderthalb Stunden später bahnte sich Sörens Blondschopf einen Weg durch die Menge. Im Schlepptau hatte er einen dunkelhaarigen Typen, der locker zehn Jahre älter als Leandro war. Als sie bei ihm ankamen - Tom hatte sich vor ein paar Minuten mit seinem Aufriss in Richtung DarkRoom verabschiedet -, fühlte Leandro sich sofort wie auf einem Präsentierteller.
Schamlos ließ der Ältere seinen Blick über Leandros Körper gleiten. Und als er schließlich anerkennend nickte, kam Leandro nicht umhin, erleichtert zu sein. Das war ein erster Schritt, oder?
Sören stellte sie vor, orderte Cocktails für alle drei (offensichtlich war er in der Zwischenzeit bei der Bank gewesen), und als der Dunkelhaarige nach seinem Long Island Ice Tea griff, fiel Leandro das grüne Tuch auf, welches in der Gesäßtasche der BlueJeans des Typens steckte. Es war zu einem engen, festen Band gefaltet und deshalb nicht sofort aufgefallen. ‘Jetzt musste man sich nur noch daran erinnern, was es bedeutet’, schoss es Leandro durch den Kopf. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er das Internet gierig nach allen wichtigen und unwichtigen Fakten die Homosexualität betreffend abgegrast. Dabei war er auch auf diesen Hanky-Code gestoßen. Grün... man, denk nach... links... boah, das durfte doch nicht wahr sein.
“Du solltest aufhören, dir das Hirn zu zermartern”, wurde ihm plötzlich mit einer tiefen Stimme ins Ohr geflüstert, “das gibt nur Falten - und die würden deine Chancen mildern.”
Sofort wurde Leandro rot, denn er fühlte sich ertappt. “Ähm...”
“Sören hat erzählt, dass du dich... in einer finanziellen Notlage befindest”, kam der Kerl sofort zum Punkt, und als Leandro nickte, lächelte er... hinterhältig? Nein, das konnte nicht sein - das lag sicher nur an den blitzenden Lichtern, welche die Tanzfläche überfluteten und sein hübsches Gesicht dadurch unvorteilhaft beleuchteten.
“Komm morgen wieder her. Ich warte um 22 Uhr vorn am Eingang.” Er zwinkerte Leandro frech zu, drückte Sören einen Kuss auf die Wange und war so schnell verschwunden, dass Leandro für einen Moment nicht sicher war, ob das alles überhaupt passiert war.
Und doch war er jetzt schon furchtbar nervös.
Was würde morgen passieren?
Der Sonntag begann für Leandro erst am späten Nachmittag. Er kochte sich einen Kaffee und lehnte sich auf dem kleinen französischen Balkon, der nicht einmal Platz für einen Stuhl bot, aber von ihm geliebt wurde, ans Geländer und sah hinunter in den zugemüllten Hinterhof.
Er wohnte zur Zeit in der Wohnung eines Bekannten, der Urlaub in Thailand machte und Leandro seine Bude überlassen hatte, mit der Warnung, sie ihm wieder so zu übergeben, wie er sie bekommen hatte. Bei der Erinnerung an seinen ersten ‘Rundgang’, schnaubte Leandro abfällig. Hieß also: mit dreckigen Tellern im Spülbecken, durchgebrannten Birnen in fast allen Lampen und jeder Menge Spermaflecken auf der Matratze. Na, das konnte er haben.
Leandro hatte das Geschirr gespült, weil er einen sauberen Teller brauchte, hatte allerdings nicht eine der letzten vier Nächte in dem Bett verbracht, sondern hatte das offensichtlich weniger in Anspruch genommene Sofa bevorzugt.
Seine Gedanken wanderten von der Vergangenheit in die Zukunft. Er hatte heute ein Date, welches wahrscheinlich seine eigene Zukunft völlig verändern würde.
Positiv verändern!
Hoffentlich
Er sah an sich hinunter. Was sollte er anziehen? Die Jeans, die er trug, hing tief auf seinen Hüften und nach der Dusche hatte er irgend ein Shirt aus dem Koffer gezogen.
Weiß.
Er verzog angewidert das Gesicht. Das stand ihm ja nun einmal überhaupt nicht.
Er trug die inzwischen leere Kaffeetasse in die Küche, stellte sie nach einem kurzen Zögern nicht in den kleinen Geschirrspüler, sondern ins Spülbecken - wenn schon die Teller sauber waren, weil sie nie benutzt wurden, sollte der Typ wenigstens eine Tasse zum Spülen haben - und betrat dann wieder das kleine Schlafzimmer.
Sein Koffer lag aufgeklappt vor dem Bett. Vorsichtig warf er einen Blick auf die Auswahl an Klamotten. Groß war sie nicht...
Es dauerte lange, bis er sich entschieden hatte.
Und als er sich um kurz vor zehn auf den Weg zum ‘Goalgetter’ machte, war er immer noch nicht hundertprozentig zufrieden mit seinem Aussehen.
Je näher er seinem Ziel kam, um so nervöser wurde er. Er hatte so eine Ahnung, was ihn erwartete - aber wie würde es ablaufen?
Der Typ von gestern - dessen Namen er immer noch nicht wusste, wie ihm irgendwann eingefallen war - wartete offensichtlich schon auf ihn. Ein schneller Blick auf seine Uhr zeigte ihm allerdings, dass er nicht zu spät war.
“Hey”, sagte er verlegen, als er in Hörweite war.
Der Kerl hob kurz die Hand. “Immer noch sicher?”, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
“Ja... ja klar.” Und selbst wenn nicht, dann würde er sicher jetzt und hier keinen Rückzieher machen. Wäre ja noch schöner, wenn der Schnösel ihn für ein Weichei hielt.
“Na denn”, der Ältere stieß sich von der Wand ab, an der er lässig gelehnt hatte und lief einfach los. Irritiert folgte Leandro ihm, blieb aber immer einen Schritt hinter dem anderen. So kam auch kein Gespräch auf. Doch das war Leandro nur Recht.
Dem anderen vielleicht auch?
Leandro war so in Gedanken, dass er beinahe in seinen Begleiter hineingelaufen wäre, als der plötzlich stehen geblieben war. Erstaunt sah er an dem unscheinbaren mehrstöckigen Haus hinauf. Das Mauerwerk war verwittert und die Fensterrahmen hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Hinter den schweren dunklen Vorhängen im Erdgeschoss und ersten Stockwerk schien Licht zu brennen, doch dieses fiel nur durch schmale Ritzen auf den Gehweg - da, wo der Stoff sich nicht lückenlos aneinander schmiegte.
Fast hätte er ‘Sicher, dass wir hier richtig sind?’, gefragt, doch er schluckte die Worte schnell hinunter.
Der Typ, der Leandro mit jeder Minute unheimlicher wurde, schloss die Tür auf und stieß die Tür weit auf. “Willkommen im ‘Adonis’.”
Neugierig sah Leandro an ihm vorbei. Kurz kam ihm der Gedanke, dass er noch gehen konnte, doch wenn er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hätte, war diese Chance vorbei.
Ohne etwas zu sagen, trat er an den Älteren vorbei... und stand in einer Art Empfangsraum. Wäre die vorwiegende Farbe nicht rot gewesen, sondern weiß, hätte man das Ganze für einen Wartesaal einer Arztpraxis halten können. Es gab allerdings auch keine Stühle, sondern bequeme Plüschsessel, die jetzt alle auf Benutzer warteten, keine kalten Neonröhren, sondern Lampen, die mit bunten Glühbirnen oder Tüchern versehen waren und einen Tisch mit alten Klatschblättern gab es auch nicht. Das, was auf den niedrigen Tischchen neben den Sesseln lag, waren ganz klar... Pornos. Jedoch nicht die Art, auf deren Cover sich breitbeinig Frauen präsentierten, sondern hier glänzten ausnahmslos mehr oder weniger bekleidete Männer. Womit klar war, wo er hier gelandet war.
“Hey, Ganymed... wen bringst du uns denn da schönes?”
Leandro zuckte zusammen, denn er hatte den Mann, der jetzt eingetreten war - und seinen Begleiter mit einem Kuss auf den Mund begrüßt hatte -, nicht kommen hören. Ganymed? Was war das denn für ein Name?
“Der junge Mann sucht einen Job”, antwortete dieser jetzt beinahe geschäftsmäßig. “Und ich habe mir gedacht, jetzt, wo Chronos aufgehört hat, wäre er ein perfekter Ersatz.”
Leandro spürte, wie der Mann, der neu dazugekommen war, ihn von oben bis unten musterte... ja, regelrecht mit Blicken auszog.
Minuten vergingen... oder Stunden?... bis er schließlich nickte. “Ja, sieht ganz vielversprechend aus.” Dann wandte er sich direkt an Leandro. “Du weißt, was das hier ist?”
“Ein Puff”, entglitt es dem jungen Mann, bevor er es aufhalten konnte.
Zu seiner Erleichterung lachte der neu hinzugekommene, während Ganymed nicht erfreut über die Wortwahl zu sein schien. Doch er schwieg.
“Nun, wir bevorzugen Bordell”, lächelte der Ältere, hielt ihm die Hand entgegen und stellte sich endlich vor. “Ich bin Claus Meyer. Mir gehört der Laden. Na, dann komm mal mit.” Er wandte sich ab, drehte sich allerdings noch einmal um. “Oh, Schatz, du könntest mal nach Aiolos sehen - er hat sich krankgemeldet. Ich würde gern wissen, wie lange er nicht einsetzbar ist...”
Leandro sah, wie sein Begleiter nickte und dann durch eine Seitentür verschwand.
Er selbst beeilte sich, diesem Claus zu folgen, denn der war auf der anderen Seite des Raumes ebenfalls durch eine Tür getreten. Dahinter befand sich offensichtlich dessen Büro.
Leandros Blick huschte über einen mit Papieren übersäten Schreibtisch, vollgestellten Bücherregalen und einer Glasvitrine in der... Dildos lagen?
“Nette Sammlung, nicht wahr?”, fragte der Mann, der dem Blick des Jüngeren gefolgt war. “Setz dich.”
Leandro kam der Aufforderung nach und ließ sich in dem Ledersessel nieder, der vor dem Schreibtisch stand.
Wieder musterte der andere ihn schweigend. Leandro kam sich vor, wie auf einer Sklavenauktion. Dass er das Gefühl noch öfter haben sollte, konnte er ja nicht ahnen.
“Ich gehe mal davon aus, dass du schwul bist”, unterbrach der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches die Stille.
Schnell nickte Leandro.
“Und du weißt, was du hier zu tun hättest?”
Das nächste Nicken kam schon zögerlicher. Das bemerkte auch Claus Meyer und er brachte es auf den Punkt.
“Das hier ist ein Bordell. Ein Edel-Bordell. Eines der besten der Stadt. Nein, das Beste. Und ich suche niemanden für die Bar, sondern jemanden für die Zimmer, wenn du verstehst.” Als Leandro nichts sagte, sondern ihn nur mit großen Augen anstarrte, sprach er es endlich aus: “Einen Prostituierten.”
Hart schluckte Leandro. “Ich weiß nicht, ob... ob ich das...”
“Was? Kannst?” Claus lächelte beinahe verständnisvoll. “Du bist schwul? Du hast schon mehrere Ärsche gefickt und dich ficken lassen? Allein, um Druck abzubauen? Ohne echte Gefühle?” Als Leandro verhalten jede Frage mit einem Nicken beantwortete, wurde das Lächeln zu einem Grinsen. “Also wirst du auch kein Problem damit haben, hier zu arbeiten. Zumal es ja auch noch ein kleines... Zubrot gibt.”
Leandro, der noch nicht einen Ton gesagt hatte, seit er diesen Raum betreten hatte, sah ihn fragend an.
“Geld! Das, was du hier verdienen kannst, wenn du gut bist und erstmal Stammkunden hast, das verdienst du nirgendwo anders.” Er zog eine Schublade auf und entnahm dieser ein Blatt Papier, welches er vor Leandro auf den Schreibtisch legte. “Das ist unser Vertrag. Die Jungs, die hier arbeiten, stehen alle unter meinem und Ganymeds Schutz. Die Kunden, die her herkommen, müssen vorher unterschreiben, dass sie gesund sind und das, was hier im Haus gesprochen wird, nicht nach draußen tragen. Das Selbe gilt für die Prostituierten. Du wirst dich wundern, wie oft du hier nicht nur als Hure, sondern auch als Psychiater missbraucht wirst.” Er deutete auf eine Stelle weiter unten im Vertrag. “Laufzeit acht Monate. Preise stehen hier unten. Die Hälfte der Einnahmen gehen an mich - die Kunden werden von Ganymed eingeteilt, falls sie keine besonderen Wünsche haben.” Er lehnte sich zurück und sah Leandro mit erhobenen Augenbrauen an. “Immer noch Interesse?”
Interesse ja - allein schon wegen des Geldes - aber würde er das schaffen? Und... “Ich habe keine feste Wohnung.”
“Oh, habe ich das nicht gesagt? Die Jungs, die hier arbeiten, bekommen alle ein Zimmer in den oberen Stockwerken. Euer eigenes Reich, in denen ihr euch zurückziehen könnt, wenn keine Kunden warten. Gearbeitet wird fünf Tage die Woche... oder besser Nächte. Tagsüber passiert hier nicht so viel. Natürlich immer mit Kondom. Keine Drogen, ansonsten stehst du schneller wieder auf der Straße, als du Sex sagen kannst. Oh, und... ich werbe damit, dass meine Prostituierten zu allem bereit sind.”
Leandro riss die Augen auf. “Ähm...”
“Hast du ein Problem damit?”, wollte Claus sofort wissen und zog den Vertrag ein wenig näher zu sich ran.
“Nein, ich... ich weiß nicht, ob ich...”
“Das kann?”, wiederholte Claus seine Worte von vor ein paar Minuten. “Glaub mir, Kleiner, das ergibt sich mit der Zeit von ganz allein. Die Hauptsache ist, dass du bereit bist, dich auf alles einzulassen. Natürlich gibt es auch die Regel, dass der Kunde aufhören muss, wenn der Prostituierte ganz klar ‘Nein’ sagt, aber das sollte nicht stündlich vorkommen, wenn du verstehst.”
Nein, das verstand Leandro nicht, und trotzdem nickte er.
Und keine zwanzig Minuten später hatte er seinen Ausweis gezeigt, den Vertrag durchgelesen (oder besser überflogen - zum lesen war er viel zu nervös) und mit zittrigen Händen unterschrieben.
Claus war aufgestanden, hatte ihn als neues ‘Familienmitglied’ begrüßt - wobei Leandro sicher war, dass diese Bezeichnung reiner Hohn war - und anschließend kurz nachdenklich angesehen.
“Du hast sicher schon bemerkt, dass wir hier nicht unsere richtigen Namen benutzen. Deshalb habe ich dich auch bis zur Vertragsunterzeichnung nicht nach deinem gefragt.” Er musterte Leandro wieder. “Ich denke... ja, Hyperion wäre ein passender Name für dich.” Dann rief er mittels eines kurzen Telefonats diesen Ganymed zu sich.
Und genau der war es, der Leandro jetzt durch das Haus führte.
Wieder folgte er ihm still.
Wieder lief er schräg hinter ihm.
Doch diesmal redete jemand, nämlich Ganymed.
“Wir gehen zunächst mal in die Bar.” Und nur Augenblicke später betraten sie einen Raum, der das Wort ‘Luxus’ zu schreien schien. Der Tresen, hinter dem ein junger Mann stand, der ein hautenges glänzendes rotes Shirt trug, war aus edlem dunklen Holz, genau wie die Regale dahinter. Diese wurden von irgendwoher angestrahlt, und Leandro musste zugeben, dass er viele der Alkoholflaschen, die darin standen, nicht einmal dem Aussehen nach kannte.
Auf einem der hohen Barhocker saß ein Mann, der immer wieder nervös auf seine Uhr schaute.
“Keine Angst, Sir”, sprach Ganymed ihn an, “Zelos wird jeden Augenblick hier sein.”
Sein Lächeln erstarb allerdings in dem Moment, in dem er sich abwandte. ‘Wenn der noch einmal zu spät kommt, gibt’s ne kräftige Abmahnung’, knurrte er und Leandro zog alarmiert die Augenbrauen hoch.
Sie wollten gerade weiter durch eine Tür, die, wie zu sehen war, in einen langen Korridor führt, da erschien genau daraus ein junger Kerl, der aussah, wie Mr Universum persönlich. Und er schien das zu wissen. Unerschütterliches Selbstbewusstsein schien aus jeder einzelnen Pore zu strahlen. Vor Leandro und Ganymed blieb er stehen.
“Na, hast du wieder den Handlanger für Claus gespielt und für Nachschub gesorgt?”, wandte er sich herablassend an Ganymed, dann sah er Leandro an. “Soll ich dich rumführen?”
“Vergiss es, Zelos”, knurrte Ganymed, bevor Leandro überhaupt den Mund aufmachen konnte, “dein Kunde wartet.”
“Naja... er könnte auch noch etwas länger warten”, schlug Zelos unschuldheuchelnd vor. “Der Typ hat nur für eine halbe Stunde bezahlt... die ist schnell rum. Dann könntest du dich um deinen Clausi kümmern.” Es war offensichtlich, dass Ganymed und Zelos keine Freunde waren. Eher das Gegenteil. Und Leandro hatte nicht vor, sich schon am ersten Tag... in den ersten Stunden, für eine Seite entscheiden zu müssen. Das Ganze war eh schon neu genug und er wusste nicht, was heute noch auf ihn zukommen würde.
Nach einem weiteren wütenden Blick von Seiten Ganymeds, zuckte Zelos mit den Schultern und trat an ihnen vorbei. “Hey, Süßer”, hörten sie ihn im Warteraum schnurren.
“Na los, komm mit.” Ganymeds Stimme war irritierend kühl... geschäftsmäßig. Leandro, folgte ihm. Jedoch nicht, ohne sich immer wieder umzusehen - doch Zelos schien es nicht eilig zu haben, mit dem Typen in seinem Zimmer zu verschwinden.
Dafür stieß Ganymed jetzt eine Tür auf und machte eine einladende Handbewegung. “Dann mal hinein mit dir. Wollen wir doch mal sehen, wen Claus hat einen Vertrag unterschreiben lassen, ohne zu wissen, was er bekommt.”
Die Worte jagten eine Gänsehaut über Leandros Körper. Wie sollte er das denn jetzt verstehen? Wollte der Typ etwa...? Er hörte, wie hinter ihm die Tür zugeworfen und... abgeschlossen würde. Das Knirschen des Schlüssels beim umdrehen ließ sein Herz schneller schlagen, und sein Puls schien neue Rekorde aufstellen zu wollen. Um sich von dem, was kommen würde, abzulenken, sah er sich um.
Der Raum war unerwartet groß. Es gab ein breites Bett (logisch), ein Sideboard mit Schubladen mit Glasfront, auf dem Kerzen standen, und sogar einen kleinen Schreibtisch. Die schweren schwarzen Vorhänge waren zugezogen.
Dies musste einer der Räume sein, die Leandro von der Straße aus gesehen hatte. Die Vorstellung, dass dort Leute vorbei gingen, war mehr als seltsam.
Leandro zuckte heftig zusammen, als plötzlich Hände ihn von hinten umschlangen, den Saum seines Shirts packten und es ihm dreist über den Kopf zogen.
“Wollen wir doch mal sehen, was du kannst”, schnurrte Ganymed dicht an Leandros Ohr, während seine Finger bereits an dessen Jeansknöpfen nestelten.
Die Hose fiel... die Shorts folgte und Leandro stand nackt und ein wenig zitternd vor dem Typen.
“Nicht schlecht.” Geschickte Hände strichen über Leandros Brust, hinunter auf den flachen Bauch und wieder hoch, wo Finger fest in die Brustwarzen kniffen, so dass Leandro ein Aufkeuchen nicht verhindern konnte.
“Guuut... kannst du auch stöhnen, kleiner Leandro?”, fragte der andere mit Genugtuung in der Stimme. Und bevor Leandro antworten konnte, wurde sein halberigierter Penis bereits von einer Faust umschlossen und gequetscht. Ja, Leandro konnte stöhnen - ihm blieb in diesem Moment gar nichts anderes übrig, sonst wäre er wohl geplatzt.
Zähne bissen in die empfindliche Haut zwischen Hals und Schulter, eine feuchte Zunge leckte darüber und die Hand an seinem Schwanz hatte begonnen, sich geschickt und quälend langsam auf und ab zu bewegen.
“Die meisten Kunden bevorzugen es, vor dir zu kommen”, sprach Ganymed langsam weiter, ohne aufzuhören, Leandro mit festen Berührungen geradezu zu foltern. Es war offensichtlich, dass dies nicht das erste Mal war, dass er einen ‘Neuen’ einführte. “Du musst lernen”, fuhr er fort, als würde es sich hier um eine Geschäftsbesprechung handeln, “dich zurückzuhalten... die Lust des anderen über deine zu stellen.” Sein Griff wurde noch fester, die Bewegungen schneller... und Leandros Stöhnen lauter. Es war ihm peinlich, aber er konnte es nicht verhindern.
“Wage es nicht zu kommen, bevor ich es dir erlaube”, kam die leise Drohung des Älteren, der plötzlich von seinem ‘Opfer’ abließ und zu dem kleinen Nachttisch ging, aus dessen Schublade er eine Tube Gleitgel und ein Kondom holte, die er auf das Bett legte.
“Na los... zeig mal, was die anderen Typen so von dir bekommen haben. Verwöhn mich.” Breitbeinig und auffordernd stand Ganymed vor Leandro.
Dessen Hände zitterten. Nicht mehr nur noch vor Angst, sondern auch vor Erregung. Sein Schwanz zuckte und schrie förmlich nach Aufmerksamkeit. Doch er schaffte es tatsächlich, diese Tatsache in den Hintergrund zu drängen. Langsam öffnete er das Hemd des Mannes vor ihm und streifte es ihm von den Schultern. Kurz zögerte er noch, sah Ganymeds beinahe spöttisch hochgezogenen Augenbrauen und nahm allen Mut zusammen. Die Hände auf dessen Hüften, beugte er sich vor und leckte über die Brustwarze, die sich ihm bereits abwartend entgegen zu strecken schien. Er bearbeitete sie mit seinen Lippen, saugte sie tief in den Mund und ließ den anderen seine Zähne spüren. Nicht weniger geschickt als zuvor Ganymed, hatte Leandro dessen Hose geöffnet und schob sie samt Shorts hinunter, wobei er in die Knie ging, so dass er einen voll erigierten Penis mit gigantischem Ausmaß vor Augen hatte.
Bevor er sich allerdings überwinden konnte, diesen mit dem Mund zu verwöhnen, wurde er hart hochgezogen.
“Keine Spielchen, Kleiner”, knurrte Ganymed. “Dass du blasen kannst, glaube ich dir erstmal.” Er pumpte wieder Leandros Penis. “Was ich wissen möchte, ist, ob du gehorchen kannst.” Hart schubste er den Kleineren auf das Bett hinter ihm. “Umdrehen und auf die Knie”, befahl er grob.
Ein wenig geschockt, ob des harschen Tonfalls, gehorchte Leandro. Shit... er kam sich so naiv vor. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Ganymed ein Kondom über seine mächtige Erektion schob und die Tube mit dem Gleitgel öffnete. Und nur Sekunden später konnte Leandro das kühle Gel an seinem Eingang spüren. Hölle... das Gefühl allein hätte fast gereicht, um ihn abspritzen zu lassen. Doch er schluckte hart und zwang sich, sich zurückzuhalten.
Wenn er erwartet hatte, dass Ganymed langsam oder gar vorsichtig sein würde, dann wurde er enttäuscht. Mit einem harten Stoß drang der in ihn ein, so dass Leandro einen lauten Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte. Immer schneller und absolut gnadenlos schob der Typ sich in seinen Hintern, traf mit traumwandlerischer Sicherheit seinen Lustpunkt und änderte immer wieder den Winkel. Leandro tanzte minutenlang an einer Klippe entlang, die tiefer nicht sein konnte. Sein Atem ging nur noch stoßweise, sein Puls raste, wie nach einem Marathonlauf und das Stöhnen wurde lauter, bis er... “Ich kann nicht mehr... bitte...” ... zu Flehen begann.
Das Lachen des Mannes über ihm, war eindeutig. Er würde ihm nicht gestatten zu kommen. Leandro fragte sich, was passieren würde, wenn er trotzdem vor seinem Peiniger abspritzen würde.
Halt.
Peiniger?
Warum war er dann so verdammt geil?
Der folgende Stoß ließ ihn sämtliche Gedanken vergessen. Ganymed kam mit einem lauten Aufstöhnen, zog Leandro hoch und sich zurück und beugte sich dann zu Leandros zuckender Erektion hinunter. Mit kurzen, schnellen Zungenschlägen sorgte er dafür, dass Leandro so heftig kam, wie er es noch nie getan hatte. Er hatte gar keine Zeit mehr, den anderen zu warnen oder sich wofür auch immer zu entschuldigen. Er warf den Kopf in den Nacken, vergrub seine Hände in den dunklen Haaren und spritzte sein Sperma in Ganymeds Mund... über dessen Gesicht... auf das bordeauxrote Laken. Er hatte das Gefühl, dass es gar nicht aufhören wollte - was vielleicht auch daran lag, dass Ganymed nicht aufgehört hatte, seinen Schwanz und seine Hoden zu massieren, als wollte er alles aus ihm herausquetschen. Selbst als sein Penis völlig erschlafft runter hing, zuckte sein Körper noch unter den Nachbeben des gigantischen Orgasmusses... und seine Wangen glühten feuerrot.
Endlich ließ Ganymed von ihm ab, richtete sich auf und sah ihn an. “Das mit den roten Wangen solltest du beibehalten. Gibt genug Kunden, die den unschuldigen Schuljungentyp lieben. Oh, und im Schrank liegen Dutzende von Bettlaken. Jeden Tag frische. Also... keine Hemmungen.” Er stand auf, durchquerte das Zimmer und öffnete eine Tür, die Leandro bisher nicht registriert hatte. Im Moment war er auch noch zu sehr damit beschäftigt, das gerade Erlebte zu verarbeiten, und... den kommentarlosen Übergang Ganymeds zur ‘alltäglichen’ Arbeit. War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
“Jedes Zimmer”, fuhr der andere inzwischen unbeirrt fort, “hat ein eigenes Badezimmer. Darin kannst du dich für den nächsten Kunden frischmachen. Wir wollen ja nicht, dass dem das Sperma seines Vorgängers entgegen träufelt, gell?” Er wusch sich durch das Gesicht, trocknete es ab und wartete, bis Leandro ihm ins Bad gefolgt war, erklärte ihm die Eigenheiten der Duschanlage und zeigte ihm, wo er Handtücher und sonstige Pflegemittel finden würde. “Du kannst natürlich dein eigenes Duschgel aussuchen. Schreib es auf, dann wird es regelmäßig aufgefüllt. Na los... duschen. Danach holen wir deine Klamotten.”
Die nächsten Stunden erlebte Leandro wie in Trance. Zusammen mit Ganymed fuhr er zu dem Appartement in dem er gerade lebte, packte seine wenigen Sachen und warf den Haustürschlüssel in den Briefkasten.
Er bekam ein Zimmer zugewiesen, welches zu seiner Erleichterung hell und sauber war und ein weiterer Typ erschien, stellte sich mit einem anzüglichen und taxierenden Blick als Thanatos vor und brachte ihm einen Stapel Klamotten.
Ein wenig missmutig betrachtete er die glitzernden, violetten Hemden, die künstlerisch zerrissenen Jeans, die extrem knappe Unterwäsche, die Netzshirts und vor allem die enge Lederhose, die er - da war er jetzt noch sicher - freiwillig niemals anziehen würde.
Ein wenig achtlos legte er sie auf einen Stuhl und warf sich dann auf sein Bett, wo er sofort einschlief.
Er zuckte heftig zusammen, als am nächsten Morgen - nach seiner ersten Nacht in seinem neuen Bett - sein Handy klingelte. Und als er sah, wer ihn sprechen wollte, wurden die Zweifel, ob das, was er hier machte, richtig war, noch größer. Spanien.
Seine Mutter.
“Hey, Mum”, begrüßte er sie gezwungen fröhlich.
“Hey, mein Schatz. Alles in Ordnung bei dir? Du hast bei unserem letzten Telefonat so traurig geklungen.”
War ich auch
“Oh, ich war nur müde. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.” Leandro war aufgestanden und vor das Fenster getreten. Er sah hinaus auf die graue Häuserfassade auf der anderen Straßenseite, hinunter auf die Menschen, die geschäftig vorbei eilten und hinauf in den Himmel, der sich einmal mehr von seiner trüben grauen Seite zeigte.
Er hasste es, seine Mutter anzulügen.
“Na, dann bin ich beruhigt. Wie läuft es in der Schule?”
Leandro schluckte. “Alles okay. Läuft gut.”
“Schön. Oh, Luisa möchte dich auch sprechen. Moment, ich gebe sie dir...”
Nein, warte...
Zu spät.
“Hey, Leandro, wie geht es dir?”, erkundigte sich seine Schwester fröhlich. “Ist es bei euch auch so heiß? Was machst du so den ganzen Tag?”
Bisher bin ich zur Schule gegangen, und so, wie es aussieht, werde ich in der nächsten Zukunft wohl für Geld mit fremden Kerlen ficken...
“Hmmm... das Übliche. Schule... Weggehen mit Freunden. Und nein, heiß ist es hier nicht wirklich...”
“Ich will auch, ich will auch”, hörte Leandro seine kleine Schwester Sofia im Hintergrund plappern.
Und erst nach gefühlten Stunden - in Wahrheit waren es nur zehn Minuten - klappte Leandro das Handy zu. So, wie er herumgedruckst und nach harmlosen und glaubwürdigen Antworten gesucht hatte, war er sicher, dass keiner der Frauen ihm geglaubt hatte... geglaubt haben konnte. Und doch hatten sie sich so angehört, als haben sie sich gefreut zu hören, dass es ihrem Sohn und Bruder gut ging.
Resigniert ließ er das Mobiltelefon auf das ungemachte Bett fallen und trat aus dem Zimmer und damit in das Gemeinschaftszimmer, in welchem alle, die hier wohnten, kochen, essen und einfach ihre Freizeit verbringen konnten.
Außer Leandro war nur eine einzige Person anwesend.
Er erkannte Zelos - den gut aussehenden Typen vom Vortag. “Hey”, murmelte er schüchtern, denn er wollte den jungen Mann, der lässig in einer Zeitschrift blätterte, nicht stören.
“Hey”, erwiderte der lauter, hob den Kopf und zeigte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. “Gut geschlafen?”
“Ähm... ja...”
“Ich habe das Handy gehört. So früh am Morgen schon gefragt? Wow...”
“Das war...” Leandro stockte. Das ging den Typen ja wohl wirklich nichts an... und war ihm auch peinlich. “Egal.”
Zelos legte den Kopf schief und musterte Leandro, der unschlüssig im Türrahmen stand. “Schlägst du da Wurzeln? Du wolltest doch sicher etwas, als du hier reingekommen bist, oder?” Er machte eine ausladende Handbewegung. “Bedien dich.” Dass er sich dabei regelrecht in Positur schmiss, wertete Leandro - unschuldig wie er war -, als Zufall.
Ein wenig hilflos sah er sich um. Sein Blick fiel auf die Kaffeemaschine. Ja, Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.
“Setz dich”, forderte Zelos ihn auf, als der Kaffee durchgelaufen war und bevor er zurück in sein Zimmer flüchten konnte..
Zögernd kam Leandro der Aufforderung nach und trank dann vorsichtig einen kleinen Schluck. Er war nicht durstig, aber froh, etwas in den Händen zu haben, woran er sich festhalten konnte.
“Du siehst nicht so aus, als würdest du das hier freiwillig machen”, erkannte Zelos ganz richtig.
Leandro atmete tief durch. “Und woran willst du das sehen?”
“Naja, du bist nicht nur unsicher - das sind wohl alle am Anfang hier -, du hast Schiss.” Zelos schien nicht der Typ zu sein, der lange um den heißen Brei herum redete.
Leandro schluckte. “Nein... kein Schiss. Nur... nervös. Wie weiß ich, wann...” Leandro machte eine fahrige Handbewegung.
“Wann was? Wann du von deinem ersten Kunden erwartet wirst?”
Treffer.
Zelos lachte leise. “Keine Angst, die werden dich nicht völlig überraschend überfallen. Du bekommst von Claus oder Ganymed mittags eine Liste. Die meisten Kerle melden sich an. Kommen eher selten mal welche einfach so vorbei, weil ihnen die Hausfassade so gut gefällt.” Er zwinkerte verschwörerisch. “Und? Hat Ganymed dich eingeführt?”
Jetzt konnte Leandro förmlich spüren, wie sich bei dem Gedanken an den Vortag das verhasste rot wieder auf seine Wangen legte.
“Er ist gut. Er weiß, wie er die Neuen beeindrucken kann.”
Leandro kaute nervös auf seiner Unterlippe und musterte sein Gegenüber. War da eine Spur Neid in den Worten zu hören?
Oder war es etwas anderes?
Ärger?
Gar Hass?
Zelos lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schien Leandro mit Blicken ausziehen zu wollen.
Der wand sich sichtlich. “Ich... also, ich sollte mal...” Wieder sah er sich um. “Dusche?” Ganymed hatte ihm gezeigt, dass jedes der Kundenzimmer ein eigenes Bad hatte und Leandro wusste jetzt, wo er dort alles finden würde, doch der andere hatte es nicht für nötig gehalten, ihm zu sagen, wo er hier duschen konnte... ganz privat.
Zelos schien Leandros Gedanken geradezu gelesen zu haben. “Ja, der liebe, gute Ganymed lebt nur für das Geschäft”, sagte er und selbst ein Tauber hätte den Hohn herausgehört. Er stand auf und deutete Leandro an, ihm zu folgen. “Ich weiß nicht, ob du es schon geahnt hast, oder ob es dir jemand gesagt hat”, murmelte er, als sie dicht nebeneinander an der Tür standen, “aber Claus und Ganymed sind ein Paar. Du solltest also aufpassen, was du Ganymed gegenüber sagst. Das Arschloch hat keine Hemmungen und rennt damit sofort zu seinem Geliebten. Verstanden?”
Leandro nickte schnell.
Am frühen Nachmittag wurde es voll in dem kleinen Gemeinschaftsraum.
Leandro wurde das Gefühl nicht los, dass sie alle seinetwegen da waren - neugierig, wer sich in Zukunft ‘Kollege’ nennen würde. Leandro stand im Türrahmen und beobachtete die anderen.
Dyonisos und Ares saßen kuschelnd auf dem kleinen Sofa, warfen dem Neuen zwischendurch immer wieder freundliche Blicke zu.
“Die zwei haben schon gemeinsam hier angefangen”, klärte Pan Leandro auf. “Unglaublich, oder?”
Leandro konnte nur nicken, denn sein Blick war auf Thanatos und Eos gefallen. Letzterer saß auf dem Schoß seines Kollegen und ohne jegliche Scham diskutierten sie wortstark über Spanking und welche neuen Möglichkeiten es dabei gab.
Plötzlich spürte Leandro eine Hand auf seinem Hintern und als er sich umdrehte, sah er in die graugrünen Augen eines dunkelhaarigen Mannes, der etwas katzenhaftes an sich hatte. Bevor er oder der Typ etwas sagen konnten, ging Ganymed dazwischen. “Triton, lass ihn in Ruhe!”, wandte er sich mit drohendem Unterton an den älteren Prostituierten.
Mit einem leisen Schnauben setzte der Typ sich neben Dionysos und versuchte, die zwei dumm anzumachen.
Ein noch recht junger Prostituierter lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Raum und geiferte regelrecht nach Anweisungen von Ganymed. Das schien Zelos nicht zu gefallen. Er machte ihm heftige Vorwürfe - warnte ihn davor, sich dem falschen an den Hals zu werfen.
In einer Ecke saß noch ein Typ, der ihm von Zelos als Morpheus vorgestellt worden war. Er machte einen mächtig abwesenden Eindruck, und Leandro war sicher, dass bei ihm Drogen im Spiel waren.
Seine Gedanken über den Typen, der ihm auf gewisser Weise leid tat, wurden von Eos’ Kichern und Kreischen unterbrochen, als dieser von Thanatos über das Knie gelegt wurde. Schnell wurden sie jedoch von Ganymed aufgefordert, sich in ein Zimmer zurückzuziehen.
Wieder wegen ihm?
Ja, dessen war Leandro sich sicher.
An diesem ersten Tag bekam Leandro noch keinen Kunden zugewiesen. Statt dessen wurde er zu einem Fotografen geschickt, der Bilder von ihm machte, die, wie Ganymed, der ihn begleitete, ihm erklärte, in einem Prospekt abgedruckt wurden, damit die Kunden nicht ‘die Katze im Sack’ buchen würden. Sie konnten das Ergebnis der stundenlangen Sitzung sofort mitnehmen, und Leandro keuchte überrascht auf, als er die Fotos sah.
Das war nicht er!
Er erkannte sich fast nicht wieder. Und: Wenn seine Mutter diese sehen würde, würde selbst sie - offen eingestellt oder nicht - vor Scham in Ohnmacht fallen. Und wieder nahm er sich vor, dass sie hiervon niemals erfahren durfte.
Als Ganymed ihn danach erneut mit in sein Zimmer nahm, um ihn - O-Ton Ganymed - in kleine Geheimnisse einzuweihen, ging Leandro davon aus, dass er das mit jedem Neuen tat... und folgte bereitwillig.
An diesem Abend ließ Ganymed ihn so lange an seinem Schwanz lutschen, bis er endlich kam. Dass er dabei hemmungslos mit dem Becken nach vorn stieß, und Leandro immer wieder würgte, schien ihn sogar noch anzumachen.
Erschrocken ob dessen, was er tat, fiel Leandro später in sein Bett.
Am nächsten Tag - Leandros zweitem als Edel-Prostituierter - kam Ganymed zu ihm und sagte ihm, dass er heute seinen ersten Kunden empfangen würde. “Der Typ ist ein Stammkunde und weiß, was er will, was es dir einfach machen sollte. Sieh zu, dass er kräftig abspritzt... und wiederkommt.”
Die Stunden bis dahin schienen zu fliegen. Eine halbe Stunde, bevor er den Typen abholen sollte, saß Leandro im Gemeinschaftsraum und drehte eine Plastikflasche in seinen Händen, als Zeros hereinkam.
“Oh, hey”, sagte er gut gelaunt. “Alles okay?”
“Ja, ich... ich muss gleich... ich hab...”, stotterte Leandro.
“Deinen ersten Kunden, ich weiß.” Zelos schenkte sich ein Glas Leitungswasser ein und setzte sich Leandro gegenüber. “Denk einfach immer nur daran, dass es ein Job ist. Andere sitzen hinter ihren Schreibtischen und wühlen in Akten... du sorgst dafür, dass Kerle, die dafür noch dazu gut bezahlen, einen gigantischen Orgasmus bekommen.” Er grinste frech. “Lass es nicht zu nah an dich ran. Du kannst das.”
Leandro lachte leise. “Wenn du das sagst.”
“Jap!” Zelos erhob sich und sah auf die Uhr. “Ich habe auch gleich den Nächsten.” Dann tat er etwas, was Leandro ein wenig aus der Bahn warf. Zelos küsste ihn frech auf die Wange, flüsterte ‘Viel Spaß’, zwinkerte und verschwand aus dem Raum.
Doch er hatte nicht mehr viel Zeit, darüber nachzudenken. Ganymed stand nur Sekunden später im Türrahmen. “Na los... der Typ ist schon da. Scheint sich auf Frischfleisch zu freuen. Zeig ihm nicht zu sehr, wie nervös du bist. Tu, was du gestern abend getan hast und er dürfte halbwegs zufrieden sein”, lachte er höhnisch und war verschwunden.
Leandro atmete tief durch, sah hinunter auf seine Jeans, zog das enge Shirt straff und folgte ihm.
Am Tresen stand nur ein einziger Kunde. Der Mann war locker doppelt so alt wie Leandro und musterte ihn gierig. Der Beule in der Anzughose nach zu urteilen, würde Leandro nicht viel tun müssen, um ihn hart werden zu lassen.
“Hyperion, richtig?”, sagte er beinahe kalt.
Leandro nickte. “Ja, also... wenn Sie mir dann bitte folgen würden?”
“Natürlich.”
Sie betraten das Zimmer, welches Ganymed Leandro zugewiesen hatte und kaum war die Tür zugefallen, zog der Mann sein Sakko aus und zog den Reißverschluss seiner Stoffhose hinunter. “Ich denke, die ‘Schüchterner-Kleiner-Junge’-Tour können wir uns sparen.” Die Hose rutschte zu Boden und die ausgebeulte Shorts unterstützte seine Worte.
Leandro schluckte, dann fiel ihm ein, was Zelos gesagt hatte: Es ist nur ein Job. Lass es nicht zu nah an dich ran. Er atmete tief durch und trat auf den Kunden zu. Mit einem unschuldigen Augenaufschlag, den er nicht verhindern konnte, ging er vor ihm in die Knie und zog die schwarze Designer-Shorts hinunter. Sofort sprang ihm der voll erigierte Penis entgegen. Hände wühlten sich in seine Haare und zogen sein Gesicht dem zuckenden Schwanz entgegen. Nervös leckte er sich über die Lippen, dann umfasste er die Hüften des Mannes und... tat es.
Es war nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte. Der offensichtliche Geschäftsmann war gepflegter als mancher Typ, den er vorher auf diese Art Lust verschafft hatte. Je länger es dauerte... je lauter der Mann stöhnte, um so hingebungsvoller widmete Leandro sich dem heißen Fleisch und verspürte so etwas wie Stolz, als er den Samen des Mannes schluckte.
Der trat mit einem befriedigten Seufzen einen Schritt zurück, zog Shorts und Hose hoch und schloss den Reißverschluss, während Leandro aufstand. Seine Wangen glühten und er schaffte es nicht, den Kunden anzusehen.
Dieser lachte. “Oh man... das ist nicht gespielt, richtig? Du bist wirklich noch eine kleine Jungfrau.” Es klang nicht abwertend, eher... mitfühlend. Dann plötzlich hielt er ihm einen Schein unter die Nase. “Hier, Junge... vielleicht sehen wir uns nochmal wieder...”
Leandro konnte nur nicken. Er sah zu, wie der Mann - allein - das Zimmer verließ, setzte sich auf die Bettkante und schloss die Augen. Hatte er tatsächlich gerade seinen ersten Kunden gehabt? Hatte er einem wildfremden Mann... einem Mann, der doppelt so alt war, wie er... der dafür bezahlt hatte... einen geblasen? Ja, hatte er. Und zu Leandros Überraschung war es nicht so abschreckend gewesen, wie er befürchtet hatte.
Es war ein Job!
Doch er wusste auch, dass das nur ein Anfang gewesen war. Würde er mit dem, was der Nächste... die Nächsten... verlangten, auch so locker umgehen? Würde er überhaupt... hart werden? Er sah an sich hinunter. Diesmal war jedenfalls nicht viel passiert.
Der Kunde schien sich Ganymed gegenüber zufrieden geäußert zu haben, denn der Geliebte des Bordell-Chefs nickte ihm nur kurz zu, als sie sich zufällig begegneten.
Auch an diesem Abend bestellte er Leandro allerdings in sein Zimmer.
Zwei Tage vergingen, in denen Leandro ausnahmslos solche 30-Minuten-Jobs zugewiesen bekam... und immer mehr wurde es genau das: Ein Job.
Doch eine knappe Woche nachdem Leandro den Vertrag unterschrieben hatte, teilte Ganymed ihm - nachdem er den Neuen gnädig aus seinem Zimmer entlassen hatte - mit, dass er am nächsten Tag den perfekten ersten Fick für ihn hätte. Der Typ wäre noch sehr jung, extrem reich und neugierig. “Versau es nicht, Hyperion”, waren die Worte, mit denen er sich von Leandro verabschiedete.
So unter Druck gesetzt, war Leandro noch nervöser, als eh schon. Tausendmal überprüfte er sein Aussehen im Spiegel, bevor er endlich das Bad verließ. Wieder war es Zelos, dem er daraufhin begegnete. Der junge, selbstbewusste Mann war ihm immer sympathischer geworden. Vor allem auch aus dem Grund, dass er niemals ein Blatt vor den Mund nahm... immer das sagte, was er dachte. Das war, wie Leandro inzwischen erfahren hatte, auch der Anlass, warum er immer und immer wieder mit Ganymed aneinander geriet. Er hatte den Job nur noch nicht verloren, weil er ‘das beste Pferd im Stall’ war und Claus sich dieses Geschäft nicht entgehen ließ - zumal ja auch nicht er das Problem mit Zelos hatte.
“Genieß es einfach”, wandte der sich an den sichtlich nervösen Kollegen. “Und mach dir keinen Kopf, wenn es nicht so läuft, wie du es vielleicht kennst. Das hier ist nicht wie das wirkliche Leben da draußen auf der Straße. Das hier ist eine ganz eigene Geschichte. Du weißt, wo du alles findest? Kondome... Gleitgel?”
Leandro nickte.
Oberstes Gebot des Bordells war die Gesundheit. Und daran würde er sich halten.
Er trank noch einen Schluck Wasser, wischte seine feuchten Hände an der Jeans ab und nickte Zelos zu.
Der Typ, mit dem er einige Minuten später das Kundenzimmer betrat, war in der Tat genau so, wie Ganymed ihn beschrieben hatte. Er konnte nicht viel älter als Leandro sein und seine Markenklamotten zeigten deutlich, dass hier viel Geld drin steckte.
Leandro sah die Unsicherheit und beschloss, diese zu seinem Vorteil auszunutzen. Der Kerl musste ja nicht merken, dass er genau so nervös war.
Also legte er ein verführerisches Lächeln auf und trat auf den anderen zu, spielte an der weinroten Krawatte. “Und? Was möchtest du?”, fragte er mit, wie er hoffte lasziver Stimme. Der Kunde hatte für die ganze Nacht bezahlt, also war die Frage eigentlich überflüssig.
Der junge Mann wurde tatsächlich dezent rot, doch dann räusperte er sich und sagte bestimmt: “Ich will wissen, ob es mit einem Kerl genau so heiß ist, wie mit einer Frau.”
“Na denn...” Leandro öffnete langsam einen Knopf nach dem anderen an dem weißen Seidenhemd und schob es ihm dann langsam über die Schultern. Er versuchte, so gut es ging, den Verstand abzuschalten, bildete sich ein, hier einfach nur seinen Spaß zu suchen.
Der junge Mann schien zwar nervös zu sein, doch seine Neugier war anscheinend größer, so dass es nicht lange dauerte, bis beide Protagonisten mit bloßen Oberkörper voreinander standen.
Leandro jedoch ließ sich das Heft nicht aus der Hand nehmen. Er reizte mit den Fingern die Brustwarzen, bis sie hart abstanden, leckte anschließend darüber und biss sanft hinein. Der Kunde warf den Kopf in den Nacken und schob das Becken vor, als Leandro seinen festen Hintern massierte.
“Oh ja...”, knurrte der Typ.
Leandro küsste und verwöhnte den komplett rasierten Körper, streichelte mit seinen Fingern mal sanft, mal fester darüber und rieb sich an ihm... ließ ihn spüren, dass nicht nur er allein hart war.
So viel zu seinen Bedenken...
Und dann war es wieder der andere, der die Hose des Prostituierten aufriss, sie samt Shorts hinunter schob und die Erektion fest umfasste. Kurz stöhnte Leandro auf, dann sorgte er dafür, dass auch der andere schnell nackt war.
“Ich hoffe, es ist klar, dass ich derjenige bin, der ihn wegsteckt.” Der Kunde sah Leandro fest an.
Und Leandro nickte.
Er griff in die Schublade, legte Kondom und Gleitgel auf den Nachttisch und sah den Mann provokant an. “Wie rum hätten Sie’s denn gern?”
“Ich fick dich von hinten.”
Wieder ein Nicken.
Hoffentlich wusste der Typ, was er tat. Würde er ihn vorbereiten? Leandro blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Er krabbelte auf das Bett und kniete sich in Position. “Dann zeig mal, was du kannst”, schnurrte er und wackelte aufreizend mit dem Hintern.
Schon wurde der Typ wieder unsicher. “Okay, ich... muss ich vorher was tun?”
Gott sei Dank.
“Verteil Gleitgel auf deine Finger und vor meinem Loch und schieb sie mir rein”, forderte Leandro sanft.
Als der Kunde eine halbe Stunde später den Kopf in den Nacken warf und mit einem heiseren Aufschrei in dem Kondom kam, war Leandro noch lange nicht so weit. Er war zu lange damit beschäftigt gewesen, den Schmerz wegzuatmen, den er sich jedoch nicht anmerken ließ.
“Wow”, der Typ lehnte sich zurück, rutschte aus dem engen Loch, welches seinen Schwanz regelrecht zusammengepresst hatte, und entfernte das Kondom.
Leandro deutete auf den Abfalleimer neben dem Bett, atmete tief durch, um sich zu beruhigen und drehte sich dann langsam um. Dass sein eigener Penis immer noch steil aufragte, schien den anderen nicht zu interessieren.
“Geil. Nicht das, was ich immer brauche, aber gelegentlich... warum nicht.” Der junge Mann stand auf, suchte seine Klamotten zusammen und zog sich an. “Ich weiß, dass ich für die ganze Nacht bezahlt habe, aber ich habe noch was vor”, sagte er, während er seine prall gefüllte Geldbörse aus der Innentasche seiner Lederjacke nahm. Er zog genug Scheine heraus und legte sie auf den Nachttisch. “Ich melde mich...”
“Gern”, murmelte Leandro und schenkte dem Geld nicht den Hauch von Beachtung. Er sah zu, wie der Typ den Raum verließ, hörte die Tür zuschlagen und drehte sich dann verwirrt auf die Seite.
“Hier bist du.”
Leandro zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er war tatsächlich eingeschlafen. Er öffnete die Augen und sah in Zelos’ besorgtes Gesicht.
Besorgt?
Kein Lächeln?
Null Grinsen?
Hastig richtete er sich auf. “Ja, ich... sorry.”
“Ich bin der Letzte, bei dem du dich entschuldigen musst, Süßer, aber der einzige Schlaf, der in diesem Bett gestattet ist, ist der Beischlaf.” Zelos zwinkerte jetzt doch verschwörerisch. “Zieh dich an und geh hoch - da kannste auspennen.”
‘Anziehen... ja, klar’
Erschrocken sah Leandro an sich hinunter und war kurz versucht, das dünne Laken über seinen nackten Körper zu ziehen. Aber das war eh zu spät, oder? Wer weiß, wie lange Zelos ihn schon betrachtet hatte.
Schnell rappelte er sich auf, griff nach seinen Klamotten und verschwand im Bad.
“Du solltest dich beeilen”, hörte er den anderen belustigt rufen, “ich soll hier gleich den nächsten Kunden glücklich machen. Es sei denn, du willst dabei sein und”, er grinste jetzt Leandro an, der schon wieder zurück war und noch im Türrahmen mit hochrotem Kopf den Reißverschluss der Jeans schloss, “noch etwas lernen.” Wieder dieses verschmitzte Grinsen. Konnte diesen Typen eigentlich gar nichts aus der Ruhe bringen?
Mit einem ‘Danke’ von Leandro und einem ‘Wir sehen uns morgen früh oben’ von Zelos, schlüpfte Leandro aus dem Zimmer. Er wollte jetzt nur noch eines: In sein Bett, sich die Decke über den Kopf ziehen und einfach nur schlafen.
Doch das würde warten müssen. Er hatte gerade die Treppe erreicht, als er eine Stimme hinter sich hörte, die er jetzt am wenigsten erwartet hatte - und gebrauchen konnte.
“Kannst du mir mal erklären, warum du nicht gekommen bist?”
Leandro hielt mitten in der Bewegung inne. Er fand nicht den Mut, sich umzudrehen. Ganymed klang mächtig angepisst.
“Der Typ ist doch aber... gekommen”, versuchte er, sich zu rechtfertigen, hörte allerdings selber, dass diese Ausrede nur mäßig überzeugend war.
“Ja, sicher - und denkt jetzt wahrscheinlich, dass er es nicht gebracht hat.”
“Es war ihm egal.”
Scheiße, ja, so war es gewesen. Es war diesem reichen Schnösel egal gewesen, ob der Prostituierte gekommen war, oder nicht.
“Ihm vielleicht - mir nicht!” Ganymed riss Leandro so heftig am Arm herum, dass dieser fast von der zweiten Stufe gestolpert wäre, auf der er schon stand.
“In zwanzig Minuten in meinem Zimmer!”, befahl er.
Und Leandro nickte.
Als er drei Stunden - es war bereits früher Morgen und die Sonne schickte sich an, aufzugehen - später in sein Zimmer schlich, hatte Ganymed es geschafft, ihn zweimal in kürzester Zeit so heftig kommen zu lassen, wie Leandro es wohl noch nie in seinem Leben getan hatte. Sein ganzer Körper hatte gezittert... gebebt... unkontrolliert gezuckt, während er in heißen Schüben unter sich oder auf dem Körper des anderen abgespritzt hatte.
Doch Ganymed war diesmal noch einen Schritt weiter gegangen. Er hatte ihn auch bestraft... geschlagen. Keine leichten Klapse - nein, Ganymed hatte ordentlich zugelangt. Seine Handabdrücke würden auf Leandros hellen Pobacken sicher deutlich zu erkennen sein. In dem Moment, als der Schmerz durch seinen Körper gejagt war, hatte er das Gefühl gehabt, gezüchtigt zu werden.
War es so?
Versuchte Ganymed, ihn hörig zu machen?
Dafür zu sorgen, dass er ein gefügiger Prostituierter wurde?
Leandro hasste sich dafür, dass er so heftig gekommen war - aber er hatte keine Chance gehabt. Sein Körper hatte schlicht und ergreifend auf die geschickten Berührungen des Älteren reagiert... und wahrscheinlich auch förmlich nach Erlösung geschrien, nachdem er beim Fick mit dem Kunden nicht erleichtert worden war.
Was Leandro allerdings am meisten verstört hatte, waren Ganymeds Worte gewesen. ‘Gewöhn dich dran’, hatte er beim letzten Klatschen mit der flachen Hand auf Leandros Hintern gesagt, ‘auch solche Kunden wirst du bekommen... und bedienen...’
Als Leandro gegen Mittag am nächsten Tag aufstand, war er froh, zunächst niemanden auf dem Weg ins Bad und beim anschließenden Frühstück - Kaffee und nochmal Kaffee - anzutreffen. Doch das Glück sollte nicht lange anhalten. Nach und nach tauchten die anderen Jungs auf, kramten in Schränken, füllten Schalen mit Müsli und Obst, kochten Kaffee und setzten sich an den langen Tisch.
Leandro hielt Ausschau nach Zelos, doch der erschien nicht auf der Bildfläche.
Er nickte den anderen zu, holte Jeansjacke und Schlüssel aus seinem Zimmer und lief die Treppe hinunter. Er musste raus - brauchte frische Luft.
Kurz darauf saß er in genau dem Park, in dem er so häufig mit Mira gesessen hatte. Gott, er war ein miserabler Freund, denn er hatte sich seit Wochen nicht bei ihr gemeldet. Wahrscheinlich hatte sie ihn schon vergessen. Er zog das Handy aus der Tasche und schaltete es ein.
Keine Nachrichten.
Was hatte er denn erwartet?
Er lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Wie hatte es so weit kommen können? Für Leandro gab es zu diesem Zeitpunkt nur einen einzigen Schuldigen: Seinen Vater! Wäre dieser aufgeschlossener der Sexualität seines Sohnes gegenüber, dann würde er jetzt wahrscheinlich in einem Klassenzimmer sitzen und Vokabeln pauken oder komplizierte Matheaufgaben lösen. Vermisste er das? Leandro hätte niemals geglaubt, das einmal zu sagen, aber: Ja, er vermisste die Schule.
In den nächsten Tagen bekam Leandro immer mehr Kunden zugewiesen. Und es blieb nicht aus, dass er an Typen geriet, die von ihm Dinge forderten, an die er teilweise noch nicht einmal gedacht hatte. So wurde er mehrfach gebeten, sich wie ein Mädchen anzuziehen, oder wie ein Schuljunge, oder es kam zu Rollenspielen, bei denen er bestenfalls nur den geliebten Freund mimen musste. Die Kunden um Sex anzuflehen und sich beschimpfen zu lassen, gehörte bald zum Alltag.
Es kam sogar so weit, dass er sich übergeben musste, was er zum Glück so lange zurückhalten konnte, bis der Kunde bezahlt und mit einem zufriedenen Grinsen das Zimmer verlassen hatte.
Zu einigen Kollegen baute er nach und nach so etwas wie Freundschaften auf. Er liebte es, Pan beim kochen zuzusehen, Triton hatte irgendwann eingesehen, dass er keine Chance bei ihm haben würde, Ares und Dionysos entpuppten sich als nette, wenn auch manchmal zu sehr mit sich selbst beschäftigte Zuhörer und auch Hermes war, wenn er nicht gerade von Ganymed schwärmte oder irgendwelche Botengänge für diesen erledigte, ein angenehmer Gesprächspartner. Am sympathischsten war Leandro allerdings immer noch Zelos. Dessen lockere, witzige Art war es, die ihn immer wieder lächeln ließ, auch, wenn der letzte Kunde gerade Dinge von ihm verlangt hatte, die ihm im Grunde nicht zugesagt hatten.
Ganymed hatte recht behalten. Schnell kamen auch Kunden, die darauf standen, den Prostituierten zu unterwerfen - eine Rolle, mit der Leandro am wenigsten zurecht kam. Doch die Angst, dass einer davon sich bei Ganymed beschweren würde, war groß.
Zu Leandros Erleichterung hatte Ganymed irgendwann aufgehört, ihn tagtäglich zu sich zu beordern. Und um nicht zu riskieren, dass er das wieder tat, ließ Leandro sich so ziemlich alles gefallen, versuchte, sich seine Abneigung nicht anmerken zu lassen.
Zum Glück waren das lange die wenigsten Kunden. Es gab sogar solche, auf die er sich freute und manchen war es tatsächlich wichtig, dass auch ihr Prostituierter Spaß an der Sache hatte. Nach und nach wurde er sogar seinem eigenen Gefühl nach besser und... sicherer. Seine Kunden schienen zufrieden und kamen immer wieder, verlangten teilweise sogar direkt nach dem Prostituierten Hyperion.
Und es gab andere...
Leandro trug, so wie es auf dem ‘Kundenblatt’ gefordert war, die Lederhose, die sein Hinterteil nackt ließ und betrat die Bar. Sein nächster Kunde war neu und er wusste nicht, nach wem er schauen musste. Schnell wurde er jedoch angesprochen.
“Hyperion?” Die tiefe, kratzige Stimme jagte ihm einen Schauer über den Rücken - und zwar nicht im positiven Sinne.
Leandro schluckte, nickte und musterte den Mann, der seinen Codenamen genannt hatte und jetzt auf ihn zukam. Groß, Ende vierzig, raspelkurze dunkle Haare, schlank und vermutlich...
Zu weiteren Gedanken blieb keine Zeit, denn der Typ hatte ihm über den Hintern gestrichen und mehr oder weniger sanft in die linke Pobacke gekniffen. Na Super...
“Dann wollen wir mal keine Zeit verlieren, was?” Der Typ musterte Leandro gierig und die Vorfreude - worauf auch immer - stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Leandro nickte und deutete ihm an, ihm ins Kundenzimmer zu folgen. Aus den Augenwinkeln konnte er Ganymed sehen, der mit einem grimmigen Gesicht der Genugtuung an der Bar saß und Angestellten und Gast nicht aus den Augen ließ.
Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, forderte der Mann: “Zieh dich aus.”
Kurz hob Leandro die Augenbrauen, dann öffnete er lasziv den Reißverschluss der körperbetonten schwarzen Lederhose. Dabei ließ er den Typen nicht aus den Augen. Er hatte gelernt, den Kunden immer in die Augen zu sehen - das machte die meisten von ihnen an.
Diesen schien das allerdings nicht zu interessieren. “Schneller!” Er selbst machte jedoch keine Anstalten, sich zu entkleiden. Sein Blick huschte rüber zum Bett und ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen. Leandro sah ebenfalls hin und konnte ein erschrockenes Keuchen gerade noch unterdrücken.
Auf dem schwarzen Laken lagen schön penibel aufgereiht diverse Sex-Spielzeuge: Handschellen, ein Seil, eine kleine, kurze Peitsche und ein Paddle. Bisher war Leandro ohne diese Hilfsmittel ausgekommen und allein der Gedanke daran, was der Typ damit vorhatte, drehte ihm komplett den Magen um - an Erregung war nicht mehr zu denken.
Doch das schien dem Typen auch nicht wichtig zu sein. Selbst seine eigene Erektion, die sichtbar gegen den Reißverschluss drückte, war anscheinend Nebensache. Er wartete sichtlich ungeduldig, bis Leandro, der es jetzt noch weniger eilig hatte, komplett nackt vor ihm stand.
“Knie dich aufs Bett.” Der Ton wurde immer härter und Leandro überlegte, ob er das erste Mal einen Kundenwunsch ablehnen sollte. Doch dann schob sich Ganymed vor sein inneres Auge, für den diese Tatsache mit Sicherheit ein Grund sein würde, Leandro wieder verstärkt unter seine Fittiche zu nehmen. Und im Hinterkopf hörte er Zelos Stimme: ‘Es ist nur ein Job!’ Ja, das war es - und auch diese 90 Minuten würde er überstehen.
Die ersten Schläge mit der bloßen Hand waren auch noch nicht so schlimm... doch als der Typ beherzt zunächst zum Paddle und anschließend sogar zur Peitsche griff, war Leandro kurz davor, schreiend aufzuspringen und so, wie er war, aus dem Zimmer zu flüchten. Doch er hielt durch. Die Schläge wurden unterbrochen von sanften Streicheleinheiten über die gerötete Haut, was es insgesamt allerdings nicht angenehmer machte. Und als der Typ endlich bezahlt hatte und verschwunden war, war Leandro sicher, tagelang nicht sitzen zu können.
Was auch der Fall war - zum Glück hatte er die nächsten zwei Tage frei.
Im Laufe der Wochen hatten sich Leandros Arbeitszeiten immer mehr denen von Zelos angeglichen, so dass sie sich häufiger über den Weg liefen. Leandro war das nur recht und auch Zelos schien froh darüber zu sein. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, zwinkerte er ihm frech zu und sprach ein paar - meistens aufmunternde - Worte mit ihm.
Zwei Wochen nach dem unschönen Vorfall mit dem brutalen Kunden, stand genau dieser erneut auf Leandros ‘Kundenblatt’.
Shit.
Nochmal würde er das ganz sicher nicht mitmachen. Innerhalb von Sekunden fasste Leandro einen Entschluss, stand von seinem Bett auf, auf dem er fassungslos den Plan für den heutigen Tag gelesen hatte, und machte sich schnurstracks auf die Suche nach Ganymed.
Der war nicht in der Bar, also klopfte er Minuten später an dessen Zimmertür.
“Ja?”, kam es gereizt von der anderen Seite.
“Ich bin’s... Hyperion. Kann ich kurz mit dir sprechen?”
Die Tür wurde aufgerissen.
“Was willst du?”
“Mit dir über einen Kunden reden.”
Der Ältere zog die Augenbrauen hoch, trat allerdings zur Seite, um Leandro hinein zu lassen.
“Dieser Typ hier...”, Leandro deutete auf den Namen des brutalen Kunden, “...den kann ich nicht nehmen. Er war vor ungefähr zwei Wochen schon einmal hier und... er will keinen Sex... er will nur... ein Opfer.”
“Ja, und das bekommt er hier.” Ganymeds Stimme war eiskalt.
“Wie bitte? Also... ja, meinetwegen von Eos, der steht drauf, aber nicht von mir...”
Klatsch
Leandro hatte den Schlag nicht einmal im Ansatz vorhergesehen. Und als er die flache Hand an seiner Wange spürte, konnte er immer noch nicht glauben, was passiert war... und er hasste sich für die Tränen, die sich unweigerlich in seine Augen schlichen. Die folgenden Worte machten es nicht erträglicher.
“Du tust, verdammt nochmal, was der Typ will!”
Leandro schluckte hart, schaffte es nicht, Ganymed anzusehen und lief ohne weiteren Kommentar raus in den Flur.
Oben in seinem Zimmer, warf er sich auf sein Bett und heulte - so sehr, wie er es schon lange nicht getan hatte. Es war, als hätte diese Ohrfeige einen Knoten gelöst, der jetzt die Tränen für all die Dinge hinausließ, über die er sich in den letzten Wochen und Monaten geärgert hatte... die ihn verletzt hatten... über die er einfach nur unsagbar traurig war.
Er war so sehr in seiner Trauer gefangen, dass er das Klopfen nicht hörte. Und erst, als die Matratze sich senkte, bemerkte er, dass er nicht mehr allein war. Hastig richtete er sich auf.
Zelos saß neben ihm und von seinem für ihn so typischen Strahlen war nichts zu sehen.
“Was ist los?”, fragte er und seine Stimme spiegelte den Argwohn wider, der in seinen Augen lag. Und als Leandro nicht sofort antwortete, vermutete er: “Ganymed?”
Scheu nickte Leandro.
“Was hat er getan?” Zelos nahm Leandros Gesicht zwischen die Hände und zwang ihn so sanft, ihn anzusehen. “Hat der Mistkerl dich etwa geschlagen?” Sein Blick ruhte auf der geröteten Wange.
Wieder ein Nicken.
“Warum?” Es war nicht so, dass Zelos unbedingt einen Grund brauchte, um sauer auf Ganymed zu sein, aber es interessierte ihn trotzdem.
“Ich habe ihn gebeten, einen Kunden... abzulehnen. Oder jemand anderem zu geben”, flüsterte Leandro. Es war ihm peinlich. So etwas war Zelos mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch nie passiert.
“Wen?”
Leandro fischte die Liste vom Nachttisch und deutete auf den Namen.
Zelos zuckte mit den Schultern. “Kenn ich nicht. Was hat er gemacht?”
“Er ist....” Himmel, das war mehr als peinlich. Leandro wand sich regelrecht. Doch Zelos’ beinahe schon zärtlicher Blick, ließ ihn durchatmen und weiterreden. “Er ist ein Schläger. Er kommt nicht, um zu ficken oder gefickt zu werden”, brauste er jetzt auf. “Er will bloß züchtigen. Ich will das nicht!”
“Und das ist dein gutes Recht!” Zelos stand auf. “Und dieses Arsch von Möchte-Gern-Boss hat dich deshalb geschlagen? Weil du gesagt hast, was du willst... oder nicht?” Er wartete Leandros Nicken ab, dann rastete er total aus. So hatte Leandro ihn noch nie gesehen. Er ballte die Hände zu Fäusten, fletschte beinahe die strahlendweißen Zähne und ließ seine Augen Funken sprühen. “Los”, forderte er Leandro auf, “steh auf. Wir gehen zum Boss!”
“Zum... Boss?” Sofort wurde Leandro unsicher. “Ich weiß nicht...”
“Aber ich!” Zelos zog den Jüngeren hoch und hinter sich her aus dem Zimmer, durch die Gemeinschaftsküche, vorbei an verdutzten Kollegen, direkt bis zum Büro vom Bordell-Chef.
Und als wenn das nicht schon unangenehm genug gewesen wäre, war dieser nicht allein. Nachdem Zelos ohne zu Klopfen die Tür aufgerissen hatte, fuhren der Leiter des Etablissements und niemand anderer als Ganymed auseinander. Sie waren offensichtlich in einem leidenschaftlichen Kuss vertieft gewesen. Beide hatten sie rote Wangen, ihre Hemden hingen aus den Hosen heraus und sie waren ganz klar mächtig erregt.
Während diese Situation auch Leandro das Blut in die Wangen trieb, blieb Zelos unbeeindruckt.
“Na, da ist ja gleich der Richtige hier”, knurrte er in Ganymeds Richtung, der dabei war, seine Jeans zu schließen.
Claus, der inzwischen wieder in seinem Ledersessel hinter dem Schreibtisch saß, musterte das Duo nur kühl. “Was?”, fragte er. Er wusste sehr wohl um die Fehde zwischen Zelos und Ganymed, doch er würde sich ganz sicher nicht einmischen. Was er sich fragte, war, welche Rolle der Neue spielte.
“Was?”, wiederholte Zelos abfällig und zog Leandro näher zum Schreibtisch. “Sieh ihn dir an, dann erübrigt sich die Frage. Na los, sieh ihm ins Gesicht. Oh, und das war kein Kunde, Claus!”
Der Chef begutachtete die immer noch gerötete Wange. “Und wer soll das gewesen sein?” Er hatte da so eine Ahnung... aber so weit würde Ganymed nicht gehen, oder?
“Wer das getan hat? Sag mal Claus, wie dämlich bist du? Wer meinst du denn, wer das getan hat?” Zelos’ Blick wanderte zu Ganymed, der versuchte, sich in einer Ecke unsichtbar zu machen. “Das hier”, der Prostituierte deutete noch einmal auf Leandros Wange, “das war dein Lover, Claus. Er schlägt deine Angestellten. Ist es das, was du willst? Ist das dein neuer Stil, das Haus hier zu führen? Wenn ja, dann sag es, denn dann bin ich weg...” Er fixierte seinen Vorsteher.
Dieser sah von Zelos zu Ganymed und schließlich zu Leandro. “Ist das wahr?”
Leandro, der bis hierher noch kein Wort gesprochen hatte, tat es auch jetzt nicht. Er nickte nur.
Das tat auch Claus. “Und warum?”, wollte er wissen.
Jetzt musste Leandro wohl oder übel den Mund aufmachen, bevor Ganymed sich irgendeine erfundene Geschichte einfallen lassen würde. “Ich habe ihn gebeten, einen Kunden zu tauschen.”
Die Augenbrauen des Mannes hinter dem Schreibtisch wanderten in die Höhe, und er zog die Stirn kraus. “Verrätst du mir auch, warum du das wolltest? Ganymed, ich habe Hyperion gefragt”, fuhr er seinem Geliebten über den Mund, als dieser etwas einwerfen wollte... und machte Leandro genau damit Mut.
“Dieser Typ war... vor zwei Wochen schon einmal hier. Bei mir. Er hat mich nur geschlagen... mit allem, was da war”, er sah Ganymed an. “Mit allem, was... bereitlag.” Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es nur Ganymed gewesen sein konnte, der dafür gesorgt hatte, dass der Kunde ausreichend Material zur Hand hatte, um seinen Gelüsten nachzugehen.
“Hast du gesagt, dass er aufhören soll?”, hakte Claus nach.
“Nein”, schüttelte Leandro ehrlich den Kopf, “habe ich nicht. Aber ich will das nicht noch einmal machen...”
“Und das hat er dir so gesagt?”, wandte der Mann sich jetzt an seinen Lover, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Fenster stand.
“Ja, aber...”
Sein Geliebter ließ ihn nicht ausreden. “Und deswegen hast du ihm eine geknallt? Sag mal... geht’s noch?” Er war aufgestanden und sichtlich wütend. “Raus hier. Ich will dich heute nicht mehr sehen.”
Ganymeds Blick war geschockt, doch er stieß sich von der Wand ab und ging zur Tür. Auf dem Weg dahin rempelte er Zelos hart an, der jedoch nur grinste und zum ersten Mal seit ungewohnt langer Zeit etwas sagte. Ein klar erkennbar gehässiges ‘Tschüss’, verließ süßlich seine Lippen.
Das Ergebnis dieses Ereignisses war, dass der Kunde von Eos übernommen wurde und gleichzeitig Hausverbot bei Leandro erhielt.
Das waren die positiven Auswirkungen.
Natürlich gab es auch weniger gute: Ganymed und Claus hatten einen heftigen Grundsatzstreit darüber, wer hier letztendlich das Sagen hatte, und Ganymed gab allein Leandro an diesem Streit die Schuld und ließ ihn dieses spüren, indem er versuchte, ihm unliebsame Kunden aufs Auge zu drücken. Doch als Zelos das mitbekam gerieten die zwei heftig aneinander. Am Ende war der jüngere Prostituierte der Gewinner, als er drohte, dem Boss zu erzählen, was vor sich ging. Ganymed schien seinen Geliebten nicht noch mehr verärgern zu wollen.
Leandro und Zelos jedoch verbachten jetzt viel mehr Zeit miteinander, redeten - und stellten fest, dass sie sich teilweise blind verstanden.
Während eines dieser Gespräche - Leandro hatte von Spanien erzählt - geschah dann etwas, worauf beide unterschwellig schon gewartet hatten. Zelos beugte sich vor und küsste seinen jungen Freund und Kollegen. Und das war etwas, was Leandro viel zu lange nicht bekommen hatte. Die Kunden hielten sich mit derlei Zärtlichkeiten nicht auf - schließlich hatten sie viel Geld für mehr bezahlt - und Ganymeds Küsse waren hart und fast schon brutal. Zelos jedoch ließ sich Zeit, wartete sogar, bis es Leandro war, der den Kuss vertiefte, indem er den Mund öffnete und dessen Zunge mit seiner in Empfang nahm.
“Das fehlt dir, richtig?”, fragte Zelos leise, als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander gelöst hatten. Seine Finger streichelten über Leandros Oberschenkel, der Daumen drückte sanft aber bestimmt gegen dessen Schritt.
Leandro keuchte nickend auf und schämte sich für seinen bittenden Blick, Zelos möge doch weitermachen... nicht aufhören, ihm zu zeigen, dass es noch Männer gab, die ihn nicht nur berührten, weil sie Geld dafür bezahlt hatten.
Und Zelos verstand ihn auch diesmal ohne Worte. Langsam - Stück für Stück - zog er zuerst Leandro aus, dann folgten seine eigenen Klamotten. Mit einer unendlichen Ruhe verwöhnte er die heiße Haut und genoss das Stöhnen des Jüngeren.
Plötzlich drehte dieser sich um und sah ihn über die Schulter hinweg auffordernd... wartend an. Für Leandro war es zu einer logischen Reaktion geworden, seinem Sexpartner für dessen Gesten als Gegenleistung seinen Körper anzubieten.
Zelos hob kurz die Augenbrauen, setzte sanfte Küsse auf den knackigen Hintern und konnte es sich nicht verkneifen, durch die Ritze zu fahren und mit der Zunge in das kleine, zuckende Loch zu stupsen.
“Oh jaaah... jetzt nimm mich schon”, forderte Leandro keuchend und schob seinen Hintern der warmen Zunge entgegen. Zu seinem Schrecken jedoch zog Zelos sich zurück und drehte ihn vorsichtig um. Die Hände links und rechts neben Leandros Gesicht aufgestützt, sah der ältere und erfahrenere Prostituierte zu seinem Freund und Kollegen hinunter, schüttelte lächelnd mit dem Kopf und küsste ihn erneut.
Absolut ungläubig erwiderte Leandro die zärtlichen und gleichzeitig leidenschaftlichen Küsse, hörte die Worte, die Zelos ihm ins Ohr wisperte: “Du solltest dich sehen, wenn du erregt bist. Du bist wunderschön. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden, Leandro. Niemals!”
Irgendwann griff er nach dem Gleitgel, welches auf dem Nachttisch lag und Sekunden später drang er langsam in Leandro ein, sah ihm dabei tief in die Augen.
Es war das erste Mal, dass Leandro einfach nur genoss.
Ganymed hatte ihn immer nur von hinten genommen - wahrscheinlich, um ihn nicht ansehen zu müssen, oder, um seine Machtposition deutlich zu machen. Zelos jedoch schien Leandros Vergnügen in diesem Augenblick wichtiger zu sein, als sein eigenes... oder vielleicht zog das eine das andere auch ganz automatisch nach sich.
Leandros Kopf lag weit im Nacken, seine Hände krallten sich in die Matratze und er stöhnte laut auf, als er kam. Dass Zelos im selben Augenblick sein Sperma in ihm verteilte, konnte er mehr als deutlich spüren - genau so, wie die einzelne Träne, die sich aus seinem linken Augenwinkel gestohlen hatte.
Doch wenn Leandro erwartet hatte, dass Zelos sich zurückziehen und im Bad verschwinden würde, hatte er sich getäuscht. Immer noch in Leandro versenkt, sah Zelos seinen jungen Kollegen an.
“Warum weinst du? Hör mir bitte mal gut zu: Kein Mann auf der Welt ist es Wert, dass man seinetwegen heult. Keiner!” Zelos küsste die Träne sanft fort. “Und du solltest dich keinem Mann - vor allem nicht dem Wichser Ganymed - jemals unterwerfen. Dein Körper mag den Kunden gehören, wenn sie bezahlt haben, aber deine Seele... die gehört allein dir, Leandro”, flüsterte er mit leiser, aber eindringlicher Stimme. “Versprich mir, dass du das niemals vergisst!”
In dem verzweifelten Versuch, die nächsten Tränen aufzuhalten, biss sich Leandro auf die Unterlippe - und nickte.
Von diesem Abend an verbrachten die zwei Freunde die Nächte gemeinsam in einem Bett, wenn ihre Schichten es zuließen. Den Sex allerdings ließen sie etwas besonderes bleiben - übertrieben es nicht, wie so manche ihrer Kollegen, die keine Hemmungen hatten, es untereinander wild miteinander zu treiben.
Zelos war es auch, der Leandro vorschlug, dieser solle sich einen Zweit-Job suchen.
“Du musst hier mal raus - du kannst nicht immer nur in deinem Zimmer hängen, wenn du frei hast”, sagte er ernsthaft. “Ich glaube, in der Bar, in der ich arbeite, suchen sie noch Aushilfen. Kannst du Cocktails mixen?”
Leandro zuckte mit den Schultern. “Eher nicht.”
“Hmmm... aber du kannst ein Tablett mit zwei Tassen oder Gläsern drauf tragen, ohne dass dir alles herunterfällt... und du bist lernfähig”, stellte Zelos selbstsicher fest. “Also... kommst du heute Abend mit?”
“Ich weiß nicht, ob...”
“Ob du frei hast? Hast du!”
“Ach ja?”
“Jap!” Zelos grinste siegessicher. “Das wird dir gut tun, glaub mir.”
Und wieder einmal sollte er Recht behalten.
Leandro bekam den Job tatsächlich und in den nächsten Monaten verlief sein Leben ruhig.
Zelos achtete darauf, dass Leandro nicht wieder zum Spielball für Ganymeds Launen wurde und die Zeit zusammen mit Zelos - egal, ob im Bett, im Café oder bei anderen gemeinsamen Unternehmungen - wurde für Leandro extrem wichtig. Der andere gab ihm die Sicherheit, die er brauchte, den Halt, den er so nötig hatte und nicht zuletzt sogar eine Spur Liebe. An letztere glaubte Leandro nicht mehr. Er war sicher, dass er diese nicht verdiente - nicht mit dem Job, dem er nachging.
Im Café wusste niemand davon. Sowohl Leandro als auch Zelos hielten sich an ihrer Absprache, dass es niemand erfahren sollte. Und Leandro fiel es nicht einmal sonderlich schwer, denn Fremden gegenüber war ihm sein Job extrem unangenehm. Und außerdem war er es ja gewohnt, zu schweigen. Seine Familie wusste bis heute nichts davon. Und das sollte auch so bleiben.
Inzwischen hatte er mehr als genug Geld zusammen, um zurück nach Spanien zu fliegen, doch der Gedanke geriet immer weiter in den Hintergrund.
Nur, wenn seine Mutter anrief, kam er wieder kurz an die Oberfläche. Es war immer wieder hart. Sie ging davon aus, dass er schulisch so eingespannt war, dass er von sich aus nur noch selten anrief.
Die Tage tröpfelten in einem eintönigen Einerlei dahin und ehe Leandro sich versah, war es Anfang Dezember, und sein Geburtstag stand vor der Tür. Neunzehn.
Zelos und Leandro hatten an diesem Tag beide frei und verbrachten ihn im Café. Nicht um zu arbeiten, sondern um zu feiern. Das erste Mal seit Monaten würde Leandro abends auch mal wieder eine Disco besuchen - das hatte Zelos kurzerhand beschlossen.
“Also? Wo willst du hin?” Zelos sah Leandro über sein Cocktailglas hinweg an. “Ich habe gehört, dass in Mitte ein netter Laden aufgemacht haben soll. Oder sollen wir lieber in Kreuzberg bleiben?”
“Keine Ahnung”, zuckte Leandro mit den Schultern. “Also... nein, lieber nicht hier...”
“Angst, erkannt zu werden?”, traf Zelos mal wieder genau ins Schwarze. “Die ist unbegründet. Keiner wird dich ansprechen. Im Gegenteil: Die sind doch alle froh, wenn wir sie nicht ansprechen. Du würdest dich wundern, wie viele da plötzlich mit einer kleinen Frau an der Hand rumstehen”, schnaubte er verächtlich. Schnell jedoch war das Grinsen wieder da. “Stell dir das mal vor: Du kommst in ein schweineteures Restaurant”, er senkte jetzt die Stimme und beugte sich zu Leandro vor, “und da sitzt einer, der, wenn er zu uns kommt, die absonderlichsten Wünsche hat. Glaub mir, da würde mir ganz sicher ein Spruch einfa... Holla!” Er hob den Kopf und verengte die Augen zu Schlitzen.
“Was ist?”
“Ich glaube, wir haben einen neuen Kollegen... also, hier”, erklärte Zelos und deutete mit einem Nicken in Richtung Tresen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte Leandro sich um und schluckte. Hinter der Theke stand ein junger Mann in ihrem Alter und mühte sich gerade ganz offensichtlich mit der Zapfanlage ab, die es in der Tat in sich hatte. Immer wieder pustete er sich die langen Ponysträhnen aus Augen und Stirn, bis ein lautes ‘Fuck’ zu hören war. Leandro grinste noch, als Zelos schon aufgestanden und hinter den Neuen getreten war.
“Kann ich helfen?”, säuselte er mit seiner tiefen Stimme, und Leandro konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Das war so typisch für Zelos: Probleme, andere anzusprechen... anzumachen... kannte er nicht.
Der Angesprochene zog die Augenbrauen hoch und musterte Zelos kurz. Das Café war als Szenetreff für Homosexuelle bekannt, doch den meisten Gästen war ihre Gesinnung nicht gleich anzusehen. Dieser hier ließ durch sein enges Shirt, welches - hilfreich unterstützt von der tiefsitzenden Jeans - immer wieder hochrutschte und damit braungebrannte Haut freilegte, keinen Zweifel daran, dass er Männer auf jedem Fall bevorzugte. Doch Nick war nicht auf den Mund gefallen. “Naja, kommt drauf an”, sagte er und deutete auf den Zapfhahn. “Wenn du mir verraten kannst, wie ich das Teil hier dazu bringe, seiner Bestimmung nachzugehen, dann wäre ich dir schon dankbar, ja.”
Leandro, der inzwischen ebenfalls zum Tresen gegangen war, fiel die Ausdrucksweise des Neuen angenehm auf. Er sah Zelos grinsen und mit einigen geübten Handgriffen lief dann auch schon wieder das gelbe Hefegebräu in eines der Gläser.
“Danke.” Der Neue, der inzwischen aufgesehen und Leandro freundlich zugenickt hatte, fuhr mit seiner Arbeit fort.
Zelos setzte sich neben Leandro auf einen der hohen Hocker vor den Tresen, stützte die Ellenbogen auf und legte sein Kinn in eine Hand. “Neu hier?”, wollte er wie gewohnt schamlos wissen.
“Jap.” Nick holte aus dem Kühlschrank eine neue Flasche Orangensaft.
Zelos legte den Kopf schief. “Student?”, riet er.
“Jap.”
Leandro lachte leise. Er wusste, dass diese kurzen, wenig informativen Antworten Zelos wahnsinnig machten.
“Lass mich raten”, fuhr der fort, den Neuen auszuquetschen. “BWL.”
“Nope.”
“Medizin.”
“Nein.”
“Jura.”
“Jap.”
Während des ganzen Duells, schossen Leandros Augen hin und her, wie bei einem spannenden Tennismatch.
“Ein angehender Anwalt also”, grinste Zelos und ließ sich nicht davon irritieren, dass Nick weiter in aller Seelenruhe Cocktails mixte und die Kaffeemaschine bediente.
“Mit etwas Glück, ja.”
“Wow! Es kann mehr als ein Wort am Stück sagen”, feixte Zelos, worauf der Neue sich zum ersten Mal wieder umsah.
“Du warst nicht wirklich redegewandter, oder?”
Da musste Leandro ihm Recht geben.
Zelos senkte gespielt beleidigt den Kopf. “Besserwisser”, grummelte er, doch Leandro konnte hören, dass er in Wirklichkeit ziemlich amüsiert war und der Neue ihm gefiel.
So ging es auch Leandro. Vor allem, als der brünette junge Mann jetzt grinsend den Kopf schüttelte und von Zelos zu Leandro sah. “Nick”, streckte er die Hand aus.
“Zelos”, rief der erfreut und schüttelte die Hand. “Und das schüchterne Wesen neben mir heißt Leandro.”
“Schüchtern? Eher nicht schnell genug”, lachte Leandro.
“Ja”, bemerkte Nick, “du scheinst es echt nicht leicht zu haben mit deinem Freund. Zelos? Was ist das für ein Name?”
“Meiner!” Zelos grinste breit und als Nick nur fragend die Augenbrauen höher zog, erklärte er: “Okay, okay, meine Eltern haben sich damals natürlich einen anderen ausgedacht, aber Zelos gefällt mir besser. Also: Zelos!”
“Okay... soll mir recht sein.”
“Ja, mit Recht kennst du dich ja aus”, grinste Zelos.
“Ganz genau.” Die zwei fixierten sich kurz, dann wandte Nick sich an Leandro. “Du solltest deinem Freund sagen, dass seine ‘mit-der-Tür-ins-Haus’ - Methode bei Leuten auch aufdringlich ankommen kann.”
“Werde ich dann verklagt?”, fragte Zelos süßlich, bevor Leandro überhaupt den Mund aufmachen konnte.
“Ja, darauf steht mindestens zwei Stunden Schweigepflicht”, konterte Nick.
Leandro lachte laut los. “Oha... das schafft der nie!”
Zelos knuffte ihn gekränkt - aber grinsend - in die Seite.
Damit war das Eis gebrochen, und Nick wurde mehr zu einem Freund, als es irgend jemand zuvor geschafft hatte.
Nicks Schicht im Café dauerte leider die ganze Nacht, so dass er das Angebot, mit ihnen gemeinsam Leandros Geburtstag zu feiern, mit Bedauern ablehnen musste.
Also verließen die beiden Freunde das Café gegen dreiundzwanzig Uhr allein.
Die Tür war gerade hinter ihnen zugefallen, als Leandros Handy klingelte. Überrascht zog er es aus der Hosentasche und schluckte, als er sah, wer ihn da so spät noch sprechen wollte.
Nur widerwillig ging er ran.
“Ja?”
“Leandro, ich wünsche dir alles Gute zu deinem Geburtstag!”, drang die Stimme seines Vaters an sein Ohr, die er so gar nicht vermisst hatte.
“Danke. Fällt dir ziemlich früh ein”, konnte er sich nicht verkneifen, zu sagen.
“Nun, ich war sehr beschäftigt”, rechtfertigte der Mann in Spanien sich. “Wie geht es dir?”
“Gut.”
“In der Schule alles in Ordnung?”
“Ja.”
“Hat deine Mutter auch schon angerufen?”
“Ja.”
Leandro musste innerlich lachen, denn die Situation ähnelte der zwischen Zelos und Nick von vor wenigen Stunden sehr. Seine Mutter hatte in der Tat schon am frühen Morgen angerufen, um ihrem Sohn alles Liebe zu seinem Ehrentag zu wünschen - und Leandro hatte sich sehr gefreut!
“...möchte dir ein Angebot machen”, hörte er seinen Vater sagen, und er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Er sagte allerdings nichts - wartete nur ab.
“Ich möchte dir anbieten, zurück nach Spanien zu kommen und hier zu arbeiten, sobald du das Abitur in der Tasche hast. Ich denke, wir wären ein gutes Team.” Der Mann machte eine kurze Pause und Leandro wusste, was als Nächstes kommen würde, bevor sein Vater weitersprach: “Natürlich würde ich vorher gern hören, dass du dich von diesen... Abnormitäten befreit hast und mir eine nette Freundin vorstellen kannst...”
Mehr musste Leandro nicht hören. Er klappte das Handy zu und steckte es ein.
Zelos, der, ganz entgegen seiner eigentlichen Art, schweigend zugehört hatte, sah ihn alarmiert an. “Alles okay?”
“Ja. Mein Vater hat mir angeboten, zurück zu kommen; unter der Voraussetzung, dass ich ihm eine Freundin präsentiere.”
“Uuuh...” Zelos machte ein dezent würgendes Geräusch. “Der lernt es nicht, was?”
“Nein”, schüttelte Leandro den Kopf. Er wollte nicht zugeben, wie weh ihm diese Tatsache tat. Aber es war nun einmal nicht zu ändern und bisher hatte er es auch ganz gut ohne seinen Vater geschafft. “Lass uns feiern.”
In der nächsten Zeit verbrachten die beiden Jungs so viel Zeit wie möglich zusammen mit Nick, legten - sofern es Nicks Vorlesungen an der Uni und Leandros und Zelos’ Schichten im Bordell zuließen - ihre Arbeitszeiten im Café zusammen und hatte viel Spaß miteinander.
Leandro bewunderte Nick, der ganz offen zu seiner Homosexualität stand und trotz seines Studentenstatus’ nicht im Mindesten arrogant war. Auch die Tatsache, dass seine Eltern Geld hatten - wie Leandro nur nebenbei heraus fand -, kehrte er nicht nach außen. Er sah verdammt gut aus, bildete sich allerdings nichts darauf ein, und er war intelligent und humorvoll. Eigentlich ein Typ, wie ihn sich jeder schwule Mann wohl wünschen würde. Nicht so Leandro - oder... ja, vielleicht schon, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sich überhaupt jemals wieder ein Mann in ihn verlieben könnte... ehrlich verlieben. Und vielleicht war dieses Denken - diese ‘Hoffnungslosigkeit’ ein Grund dafür, dass er so locker mit Nick umgehen konnte.
Sie redeten viel und manchmal stundenlang, doch Leandros ‘Arbeit’ wurde nie zum Thema. So, als würde er etwas ahnen, fragte Nick auch niemals nach.
Ende Januar des folgenden Jahres war es Dionysos, der Leandro ausrichtete, dass Claus ihn sehen wollte.
Sofort war Leandro unsicher. “Hat er gesagt, was er will? Hat sich... jemand beschwert?”
“Nein, er hat einen ganz gelösten Eindruck gemacht.”
“Er will sicher, dass du deinen Vertrag verlängerst.” Zelos war dazu gekommen, hatte die Unterhaltung der Jungs gehört und - wieder einmal - den Nagel auf dem Kopf getroffen.
“Verlängern?” Leandro rechnete nach. Waren tatsächlich schon acht Monate vergangen, seit er seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte? Er ließ sich schwerfällig auf den Küchenstuhl fallen und starrte Zelos an - Dionysos war schon in seinem Zimmer verschwunden. “Und jetzt?”
Leandro musste all seinen Mut aufbringen, um tatsächlich zwei Stunden später an die Tür des Bordell-Chefs zu klopfen.
“Ja?”, kam es kurzangebunden von innen, was es Leandro nicht leichter machte.
Langsam schob er die Tür auf. “Dionysos hat gesagt, ich sollte mich melden.”
“Hyperion!” Claus sprang enthusiastisch auf. “Komm rein! Na los... Tür zu.”
Verunsichert von der überschäumenden Euphorie tat Leandro, wozu er aufgefordert worden war und blieb dann unschlüssig stehen.
“Bist du da angewachsen? Na los, komm her. Ich habe den Vertrag schon aufgesetzt. Sechs Monate, okay? Alles wie gehabt. Keine Änderungen. Also? Hier ist ein Stift.”
Leandro machte große Augen. “Also, ich...” Er sah den Mann an, der das Haus, in dem er seit ungefähr 33 Wochen sein Geld verdiente, leitete. Dieser erwiderte den Blick, sah die Unentschlossenheit und setzte sich lächelnd. “Du willst aufhören? Und dann? Gehst du zurück nach Spanien? Erzählst du deinem Vater, was du hier glorreiches getan hast? Glaubst du echt, du kannst ihn mit dem bisschen Kohle, die du hier ‘verdient’ hast, dazu bringen, seine Meinung zur Homosexualität zu ändern?” Claus Meyer hatte augenscheinlich seine Hausaufgaben gemacht.
Leandro keuchte bei all diesen Einzelheiten, die er dem Mann gegenüber niemals erwähnt hatte, auf. Und die nächste Frage hatte er schon Zelos gestellt: ‘Und jetzt?’
Auch Zelos hatte keine Antwort gehabt - ihn nur bittend angesehen - und dem Blick dann doch Worte folgen lassen: “Bitte bleib.”
Mehr nicht.
Nur die zwei Worte.
Und die hatten Leandro tief getroffen. Mitten ins Herz. Kitschig, ja, aber auch eine klare Tatsache. Was sollte er denn in Spanien? Sein Vater würde ihn bestenfalls verleugnen, seiner Mutter müsste er unendlich viel erzählen - und er wusste nicht, ob sie sein Verhalten gutheißen würde. Also hatte er genickt, worauf Zelos erleichtert gestrahlt hatte.
“Also? Was ist? Bist du dabei? Du bist gut. Du hast Stammkunden. Die Kunden sind voll des Lobes.” Wenn man Claus so reden hörte, dann konnte man den Eindruck gewinnen, er rede von einem Staubsaugervertreter... und nicht von jemandem, der seinen eigenen Körper verkaufte.
Noch einmal schluckte Leandro, dann nickte er, trat vor, nahm den schwarzen Kugelschreiber und setzte seinen Namen unter den Vertrag.
Als er aufsah, lag ein zufriedenes Grinsen auf Claus’ Lippen.
In den folgenden Monaten verbrachte Leandro viel Zeit mit Zelos und nicht selten kam es vor, dass die zwei sich vor Lachen kaum einbekamen. Zusätzliche Ablenkung war die Arbeit im Café und die damit verbundene Aussicht, Nick zu sehen.
In den Semesterferien übernahm der Student mehr Schichten, und die Freunde sahen sich noch häufiger - doch immer noch war die ‘Arbeit’ der beiden Prostituierten ein wohlgehütetes Geheimnis. Nicht, dass Zelos ein Problem damit gehabt hätte, aber er akzeptierte Leandros Wunsch, dies nicht an die große Glocke zu hängen - dessen Wunsch, außerhalb des Bordells als ganz normaler Schwuler durchgehen zu können.
Anfang August - Leandro hatte den Vertrag nochmals um sechs Monate verlängert - kam Zelos ganz aufgeregt in Leandros Zimmer gerannt.
“Du ahnst nicht, was passiert ist!”, rief er, nahm Leandro in den Arm und küsste ihn überschwänglich auf den Mund.
Der zog nur fragend die Augenbrauen hoch und musterte seinen besten Freund, als der ihn losgelassen hatte.
“So, wie du strahlst, etwas ganz Besonders. Hast du ein neues Sex-Spielzeug bekommen? Einen Kunden, der nur kommt um zu reden - und trotzdem ein immenses Trinkgeld da lässt?”
“Was? Nur reden? Wie bist du denn drauf?” Zelos schüttelte übertrieben angewidert den Kopf. “Nein. Kennst du den Typen, der hier immer im Anzug auftaucht? Aalglatt vom millimetergenauen Scheitel bis zu den blankgewienerten Schuhen?”
“Der mit dem Muttermal auf der Hüfte?”
“Ja, genau. Gerd.” Zelos rümpfte die Nase. “Gruseliger Name - aber er steht drauf. Egal. Der war gerade da - und jetzt rate mal, was der mich gefragt hat.”
“Ob du ihn heiraten willst?”, fragte Leandro mit einem breiten Grinsen.
“Quatschkopf.” Zelos boxte seinem Freund leicht gegen den Oberarm. “Nein! Er hat mich eingeladen! In die Karibik! Drei Wochen! Ey, ist das der Hammer? Das ist doch wohl nur geil, oder? Drei Wochen Sonne, Strand, Meer... okay, wahrscheinlich jeden Tag erschöpfenden Sex mit dem Typen, aber es gibt schlimmeres...”, schnatterte er und lief dabei aufgeregt im Zimmer auf und ab.
Irgendwann fiel ihm dann doch auf, dass Leandro schwieg.
“Ähm... alles okay?”, wollte er wissen und blieb vor ihm stehen. “Was ist los? Freust du dich gar nicht für mich?”
“Ja, doch”, beeilte Leandro sich zu sagen, und das war auch nicht gelogen. “Ich wünsche dir viel Spaß. Sowas passiert auch nur dir, was?” Er zwang sich zu einem Lächeln.
Sonne, Strand, Meer... das alles könnte er in Spanien auch haben...
Eine Hand legte sich um seine Taille und streichelte sanft über seinen Bauch. “Ich bin nicht für immer weg”, raunte eine tiefe Stimme in sein Ohr. “Drei Wochen, Leandro... das ist nicht die Welt...” Die Hand schob sich tiefer. “Ich verspreche, dass ich jeden Tag an dich denken werde...”
“Ja, wenn du nackt ins Wasser springst oder dir die Sonne auf den Schwanz scheinen lässt...” Leandro wusste, dass er ungerecht war, aber er konnte einfach nicht anders. Er war neidisch... und die Sehnsucht nach Spanien hatte ihn eiskalt erwischt.
Zelos kicherte. “Ich verspreche, dass ich meinen Schwanz immer gut eincremen werde. Kann ja nicht riskieren, dass mein Arbeitskapital einen Sonnenbrand bekommt... der wird sicher öfters mal gebraucht...” Während all der Worte hatte er Leandros Hose geöffnet und dessen Penis befreit. “Und immer, wenn der liebe Gerd es nicht geschafft hat, mich zu befriedigen - und glaub mir, das wird öfters vorkommen”, raunte er mit lasziv dunkler Stimme Leandro ins Ohr, “dann hole ich mir einen runter und denke dabei an dich.” Er biss unsanft in den Hals seines besten Freundes und massierte dessen Erektion fester. “Und wehe, du hast mich vergessen, wenn ich zurückkomme...”
Diese Gefahr bestand nicht im Geringsten, denn kaum war Zelos in den protzigen silbergrauen Mercedes seines großzügigen Kunden eingestiegen, als Ganymed Leandro schon eine Liste unter die Nase hielt.
“Was ist das?”, wollte der junge Prostituierte wissen.
“Dein Plan für die nächsten drei Tage.”
“Aber ich habe schon einen.”
“Jetzt gilt dieser!” Mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen, ließ Ganymed Leandro stehen. Und erst jetzt warf der einen genaueren Blick auf die Namen, die auf dem Papier standen.
Namen, Vorlieben und Erwartungen.
“Was? Äh... das kann nicht sein! Das ist nicht meine Liste. Die... die muss für Thanatos sein”, rief er aufgeregt, denn hinter fast jedem Namen standen Worte wie: Peitsche, Handfesseln, SM oder sogar Hure, was bedeutete, dass der Kunde darauf stand, den Prostituierten als genau das zu behandeln.
“Hey”, rief er Ganymed hinterher, “du weißt genau, dass ich das nicht mache! SM? Hallo? Nein, nein und nochmal nein!”
Ganymed warf ihm einen drohende Blick zu und in diesem Augenblick war Leandro klar, dass ihm keine leichten Wochen bevor standen.
Doch er nahm sich vor, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Ganymed jedoch ging sogar so weit, dass er den jungen Prostituierten schon am zweiten Tag in sein Zimmer beorderte, um ihn - wie er sagte - auf seine bevorstehenden Aufgaben vorzubereiten.
Danach wusste Leandro einmal mehr, dass es Dinge gab, auf die er sich niemals einlassen würde. Zum ersten Mal hatte er nach dem Sex richtige, heftige Schmerzen, und er war nicht sicher, ob er jemals wieder jemanden an sich heranlassen würde.
Als er nach langer Zeit wieder allein in seinem Bett lag, vermisste er Zelos um so mehr.
Der junge Prostituierte verbrachte fast seine gesamte freie Zeit mit Nick, der gerade Semesterferien und somit mehr Schichten im Café übernommen hatte, um Leandro sehen zu können. Das wusste der natürlich nicht - aber er war unsagbar froh, dass wenigstens Nick noch da war und gemeinsam verbrachten sie Leandros freie Abende in Bars oder Diskotheken. Das führte dazu, dass der junge Prostituierte tatsächlich das ein oder andere Mal einen Termin im Adonis beinahe verpasste. Das war keiner von ihm gewohnt und so kam es tatsächlich, dass Kunden, die unter Zeitdruck standen, sich anderen Prostituierten zuwandten.
Nach einer Woche wurde Leandro abermals zum Boss bestellt.
“Hyperion, Hyperion”, schüttelte der verständnislos mit dem Kopf, als sein junger Angestellter vor ihm stand, “was höre ich denn da für Sachen von dir?”
“Was denn?”
“Du kommst angetrunken nach Hause, du erscheinst zu spät bei den Kunden... Herr Fischer hat mich gerade gebeten, seinen Termin bei dir zu stornieren und auf Eos umzubuchen.”
“Was? Aber... warum?”
“Du hast ihn wohl letzte Woche zu lange warten lassen... worauf auch immer”, zwinkerte Claus Meyer. Er kramte in seinen Unterlagen. “Sieht so aus, als hättest du heute dann frei.”
“Aber... auf meiner Liste stehen noch zwei Kunden... später am Abend...” Leandro war wirklich entsetzt.
Was passierte hier?
“Die wurden auch umgelegt. Auf Wunsch der Kunden natürlich. Ganymed hat sich darum gekümmert.”
Ganymed.
Klar.
“Hyperion, jeder hat mal eine schlechte Phase. Vielleicht solltest du dir überlegen, ob du nicht etwas offener gegenüber den Kundenwünschen werden willst.”
Leandro kämpfte mit sich. Es war Zelos gewesen, der ein Auge darauf gehabt hatte, dass Ganymed Leandro nicht zu seinem Spielball machte, und er war es auch gewesen, der Claus gebeten hatte, die Kunden mit den expliziteren Wünschen auf die anderen Prostituierten zu verteilen - Leandro da raus zu lassen. Und so war es auch gewesen... so lange Zelos da war. Jetzt schien Ganymed die Tatsache, wenigstens für drei Wochen freies Spiel zu haben, komplett auszunutzen. Er hatte keine Zeit verloren, um den verhassten Konkurrenten (und Leandro hatte schon seit einiger Zeit mehr Stammkunden, als der alteingesessene Ganymed) zu schaden - vielleicht sogar loszuwerden.
Doch das würde Leandro sich nicht gefallen lassen!
Er straffte die Schultern und sah den Boss an. “Okay. Geben sie mir andere Kunden.”
“Sicher?”
“Ja. Kann ich dann... gehen?”
“Natürlich. Ganymed wird dir einen neuen Plan für die nächsten drei Tage bringen.”
Dass dieser Plan noch ‘extremer’ aussehen würde, als der davor, war Leandro im Vorhinein schon klar gewesen, und das Ergebnis war, dass er immer tiefer in ein Loch fiel, aus dem er allein nicht mehr heraus fand.
Es begann damit, dass Ganymed ihm noch am selben Tag mitteilte, dass es Änderungen auf dem Plan gebe, weil Eos krank war. Für Leandro bedeutete diese Neuerung: Pärchentermin.
“Was? Das... das habe ich noch nie gemacht”, versuchte er jetzt doch noch, sich raus zu reden, doch Ganymed lachte nur kalt.
“Deshalb werden wir das auch ‘üben’”, er betonte das letzte Wort absichtlich übertrieben lasziv. “Heute um Mitternacht bei mir.”
“Aber...”
“Spar dir dein Aber, Hyperion. Claus persönlich hat darauf bestanden. Das Adonis hat einen Ruf zu verlieren. Entweder du tauchst pünktlich dort auf, oder du bist den Job hier los - und glaub mir”, Ganymeds Lachen wurde gefährlich drohend, “es wird mir eine Freude sein, dich los zu werden.”
‘Fick dich’. Die Worte hatte Leandro sich gerade noch verkneifen können, denn ihm war klar, dass diese die zweite Möglichkeit waren, sich eine Fahrkarte direkt aus dem Adonis einzuhandeln.
Als er dann kurz vor Mitternacht Ganymeds Zimmer betrat, stockte ihm der Atem. Er hatte angenommen, dass Ganymed persönlich ihn einweisen würde, doch derjenige mit der Peitsche in der Hand, war niemand anderes, als Thanatos. Einziger Vorteil: Er wusste mit seinem Arbeitsgerät umzugehen und so verlief der Termin körperlich halbwegs schmerzfrei. Psychisch war es für Leandro die Hölle, denn Ganymed stand die ganze Zeit mit einem süffisanten Grinsen und vor der Brust verschränkten Armen in einer Ecke und begutachtete das Ganze.
“Okay, eins noch”, hielt Thanatos Leandro davon ab, aus dem Raum zu flüchten.
Er blieb stehen. “Was?”
“Der Doppel-Termin ist übermorgen. Bis dahin wirst du mich nur noch mit ‘Master’ oder ‘Sir’ ansprechen. Verstanden?”
Leandros Blick huschte von Thanatos zu Ganymed und spätestens dessen Ausdruck ließ ihn zustimmen. “Ja, natürlich.”
Der Termin verlief zur vollsten Zufriedenheit des Kunden. Und dies - und die Tatsache, dass einige Prostituierte in dieser Zeit ihre Verträge nicht verlängerten - nahm Ganymed zum Anlass, Leandro immer häufiger zu solchen Terminen einzuteilen.
Doch das zweite Mal sollte zunächst wieder mit den zwei Prostituierten stattfinden. Ganymed bat Leandro nur zwei Tage später erneut zu sich.
Diesmal war auch Eos dabei. Mit einem merkwürdig seligem und abwesenden Gesichtsausdruck lag der bereits mit gespreizten Beinen auf dem Bett und schien rundum zufrieden. Allem Anschein nach hatte er sich als Aufwärmprogramm zur Verfügung gestellt.
Doch Ganymed und sein Freund Thanatos waren bei Weitem noch nicht befriedigt.
“Hyperion. Wird Zeit, dass du auftauchst”, grinste Thanatos leicht schleppend und zog den jungen Prostituierten ins Zimmer.
Ganymed schloss die Tür und als er Leandro danach hart küsste und ihm die Zunge in den Mund schob, konnte dieser schmecken, dass er nicht nüchtern war.
Was er noch spürte, war, dass jemand - wahrscheinlich Thanatos - begann, ihn auszuziehen... und an seinem Schwanz herum zu spielen.
“Hör auf zu spielen, Gany”, sagte er plötzlich hart und zog Leandro zum Bett. “Raus da, Eos.”
Der Angesprochene schob sich mit taumelnden Bewegungen von der Matratze.
Leandro wurde hart darauf gestoßen und ehe er sich versah, hört er die Handschellen klicken.
Automatisch legten sich seine Finger um die kühlen Stangen des Metall-Bettgestells.
Was folgte, war eine Lektion, die ihre Wirkung nicht verfehlte: Leandro stöhnte nicht nur vor Lust.
Er hatte Schmerzen.
Heftige Schmerzen.
Beide Prostituierten ließen sich an dem Jüngeren aus und hielten es nicht für nötig, ihn entsprechend vorzubereiten.
Schnell fing Leandro an, ihre Vornamen freiwillig durch ‘Sir’ zu ersetzen.
Es sollte nur aufhören.
Warum, noch mal, tat er sich das an?
Die zweite Woche neigte sich zum Ende, als niemand anderes, als Claus persönlich namentlich auf Leandros Liste auftauchte.
“Ähm... Ga... ‘Sir’? Ist das hier... richtig?”, wandte er sich an den Freund des Bordell-Chefs.
“Hm? Oh, ja... keine Angst, du bist nicht mit ihm allein”, schnurrte er. “Ich werde euch... unterstützen.”
Und so war es dann wirklich. Mitte der dritten Woche - wenige Tage vor Zelos’ Rückkehr - stand dann wirklich und wahrhaftig der Bordell-Chef persönlich gemeinsam mit seinem Geliebten Ganymed bei Leandro im Kundenzimmer.
Nach einem tiefen Kuss der beiden, trat Claus ein wenig in den Hintergrund.
“Er gehört dir”, hörte Leandro nur noch, dann spürte er auch schon Ganymeds Finger auf seinem Körper. Der Prostituierte schien es zu genießen, von seinem Lover beim Sex beobachtet zu werden. Immer wieder wollte er wissen: ‘Gut so?’ und nach einem zufriedenen Brummen des Bosses, stieß er härter in den jungen Mann. “Wag es, abzuspritzen”, knurrte er immer wieder in Leandros Ohr, während er ihn immer schneller von hinten nahm.
Leandro fragte nicht, warum. Und als Ganymed mit einem tiefen Grollen gekommen war, bekam er auch ohne Frage die Antwort. Claus Meyer stand auf und strich mit den Fingerspitzen hauchzart über Leandros Brust. “Braver Junge”, murmelte er, während seine Finger tiefer flogen.
Leandro spürte, wie Ganymed aus ihm heraus rutschte und ihn fest an den Handgelenken packte. “Nicht bewegen”, befahl er und nutzte dann die selben Worte, wie vor Minuten noch sein Geliebter. “Jetzt gehört er dir, Baby.”
Und als hätte er auf diese Worte gewartet, grinste Claus dreckig, leckte über Leandros Brustwarzen und ging, den Oberkörper mit der Zunge bearbeitend, vor ihm in die Hocke, bis er dessen zuckende Erektion mit einer schnellen, unerwarteten Reaktion komplett verschlang.
Leandro schrie aufstöhnend auf.
Sofort zog sich Claus zurück.
“Na na na, wer wird denn plötzlich so ungeduldig werden?”, kam es hämisch von Claus, der jetzt seine Fingerkuppen über den zum Bersten gefüllten Penis gleiten ließ.
Leandros Atem ging abgehackt, und er war sicher, seinen Orgasmus nicht mehr lange aufhalten zu können.
Vor allem nicht, als Claus seine Hoden in die Hand nahm und abschätzend wog. “Wow... das nenne ich Körperbeherrschung. Willst du kommen, kleiner Hyperion?”
Bevor Leandro es aufhalten konnte, nickte er hektisch.
Hölle... wo war sein Selbstwertgefühl?
Claus und Ganymed lachten, doch der Ältere hatte ein Einsehen. Er leckte noch einmal der Länge nach über den pochenden Schwanz und verschlang ihn dann. Es dauerte nur zwei geschickte Zungenschläge, bis Leandro sich mit einem leisen Aufschrei im Mund seines Vorstehers entlud.
Nach diesem ungewöhnlichen Dreier wurde Leandro seltsamerweise in Ruhe gelassen. Es gab keine unliebsamen Kunden mehr und niemand erwähnte das, was vorgefallen war. Es war, als wäre derlei nie passiert.
Einzig Ganymed schaffte es immer wieder, Leandro mit geschickt einfließenden Bemerkungen, daran zu erinnern.
Als Zelos nach drei Wochen braungebrannt und extrem gut gelaunt zurück kam, war sein bester Freund genau das Gegenteil.
Sie sahen sich an diesem Tag erst irgendwann mitten in der Nacht, denn Leandros Liste für diesen Tag war lang gewesen. Trotzdem war Zelos noch wach, als sein Kollege ins Zimmer kam.
“Hey, Baby”, begrüßte er ihn leise, um ihn nicht zu erschrecken.
“Hey.” Leandro, der froh war, sich noch im Kundenzimmer umgezogen zu haben, setzte sich auf die Bettkante und sah seinen besten Freund an. “Hast du dich benommen?”
“Ja, ich war ein braver ‘Angestellter’. Es war fantastisch! Ich hatte ja ein wenig Angst, dass er mich irgendwo in seinem Hotelzimmer einschließt und immer dann ruft, wenn er mich - oder es - braucht, aber nix da. Ich hatte quasi ein eigenes kleines Appartement. Wir waren trotzdem fast rund um die Uhr zusammen: beim Essen, am Strand, in den Bars und auf Ausflügen. Ey, und das hat da kein Schwein interessiert. Die haben die ganze Zeit dieses freundliche Lächeln auf den Lippen gehabt. Die sind der Hammer. Ich glaube, die hätten auch noch gelächelt, wenn ich Gerd da vor versammelter Mannschaft einen geblasen hätte.” Er kicherte. “Warum haben wir das eigentlich nicht ausprobiert? Na, egal... wahrscheinlich muss er sich da irgendwann nochmal sehen lassen. Auf jedem Fall war es der Wahnsinn! Und hier? Alles okay?”
Leandro, der nur still zugehört hatte, nickte. “Ja, alles gut. Vor allem jetzt, wo du wieder hier bist.” Er rollte sich neben seinem besten Freund auf dem Bett zusammen und seufzte leise, als der seine Arme um ihn schloss.
“Ich bin auch froh, wieder hier zu sein. Du hast mir gefehlt”, flüsterte Zelos.
Es verging eine geschlagene Woche, bis Zelos endlich argwöhnisch wurde. Leandro war immer still gewesen, doch zur Zeit kam es ihm vor, dass er allein redete. Leandro hörte immer nur zu. Doch Zelos war nicht der Typ, der so etwas nicht ansprach - schon gar nicht, nachdem er Leandros Kundenliste gefunden hatte.
“Kannst du mir mal sagen, was zum Teufel, das hier ist?” Er knallte das Papier vor Leandro auf den Tisch. Sie waren allein in der Küche und das war gut so.
“Ein Plan.”
“Und wessen Plan, bitte schön? Und lüg mich nicht an, Leandro!”
“Meiner.”
“Deiner? DEINER?” Zeros nahm das Papier wieder auf und fing an, vorzulesen. “Mittwoch - 18:00 h - 30 Minuten - Walter Hermans - BlowJob - okay, 19:00 h - Samuel Person - 90 Minuten - Paddel/SM-nah - wie bitte? Oh, und hier: Donnerstag: Nacht - Andreas Bakker - BDSM - sag mal, Leandro haben sie dir ins Gehirn geschissen? Was soll der Scheiß? Seit wann lässt du dich darauf ein?”
“Das ist meine Sache, okay?” Leandro war aufgesprungen und hatte seinem besten Freund den Zettel aus der Hand gerissen.
Zelos kniff die Augen zusammen. “Da steckt Ganymed dahinter, richtig? Er hat irgendwie dafür gesorgt, dass du diese Kunden nicht ablehnst. Was hat er getan?”
“Gar nichts.”
“Gar nichts? Boah, Leandro, du kannst nicht lügen! Das steht sofort in Leuchtbuchstaben vor deiner Stirn, und das weißt du. Also... was ist passiert? Oh, und wenn du mich jetzt wieder mit irgendwelchen billigen Ausreden abspeist, dann sind wir die längste Zeit Freunde gewesen!”, drohte er.
Geschockt sah Leandro auf. “Was? Ich... okay...” Er atmete tief durch und berichtete von den Geschichten, die Ganymed Claus erzählt hatte und dass er viele Stammkunden verloren hatte. “Ich kann es mir nicht erlauben, weiter nur noch die Weichspül-Variante zu machen”, endete er, “sonst kann ich mich bald arbeitslos melden.”
Kopfschüttelnd hatte Zeros zugehört. “Hast du mir eigentlich irgendwann mal zugehört, wenn ich mit dir gesprochen habe? Welchen Teil von ‘Ganymed ist ein Arsch’ hast du nicht verstanden? Leandro”, er hockte sich vor den Stuhl seines besten Freundes, legte einen Finger unter dessen Kinn und zwang ihn so, ihn anzusehen, “du musst das nicht machen. Du bist verdammt gut. Und das wissen deine Kunden. Es sind welche abgesprungen? Scheiß drauf! Es kommen Neue! Und auch solche, die nicht auf diese beschissenen Fessel-Spielchen stehen! Versprich mir, dass du damit aufhörst. Bitte!”
Leandro sagte nichts.
Am Samstagabend hatte der Jüngere Dienst im Café und Zelos und Nick trafen sich, um auf das Schichtende ihres Freundes zu warten.
Während Leandro also an der Theke stand und Kaffee machte und Cocktails mixte, saßen Zelos und Nick an einem Tisch und steckten die Köpfe zusammen.
“Was ist hier passiert, während ich weg war?”, wollte Zelos von ihrem Freund wissen.
Der warf einen schnellen Blick zu Leandro, der mit einem Tablett voller Cocktails zum Nachbartisch ging. Erst, als er wieder hinter dem Tresen und damit außer Hörweite war, antwortete er leise. “Ich habe keine Ahnung. Wir haben uns eigentlich wirklich oft gesehen. Aber ich weiß nicht... ich hatte das Gefühl, dass er mit jedem Mal ruhiger wurde...”
Zelos beobachtete seinen besten Freund. Dann sah er auf die Uhr. “Hey, Leandro... du hast gleich Schluss, oder?”
“Ja... um zehn”, kam es vom Tresen zurück.
“Okay.” Zu gern hätte Zelos Nick davon erzählt, dass sich Leandro im Bordell plötzlich auf Dinge einließ, die er sonst nicht annahm. Doch noch respektierte er den Wunsch seines Freundes, ihren Job nicht zu erwähnen.
Zwei Stunden später jedoch war es damit vorbei.
Leandro hatte an allen Tischen abgerechnet und dann an seine Ablöse übergeben. Aufstöhnend ließ er sich auf den Stuhl am Tisch seiner Freunde fallen. “Boah, was für ein Auflauf heute...” Er griff nach dem Glas Cola, welches Zelos schon vorsorglich für ihn bestellt hatte. Dabei rutschte der Ärmel seines engen Shirts hoch und legte sein Handgelenk frei.
Nick sah es als erster. “Was hast du denn angestellt?”
Er legte seine Finger auf Leandros Hand, als dieser den Arm zurückziehen wollte.
Rote Striemen zogen sich um das schmale Gelenk.
“SAG MAL, SPINNST DU?”
Zelos’ Reaktion ließ nicht nur Nick zusammenzucken.
Leandro schluckte hart und zog den Kopf weg, als sein bester Freund aufstand und neben ihn trat, beinahe brutal seinen Kopf zur Seite schob und damit den blauen Fleck am Hals offenbarte.
“DU BIST SO EIN IDIOT, LEANDRO!”, rief er und funkelte ihn wütend an.
Nick, der bisher schweigend zwischen dem aufbrausenden Zelos und Leandro, der förmlich in sich zusammengefallen war, hin und her gesehen hatte - und immer noch die Hand des brünetten jungen Mannes hielt - , fragte jetzt leise: “Okay, klärt mich endlich auf. Was ist los?”
Er sah den flehenden Blick, den Leandro Zelos zuwarf und wandte sich jetzt direkt an den jungen Mann neben sich. “Hör mal... ich glaube, wir kennen uns jetzt lange genug. Ihr wisst so viel von mir. Meinst du nicht, dass ich es verdient habe, endlich die Wahrheit zu erfahren?”
Die Tränen in Leandros Augen rührten ihn und die zitternde Unterlippe hätte er liebend gern mit einem Kuss beruhigt, doch er wollte auch nicht locker lassen.
“Wenn du jetzt nicht redest, dann tu ich das!”, schnaubte Zelos.
Schweigen.
Zelos sah Nick an. “Komm mit raus. Ist kein Thema für’s Café.”
Nick stand auf und zupfte an Leandros Handgelenk. Doch der blieb hartnäckig sitzen, fixierte seinen besten Freund lediglich.
Ängstlich?
Bittend?
Wütend?
Seufzend legte Nick ihm eine Hand auf die Schulter und folgte Zelos raus auf den Gehsteig vor dem Café. Was er da erfuhr, ließ ihn ungläubig die Augen aufreißen.
Zelos und Leandro arbeiteten in einem Edel-Bordell?
Sie waren Prostituierte?
Sie verkauften ihre... Körper?
Nick hatte sich ja viel ausgemalt, doch darauf wäre er nie gekommen.
Zelos jedoch nickte. “Ja. Nick, tu mir einen Gefallen und verurteil Leandro nicht dafür!”
Sofort schüttelte der junge Mann mit dem Kopf. “Nein. Nein, wieso sollte ich? Nein, ich... und die Striemen? Der Fleck am Hals?”
“Fesseln, Halsband...”
“SM? Das... das ist brutal.”
“Ja, wenn es einseitig ist. Man, Nick, Leandro hat das bisher immer abgelehnt. Er hat... ist ja nicht so, dass wir die Kunden nicht... naja, aussuchen können. Hey, Leandro, warte...”, sprach Zelos seinen Freund an, der mit gesenktem Kopf das Café verlassen hatte und ohne die Jungs anzusehen, die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte.
Auch Nick bat: “Leandro, warte!”
Doch der junge Mann hörte sie nicht... oder tat zumindest so. Schweigend setzte er seinen Weg fort.
Leandro wusste nicht, was schlimmer war: Die Tatsache, dass Nick jetzt Bescheid wusste, oder der Vertrauensbruch seines besten Freundes - denn genau als das erachtete er es, dass Zelos ihrem Freund alles erzählt hatte.
Als Zelos kurz nach Leandro ihr Zimmer betrat, schlief dieser schon - oder tat jedenfalls so. Seufzend legte er sich dazu, umschlang den warmen Körper seines Freundes mit einem Arm und setzte leichte Küsse auf die sich hebende und senkende Schulter. Hatte er einen Fehler gemacht?
Es sah ganz so aus.
Leandro und Zelos sprachen in den nächsten Tagen kein einziges Wort miteinander.
Leandro ertrug die verhassten Kunden genau so schweigend, wie Ganymeds verachtende und gehässigen Sprüche, wenn der junge Prostituierte mit Trauermine durch die Gänge lief.
Im Café versuchte Leandro, seine Schichten so zu legen, dass er Nick nicht traf, doch das war nicht hundertprozentig möglich - schließlich konnte man sich da nicht nur nach den Sonderwünschen eines Einzelnen richten.
Zelos konnte tun und lassen, was er wollte... er kam nicht an seinen jungen Kollegen heran. Abgesehen davon, dass der plötzlich alles und jeden Kunden annahm - wodurch er bald genau so beschäftigt war, wie der erfahrenere Prostituierte -, schaffte er es irgendwie immer, ihm auch tagsüber aus dem Weg zu gehen.
Nachdem Leandro zum wiederholten Mal nur mit einem vorwurfsvollen Blick auf sein Angebot, miteinander zu reden, reagiert hatte, gab Zelos auf. Für seine Verhältnisse war er dem Jüngeren schon viel zu lange hinterher gelaufen. Zelos war ein Dickkopf, ja, aber das konnte er in beiden Richtungen sein. Und so schwieg er ebenfalls...
Knapp eine Woche nach dem unfreiwilligen ‘Outing’ starrte Leandro abermals auf die Liste, die Ganymed ihm soeben in die Hand gedrückt hatte.
“Ähm... Ganymed... also... der hier”, er deutete auf einen Namenszug.
“Der kommt morgen”, stellte der andere trocken fest.
“Ja, das sehe ich auch. Also... kannst du ihn nicht... umbuchen?”
“Umbuchen?” Ganymed lachte höhnisch. “Nein, liebster Hyperion, das kann ich nicht. Schon allein deswegen nicht, weil er ausdrücklich nach seinem Sonnenschein verlangt hat.” Sein Lächeln war eiskalt.
Leandro senkte den Blick. “Okay.”
Der folgende Tag war ein Samstag - der Typ erschien immer samstags.
Voller dunkler Vorahnung bereitete Leandro das Zimmer vor... legte Peitsche, Paddel und Handschellen auf das heute tiefschwarze Satinlaken. Vielleicht hatte der Typ ja inzwischen gelernt, sich halbwegs zu kontrollieren.
Hatte er nicht.
Mit dem Gesicht zur Wand - die Hände mit engen Handschellen an einer dafür vorgesehenen Verankerung gefesselt - ließ Leandro minutenlang alles über sich ergehen, was dem Mann an Brutalitäten einfiel. Beschimpfungen, Erniedrigungen, Schläge, Hiebe...
Doch irgendwann war eine Grenze erreicht. Als er spürte, wie der Typ ihm einen besonders großen Dildo einführen wollte, schoss sein Kopf so weit es ging herum. “Nein! Nein, aufhören!”, sagte er laut und deutlich.
Aber entweder hatte der Kerl die Grundsätze des ‘Adonis’ nicht gelesen oder es war ihm schlichtweg egal. Obwohl er hätte aufhören müssen, wenn er so unmissverständlich darum gebeten wurde, lachte er dem Prostituierten nur kalt ins Gesicht, stieß mit seinen Knien dessen Beine noch etwas weiter auseinander, so dass Leandro fast das Gleichgewicht verlor und rammte ihm das Sexspielzeug in den After.
Leandro schrie auf.
Und das so laut, dass er sicher war, dass das ganze Bordell ihn hören würde.
Ganz sicher würde jemand kommen.
Gleich.
Doch da waren keine hektischen ‘Hyperion, alles klar?”-Rufe oder aufgeregtes Fußgetrappel im Flur vor der Tür.
Da war nur... das Stöhnen des Kunden, der den Dildo nur zweimal in seinen Prostituierten gerammt und sich dann selbst in das geweitete Loch versenkt hatte. Mit schnellen, tiefen und harten Stößen nahm er ihn... benutzte ihn, wie er es seiner Meinung nach durfte, weil er dafür bezahlt hatte.
Und dann war es endlich vorbei.
Mit äußerster Kraftanstrengung, um dem Kunden nicht zu zeigen, wie es wirklich in ihm aussah, und mit einem - wie von ihm erwartet - scheuen Lächeln nahm er das Geld entgegen. Als der Kunde ihm mitteilte, dass er am nächsten Samstag zur gleichen Zeit wieder hier wäre, sagte er dies zum Glück mit dem Gesicht schon zur Tür, so dass er Leandros geschockt aufgerissene Augen nicht sehen konnte.
Gott sei Dank war dies Leandros letzter Kunde für diese Nacht gewesen und so ließ er sich schlussendlich völlig geschafft bäuchlings auf das Bett fallen. Sein Hintern und sein Rücken brannten wie Feuer. Und jetzt? So konnte er unmöglich in das Zimmer, welches er sich inzwischen seinem Freund teilte. Die Gefahr, dass Zelos ihn so sah, war zu groß.
Schnell duschte er im angrenzenden Bad und zog mit zusammengebissenen Zähnen und unter leisem Stöhnen eine Jogginghose und ein weites Shirt an. Dann betrat er stirnrunzelnd den Flur.
Das Ende vom Lied war, dass er die Nacht bei einem neuen Kollegen verbrachte, der erst seit wenigen Wochen hier und Leandro sehr sympathisch war. Dieser sorgte auch mittels eine speziellen Salbe dafür, dass sich Leandro am nächsten Tag überhaupt rühren... und abends sogar seiner Arbeit nachgehen konnte. Der Kunde, der ihn für diese Nacht gebucht hatte, liebte es, in Leandro seinen kleinen, femininen, unterwürfigen Lover zu sehen, den er verwöhnte. Das kam dem jungen Prostituierten nur Recht.
Was ihm nicht Recht war - und kurzzeitig total aus der Bahn warf -, war die Abmahnung, die er vom Bordell-Chef erhielt, weil er es versäumt hatte, das Kundenzimmer sauberzumachen, bevor er Feierabend gemacht hatte. Okay, er hatte recht, aber dafür eine Abmahnung auszusprechen war schon ungewöhnlich - das war sicher schon jedem passiert. Und wissen konnte er es doch nur von Ganymed.
Tag um Tag der neuen Woche verging. Leandro aß nicht viel, trank viel zu wenig und arbeitete neben den vielen Kunden noch Schicht um Schicht im Café, um sich abzulenken. Die Tatsache, dass Zelos so sehr auf Abstand ging, machte ihm mehr zu schaffen, als er zugeben wollte.
Und dann war er da.
Der Samstag.
Bevor Leandro am späten Abend erneut den widerwärtigen, brutalen Kunden empfangen sollte, hatte er wieder Schicht im Café. Mit zittrigen Fingern bediente er die Kaffeemaschine, schaffte es nur mit Ach und Krach und äußerster Konzentration, die Tabletts mit vollen, heilen Gläsern an die Tische zu bringen und spürte die ganze Zeit die Blicke von Zelos und Nick auf sich ruhen.
Mehr als einmal erkundigte der Dunkelhaarige sich nach dem Befinden seines Freundes.
Immer wieder beteuerte Leandro, dass es ihm gut ging.
Nicks hochgezogenen Augenbrauen zeigten deutlich, dass er ihm kein Wort glaubte. Aber dass der junge Mann sich in den letzten Tagen komplett zurückgezogen hatte, sagte ihm, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Und das war wohl augenscheinlich alles, was Nick für ihn tun konnte. Auch, wenn er ihn so viel lieber tröstend in den Arm genommen hätte. Immer wieder warf er fragende Blicke zu Zelos, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.
Am späten Nachmittag ließ ein lautes Klirren die beiden Jungs, die schon frei hatten und sich noch miteinander unterhielten, aufgeschreckt zusammenzucken. Leandro, dessen Schicht eigentlich zwei Stunden länger ging, hockte auf dem Boden und sammelte fahrig die Glasscherben der Cocktailgläser ein, die ihm vom Tablett gerutscht waren. Zwei junge Mädchen waren hilfsbereit aufgesprungen und halfen ihm.
Zelos sah die zitternden Hände, die Gefahr liefen, sich jeden Augenblick an den scharfen Kanten zu schneiden und - was ihn dann letztendlich komplett seine Sturheit vergessen ließ - die Tränen in den Augen seines besten Freundes. Mit Nick im Schlepptau lief er zu Leandro und zog ihn sanft hoch.
“Danke”, sagte er zu den Mädchen, die lächelnd weitermachten und sein Blick fiel auf einen weiteren Kollegen, der eigentlich mit ihnen Feierabend gemacht hatte. “Kannst du einspringen?”
Der junge Mann nickte.
Zitternd ließ Leandro sich von seinem besten Freund an einen Tisch in der Ecke des Cafés führen. Hier drückte Zelos ihn auf einen Stuhl, und Nick brachte ihm einen doppelten Espresso.
“So, und jetzt sagst du, was los ist. Und wenn du wieder behauptest, dass alles okay ist, dann werde ich echt wütend”, knurrte der Student.
Zelos nickte nur... und wartete...
Den Espresso ignorierend, kaute Leandro auf seiner Unterlippe, konnte die Tränen nicht aufhalten und lehnte sich dankbar an seinen besten Freund. “Ich... ich habe gleich... einen...”, ein verlegener Blick zu Nick, “...Kunden, der...” Er stockte.
“Was? Brutal ist? Schlägt er dich? Will er Dinge, die du nicht machst?” Zelos war schon zu lange im Geschäft und kannte Leandro inzwischen zu gut, um nicht sofort den Nagel auf dem Kopf zu treffen.
Als Leandro nickte, rief er: “Ja, Gottverdammt, dann sprich mit Claus.” Er zwang sich, leiser zu sprechen, als die ersten Gäste sich nach ihnen umdrehten. “Himmel, Leandro... du weißt, dass du das nicht machen musst.”
“Doch, ich... wenn ich es nicht mache, dann fliege ich. Und dann? Was soll ich dann machen, Zelos? Ich kann doch nirgends hin.”
Diese Probleme waren für Zelos allerdings erst einmal zweitrangig. “Was hat er getan? Also... der Kunde. Wer ist der Kerl? Kenne ich ihn? Und wieso sollte Claus dich rauswerfen, nur, weil du sagst, wozu du bereit bist und wozu nicht? Das hat er immer berücksichtigt und akzeptiert.” Er verstand es einfach nicht.
Nick hörte nur still zu. Leandro so verzweifelt zu sehen, tat weh. Sein Herz schrie ihn an, den jungen Mann in den Arm zu nehmen - ihm endlich zu gestehen, was er für ihn fühlte. Und sein Verstand war drauf und dran, sich dem klopfenden Organ anzuschließenden.
Leandro, der nichts von Nicks Gedanken ahnte, konzentrierte sich zunächst auf seinen besten Freund und bemühte sich, all dessen Fragen zu beantworten.
“Ganymed hat dem Boss erzählt, dass ich vergessen habe, ein Kundenzimmer aufzuräumen und... ich habe eine Abmahnung bekommen”, berichtete er leise.
Zelos riss die Augen auf. “Weil du vergessen hast, ein Zimmer zu putzen? Sag mal, hat der sie noch alle? Na gut, aber weiter: Wie heißt der Kunde und was verlangt er?”
“Boris Kuschner. Ende vierzig, blond, Halbglatze, Narbe am Kinn. Und... BDSM”, nuschelte Leandro und sah aus den Augenwinkeln, wie Nick leise aufkeuchend die Augenbrauen hochzog.
Zelos knurrte vernehmlich. “Kenne ich nicht.” Dann stand er auf und zog Leandro hoch. “Los, komm mit.”
Der junge Prostituierte war viel zu überrumpelt, um sich zu wehren.
Zelos deutete auch Nick an, ihnen zu folgen und er schob seinen jungen Freund rigoros in den kleinen Waschraum, der nur für die Angestellten des Cafés reserviert war. Wie erwartet, war er leer.
“Dreh dich um”, befahl er und sah Leandro hart an.
“Was?”
Auch Nick schien die Situation völlig falsch zu deuten und streckte schon den Arm aus, um Zelos aufzuhalten... wobei auch immer.
Der jedoch zerrte Leandros Shirt aus er Hose und gab den Blick frei auf noch nicht ganz verheilte Striemen auf dem sonst so makellosen Rücken.
Nick sog zischend die Luft ein und Leandro riss sich von Zelos los, zog sein Shirt runter und funkelte die Jungs störrisch an.
Zelos platzte der Kragen.
“WIE BLÖDE BIST DU EIGENTLICH? HABEN SIE DIR IRGENDWO EINE GEHIRNWÄSCHE VERPASST?” Er war entsetzt, und das machte ihn wütend. Immer wieder stieß er seinen jungen Freund gegen die Brust, worauf dieser rückwärts ging, bis das Waschbecken in seinem Rücken ihm jeden weiteren Schritt unmöglich machte.
Nick sah zwischen den Freunden hin und her. Er konnte Zelos ja verstehen, aber er konnte nicht mit ansehen, wie dieser Leandro behandelte.
“Lass ihn!”
Zelos hob die Augenbrauen. “Warum? Weil er ‘genug durchgemacht’ hat? Man, Nick, die Scheiße hat er sich doch selbst eingebrockt. Er hätte diese Kunden nie annehmen...”
“Ja, das habe ich verstanden. Ich bin nicht ganz doof, nur weil ich in anderen Kreisen großgeworden bin”, unterbrach Nick ihn hart.
“Das habe ich nicht behauptet!”, stellte Zelos sofort klar. “Er tut mir auch leid, und wenn er einen vernünftigen Grund gehabt hätte, dann würde ich es vielleicht verstehen, aber Ganymed...”
“... ist der Arsch in eurem Verein. Ja auch das habe ich kapiert”, knurrte Nick.
“Dann kapierst du hoffentlich auch, warum ich so sauer auf ihn bin...”
“Könntet ihr vielleicht mal aufhören, in der dritten Person von mir zu reden? Ich bin hier, verdammt.” Leandro stieß sich vom Waschbecken ab, schob sich zwischen den Jungs durch und verließ den Raum, ohne sie auch nur noch einmal anzusehen.
Er hatte für sich eine Entscheidung getroffen.
Er würde diesen Termin heute noch durchziehen, aber das würde der letzte mit diesem Kunden sein. Er würde mit Claus sprechen und ihm bei der Gelegenheit auch gleich sagen, dass er sich nicht die Mühe machen müsste, einen neuen Vertrag aufzusetzen.
Leandro hatte die Schnauze voll.
Er würde aufhören.
Endgültig.
Und dann?
Er wusste es noch nicht, aber es würde sich etwas finden. Er hatte genug Geld angespart, um sich eine kleine Wohnung zu suchen und in Ruhe zu entscheiden, was er tun würde... was er überhaupt tun wollte.
So tief in Gedanken betrat er das Bordell durch die Hintertür und wurde erst hier von der Angst erfasst. Nur noch dieses eine Mal, versuchte er sich selbst zu beruhigen, als er hoch in sein Zimmer ging, um sich umzuziehen.
Nick und Zelos hatten dem jungen Mann hinterher gesehen und waren jetzt ebenfalls auf dem Weg zum Adonis. Auch Zelos hatte Termine.
Nick hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und ließ den Kopf hängen. “Er hatte doch Recht. Wir haben über ihn geredet, als wäre er nicht da gewesen. Das war nicht fair. Er war ganz schön fertig...”
Zelos sah ihn lange an.
“Du bist verknallt in ihn.”
Nick zuckte nur mit den Schultern.
“Man, dann sag’s ihm.”
“Ach, und wie? ‘Hey, Leandro, ich glaube... nein, ich weiß, dass ich mich in dich verknallt habe, aber es ist okay, dass du hauptberuflich andere Typen fickst’. So vielleicht? Sorry, aber das wäre gelogen und meine Eltern haben mich so erzogen, dass lügen überhaupt nicht geht.”
“Wow... Mr Saubermann”, höhnte Zelos. “Na, dann leidet mal schön weiter.” Er betrat das Bordell durch die selbe Tür, die nur wenige Minuten vorher Leandro benutzt hatte und ging zunächst in die Bar, um Kollegen zu begrüßen.
Nick blieb unschlüssig stehen. Er sah an dem unscheinbaren Gebäude hoch. Hinter nur einem der oberen Fenster brannte Licht.
Ob Leandro dahinter war?
Was machte er gerade?
Er hatte gerade beschlossen, dass er sich nur kaputtmachte, wenn er hier weiter stehen und grübeln würde, als ein Mann auf das Haus zutrat, der haargenau auf Leandros Beschreibung passte.
Und Nicks Entscheidung fiel binnen einer Hundertstelsekunde. Er straffte die Schultern und trat auf den Mann zu.
“Entschuldigen sie bitte”, sprach er ihn an, “haben sie jetzt im Adonis einen Termin? Bei Hyperion?” Er sah keinen Grund, um den heißen Brei herum zu reden.
Der Mann schien erstaunt. Seine eh schon kleinen Augen wurden noch winziger, als er sie argwöhnisch zusammenkniff.
“Ich wüsste nicht, was sie das angeht.” Sein Blick glitt abfällig über Nicks Körper.
“Vielleicht nichts - vielleicht eine ganze Menge. Sie wissen schon, dass sie sich strafbar machen?!? Das, was sie vorhaben, grenzt hart am Menschenhandel. Haben sie einen Vertrag unterschrieben? Nein? Ja? Nun, die Junges da drin schon... und dadurch, dass sie sie benutzen, werden sie mit hineingezogen in ein dunkles Geschäft, dass sich - wie erwähnt - hart an der Grenze zu einem menschenunwürdigen Handeln bewegt.”
Nick war sicher, dass der Mann schon bei seinen ersten Worten gemerkt hatte, dass er sich das meiste nur aus den Fingern gesogen hatte.
Doch der Typ starrte den Jüngeren mit einem undefinierbaren Blick an... und drehte ab.
Erstaunt ob seines Erfolges, sah Nick ihm hinterher. Wow... wenn er später als Anwalt auch so gut sein würde, dann stände einer Karriere nichts im Wege.
Leandro hatte eine solche unbändige Angst vor dem Termin, dass er sich, nachdem er schon umgezogen war, noch einen Drink in der Bar abholen wollte. Dionysos, der heute am Tresen Dienst hatte, sah ihn skeptisch an. “Lass das bloß nicht Ganymed oder gar Claus merken”, knurrte er, als er Leandro den Wodka vor die Nase stellte. “Oh, oder deinen selbsternannten Beschützer Zelos. Der war übrigens eben hier und hat nach dir gefragt.”
Leandro kippte das durchsichtige Getränk runter, schüttelte sich kurz und sah dann seinen Kollegen an, der das Glas schnell wegräumte. “Was hat er gesagt?” Er hasste es, dass alle im Bordell es so sahen, wie Dionysos es gerade gesagt hatte. Leandro überlebte hier nur, weil er unter dem Schutz des großen Zelos stand.
“Nur, dass er dich sucht.”
Leandro zuckte die Schultern. “Na denn... ich habe jetzt einen Termin.”
Er stand auf und lief langsam auf die Suite zu, die ihm für den heutigen Abend zugeteilt worden war.
Er betrat den in dunklen Farben gehaltenen Raum und spürte, wie sich ein eiskalter Schauer seinen Weg von seinem Nacken bis über den Hintern bahnte. Irgend jemand - wer wohl? - hatte schon dafür gesorgt, dass alles bereitlag. Die in der Wand eingelassenen Handschellen glänzten und funkelten im fahlen Licht der Straßenlaterne, die durch das Fenster schien, als wollten sie den jungen Prostituierten höhnisch zuzwinkern. Mit einem energischen Ruck zog er die schwarzen Vorhänge zu. Die Dunkelheit umfing ihn und nahm ihm schier die Luft zum atmen.
Panisch nach Luft schnappend, stand er mitten im Raum. Er weigerte sich, sich auf das Bett zu setzen - nicht eher, als nötig.
Minuten vergingen.
Boris Kuschner war immer überpünktlich gewesen - hatte sogar schon in der Bar auf Leandro gewartet. Doch er würde den Teufel tun und ihn dort abholen. Lieber wartete er... und riskierte damit eine weitere Abmahnung. Na und? Er wollte eh aufhören...
Als nach knapp zwanzig Minuten die Tür aufgerissen wurde, war es nicht der erwartete Kunde, der dort stand, sondern... Ganymed.
Leandro konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht sofort deuten. War es Wut? Zufriedenheit? Vorfreude? Ja, aber worauf denn?
“Claus will dich sehen. Sofort!”
“Ich habe einen Termin”, wich Leandro aus.
“Genau um den geht’s. Na los. Geh schon!” Ganymed machte einen Schritt zur Seite, damit Leandro an ihm vorbei in den Flur treten konnte.
Zu seinem Entsetzen folgte Ganymed ihm mit einem - jetzt war Leandro sicher - zufriedenen und selbstgefälligen Grinsen.
“Komm rein.”
Die Stimme des Bordell-Chefs sorgte nicht gerade dafür, dass Leandro zuversichtlicher wurde. Was würde ihn erwarten? Warum war der Kunde nicht aufgetaucht? Oder hatte er - vergeblich - an der Bar gewartet?
War er - Leandro - wirklich deswegen hergebeten worden? Er fing noch einen gehässigen Blick von Ganymed ein, dann endlich drückte er die Türklinke hinunter und betrat - gefolgt von dem älteren Prostituierten, der sich in einer Ecke postierte - unsicheren Schrittes das Büro. Dass er immer noch seine ‘Arbeitskleidung’ trug, war ihm in diesem Augenblick nicht bewusst.
“Wie ich sehe, hast du immerhin auf ihn gewartet - oder zumindest so getan.”
Leandro riss die Augen auf. Er verstand nicht, wovon sein Boss redete.
Der schob ihm einen Zettel hin.
“Du kannst gehen.”
“Gehen? Aber... wohin?” Panik erfasste den jungen Mann. Ja, genau das hatte er vorgehabt, aber doch nicht ohne Planungen...
“Das ist mir, ehrlich gesagt, völlig egal, Leandro. Du hast gegen den Vertrag verstoßen, also bist du für unser Haus nicht mehr tragbar.”
“Ich habe was?” Shit... er hatte geredet, ja, aber woher konnte Claus Meyer das wissen?
“Hast du dich nicht gewundert, dass dein sonst so zuverlässiger Kunde nicht aufgetaucht ist?” Der Ältere lehnte sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück und fixiert Leandro kalt.
“Ja, doch schon...”
“Er hat angerufen.”
“Angerufen? Ähm... wenn er... keine Zeit hatte, dann... warum hat mir niemand Bescheid gesagt?” Leandro weigerte sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Sein Boss lachte nur distanziert.
“Weißt du, Kleiner, ich habe das Gerede hier im Haus immer für übertrieben gehalten. Das ‘Hyperion ist nur noch hier, weil Zelos ihn beschützt’, oder ‘Hyperion ist viel zu weich für den Job’. Aber ich denke, ich habe mich geirrt. Sie hatten Recht. Alle.” Er beugte sich vor und funkelte Leandro jetzt an. Plötzlich stand Wut in seinen Augen. Wut und Enttäuschung. “Der Kunde wurde vor unserem Haus bedroht, als er seinen Termin wahrnehmen wollte.”
“Vor...”
“Von einem jungen Mann. Etwas älter als du vielleicht, dunkle Haare, muskulös, gut aussehend. Kannst du dir vorstellen, um wen es sich dabei handelt, Leandro?” Er betonte den Namen auffällig und erst jetzt fiel dem jungen Prostituierten auf, dass Claus ihn eben schon einmal bei seinem richtigen Namen genannt hatte. Das war eindeutig.
Jetzt half nur noch die Wahrheit.
Vielleicht.
“Ich... ja, ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, ich... es tut mir leid...”
“Das kann gut sein, aber das macht es nicht ungeschehen und ändert nichts an meiner Entscheidung. Pack deine Sachen - die Klamotten, die du für die Arbeit bekommen hast, kannst du behalten - und verlasse das Haus, Leandro.” Claus Meyer lehnte sich zurück. “Viel Glück.”
Einige Sekunden starrte Leandro seinen - jetzt ehemaligen - Boss an, dann schloss er kurz die Augen und verließ mit hängenden Kopf und Schultern das Büro.
Und jetzt?
Wohin?
Zunächst mal in sein Zimmer. Er zog sich um und packte seine wenigen eigenen und die Klamotten vom Bordell in einen kleinen Koffer. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wer den Kunden bedroht hatte.
Nick.
Zelos kam nicht in Frage, weil er ja hier gewesen war und ebenfalls Kunden gehabt hatte. Niemals würde Zelos einen davon hängen lassen.
Aber warum sollte der junge Student das getan haben?
Egal. Er musste es gewesen sein, und Leandro würde ihn zur Rede stellen.
Froh, Zelos nicht begegnet zu sein, verließ er mit dem Gepäck das Bordell zum letzten Mal durch die Hintertür. Zum Glück wusste er, wo Nick wohnte. Sie waren einmal bei ihm gewesen.
Er lief bis zur nächsten Taxi-Station, welche nur wenige Meter entfernt war, und nannte dem Fahrer die Adresse.
Es war ihm völlig gleichgültig, dass es inzwischen beinahe Mitternacht war.
Nick hatte noch vor seinem Laptop gesessen und an einem Aufsatz für die Uni gearbeitet, als es schellte. Überrascht sah er auf die Uhr. Ungewöhnliche Zeit für einen Besucher. Er ging zur Tür und als er durch den Spion blickend Leandro erkannte, riss er sie auf.
“Leandro. Was... was ist passiert?”
“Hast du den Kunden bedroht? Was hast du ihm gesagt?”, kam Leandro ohne Umschweife auf den Punkt.
“Was? Also... ja, aber...” Erst jetzt fiel Nicks Blick auf den Koffer und den Rucksack. “Oh Scheiße... bist du etwa... deswegen gegangen?”
“Gegangen? GEGANGEN? Rausgeworfen haben sie mich!” Leandro war sicher, schon lange nicht mehr so wütend gewesen zu sein. “Schönen Dank auch, Nick Orkamp. Nur, weil du einen auf ‘Retter’ machen musstest, stehe ich auf der Straße!”
“Auf... oh man... komm erstmal rein.” Nick trat endlich zur Seite und gab den Weg in die Wohnung frei.
Leandro zögerte noch, doch... hatte er eine andere Wahl? Vorerst wohl nicht. Also ging er an seinem Freund vorbei - nicht, ohne ihm den Koffer gegen das Schienbein zu stoßen - und lehnte sich dann gegen die Garderobe, an der Nicks Jeansjacke hing.
Der nahm ihm das Gepäck aus den Händen, stellte sie ab und schob seinen Besucher ins Wohnzimmer, wo er ihn auf einen Sessel drückte. “Willst du was trinken?”
“Einen doppelten Whiskey”, knurrte Leandro.
Nick lachte leise. “Wow... ähm... sorry, aber damit kann ich nicht dienen. Tut’s auch Wodka?”
“Ein Wasser.”
“Kommt farblich hin.” Nick versuchte ganz klar, der angespannten Situation die Schärfe zu nehmen. Er verschwand kurz - Leandro hörte ihn nebenan mit Gläsern hantieren - und kam dann mit zwei kleinen Flaschen Wasser zurück, wovon er eine Leandro entgegen hielt.
“Wie konnten sie davon wissen? Ich meine... da war keine Menschenseele außer dieser Gesichtsbaracke und mir.”
Leandro schnaubte leise. “Schon mal was von Telefon gehört?”
“Oh.” Nick setzte sich auf die Couch.
Minutenlang herrschte Schweigen, welches jedoch langsam an Kälte verlor.
“Es tut mir leid. Ich hätte keinen Alleingang starten dürfen. Ich hätte... keine Ahnung...” Nick lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. “Weißt du... die Vorstellung, dass du da... vergiss es.”
“Dass ich was? Dinge mache, die ich nicht will? Geschlagen werde? Mit Kerlen ficke, die mir mehr als zuwider sind? Was, Nick?”
Die Antwort des Studenten war nur ein Nuscheln. “Alles.”
“War klar. Und genau deshalb”, Leandro erhob sich, “wollte ich nicht, dass du etwas von dem Job erfährst.” Er stellte die Wasserflasche ab und wandte sich zur Tür.
“Wo willst du hin?” Schnell war auch Nick aufgestanden und hinter seinen Freund getreten. “Bleib hier. Das Sofa ist gar nicht so unbequem, wie es vielleicht aussieht.”
Wie von allein glitt Leandros Blick zu der apricotfarbenen Couch. “Hast du eine Decke?”
“Klar.” Nicks unüberhörbare Erleichterung ließ Leandro lächeln.
Er sah zu, wie der Student abermals aus dem Zimmer lief und mit einer Steppdecke zurückkam, die mit einem blütenweißen Bezug bezogen war. Ein wenig verlegen lächelte Nick: “Meine Mutter war schon immer der Meinung, dass man auf Gäste, die über Nacht bleiben, vorbereitet sein muss. Weiß Zelos, dass du... da weg bist?”, wollte er wissen, während er die Decke auf dem Sofa ausbreitete.
Leandro schüttelte mit dem Kopf. “Nein. Noch nicht...”
“Du solltest es ihm sagen. Er wird sich Sorgen machen. Schick ihm wenigstens eine SMS. Sag ihm einfach, dass du hier bist - dann ist er für’s erste beruhigt.”
“Okay.”
Die Antwort auf die SMS war, dass Zelos am frühen Sonntagmorgen bei Nick vor der Tür stand.
Für den Studenten, der verschlafen die Tür öffnete, hatte er nur ein kurzes Kopfnicken, dann war er schon im Wohnzimmer, wo er den verschlafenen Leandro hoch und in seine Arme riss.
“Mensch, Baby... was machst du denn für Sachen?”
“Nur die”, grummelte Leandro schlaftrunken, “zu denen ich gezwungen bin.” Er genoss die so lange vermisste Nähe - vergrub sein Gesicht in die warme Halsbeuge und atmete tief den vertrauten Geruch ein.
Nick lehnte im Türrahmen und beobachtete seine Freunde. Noch immer war er extrem unsicher. Lange hatte er sie für ein Paar gehalten, bis Zelos dieses Missverständnis endlich aufgeklärt hatte. Doch es gab immer noch genug Situationen, in denen Nick skeptisch war. Und dies war ganz klar eine davon. Mit ansehen zu müssen, wie Zelos ganz selbstverständlich das tat, was er seit Tagen... oder Wochen schon so gern getan hätte, war hart.
Mit einem ‘ich mach uns Kaffee’, verzog er sich in die Küche.
Für die nächste Woche sagte Nick seine und Leandros Schichten im Café ab, und Leandro hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden. Die beiden Jungs lernten sich durch stundenlange Gespräche und das Zusammenleben besser und intensiver kennen. Erst jetzt erfuhr Nick von Leandros zerstrittenem Verhältnis zu seinem Vater in Spanien und wie er dazu gekommen war, den Job im Bordell anzunehmen. Näheres erzählte Leandro allerdings nie - und Nick fragte nicht nach. Er war der Meinung, dass Leandro dies dann tun würde, wenn er bereit dazu wäre. Dass es ihm heute noch schwerfiel, weil er sich schämte, war offensichtlich.
Und genau so war es. Es war Leandro von Tag zu Tag unangenehmer, was er getan hatte. Wie hatte es so weit kommen können? Wie naiv war er gewesen, diesen Vertrag im Adonis zu unterschreiben? Und wie viel Glück hatte er, da jetzt raus gekommen zu sein? Er war froh und Nick dankbar, dass der nicht drängender nachhakte, wenn es auf das Thema Job kam.
Eine gute Woche ging ins Land, und Leandro war in seiner Zukunftsplanung noch nicht einen einzigen Schritt weiter. Er wohnte immer noch bei Nick, hatte wieder angefangen, Schichten im Café zu übernehmen und traf sich regelmäßig auch mit Zelos. Sex hatte es für ihn seit seinem Verlassen des Bordells nicht gegeben. Eine ungewöhnlich lange Zeit.
Zehn Tage waren vergangen, als die drei Freunde im Café saßen. Alle hatten sie frei und wollten den Abend nutzen, um mal wieder gemeinsam etwas zu unternehmen.
Leandro allerdings hatte eine Überraschung für die anderen beiden.
“Ich muss euch etwas sagen. Ich fliege nach Spanien.”
Nick verschluckte sich an seinem Kaffee.
Zelos jedoch nickte grinsend. “Cool. Zu deiner Mutter?”
Leandro nickte und musterte Nick dabei, der mit der Serviette die Kaffeespuren von seinem Kinn wischte.
“Wann? Und... wann kommst du zurück?”, wollte er wissen, als er das Tuch zusammengeknüllt wieder auf den Tisch gelegt hatte.
“Samstag und... ich weiß es nicht. Ich habe erst einmal nur ein One-Way-Ticket gekauft.”
Jetzt war es Zelos, der hustete. “Du hast was?”
Leandros Blick ruhte weiter auf Nick, der ihn fassungslos anstarrte. “Aber... hast du deshalb gestern mit dem Scheiß angefangen, von wegen, dass du dafür bezahlen wolltest, dass du bei mir wohnen und essen konntest?”, fragte er schockiert nach.
Sofort schüttelte Leandro mit dem Kopf. “Nein! Nein, das war nicht der Grund. Ich habe dir gesagt, dass ich, nachdem mein Alter mich rausgeworfen hat, niemandem mehr zur Last falle...”
“...und ich habe dir gesagt, dass du das nicht tust!”, unterbrach Nick ihn.
Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten, schwieg Zelos - sah nur still zwischen den Jungs hin und her. Er wusste von Nicks Gefühlen, war aber nicht sicher, ob es Leandro genau so ging.
Das wusste der selber nicht. Er war viel zu durcheinander, um überhaupt darüber nachzudenken, dass es Menschen auf der Welt - sogar ganz in der Nähe - gab, denen er wichtig war.
Ohne Geld.
Ohne abartige Sex-Vorstellungen.
Einfach nur, weil er war, wie er war.
Einfach er.
Leandro.
Nick war in der Zwischenzeit aufgestanden. “Na denn...” Er war enttäuscht... traurig... wütend... “Wir sehen uns morgen früh bei mir. Viel Spaß euch beiden. Ich habe keinen Bock mehr auf weggehen...” Und ohne auf einen Kommentar seiner Freunde zu warten, legte er Geld auf den Tisch und war schneller verschwunden, als Leandro oder Zelos begreifen konnten, was geschehen war.
Lange sahen sie sich an. Leandro völlig überrumpelt - Zelos mit einem wissenden Blinzeln.
Als Leandro spät Nachts nach Hause kam - er hatte nur noch ewig mit Zelos gequatscht - nach weggehen hatte keinem von ihnen mehr der Sinn gestanden -, zog er im Flur die Schuhe aus, warf die Jacke über einen Garderobenhaken und vollführte im Bad eine Katzenwäsche. Im Wohnzimmer zog er sich bis auf Shorts und Shirt aus und ging dann in die Küche. Bevor er sich hinlegte, wollte er noch ein Glas Wasser trinken.
Er verzichtete darauf, das Licht einzuschalten... und bereute es in dem Moment, als er das laute Klirren hörte... und den Schmerz in seinem nackten rechten Fuß.
Er wollte nachsehen, wo er hineingetreten war, verlor das Gleichgewicht und stützte sich ab.
Direkt auf etwas spitzem... scharfem...
Der Schmerz, der durch seine Hand zog, raubte ihm den Atem.
Shit.
Keine fünf Sekunden später flackerte die Neonleuchte an der Decke auf und Nick stand im Türrahmen.
“Hölle, Leandro... was tust du da? Spinnst du?”
Erst jetzt nahm Leandro wahr, was passiert war. Er hatte ein Bierglas von der Arbeitsfläche gestoßen und war dann in die Scherben getreten... und hatte sich anschließend auf einer davon aufgestützt. Viele der klaren Glasscherben hatten sich schon rot gefärbt.
Bevor er dies jedoch bewusst wahrnahm, wurde er von Nick aus dem Zimmer gezerrt und förmlich ins Wohnzimmer getragen, wo der Student ihn auf das Sofa legte. Dann rannte er ins Bad und kam mit mehreren Handtüchern zurück. Ein feuchtes drückte er Leandro auf die Stirn, mit einem zweiten umwickelte er dessen Fuß, der inzwischen schon kaum noch blutete und mit dem dritten versuchte er, vorsichtig die Hand vom Blut zu befreien, um sich die Wunde ansehen zu können.
“Scheiße, Leandro, kannst du mir sagen, wozu das gut war? Willst du verrecken? Ist es das Wert?”
Leandro setzte sich geschockt auf.
“Was? Ver... spinnst du? Nein!”
“Na Gott sei Dank!”, atmete Nick erleichtert aus und betrachtete die Wunde - musste sich zusammenreißen, um nicht zärtlich über Leandros Arm zu streicheln. “Ist nicht so tief, wie vermutet. Ich hole Jod...” Er verschwand wieder im Bad und kam mit einem kleinen Fläschchen zurück. “Jetzt wirst du mal die Zähne zusammenbeißen müssen - das wird wehtun”, warnte er seinen Freund.
Als es zehn Minuten später endlich überstanden war, bestand Nick darauf, dass Leandro sich in sein Bett legte. Er ließ keine Widerrede zu, tauschte die Bettdecken aus und breitete die von Leandro fürsorglich über seinem Freund aus. “Brauchst du noch etwas? Willst du noch was trinken?”, fragte er und zuckte heftig zusammen, als er die Träne sah, die sich ihren Weg über Leandros Wange bahnte. “Shit. Hast du Schmerzen? Sollen wir vielleicht doch ins Krankenhaus fahren?”, wollte er sofort alarmiert wissen.
Doch der Jüngere schüttelte langsam mit dem Kopf. Er konnte allerdings auch nicht erklären, warum er jetzt weinte. Das war ihm peinlich. Er war so dermaßen ergriffen von der rührenden Hilfe, dass er die Träne einfach nicht hatte aufhalten können.
Nick akzeptiere die Stille wieder einmal, nickte nur und verschwand mit einem ‘Schlaf schön’ aus dem Zimmer, um sein Lager auf dem Sofa aufzuschlagen.
Zwei Tage lang umsorgte und umhegte Nick seinen Patienten. Er ließ Vorlesungen ausfallen und sagte Schichten im Café ab - immer in der Hoffnung, dass Leandro endlich merken würde, was er für ihn empfand... und vielleicht sogar seinen Entschluss, zurück nach Spanien zu gehen, verwarf.
Doch diese ganze Aufmerksamkeit brachte den jungen Mann nur noch mehr durcheinander. Immer noch hatte er ein schlechtes Gewissen, weil Nick die leckersten Dinge auffuhr (alle fertig aus dem Restaurant geholt - aber der Wille zählte) und ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas. Wieder und wieder bot er ihm Geld an, doch nur wenige Stunden später war es wieder in seinem Portemonnaie. Und wenn er auch nur den Anschein erweckte, aufstehen zu wollen, um in der Küche zu helfen oder nur das Fenster aufzumachen, war Nicks erhobener Zeigefinger da.
“Warum tust du das alles?”
Diese Frage stellte er bestimmt ein Dutzend Mal, doch Nick lächelte immer nur. So lange Leandro das fragen musste, war eine Antwort unwichtig.
Am Samstagmorgen standen beide mit gemischten Gefühlen auf.
In Nick war da immer noch der Funken Hoffnung, dass Leandro bleiben würde, doch der erlosch, als er aufstand und seinen Freund beim Packen im Bad vorfand.
“Du verschwindest also tatsächlich.”
Leandro, der den anderen nicht hatte kommen hören, zuckte zusammen. “Ja. Ich... ich denke, der Abstand wird mir gut tun...”
“Abstand? Abstand wovon?” Bitte sag nicht ‘von dir’.
“Vom Job. Ich muss versuchen, wieder einen freien Kopf zu bekommen.”
“Und das geht nur, wenn du alle Zelte hinter dir abbrichst? Ohne... Rückfahrschein?” Nick musterte seinen Freund enttäuscht.
Leandro schluckte... dann nickte er. “Ich denke ja.”
“Na denn... du hast meine Nummer. Ruf mich mal an... wenn du das zwischen Disco und Strand irgendwo einschieben kannst.”
Der Empfang in Spanien fiel überaus herzlich aus.
Catalina Sanchez hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Sohn persönlich vom Flughafen abzuholen. Luisa und Sofia hatte noch so viel quengeln können - dieses Wiedersehen wollte sie ganz allein mit ihrem Leandro genießen. So sehr hatte sie ihn vermisst. So viele Fragen hatte sie, denn Leandro war bei ihren seltenen Telefonaten nie besonders gesprächig gewesen.
Die überraschende Ankündigung, dass er nach Hause kommen würde, hatte sie gefreut - aber auch nachdenklich gemacht.
Was war mit seiner Ausbildung?
Gab es Probleme?
Finanziell?
Mit einem jungen Mann?
Fragen einer besorgten Mutter.
Und der erste Blick auf ihren Sohn gab ihr Recht. Er sah nicht gut aus. Niedergeschlagen.
Geschafft.
Traurig.
“Leandro!”, winkte sie und dann war er endlich da und sie konnte ihn wieder in ihre Arme schließen. “Oh Himmel... endlich.”
Leandro schluckte die Tränen der Rührung tapfer runter und erwiderte die feste Umarmung nicht weniger herzlich.
“Ja... endlich”, murmelte er. “Tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war.”
“Ist schon okay. Entschuldige dich nicht. Ich weiß ja, dass man so einen Flug nicht geschenkt bekommt.” Catalina trat einen Schritt zurück und fuhr mit dem Handrücken über die - in ihren Augen schmaler gewordene - Wange ihres geliebten Sohnes. “Du bist noch dünner geworden”, stellte sie leise fest. “Da werde ich dich wohl aufpäppeln müssen.”
Jetzt lachte Leandro leise. “Das hatte ich gehofft.”
Zu Hause angekommen, wurde Leandro zunächst von seinen Schwestern stürmisch empfangen. Die ältere Luisa begnügte sich mit einer herzlichen Umarmung und einem ‘schön, dass du hier bist’, während die kleine Sofia ihm mit Anlauf in die Arme sprang und so doll knuddelte, dass es aussah, als würde sie ihn so schnell nicht wieder loslassen.
“Endlich! Endlich, endlich, endlich bist du wieder da”, jubelte sie und verteilte süße ‘Kleine-Mädchen-Küsse’ überall auf Leandros Gesicht.
Und als ob diese Begrüßung nicht schon emotional genug gewesen wäre, war da auch noch sein Stiefvater.
Per Korber beließ es nicht bei einem Handschlag. Er zog seinen Stiefsohn ebenfalls in seine Arme und freute sich ganz offensichtlich und ehrlich darüber, ihn wieder in seinem Haus willkommen heißen zu können.
Doch der Höhepunkt dieser ‘Wir-freuen-uns-dass-du-wieder-da-bist’-Zeremonie, war die Torte, die Luisa vorsichtig balancierend aus dem Haus brachte und auf den Tisch stellte.
‘Bienvenidos a Casa’ stand darauf mit ziemlich ungelenken Buchstaben.
“Das habe ich geschrieben!”, erklärte Sofia stolz. “Bleibst du jetzt hier? Immer? Immer und immer und immer?”
Leandro schluckt schwer.
“Süße, dein Bruder muss doch seine Ausbildung in Deutschland noch fertigmachen. Sei nicht immer so ungeduldig”, mahnte Catalina ihre Jüngste sanft. Sie hatte längst gemerkt, dass nicht alles in Ordnung war, aber vor den Mädchen - und vielleicht auch vor ihrem Mann -, wollte sie ihren Sohn nicht darauf ansprechen.
Erst, als die Mädels sich verabschiedet hatten, weil sie noch bei Freunden verabredet waren, die einen fast noch größeren Vorzug bieten konnten, als die Rückkehr ihres Bruders - nämlich einen großen Pool - und Per Korber sich mit einer Zeitung unter dem Arm zu einer ausgiebigen Siesta ins kühle Wohnzimmer zurückgezogen hatte, musterte sie Leandro lange.
“Was ist los, Schatz?”
Sofort ging Leandro in die Defensive. “Nichts. Was soll los sein? Ich bin ein wenig... überwältigt...”
Das Lächeln seiner Mutter war entwaffnend. “Ja, das sehe ich. Aber das ist nicht alles. Du warst schon am Flughafen so... wortkarg. Was ist passiert? Hast du Probleme? Schulisch? Ausbildung? Liebeskummer?” Als Leandro immer wieder den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: “Finanziell? Brauchst du Geld?”
“Was? Nein!” Nein, ganz sicher nicht. “Nein, das... das klappt schon alles.”
“Gibt dir dein Vater also genug?”, hakte sie nach.
Schnell nickte Leandro. “Ja, alles okay.” Er schaffte es nicht, seiner Mutter in die Augen zu sehen. Er hasste es, sie anzulügen.
Und wieder war es Catalina, die aufhörte, Fragen zu stellen. Wieder verließ sie sich darauf, dass ihr Sohn zu ihr kommen würde, wenn es ihm schlecht ginge. Dass sie diesmal komplett falsch lag, konnte sie nicht ahnen.
Nach drei Tagen ausgedehntem Nichtstun - selbst seine Schwestern ließen ihn auf sanftem Befehl ihrer Mutter hin in Ruhe -, rief er zum ersten M al bei Zelos an.
“Hey, du Sonnengott”, begrüßte der seinen besten Freund lachend. “Alles klar bei dir? Schon was verbrannt?”
“Nein”, antwortete Leandro grinsend. Das war so typisch Zelos. “Immer alles schön geschützt. Und ja: Alles klar hier. Und bei euch?”
“Jupp, hier auch. Hey, soll ich dir mal was ganz Außergewöhnliches erzählen? Hier regnet’s!”
Jetzt musste Leandro laut lachen. “Echt? Ihr Ärmsten. Hier knallt die Sonne so heftig, dass einem wieder klar wird, warum irgendwer die Siesta erfunden hat.” Er streckte die Beine aus und wühlte mit den Zehen im heißen Sand. “Oh, und das Wasser ist so pisswarm, dass es nicht mehr als Abkühlung durchgeht.”
“Ooooh... das tut mir unendlich leid”, feixte Zelos. “Und da sagst du, dass wir die Ärmsten hier wären. Der Regen ist sehr erfrischend... aber mal vom Wetter abgesehen: Was ist hier vor deiner Abreise passiert?”, wechselte er - wie es seine Art war - abrupt das Thema.
“Was meinst du?”
“Nick.”
“Nick?”
“Ja, Nick. Das ist der Typ, der dich erst verteidigt und dann aufgenommen hat und jetzt total vermisst.”
Leandro seufzte leise. “Ich rufe ihn gleich an.”
“Ja, das ist das Mindeste. Also? Was ist passiert?”
Noch ein Seufzer, dann erzählte Leandro leise, was zwei Tage vor seiner Abreise in der Küche passiert war. Leise deshalb, weil das in die Jahre gekommene Ehepaar, das nur wenige Meter entfernt ihr Deckenlager im Sand aufgeschlagen hatte, schon lange Ohren bekam. Als die Frau ihn sogar mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, stand Leandro auf und lief langsam am Ufer entlang, während Zelos sich am anderen Ende aufregte.
“Du hast was? Geblutet wie ein abgestochenes Schwein?”
“Übertreib nicht...”
“Warum weiß ich nichts davon?”
“Weil ich Nick gebeten habe, dir nichts davon zu sagen. Du warst gerade... naja, im Stress...”
“Ach, und wann habe ich gesagt, dass ich keine Zeit für meinen besten Freund habe? Man, man, man, wann lernst du es eigentlich, Leandro? Kein Wunder übrigens, dass Nick sich Sorgen gemacht hat. Falls du es echt noch nicht bemerkt haben solltest, Leandro, der Typ ist absolut verknallt in dich!”
Leandro blieb abrupt stehen, ignorierte, dass die sanften Wellen ihm immer mehr den Sand unter den Füßen wegspülten. “Er ist... was?”
“Ja, verdammt. Er ist verknallt in dich. Er liebt dich. Er will dich... such dir was aus - kommt alles aufs Selbe raus.”
“Du spinnst.”
“Ich spinne? Na, wenn du meinst. Aber tu mir einen Gefallen: Frag ihn!”
“Ja... vielleicht...”
“Vielleicht?! Leandro, ich warne dich... frag...”
“Ich muss Schluss machen. Ich rufe dich wieder an”, unterbrach Leandro seinen Freund und legte auf.
Fast erwartete er, dass Zelos noch einmal anrufen und ihm heftigste Vorwürfe machen würde, doch das Handy blieb still.
Nachdenklich setzte der junge Mann seinen Weg durch den feuchten Sand fort. Nick war in ihn verliebt?
Seit wann?
Und vor allem... warum?
Leandro konnte sich wirklich nicht vorstellen, warum ihm jemand nahe sein wollte - und schon gar nicht jemand, der wusste, was er getan hatte... was er gewesen war...
Fast eine Woche ließ Leandro ins Land gehen, bis er sich endlich dazu durchringen konnte, bei Nick anzurufen.
“Hey”, meldete dieser sich dezent kühl.
“Hey, ich... also... sorry, dass ich mich erst jetzt melde. Ich musste über so einiges... nachdenken...”
“Und? Bist du zu einem Entschluss gekommen?”, wollte Nick wissen und die nächste Frage schloss sich gleich an. “Kommst du zurück? Oder bleibst du da?”
“Ich weiß es noch nicht. Ich...” Leandro setzte sich auf den Rand eines Ruderbootes, welches am Strand lag und sah raus auf das Meer, beobachtete zwei Segelboote am Horizont und sucht gleichzeitig nach den richtigen Worten. “Ich weiß gerade nicht, was ich tun soll. “
“Tja, dabei kann ich dir nicht helfen, oder?”
“Vielleicht doch. Nick... wenn ich zurückkomme... was sind wir dann?” Nervös kaute Leandro auf seiner Unterlippe. Diesen Satz hatte er quasi vor dem Spiegel gelernt. Deutlicher konnte er einfach nicht werden. Selbst diese Worte fielen ihm schon unendlich schwer.
“Wie meinst du das?”
“Naja... also... Zelos hat gesagt, dass...”
“Oh, war ja klar, dass die kleine Labertasche gequatscht hat.”
Nicks Stimme war plötzlich distanziert und für Leandro war es ein Zeichen, dass es - wenn es vielleicht mal so gewesen war - jetzt nicht mehr der Fall war, dass Nick in ihn verliebt war. Trotzdem musste er es wissen.
“Warst du... in mich... verliebt?”
Stille
Auf beiden Seiten.
Plötzlich ein Räuspern von Nicks Seite aus. “Wieso ‘warst’?”
Leandros Herz machte einen ungläubigen Hüpfer.
Er konnte nicht sprechen.
“Leandro... komm nach Hause, dann zeige ich dir, was ich für dich fühle, okay? Du kannst wieder hier bei mir wohnen - das ist kein Problem.”
“Ist das dein Ernst?” Leandros Stimme war leise und kaum mehr als ein Krächzen - und vor allem: zu entscheiden, worauf die Frage sich bezog, überließ er Nick.
Dessen Antwort war kurz. “Ja.”
Leandro spürte, wie sein Atem schneller ging und sein Herz so schnell und laut klopfte, dass er sicher war, dass Nick es durch das Telefon müsste hören können.
“Okay, ich... ich werde das mit meiner Familie besprechen und dann... melde ich mich.”
“Aber lass nicht wieder zwei Wochen vergehen”, mahnte Nick und das Glück, das er in diesem Augenblick empfand, war deutlich zu hören.
“Nein, versprochen.”
In der Tat vergingen ganze achtundvierzig Stunden, dann konnte Leandro Nick bereits die exakten Zeiten seiner Ankunft zurück in Berlin mitteilen. Es war ihm nicht leichtgefallen, seine Mutter anzulügen (er hatte behauptet, er müsse zurück zu seiner Ausbildung - drei Wochen Urlaub waren eine Zeitspanne, die ihm sinnig erschienen) und die traurigen Augen seiner Schwestern machten den Abschied auch nicht einfacher. Vor allem Sofia war sehr enttäuscht.
“Ich wollte doch noch so viel mit dir unternehmen”, jammerte sie. “Ich wollte dir zeigen, wie gut ich inzwischen schwimmen kann. Ich habe gar keine Angst mehr vor dem Wasser und du hast mich noch gar nicht tanzen sehen.”
“Tanzen?”, hatte er überrascht gefragt und erst jetzt erfahren, dass die Fünfjährige seit einem halben Jahr Ballett-Unterricht bekam und eine der Besten in ihrer Klasse war. Da war ihm wieder klar geworden, wie viel er vom Familienleben verpasst hatte. Und doch...
“Ich muss zurück, Süße”, hatte er bedauert und das Mädchen fest in den Arm genommen. “Ich muss”, ein Schlucken, “arbeiten.”
“Aber dann kommst du, wenn ich meinen nächsten Auftritt habe”, hatte sie mit kindlichem Schmollmund bestimmt.
“Ich versuch’s”, hatte Leandro abgewiegelt. Er hatte der Kleinen nichts versprechen wollen, was er wohl nicht würde halten können.
Während des Fluges zurück nach Berlin saß Leandro auf seinem Fensterplatz und starrte auf die weißen Wolken, die so verlockend einem weichen Federbett ähnelten. Nur gelegentlich gaben sie den Blick frei auf den Ozean unter ihnen oder Landschaften, deren Einzelheiten und Schönheiten man von hier oben nicht erkennen konnte. Und über allem lag ein strahlendbauer Himmel. Kaum denkbar, dass es in Berlin schon wieder regnen sollte.
Was tat er hier?
Flog er tatsächlich zurück?
Zurück in ein Leben, das er gehasst hatte?
Nein, Stopp!
Nicht alles in Berlin hatte er gehasst!
Eigentlich war es nur der Job gewesen, in den er hineingerutscht war. Und selbst dieser hatte etwas Gutes hervorgezaubert.
Zelos!
Seinen besten Freund.
Erst hier oben - hoch in der Luft - wurde Leandro klar, dass es nicht nur Nick war, der ihn zurück nach Berlin zog.
Da war auch Zelos... und die Stadt an sich, die ihm so viel Toleranz entgegen gebracht hatte, wie er es in Spanien nie erlebt hatte.
Und was sollte er dort tun? Er konnte nicht wieder auf Nicks Kosten leben.
Stirnrunzelnd dachte Leandro nach.
Doch der Gedanke an Nick ließ ihn auch lächeln.
Warum hatte er nie bemerkt, dass der Student mehr für ihn empfand?
Warum war er so blind gewesen?
Hatte der Job im Adonis ihn so sehr abgestumpft, dass er die Gefühle anderer nicht mehr lesen konnte?
Darin war er immer so gut gewesen.
Viel zu schnell kündigte die Kontrolllampe über seinem Sitz die bevorstehende Landung an. Leandros Gurt war noch verschlossen, deshalb musste er lediglich den Tisch am Sitz des Vordermannes hochklappen... und warten.
Hölle.
Er war tierisch aufgeregt.
Geduldig und unruhig gleichzeitig ließ er die lästige Passkontrolle über sich ergehen und wartete anschließend am Gepäckband auf seinen Koffer. Er erlaubte sich keinen Blick auf die große Glasfront, hinter der Angehörige der Passagiere schon auf ihre Liebsten warteten.
Würde jemand hier sein?
Nick?
Zelos?
Beide wussten, dass er hier und jetzt ankommen würde.
Und sie waren beide da!
Während Nick sich wie gewohnt dezent lächelnd im Hintergrund hielt, war es Zelos, der seinem besten Freund beinahe auf den Arm sprang, als dieser endlich den Ankunftsbereich betrat.
“Scheiße, endlich! Lass mich nicht noch einmal so lange mit diesem Typen da hinten allein”, schimpfte er nicht ganz ernsthaft und deutete auf Nick. “Der hat mich wahnsinnig gemacht mit seinen Fragen, ob ich schon was von dir gehört hätte. Also, ich hatte ja angenommen, dass man als Jura-Student sehr wohl in der Lage ist, ein Mobiltelefon zu bedienen.”
Leandro lachte verlegen und suchte dann den Blick von Nick, der amüsiert die Augen verdrehte.
Zelos folgte dem Blick seines besten Freundes, grinste und ließ ihn endlich los. “Na denn... ich werde mal... Händewaschen gehen...”, zwinkerte er und raunte nur für Leandro hörbar: “Versau’s nicht - der ist heiß.”
Leandro sah ihm kopfschüttelnd hinterher, als Zelos lässig in Richtung Ausgang schlenderte und zuckte heftig zusammen, als plötzlich eine Stimme nah vor ihm sagte: “Willkommen zurück in Berlin.”
Nick hatte die Distanz nicht mehr ausgehalten und war dicht vor den Jüngeren getreten - sah ihm jetzt tief in die Augen.
“Ich bin froh, dass du wieder hier bist.”
“Ja... ich auch!”
Gefühlte Stunden standen sie da und sahen sich nur an.
Aber wenn Leandro gedacht - oder gehofft? - hatte, dass Nick ihn gleich küssen würde, dann hatte er sich getäuscht.
Der Student hob lediglich eine Hand, legte sie an Leandros Wange und strich mit dem Daumen sanft über die vollen Lippen. “Lass uns gehen”, flüsterte er und griff dann nach Leandros Koffer.
Zelos wartete auf sie an Nicks Wagen.
Er kletterte zu seinem Freund auf den Rücksitz und ließ sich erzählen, wie es bei dessen Familie gewesen war.
Während Leandro halbwegs bereitwillig die Fragen beantwortete, suchte er im Rückspiegel immer wieder den Augenkontakt mit Nick, der sich nur schwer auf den Straßenverkehr konzentrieren konnte.
Ohne zu fragen, ob das so okay war, setzte er Zelos vor dessen Haustür ab, wartete, bis Leandro auf den Beifahrersitz Platz genommen hatte und fuhr dann zu seiner Wohnung.
Was folgte, waren erst einmal zwei Wochen, in denen die beiden Jungs gemeinsam versuchten, Leandros Leben in geordnete Bahnen zu lenken.
Dazu gehörte in erster Linie ein Job - den der junge Mann schon nach kurzer Zeit mit Zelos’ Hilfe bei einer Organisation fand, die sich um Straßenkids kümmerte - und eine eigene Wohnung. Dieser Punkt wurde jedoch von niemand anderem als Nick regelrecht boykottiert. Vierzehn Tage lang behauptete er überzeugend, kein Glück bei seinen Nachfragen an der Universität oder bei Freunden gehabt zu haben. Und zu Leandros Enttäuschung wurde seine eigene Suche auch nicht mit Erfolg gekrönt.
“Dann bleib einfach bei mir!”
Die drei Freunde saßen mal wieder im Café (wenigstens hier hatte Leandro schnell wieder seinen alten Nebenjob bekommen, so dass er nicht vierundzwanzig Stunden lang am Tag untätig herumsitzen musste) und wieder einmal hatte Nick keine guten Nachrichten. Aber immerhin eine Lösung - und von der war er mehr als überzeugt.
“Ich kann nicht noch länger bei dir wohnen. Du lässt mich ja nichts dazu geben - also, zu der Miete. Wenigstens darf ich gelegentlich mal einkaufen”, grummelte Leandro.
“Okay, wenn ich sage, dass du ein Drittel der Miete zahlen darfst... ziehst du dann endgültig bei mir ein?”
“Die Hälfte!”
“Man, du bist schlimmer, als ein Kredithai”, knurrte Nick, lachte jedoch gleichzeitig. “Okay!” Er streckte Leandro die Hand entgegen. “Ab sofort erwarte ich pünktlichen Zahlungseingang.” Er zwinkerte sichtlich erleichtert.
Leandro ergriff die Hand und schüttelte sie leicht. “Bekommst du.”
“Er könnte ja auch in Naturalien bezahlen, wenn’s finanziell mal knapp werden sollte”, mischte Zelos sich ein und duckte sich, als Leandro ihm scherzhaft mit der flachen Hand an den Hinterkopf schlug.
Später an diesem Abend, als Nick die Tür hinter Leandro und sich schloss, sah er den Jüngeren mit einem extrem zufriedenen Ausdruck in den Augen an.
“Hat lange genug gedauert.”
“Was?”, fragte Leandro leise.
“Dass du... merkst, wo du hingehörst.” Nick schien zu hören, wie besitzergreifend sich seine Worte angehört hatten und schnell lenkte er ein: “Also... du weißt schon...”
“Was weiß ich?”
Noch immer standen sie in dem kleinen Flur, doch Nick ging jetzt ins Wohnzimmer.
“Hast du es echt nicht gemerkt?”, wollte er wissen, während er sich auf das Sofa fallen ließ.
“Was denn?” Leandro war ihm gefolgt und setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel.
“Vom ersten Augenblick an - damals im Café, als diese dämliche Zapfanlage rumgezickt hat -, da hast du mich... verzaubert. Du hattest so etwas... verdammt erotisches und gleichzeitig warst du so wahnsinnig schüchtern. Ich habe lange gedacht, du und Zelos, ihr wärt ein Paar.”
“Nein. Waren wir nie”, murmelte Leandro und sah auf seine Finger.
Nick atmete tief durch. Er war zwar bei Weitem nicht so schüchtern, wie Leandro, aber so offen über seine Gefühle zu reden, war auch für ihn völlig neu.
“Ja, das hat Zelos auch gesagt. Aber ihr habt trotzdem immer wieder mal miteinander geschlafen.”
“Ja, aber nur weil...” ‘Ich seine Nähe gebraucht habe’, beendete Leandro den Satz gedanklich und suchte gleichzeitig nach einer glaubhaften Erklärung, die er laut aussprechen konnte.
Doch Nick schien keine hören zu wollen.
“Ist ja auch vollkommen okay. Nur... kannst du damit aufhören, wenn du... naja... in einer festen Beziehung?”
Leandro verschluckte sich an seiner eigenen Spucke. “Feste... Beziehung?”
“Ja.” Nick hatte nicht vor, Leandro die Antwort auf die Zunge zu legen.
Doch das brauchte er nicht. Die hatte Leandro auch so parat.
“Natürlich kann ich das. Ich bin nicht... von Zelos abhängig. Auch, wenn viele das glauben.” Endlich hob er den Kopf und begegnete dem Blick seines Gegenübers. “Was... was willst du mir mit dieser ganzen... Konversation sagen?”
Nick seufzte leise, dann stand er auf und hockte sich neben den Sessel, auf dem Leandro saß. “Ist es wirklich so, wie Zelos sagt? Kannst du dir nicht vorstellen, dass sich jemand... in dich verliebt?” Er hatte wieder eine Hand an die Wange des anderen gelegt. “Leandro... ich habe mich in dem Moment in dich verliebt, als du Zelos hinterhergesehen hast, als dieser mich vor einer Bierdusche bewahrt hat.”
“Ver... verliebt?”
“Ja, verliebt. Leandro... was ist mit dir?”
Ja, was eigentlich?
Leandro dachte nach, tauchte ein in diese warmen braunen Augen, die ihn fragend ansahen und hörte ganz tief in sich hinein. Diese wohlige Wärme, die sich in seinem Bauch ausbreitete, wie sie es immer tat, wenn Nick bei ihm war, hätte ihm doch schon viel eher sagen müssen, wie es um ihn bestellt war.
“Du hast mir gefehlt.”
Nick sah ihn nur weiter an. Das reichte ihm nicht - aber er würde ihn auch nicht drängen.
“Ich hab... ich hab dich vermisst... so sehr...”
“Küss mich, Leandro.” Diese Worte waren das erste Zugeständnis, das Nick sich machte. Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen, seit er zum ersten Mal in diese für ihn wunderschönen blauen Augen hatte sehen können, seit es ihn so völlig unerwartet von einer Sekunden zur anderen so tief getroffen hatte... seitdem hatte er sich zurückgehalten. Anfangs, weil er wirklich davon ausgegangen war, dass Leandro und Zelos ein Paar waren, und dann, weil er gespürt hatte, dass Leandro etwas quälte... etwas, das ihn daran hinderte, sich auf eine Liebe einzulassen.
Er hatte versucht, seinen Drang, den anderen zu berühren und ihm Nahe zu sein, zurückzustellen. Das war er nur in seinen Gedanken gewesen.
Vor allem Nachts.
Leandro zögerte nicht. Er beugte sich zu dem anderen runter und unendlich sanft flogen seine Lippen über die des Studenten.
Beide schlossen sie beinahe synchron die Augen und zu Nicks Freude war es Leandro, der leise seufzte.
Er erhob sich langsam, und zog Leandro - ohne den Kuss zu unterbrechen - mit hoch.
Stolpernd und küssend erreichten sie das einzige Schlafzimmer der Wohnung, und Nick zog Leandro mit sich auf das breite Bett. “Ich will mehr von dir”, wisperte er. “Alles... ich will dich endlich spüren...”
Hände glitten unter Shirts, massierten Hintern und glitten immer wieder sanft über die Gesichter des Partners, als wären sie des Sehens nicht mächtig und müssten sich tastend jede einzelne Kontur mit den Fingerspitzen einprägen.
Unendlich langsam verabschiedete sich Kleidungsstück für Kleidungsstück und landete auf einem großen Haufen neben dem Bett. Und nur selten unterbrachen sie ihren Blickkontakt. Erst, als Nick sich auf dem unter ihm liegenden - jetzt vollständig nackten - Leandro tiefer küsste, ließ es sich nicht vermeiden.
Doch Nicks Lippen sorgten dafür, dass sie keinen Funken von diesem Gefühl tiefer Verbundenheit einbüßten. Er ließ sich unendlich viel Zeit, verwöhnte seinen Freund mit Lippen, Zunge und Händen und näherte sich langsam aber sicher seinem Ziel.
Leandro hatte irgendwann die Hände in das weiße Laken gekrallt. Krampfhaft versuchte er, die Bilder aus dem Adonis zu verdrängen, die sich immer wieder ungewollt vor sein Inneres Auge schoben. So lange er Nick angesehen hatte, war alles gut gewesen, doch jetzt ließen sie sich kaum noch aufhalten. Bevor Nick seinen vor Vorfreude zuckenden Penis erreichen konnte, zog er ihn noch einmal hoch und küsste ihn tief.
Nur zu gern tauchte Nick in diesen vernichtenden Kuss ein und ließ seine Hand seinen Lippen den Vortritt.
Leandro keuchte in den Kuss hinein, als er die warmen Finger spürte.
Himmel.
Das musste der Himmel sein.
Denn das, was an Gefühlen durch seinen Körper schoss, hatte er noch niemals empfunden.
Nick löste den Kuss lächelnd und rutschte wieder tiefer.
Kurz war Leandro versucht, ihn aufzuhalten. Das war doch bisher eigentlich seine Aufgabe gewesen. Er hatte doch...
Weiter kam er in seinen Überlegungen nicht, denn Nick hatte angefangen, seinen Schwanz mit den Lippen zu verwöhnen, ihn ganz tief in seinem Mund aufgenommen.
Leandro gab auf... und sich dem anderen damit komplett hin.
Und als er kam, tat er das nicht still, wie in den letzten Monaten zuvor, sondern mit Nicks Namen auf seinen Lippen.
Zufrieden lächelnd und mit den letzten Spermaspuren in den Mundwinkeln, robbte Nick wieder hoch und leckte über Leandros leicht zitternde Unterlippe. “Du schmeckst so wahnsinnig gut, wie du aussiehst”, raunte er. “Versuch’s....”
Leandros Zunge schnellte vor und fuhr über die nassen Mundwinkel.
Gleichzeitig drückte Nick sein Becken vor und ließ ihn spüren, wie erregt er noch war... was er noch wollte...
Sofort verfiel Leandro wieder in die Rolle, die er so viele Monate lang eingenommen hatte. Er ließ sich zurück ins Kissen fallen und spreizte die Beine weit und einladend.
Nick, der nicht wusste, dass Leandro im Bordell fast ausnahmslos diese Position bei Kunden eingenommen hatte, lächelte unbefangen und fischte eine Tube Gleitgel vom Nachttisch.
Er richtete sich ein wenig auf und ohne Leandro aus dem engen Blickkontakt zu entlassen, verteilte er etwas von dem Hilfsmittel auf seinem ungeduldig wartenden Penis und auch vor das rosige Loch, das leicht zuckte. Die Tube landete planlos auf dem Klamottenberg und die langen Finger des Studenten massierten den Eingang... brachten Leandro damit erneut zum Stöhnen.
Dann hielt Nick es nicht mehr aus. Er brachte sich in Position, drückte mit seiner Penisspitze gegen das Loch und genoss den Moment, als sie den festen Muskelring durchbrach.
“Mach die Augen auf”, bat er leise, denn Leandro hielt diese geschlossen. “Sieh mich an.”
Sofort gehorchte der Jüngere. Und der Anblick seines Geliebten sorgte augenblicklich dafür, dass die unangenehmen Erinnerungen, die ihn überwältigt hatten, verschwanden. In stiller Aufforderung zog er die Beine noch ein wenig weiter an und schob sein Becken der eindringenden Erektion entgegen.
Unendlich langsam und ruhig blieben Nicks Bewegungen. Er genoss jede noch so kleine Berührung... hätte ewig so weitermachen können. Leandro zu sehen, wie er sich immer mehr fallen ließ... wie auch er genoss... war noch viel schöner, als er sich in seinem wildesten Träumen hatte vorstellen können.
Als sie später komplett erledigt aber auch unendlich befriedigt und glücklich nebeneinander lagen - zu den Klamotten und der Gleitgel-Tube hatten sich noch diverse Kleenex-Tücher gesellt -, fanden sich ihre Blicke, wie auch ihre Hände ganz von allein.
Finger verhakten sich ineinander und tief tauchten sie in die Augen des anderen ein.
Ihr ‘Ich liebe dich’ kam leise aber ehrlich...
...und gleichzeitig.
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2011
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