England, 2001
Die Wälder zogen in rasender Geschwindigkeit an seinen müden Augen vorbei. Erst schienen sie auf einen zuzukommen, groß und majestätisch, doch sobald man sie erreichte, waren sie auch schon verschwunden, als hätten sie ihre Substanz aufgelöst, die dann in Form von durchsichtigem Nebel in ein schwarzes Loch gesogen worden war, wie im Weltraum halt, zwischen den Spähren und Dimensionen.
Doch rührten sich seine Pupillen kein bißchen, blieben nur stetig auf einen Punkt gerichtet, während er seinen Kopf an das kalte Glas gelehnt hatte, um in Ruhe der Musik seines CD-Players auf seinem Schoß zu lauschen. Klassische Musik, ganz klar.
Obwohl die Reflexion des Innenlebens des Waggons kaum sichtbar war, sah er die Umrisse umso deutlicher, als sich sein Gesicht weiter gegen die Scheibe drückte.
Sein eigenes Spiegelbild.
Wie merkwürdig, als Kind hatte er sich immer vorgestellt, dass es uns eine andere Welt zeigen würde, eine Kehrwelt, in der jeder einen Zwilling hatte und sich gefragt, wie dessen Leben wohl war. Nun wusste er natürlich, dass das dumm gewesen war, aber dennoch beruhigte es ihn irgendwie, an seinem Spiegelbild zu lehnen.
Der Gedanke, dass es vielleicht noch jemandem so ginge wie ihm selbst.
Auch wenn er es nicht wollte, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, auch wenn sein rechter Zeigefinger im Takt zu den Akkorden auf seine Hose tippte, dachte er daran, dass er in dem Moment auf dem Weg zu dem Jungeninternat war, ganz allein.
Seine Mutter, Caroline, hatte ihren lieben Jungen nur zum Bahnhof gebracht, schweren Herzens, denn nur zu gern hätte sie ihren Liebling begleitet.
Noch nie zuvor hatte sie ihn allein fahren lassen, er war immerhin erst 14, ihn immer zu seinen Konzerten gefahren, doch dieses Mal hatte sie kurzerhand eine wichtige Konferenz gehabt – „leider“, wie sie behauptet hatte.
In ihren grünen Augen hatte er nur zu deutlich lesen können, dass sie innerlich ganz froh darüber war, eine Ausrede gefunden zu haben.
Mittlerweile sprachen Mutter und Sohn gar nicht mehr. Eigentlich hatte das schon angefangen, als sein Vater gestorben war...
Die zwei unterschiedlichen Augen in seinem Gesicht: das grüne hatte er von ihr geerbt, das blaue, glücklicher Weise, von IHM.
Doch in der Spiegelung waren die Farben so verblasst, dass sie die gleiche Schwärze trugen. Wie froh er darüber war, und auch die Sommersprossen, Zierde eines Kindes, waren nicht mehr zu erkennen.
In dem Moment konnte er nicht einmal mehr seinen kranken Rücken spüren, saß ganz bequem und gelangweilt da, wie alle normalen Jungen in seinem Alter, dachte nicht an seinen Vater, an den Mann seiner Mutter, an die Schule. Doch:
„Grr...“ , er zischte leise. Der plötzliche Schmerz in seinem Rücken zwang ihn, sich wieder aufrecht hinzusetzen.
Nur noch 30 Minuten bis zu seiner Ankunft, eine Art „Bewährungsfrist“.
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Schon vom Fenster des Taxis aus sah er das große Anwesen, wie eine stolze Kirche, gleich einem Gefängnis.
Der Junge mit den unterschiedlichen Augen hatte den Fahrer gebeten, das Gepäck für ihn mit auf den Platz zu tragen, allein hätte er das sicher nicht geschafft - sein Rücken beschwerte sich schon wieder, wie peinlich.
So ging er mit dem fremden Mann über die Einfahrt; eigentlich hätte seine Mutter ja an seiner Seite sein sollen, oder besser sein Vater.
Letztendlich war er ganz allein, wie es häufig bei Wunderkindern war, und er wusste, dass sich das auch in dieser Schule nicht ändern würde.
Das Grundstück war prachtvoll, keine Frage, Backstein auf Backstein, die rothaarige Frau, die ihm plötzlich entgegen kam.
Der Taxifahrer, eigentlich ein freundlicher Mann, wie ihm schien, setzte die Koffer ab und verschwand.
„Robin, was für eine Ehre, dich hier begrüßen zu dürfen.
Willkommen!“
Die Direktorin dieses Jungeninternats – sie war ungewöhnlich groß, robust, wirkte dennoch sehr weiblich mit ihren gelockten, rotblonden Haaren, die sie mit einer Spange hoch gesteckt hatte, eine Autoritätsperson ganz klar.
„Vielen Dank, Miss Calendar.“ , antwortete er höflich, nahm die angebotene Hand an, so wie man es ihm beigebracht hatte.
Ihre Haut fühlte sich wie Pergamentpapier an, so alt, mit dicken Adern.
Sie war eine Kettenraucherin.
„Ich hoffe, du hattest eine angenehme Fahrt, Robin.“
Er nickte freundlich.
Es waren nur wenige Schüler zu sehen, anscheinend befanden sich die meisten auf dem Sportplatz. Jubelrufe, Gebrüll aus der Ferne.
„Deine Mutter hat mich soeben angerufen. Sie bedauert es sehr, dich allein fahren gelassen zu haben.“
Auch ihr Gesicht schien aus Knetmasse zu bestehen, aber es stand ihr gut zu Gesicht.
Robin blinzelte, als wollte er erwidern, dass es ihm nichts ausgemacht hatte, eine Lüge wohl möglich.
Sie wusste, dass er Geige spielte, wusste von seinem Ruf drüben in seinem kleinen Heimatstädtchen, das Leuchten in ihren Augen verriet es.
Sonst keine Reaktion von ihm, er verhielt sich so verschlossen wie immer.
„Anfangs ist es schwer, an einer neuen Schule zu sein, ich weiß.
Aber du wirst dich sicher einfinden.“ , versuchte Miss Calendar ihn dann bewusst zu beruhigen.
In dem Augenblick ahnte er, dass sie genauso wie die anderen Frauen war, wie seine Mutter, dabei war sie ihm ganz sympathisch gewesen.
Als Robin noch immer gedankenverloren dreinblickte, deutete sie zu ihrer Rechten.
Ein Junge trat hervor, er war Robin zuvor kaum aufgefallen, jedenfalls nicht bewusst.
Das Sonnenlicht brach an seinem dunklen Haar.
„Ich möchte dir diesen Jungen vorstellen, Jack Viola.“
Jack.
Noch immer behielt er seine Hände in seinen Hosentaschen, sein arroganter, hochmütiger Blick, der auf Robin ruhte, blaue Augen. Ein Rock’n‘ Roll Fan.
„Er ist einer deiner Zimmergenossen...“
Die Direktorin warf dem Brünetten einen scharfen Blick zu, knirschte bewusst mit den Zähnen:
„...und wird dir helfen, dein Gepäck hinauf zu tragen.“
Jack rollte mit den Augen, sah erneut in Richtung Sportplatz, bleckte sich die scharfen Schneidezähne, ähnlich wie die einer Raubkatze, und seufzte unüberhörbar.
Robin wusste, dass ihm seine aufgezwungene Hilfsbereitschaft zu wider war, nickte nur stumm und folgte dem Älteren.
Als sie den Eingang passierten, stach Robin das übergroße Kruzifix über seinem Kopf entgegen.
Das Abbild des gekreuzigten Jesus, das den Jungen schon immer nervös werden lassen hatte. Und das, obwohl er nicht sehr religiös war, seine Eltern nicht sehr viel auf „Aberglauben“ gaben, besonders nicht sein Stiefvater, der Wissenschaftler.
Auch wenn er selbst eher eine rational denkender Person war, geriet er immer wieder in Ehrfurcht vor Jesus, vor Gott.
Selbst in dem Wohngebäude hatte die ganze Ausstattung eine Eigenart, modern und christlich zugleich, sehr beeindruckend, vor allem die an den Wänden hängenden Gemälde.
„Hey, Kleiner, beeil‘ dich mal ein bißchen!“ , rief der andere ihm dann ungeduldig, beinah bedrohlich zu.
Sofort setzte sich Robin wieder in Bewegung, flüsterte beschämt:
„Entschuldigung.“ Jacks tödlicher Blick schüchterte ihn ein, mehr als sonst irgendetwas in dieser Schule.
Anscheinend war er ein sehr aggressiver Typ.
Der Neuling ging wieder schweigsam hinter ihm her, lauschte den selbstsicheren Schritten Jacks, als sie die Treppe hinaufstiegen.
Keiner sagte ein Wort, die Stufen schienen nicht zu enden.
Plötzlich durchbrach Jack die Stille, fragte eher beiläufig und desinteressiert:
„Wie alt bist du eigentlich?“
„Vierzehn.“ war Robins knappe Antwort.
Der andere wendete seinen Kopf zu ihm, schaute kritisch auf ihn nieder:
„Woo, ...lass mich raten, Einstein hat ein paar Klassen übersprungen?“
Der Junge mit den unterschiedlichen Augen war peinlich berührt, senkte den Kopf. Jacks Augen fixierten ihn immer noch, er konnte das Geräusch von dessen Zähnen hören.
„Kommst wohl aus gutem Hause und lässt gerne mal andere für dich arbeiten, was?“ , fügte er dann in einem herablassenden Ton hinzu.
Anscheinend machte ihm dieser körperliche Anspruch rein gar nichts aus, im Gegensatz zu Robin.
Dieser keuchte erschöpft:
„Nein, ich...hab’s im Rücken.“
Was fiel diesem Jungen ein, ihm Vorwürfe zu machen – er hatte ihn ja nicht darum gebeten, ihm beim Tragen zu helfen!
Der Ältere lachte belustigt, was Robin innerlich kränkte:
„An deiner Stelle würde ich mir ne bessere Ausrede einfallen lassen!“
Empörung.
Wie konnte dieser Kerl nur behaupten, er würde den Choleriker spielen, er hatte eine ernsthafte Krankheit!
Ein hämisches Grinsen stach Robin entgegen, freudlose Augen:
„Hast Mama wohl zu lange am Rockzipfel gehangen!“
Der Geächtete blieb stehen, starrte den anderen entrüstet an, als wollte er an dessen Mitleid appellieren.
Doch sie waren endlich im obersten Stockwerk angekommen, Jack wendete sich ab und trat lässig in ihr zukünftig gemeinsames Zimmer.
In der Zeit saß der blonde Junge am Schreibtisch, bearbeitete das Layout für die neuste Ausgabe.
Die Brille auf seiner Nase verlieh ihm ein ganz anderes Aussehen, machte ihn männlicher, oder vielleicht auch nicht.
Während immer noch das Geräusch der Tastatur in dem großen Raum zu hören war, seufzte er leise und schlug seine schlanken Beine übereinander.
Die Sonne, die durch das Fenster drang, blendete ihn.
Plötzlich hörte er das Knarren der Tür, Jacks energische Schritte.
„Tony!“
Vier Füße, der neue Schüler war angekommen.
Jack stellte die schweren Koffer neben dem dritten, sonst unbenutzten Bett ab, mit einem hörbaren Schnaufen.
„Hier ist er.“
Robin betrachtete zuerst den fremden Raum, bis ihm die sitzende Person auffiel.
Ein Schulterblick. Er setzte die Brille ab und schritt auf die beiden zu.
Robin stand völlig reglos dar; der Junge - er musste zweimal hinsehen, um sicherzugehen, dass es wirklich ein Junge war - lächelte ihn an, hielt ihm seine weiße Hand hin:
„Willkommen!“
Rote Lippen.
„Ich bin Anthony. Anthony Levoy. Freut mich, dich kennenzulernen, Robin!“
Der Jüngere war im ersten Moment einfach verblüfft, verblüfft von dem unglaublich femininen Aussehen des anderen; seine kinnlangen aschblonden Haare, die mit roten Strähnchen versetzt waren, seine großen braunen Rehaugen, seine zierliche Gestalt. Beinah engelhaft!
Er wusste nicht, wie er auf diese Freundlichkeit reagieren sollte, griff zögerlich in die weiche Hand.
„Danke, ebenfalls...“ , erwiderte er ungeschickt, schämte sich sogleich für seine Verlegenheit.
Doch der andere behielt sein gütiges Lächeln bei:
„Nenn mich ruhig Tony.“
Jack stand derweil immer noch mit verschränkten Armen abseits, dachte so im Stillen bei sich:
‚Er schafft es doch immer wieder, andere mit seinem Charme zu betören...‘
Er warf einen Blick auf die Uhr.
„Also, dann lass ich euch ‘mal allein.“ , hallte seine Stimme zu den anderen beiden herüber.
Er machte eine gleichgültige Handbewegung:
„Meine Arbeit ist ja jetzt wohl getan.“
Und fluchte als Nächstes grunzend vor sich hin:
„Dieses Miststück Cali hat’s echt auf mich abgesehen! Und das nur wegen dem Punsch! Verdammte Zicke!“
Und wieder sprach der skrupelloser Spott aus seinem Mund:
„Jetzt kannst ja du den Babysitter für den ERDNUCKEL spielen!“
Seiner Kaltschnäuzigkeit wohl bewusst, grinste er dem Blonden nur weiterhin zu, um im nächsten Moment aus dem Zimmer zu sprinten.
Anthony hasste diese Seite an Jack!
Mitfühlend blickte er dann wieder den kleinen Jungen vor sich an
„Nimm’s nicht persönlich. So verhält er sich den meisten gegenüber,
ist‘n regelrechtes Ritual.
Du gewöhnst dich schon noch an ihn!“
Robin richtete seine Augen von der Tür wieder auf den großen Jungen.
Dieser legte ihm seine Hand auf die Schulter:
„Keine Sorge, bei mir bist du gut aufgehoben.“
Schon wieder dieses liebevolle Lächeln, wie das einer Mutter, unergründlich.
Dann stützte er die Arme in seine Hüften, als würde er einen Mann mimen, blickte zu Robins Bett hinüber und schlug vor:
„Hey, deine ganzen Sachen kannst du doch später auspacken! Ich zeig‘ dir jetzt erst’mal das Gebäude, eine günstige Gelegenheit, da die anderen jetzt alle auf dem Sportplatz ‘rumhängen. Okay?“
„Okay.“ , gab Robin dann zurück, presste die Lippen zu einem trockenen Lächeln zusammen.
Zuerst zeigte er ihm das Studentengebäude, unzählige Zimmer Etage pro Etage, Anthony und Jack hatten das abgeschiedenste bekommen.
Einer der Korridore war direkt mit dem Schulhaus verbunden, majestätische Räume, nur für Lehrer und ihre vielen untertänigen Schüler.
Wie merkwürdig das doch alles für Robin war, immerhin hatte er zuvor nur Privatunterricht bekommen. Er hatte Angst vor diesen vielen Jungen, den neuen Autoritätspersonen, dem Sportunterricht.
Am besten gefiel ihm die Aula, ein Musiksaal. Hier könnte er vielleicht Geige spielen, wenn er um Erlaubnis bat.
Aber anscheinend war er schon vergeben.
„Mein Zufluchtsort, um in Ruhe Klavier spielen zu können.“ ,
sagte Anthony und legte seine Hand auf den schwarzen Flügel, um sich im nächsten Moment auf dem Sockel niederzulassen. Liebevoll tanzten seine schmalen Finger über die schwarzen und weißen Tasten.
„Du spielst Geige, nicht? Dort, wo du her kommst, bist du sehr berühmt.“ , richtete er sich währenddessen an den kleinen Jungen, der neben ihm stand.
Der Dunkelhaarige stutzte: „Woher weißt du denn so viel von mir?“
„Ich bin Herausgeber der Schülerzeitung,“ , er lachte, „ das ist mein Job sozusagen.“
Anthony schaute wieder in Robins unterschiedliche Augen:
„Kannst du auch Klavier spielen?“
„Na ja, ein wenig, aber...“, antwortete Robin, senkte nachdenklich den Blick, während seine Finger auf das polierte Material des Pianos tippten, „ich glaube, so richtig liegt es mir nicht.“
„Hm, jedem das seine.“ , entgegnete ihm der andere verständnisvoll, begann wieder zu spielen,
„Vielleicht können wir ja‘mal zusammen musizieren, wenn du mir die Ehre gibst.“
Ein anerkennende Geste, ohne Neid, ganz anders als bei...
Auch wenn das musikalische Genie eher ein Solokünstler war, stimmte er zu:
„Gerne.“
Eine Kapelle stand gleich neben der Schule.
Obwohl Robin die prunkvollen Kunstwerke bewunderte, fühlte er sich im Haus Gottes nicht wohl, im Gegensatz zu Anthony.
Es wunderte den Jüngeren nicht, dass dieser überzeugter Katholik war, der, wie er ihm erzählte, zu gern seine Freizeit hier verbrachte.
Robin atmete tief durch, als sie aus dem Ausgang waren.
Den Vorplatz hatte er ja schon gesehen. In der Mitte des großen Rasens stand ein großes weiß angestrichenes Pavillon, nur wenige Meter weiter befand sich ein kleiner Wald, aus dem Vogelgezwitscher zu ihm herüber schallte.
„So, das war’s dann erst einmal.“
Sie gingen nebeneinander her, Robin war etwas erschöpft von dem ganzen Hin und Her, ließ sich aber nichts anmerken.
Anthony deutete in Richtung des Jungengebrülls:
„Was hältst du davon, wenn wir zum Sportplatz ‘rüber gucken.
Sie veranstalten heute einen Wettstreit in sämtlichen Kategorien.“ , verkündete er mit ironischer Betonung, rollte die Augen und grinste den anderen Jungen an:
„Sehr aufregend!“
Wer hätte gedacht, dass es noch einen Jungen in dieser Sphäre geben würde, der genauso wenig für sportliche Ertüchtigung übrig hatte wie Robin?
Sie gingen die Tribünen hinunter. Es schien richtig was los zu sein.
Auf dem Rasen in der Mitte des Platzes grillte und feierte man, während die Sportler gegeneinander antraten. Schon von da oben konnte man die schallende Stimme des Sportlehrers hören.
Robin hasste solche Veranstaltungen, die nicht annähernd so gesittet waren wie seine Konzerte.
Auch wenn er nicht unter Gleichaltrigen war, befürchtete er trotzdem, keinen Anschluss zu finden.
Anthony hatte die Nervosität des anderen wohl gemerkt:
„Hey, ganz locker.“, er legte seinen Arm um Robins Schulter,
„Sie werden dir nichts anhaben.“
Als sie bei der Zuschauermasse, um das Geländer der Laufbahn verteilt, angekommen waren, stellte Anthony Robin die anderen vor.
Er wusste, dass er aufgrund seiner Größe, seines schiefen Rückens, bei ihnen sicherlich nicht auf besonders viel Anerkennung stoßen würde, das sah er an ihre abweisenden Blicke, die ihn musterten, doch gaben sie sich überwiegend tolerant, dank Anthonys Gunst.
Dieser schien wirklich beliebt zu sein, bei allen – kein Wunder bei seinem Charisma!
Von den versteckten Grinsen gepeinigt, wendete Robin seinen Blick auf die Startbahn.
Dort entdeckte er diesen Jack; er lief wie der Wind, Kopf an Kopf mit einem Muskelprotz.
„Greg , der Stolz unserer ganzen Schule,“, flüsterte der Blonde ihm dann zu, „ Jacks schlimmster Konkurrent, hat ihn bis jetzt immer nur den 2. Platz beschert. ...Bis jetzt!“
Nun beteiligte auch er sich an den Jubelrufen für den Brünetten mit den schulterlangen Haaren.
Obwohl dieser einen Kopf kleiner als der andere Sprinter war, konnte er mit ihm mithalten, ihn letztendlich sogar besiegen:
Jack war der Erste, der durchs Ziel kam!
Applaus erfüllte den Platz.
Anthony war der Erste, der zu ihm rannte, mit einer großen Flasche Mineralwasser in der Hand. Robin beobachtete, wie er seinen Mitbewohner herzlichst beglückwünschte, als würde er...
Alles hatte sich nun um Jack geschart, der seinem Gegner triumphierende Blicke zuwarf, Revanche stand in dessen Augen.
Der neue Schüler ergriff die Gelegenheit, um sich davonzuschleichen.
Lieber wollte er seine Koffer auspacken, seine Geige herausholen und spielen, als Art Ritual, um sich wenigstens ein wenig wie Daheim zu fühlen.
Nachdem er die ganzen Stufen hinaufgeklettert war, hätte er zusammenbrechen können. Er keuchte, als er in den Vorraum trat, sein Rücken beschwerte sich schon wieder.
Als er ins Zimmer trat, betrachtete er sich in seiner Müdigkeit die „Territorien“ seiner Zimmergenossen näher. Ihre Entfernung zueinander war weitaus geringer als zu Robins Bett, eine Ausgrenzung ganz klar.
Zu seiner Rechten stand Jacks Bett; daneben eine Gitarre, die Wände waren mit zahlreichen Schriftstücken, Gedichten wohl möglich ,sogar auf der Tapete selbst, überdeckt; vielerlei Zeichnungen, auf dem eine Person, die wie Anthony aussah, wohin man auch sah, überall hingen Anhänger,
GOTHIC.
Die Ruhestätte eines Künstlers, wohl wahr, aber alles hatte seine Ordnung – das Bett stand so, dass man seinen Nachbar im Schlaf beobachten konnte...
Ebenfalls eine Raucherecke, überall lehre Zigarettenschachteln.
Hingegen war Anthonys Platz ein wahres Chaos, überraschender Weise.
Seine Kleidung war nur halbherzig in die Schränke gestopft, die vor Bücher und Ordner nur so überquollen – Robin glaubte doch tatsächlich die BIBEL inmitten des Wirrwarrs entdeckt zu haben – haufenweise Notenblätter.
Auf dem zerknitterten Bett lagen viele Kissen, auf dem Nachtschrank ein Familienfoto:
Anthony und seine drei älteren Schwestern – er war hübscher als sie; aufgerissene Packungen von Tabletten.
Dagegen sah Robins Region kahl und steril aus.
In seiner Erschöpfung schaffte er es beim besten Willen nicht, den großen Koffer, den Jack getragen hatte, aufs Bett zu hieven, ergab sich dann einfach seinen Beinen und ließ sich auf den Hosenboden plumpsen, um den Reißverschluss zu öffnen.
Da lagen seine Sachen, fein säuberlich gestapelt, von niemand anderem außer seiner Wenigkeit selbst verrichtet.
Der Geruch von Zuhause.
Auch wenn er sich in seiner Familie, aus seiner vielbeschäftigten Mutter und karrieregeilen Stiefvater bestehend, nicht wohl fühlte, schätzte er jedoch diesen ruhigen Ort, das große Haus, das nur ihm allein gehörte, wenn die Erwachsenen wieder nicht da waren. Besonders auch, wenn er gerade von seinen Konzerten zurückkam.
Jedoch liebte er das Anwesen nicht annähernd so sehr wie ihr altes Haus, in dem er aufgewachsen war, in dem er mit seinem wirklichen Vater gelebt hatte, in dem dieser gestorben war.
Er starrte auf das Foto, auf dem seine Mutter, er und sein verhasster Stiefvater abgebildet waren, als angebliche Familie.
Doch die Wahrheit war, dass Robin nie eine Verbindung zu dem Wissenschaftler, diesem energischen, peniblen Mann, der kein Verständnis für seine Muse aufbringen konnte, aufgebaut hatte, es nie zugelassen hatte, weil es seinem toten Vater einem VERRAT gleichgekommen wäre.
Dem Anschein nach, machte es diesem Mann auch gar nichts aus, er hatte kein wirkliches Interesse an der Familie, eher an dem Vermögen von Robins Mutter, von dem er sich die Untersuchungen in seinem hochgeschätzten Labor finanzieren konnte. Der Junge sah ihn glücklicher Weise kaum, er schien ihm wie ein Untermieter.
Bei dem Gedankengang nistete sich plötzlich der Geruch von Zigaretten in Robins Nase ein.
Er erinnerte ihn schlagartig an Ethan, Ethan Lavigne, der mit seinem Raucherproblem das ganze Haus verseucht hatte. Obwohl Robins Mutter, Caroline, ihm das Rauchen verboten hatte, tat er es im Heimlichen – Robin hatte es gesehen.
In einer Art Wahn schnellte er auf, lief zum Fenster am Ende des Zimmers, neben Jacks Bett und seinem Schreibtisch.
Dabei streifte er ein Foto auf Anthonys Kommode, das ihm vorher gar nicht aufgefallen war, ein Foto von ihm und Jack.
Durch den Schreibtisch fiel es ihm schwer, an den Griff heranzukommen, er stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte seinen Arm immer weiter aus, sein Rücken schmerzte kläglich.
Robin biss sich angestrengt auf die Zähne, die schleichende Röte des Sonnenuntergangs in seinen Augen.
Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, sein Rücken schlug gegen den Drehstuhl!
Der Junge stöhnte wimmernd, Dunkelheit unter dem Schreibtisch.
Er fühlte sich beinah benommen, doch noch ehe er sich seinem Schmerz noch bewusster werden konnte, zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich.
Etwas stach ihm entgegen, eine Entdeckung, die sein ganzes Leben verändern würde.
In seiner Tollpatschigkeit hatte er einige der Ordner mit sich gerissen, die jetzt zerstreut auf dem Boden lagen.
Sie gehörten definitiv Jack, das schwarze Pentagramm.
Aus einem roten Hefter quollen allerlei Zeitungsausschnitte, schwarz-weiß.
Der Wissenschaftler Ethan Lavigne schwarz-weiß.
Robin konnte erst keinen Gedanken fassen, die Erinnerung von eben schwirrte noch in seinem Kopf herum, sodass er zuerst glaubte, zu halluzinieren.
Doch es war der kahlköpfige Mann in dem weißen Kittel und überall auf dem Umschlag stand das Wort:
FATHER FATHER FATHER...
Es schien wie ein Schnellzug auf ihn zuzukommen, überfiel ihn, wuchs und brannte sich in sein Gehirn ein.
Im selben Augenblick riss ihn eine Stimme aus seiner Gedankenwelt.
„Hey, Kleiner!“
Jack war ins Zimmer getreten, noch ganz außer Puste, dennoch souverän und angriffslustig wie immer.
„Weg von meinen Sachen! Was...“
Sofort bemerkte er den scharlachroten Hefter, den Robin vor sich hatte, die vielen Fotos, die ihm so wichtig waren.
Und noch ehe er zu den Jungen gestampft war, dessen Gesichtsausdruck undefinierbar war – seine Augen größer denn je – ertönte ein zerschmetterndes Geräusch in dem Raum.
Jack blickte hinunter auf den Boden, auf seinen Fuß und das zerbrochene Glas des Familienfotos.
Er traute seinen Augen nicht, als er denselben Mann darauf sah, der sich auch auf den Zeitungsausschnitten befand und den Robin fassungslos anstarrte.
Was konnte das nur bedeuten?
Er trat einige Schritte zu ihm, einen Bogen um den Scherbenhaufen machend.
„Du bist Robin Lavigne!“ ,
redete der Ältere eindringlich auf ihn ein, beinah besessen.
„Der frühreife Geiger! Natürlich, das...“
Jack schlug sich mit einem falschen Gelächter auf die Stirn:
„Wie bescheuert von mir!...“
Er schüttelte immer wieder den Kopf, sodass sein dunkles Haar wild umherflog.
Im nächsten Augenblick hechtete er auf den kleinen Jungen, der immer noch nichts verstand, zu, blieb bewusst wenige Zentimeter vor ihm stehen.
Er beugte sich extra nach vorne, gestikulierte aufgeregt mit seinen Armen herum, sodass Robin zurückschreckte.
„Ich hab doch recht, oder?“
Jacks Pupillen stierten ihn an, wie eine Katze ihre Beute.
Seine Lippen zogen sich angespannt auseinander:
„Ethan Williams ist dein V_“
Der 16-jährige wagte es kaum auszusprechen.
Doch unterbrach Robin ihn mit ungewöhnlichem Selbstbewusstsein, bestand beinah besserwisserisch auf den exakten Begriff:
„Mein Stiefvater.“
Er merkte, dass sein blaues Auge dabei zuckte.
Das tat Jacks auch, als er sozusagen die Bestätigung seiner fixen Idee, seiner zerreißenden Befürchtung hörte.
Er schien kurz teilnahmslos im Raum zu schweben, sein Körper war erstarrt, wie auch seine Gesichtszüge, er konnte nur noch seinen rasenden Herzschlag wahrnehmen, bis er sich überwand, es dem Jungen zu offenbaren, es als „Willkommensgeschenk“ an den Kopf zu schleudern.
Seine Gesichtsmuskeln zogen sich zusammen, und in einem wütenden, jedoch kalten, Ausdruck erwiderte er dann:
„UND MEIN LEIBLICHER VATER!“
Seine Hände waren zu Fäusten geballt, zitterten ungeduldig; Robin stand da, wie gelähmt, brauchte trotz seines hohen Intelligenzquotientens einen geschlagenen Moment, um diese Worte zu begreifen.
Dann legte sich Entrüstung, gänzliche APATHIE, auf sein kindliches Gesicht.
Jack hatte sich abgewandt, ging ein wenig, eher insgeheim, auf und ab, während er sich mit den Händen durch die lange Mähne fuhr, verzweifelt:
„Vor 16 Jahren war er noch ein recht unbedeutender Student, hat meine Alte verlassen, gleich nachdem er erfahren hatte, dass sie mit mir schwanger war.“
Ein zerstörerisches Lächeln auf seinen spöttisch geschwungenen schmalen Lippen:
„Ich habe ihn nie kennengelernt.“
Wie ein dumpfes Raunen, ein ehrliches Flüstern.
Robins Gesicht lag immer noch in Falten, er konnte kaum sprechen:
„Ich...Ich wusste nicht, dass er einen eigenen Sohn hat, meine Mutter genauso wenig.“
Er hatte immer schon den Eindruck gehabt, diesem Mann nicht vertrauen zu können, hier war der beste Beweis, dass dieser ein hinterhältiger Schmarotzer war.
Was würde seine Mutter wohl dazu sagen?
Jacks Schritte wurden schwerer, das beunruhigte Robin innerlich; man konnte Jacks innerlichen Konflikt durch den quietschenden Fußboden hören, sogar ganz deutlich spüren, wie sich neuer Zorn in dem Sportler ansammelte, er bebte förmlich:
„Natürlich!“ , schnaufte er belustigt, dann eher wie ein schwermütiger Hauch:
„Na-türlich...“
Er presste die Zähne zusammen:
„Immerhin führt er jetzt ein Leben in Saus und Braus,...MIT DIR!“
Noch bevor Robin reagieren konnte, hatte Jack ihn gegen die Wand geschleudert!
Er war so erschrocken, dass er sich wie gelähmt von Jacks muskulösen Armen einengen ließ.
Noch nie zuvor hatte er sich in so einer Situation befunden, wusste sich nicht zu wehren.
Jacks Augen durchbohrten ihn, als dieser seinen Kopf etwas schräg legte, wie ein mordlustiger Psychopath.
„Hast ein scheiß perfektes Leben, oder?!“
„Ich...“ Robin hatte keine Chance zu entkommen, wünschte sich nur, dass ihm jemand zur Hilfe kommen würde.
„Ich wette, du wirst richtig schön verhätschelt von Mum...und Dad!“
Wie missbilligend er doch die letzten Begriffe aussprach, voller Verachtung und Hass!
Er hatte einige Tatoos auf seinen Armen.
Robin fürchtete sich so sehr vor ihm, dass er letztendlich keinen anderen Weg sah, als ehrlich zu sein. Nachdenklich senkte er seinen Blick und antwortete mit schwacher aber fester Stimme:
„Mag schon sein, aber...“ , er schüttelte den Kopf, sein kurzes Haar,
„ich kenne die beiden kaum, ihn am wenigsten.“
Stillstand, der Faust des langhaarigen Jungen wurde Einhalt geboten, zu Boden gestreckt.
Im Spiegel der gegenüber liegenden Wand bewegte sich nichts, kein einziger Laut, kein einziges Geräusch.
So schienen sie eine Ewigkeit zu stehen, wie das Abbild von
ABEL UND KAIN.
Dann war ein Schnaufen zu hören, Jack wendete sich abrupt ab, ein falsches Lachen. Ohne zurückzublicken stürmte er aus dem Zimmer, wollte die Tür gerade hinter sich zuknallen, als er plötzlich mit Anthony zusammenstieß!
Trotz seines innerlichen Konflikts konnte der Kleinere der beiden jedoch noch rechtzeitig reagieren, griff Anthonys schmale Hüften und wich ihm in einer halben Drehung aus.
„Was?“ , stutzte der Blonde, doch sein Freund gönnte ihm nur einen besorgniserregenden Blick, bevor er den Flur durchquerte.
Anthony stand völlig ratlos da:
„Jack?“ , rief er ihm nach.
Aber dieser war schon verschwunden.
So trat der Sohn aus gutem Hause in das Zimmer, so wie er es eigentlich vorgehabt hatte.
Dort fand er den schockiert dreinschauenden Robin auf. Mit herabhängenden Gliedern stand er regungslos in der Mitte des Raumes.
„Was ist denn passiert?“ , fragte der Pianist, schritt auf den anderen zu.
Doch der Kleine war nicht fähig zu sprechen, kaum fähig einen von den unzähligen Gedanken zu fassen, die durch seinen Kopf strömten.
Wortlos senkte er den Blick.
Wieder spürte der Junge mit den unterschiedlichen Augen eine tröstende Hand auf seiner Schulter.
„Nimm’s ihm nicht übel. Jack...“, Anthony seufzte nachdenklich,
„Weißt du, er war immer auf sich selbst gestellt, er musste sich ein Stipendium erarbeiten, um an diese Schule zu kommen.“
Robin starrte weiterhin in die Leere, Schuldgefühle.
„Er ist nicht, was er vorgibt zu sein.“ ,
sprachen dann die roten Lippen des Älteren.
Jack hatte sich eine Zuflucht im Wald gesucht, sein Lieblingsort.
Er lag an einem kleinen Tümpel, verborgen von dunkeln Bäumen, dichter Dunst lag in der Luft, obwohl die Sonne, die sich dem Abend neigte, kaum bis zu diesem abgeschiedenen Ort durchdrang.
Dieses Fleckchen kannte so gut wie niemand.
Er rauchte eine Zigarette, während er auf einem niedergestreckten Baumstamm mit aufgestützten Bein saß.
Dunkel waren seine Gedanken, ein Brodeln in seinem Inneren, er hätte alles kurz und klein schlagen können!
Wut, rasende Wut auf diese Offenbarung, dieser Wink des Schicksals!
Wut auf seine Mutter, seinen Vater...diesen kleinen Bastard!
Er hätte es nicht länger mit ihm in ein und demselben Raum ausgehalten!
Die rostfarbene Haut um seine Finger war angespannt, zitterte vor Zorn, während Jack die Asche von der Zigarette fallen ließ.
Trotz seines Gefühlsschwalls hörte er die Schritte, den leichter Gang des anderen.
Er war ihm gefolgt.
Anthony tauchte aus dem Dickicht auf, setzte sich wortlos neben seinen Freund.
„Hab mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde.“
Doch sobald der Blonde die finstere Miene des anderen sah, fragte er besorgt:
„Was ist denn passiert?“
Jack zog seinen Mundwinkel kläglich nach oben:
„Hat er’s dir nicht gesagt?“ und nahm noch einen Zug, Qualm stieg empor.
„Nein,“ , schmunzelte der Ältere von beiden, blickte in die Ferne,
„er ist fast genauso schweigsam wie du, ein ernst zunehmender Konkurrent, Jack.“
Und noch ehe der Pianist diese ungeschickten Worte ausgesprochen hatte, entgegnete dieser ihm, mehr um dessen Ausspruch zu ersticken, als es in die Welt zu setzen:
„ER IST MEIN BRUDER.“
Sofort war Anthony sofort still, starrte seinen Nachbarn entgeistert an.
„Oder so etwas Ähnliches.“ ,
fügte Jack dann mit falscher Gleichgültigkeit hinzu, inhalierte das Nikotin.
Eigentlich wollte er es wirklich nicht ausplaudern, wie so vieles nicht, doch wenn er es jemandem anvertrauen würde, dann ihm.
„Ich hab dir doch von meinem Vater erzählt.“
Der andere blinzelte als Antwort, war ihm so nahe, wie sonst auch.
„Der Kleine ist sein Adoptivsohn.“
Wieder diese besserwisserische Art, Skandale mit einer perversen Nüchternheit, Souveränität , zu umschreiben, doch Anthony kannte diese Sprache schon, wusste, woher sie rührte, was sie verbarg.
„Bist du dir sicher?“ , hakte der Braunäugige nach.
Ein Blick von Jacks Adleraugen reichte.
„Und?“ , Anthonys Augenbraue hob sich unwissentlich, seine langen Fingernägel kratzten an dem Stoff seiner Hose,
„was willst du jetzt tun?“
Neugierde war es, ob dieser Fakt eine andere Seite an Jack hervorbringen konnte, Jack als großer Bruder.
„Tun?“ , der Kettenraucher schnaufte, hustete dabei,
„Ich muss gar nichts tun, er...“ Der Zigarettenstummel landete im dumpfen Wasser.
„Er ist doch nur...“ Jacks Stimme klang erstickt; Anthony wusste, dass dies nicht nur von den Zigaretten kam.
Sogleich lehnte er sich zu seinem Freund, legte den Arm um dessen Schulter, tröstend.
Blonde Strähnchen kitzelten Jacks Wange, darunter zusammengebissene Zähne.
Ohne die Augen vom Wasser zu richten, griff der ab sofort „große Bruder“ in seine Hosentasche, setzte die Mundharmonika an seine Lippen.
So saßen sie eine ganze Weile da, an diesem Ort war das ja möglich, obwohl die alte Frau, die am anderen Ufer durch den Nebel schritt, Anthony nervös machte.
Szenario des schwarzen Poeten erfüllte die feuchte Luft.
Zur gleichen Zeit spielte auch Robin auf seinem neuen Bett Mundharmonika.
Seine schillernden Augen starrten in die fremde Zimmerdecke, an die er sich noch gewöhnen musste, das Bett des anderen am anderen Ende des Zimmers, erst recht musste er sich an diesen gewöhnen.
Der Junge konnte nicht wissen, dass er das selbe Lied spielte wie Jack, bizarr.
So viele Gedanken, die ihn überströmten, ihn in den Schlaf rissen.
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Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, konnte man draußen schon das Ziepen der Grillen hören.
Es schien ihm, als wäre er nur einige Minuten eingenickt, ihm war übel.
Jemand saß auf seinem Bettrand, eine geschmeidige Gestalt, die ihn zu wecken versuchte:
„Robin“ , flüsterte sie, „wach auf!“
Anthonys Gesicht, das seine unterschiedlichen Augen erblickten.
„Ich bin...“ Robin versuchte sich aufzurichten.
„Du hast geschlafen.“ Ein sanftes Lächeln, das Bescheid wusste.
Der Blonde deutete auf den Tisch:
„Du hast die Essensausgabe verpasst. Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Danke.“
Robin hoffte innerlich, dass es kein Fleisch war, er war Vegetarier.
Als er noch einmal gähnen musste, versuchte er es zu unterdrücken, Anthony wusste es bestimmt.
Dann legte dieser wieder seine Hand auf Robins Schulter:
„Komm, spiel mir endlich etwas auf deiner Violine vor.“
Überrascht erwiderte der Jüngere:
„Jetzt?“
Seine Sommersprossen waren seit seiner Kindheit nicht verblasst.
Anthony trug Kontaktlinsen, er lächelte:
„Keine Sorge, hier oben hört uns niemand,“ , seine Augenlider verengten sich,
„das kann ich dir versichern.“
Somit packte das junge Musiktalent seine Geige aus, legte sie an sein Kinn, umfasste den Hals und ließ den Bogen über die empfindlichen Saiten fahren.
Himmlische Klänge erfüllten den Raum.
Der Braunäugige saß still auf seinem unordentlichen Bett. Er war begeistert von der wundervollen Musik, von der Tiefe der Resonanz. Ein wahres Wunderkind stand vor ihm, er war nicht neidisch.
Robin hatte die Augen geschlossen, war völlig in seinem Spiel versunken, seine Wangen erröteten vor Verlegenheit.
Dies war also Jacks Adoptivbruder sozusagen, jemand, der etwas mit dessen Familie zu tun hatte und auch wieder nicht. Anthony fragte sich in seiner empathischen Art, was wohl in dem Jungen vorgehen mochte. Wie sehr es seinen Freund Jack getroffen hatte, hatte er ja gesehen, doch was war mit Robin?
Er schien so unnahbar und in sich gekehrt, dass Anthony es nur erahnen konnte. Doch drückte wohl die Musik dessen Gefühle aus, ein trauriges Spiel.
Plötzlich wieder das Knarren der Tür.
Jack trat hinein, war aus der Dusche zurückgekehrt.
Sofort hörte Robin zu spielen auf, blickte den Langhaarigen mit großen Augen an.
Doch Jack wendete schnell den Blick ab und schritt mit seinem Pokerface in Richtung Bett, wie Anthony es geahnt hatte, ein leiser Seufzer aus seinen roten Lippen.
Robin heftete seinen betrübten Blick auf seine Geige, wusste einfach nicht, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten sollte.
Einige Stunden später war die Stimmung noch unerträglicher.
Die drei Jungen hatten sich schlafen gelegt, nur das dumpfe Mondlicht, das durch Jacks Fenster schien, stockfinster.
Robin hatte sich zur Wand gedreht, um die anderen beiden nicht bemerken zu müssen, um diesen Ort, die erste Nacht, die Erinnerung daran, nicht bemerken zu müssen.
Er hatte seine Beine angezogen, seine Arme über den Kopf gelegt, so schlief er immer. Und er war hellwach, trotz der gänzlichen Stille, die sogar zwischen den anderen beiden herrschte.
Jack lag auch bewegungslos in seiner Ecke, stellte sich schlafend.
Anthony wusste, dass er allein sein wollte, verständlicher Weise, also nervte er ihn nicht.
Stattdessen lag er in seinem Bett, in der Mitte des Zimmers, in der Mitte der beiden anderen, und laß mithilfe seiner Taschenlampe in einem seiner Bücher, Walt Withman.
Nichtsdestotrotz konnte er es sich kaum verkneifen, immer wieder kleine Seufzer der Langeweile von sich zu geben, um die ganze schwierige Situation zu überbrücken.
Er wusste sich keinen Rat, blickte nur immer wieder zu seiner Linken – sonst würde er...
Und während Jack , in seinem schwarzen Hemd gekleidet, dort gänzlich im pechschwarzen Schatten lag, blinzelte Robin traurig vor sich hin, auch wenn die Müdigkeit ihn nun endlich übermannte, vermochte sie nicht seine quälenden Gedanken zu löschen.
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Der erste Tag in der Schule.
Innerlich hatte es Robin davor gegrault, auch wenn er es sich nicht eingestehen hatte wollen. Die neuen Lehrer, die neuen Schüler,
„Robin Lavigne“, die Missgeburt, der Streber, der zwei Klasse übersprungen hatte, im Mittelpunkt stehend, das Geflüster der großen, muskulösen Jungs, ohne Jack.
Er hatte Glück, er besuchte hauptsächlich die selben Kurse wie Anthony, eine Art Schutz, den er den Jüngeren gewährte, ohne dass Robin es verlangte, niemals würde er das tun. Aber er war ihm dankbar für seine ungezwungene Art, den Beistand gegenüber anderen, das Lügen über seine Größe.
Anthony war wirklich überaus beliebt; sicherlich scharten sich die Mädchen um ihn, obwohl er so zierlich wirkte. Doch wenn man ihm in seinem Redeschwall so zuhörte, bemerkte man schnell, dass er auch sehr spöttisch , wenn nicht zynisch, sein konnte.
Ein Profi halt.
Ohne ihn hätte Robin es sicher nicht durch den Vormittag geschafft.
Später jedoch musste dieser zum Treffen seiner Schülerzeitung, sodass Robin sich allein durchkämpfen musste.
Menschenmassen auf den Gängen, er hasste das, fühlte sich eingeengt zwischen den großen und lauten Jugendlichen.
Plötzlich hörte er seinen Namen durch den Lautsprecher, er sollte ins Sekretariat der Direktorin kommen.
Wie kam er gleich noch einmal dahin?
Der Junge mit den verschiedenartigen Augen blickte sich nach jemandem um, den er fragen konnte.
Lange suchte er von einer Wand zur anderen, bis ihm der Junge mit den schiefen Zähnen und unzähligen, auf dem ganzen Körper verteilten Sommersprossen auffiel, er schien zu der ruhigen Sorte zu gehören.
Wie Robin - wahrlich, stille Wasser sind tief.
Robin hatte schon immer Probleme gehabt, andere um Rat zu bitten.
Er hatte es nie wirklich tun müssen, da seine Mutter ihm von Vornherein immer alles abgenommen hatte. Vielleicht war er einfach zu stolz.
Vorsichtig näherte er sich dem anderen Schüler, der inmitten des Getümmels stehen geblieben war, um in seiner Tasche herumzuwühlen.
„Entschuldigung.“
Robin tippte ihn an die Schulter, sodass er erschreckt zusammenfuhr.
Beinah panisch drehte der befleckte Junge sich zu dem Neuling.
Seine großen schwarzen Augen starrten ihn an, als stände er unter einem schweren Schock, blanke Nervosität im Gesicht des anderen.
„Entschuldige.“ , wiederholte Robin nachdenklich,
„Wie komme ich zum Sekretariat?“
Sein gegenüber schien kurz inne halten zu müssen, wendete sich kurz ab, wohl in Richtung Robin Ziels und versuchte ihm den Weg zu beschreiben.
Der wohl möglich nur ein Jahr ältere Junge war sehr schwer zu verstehen. Es hatte den Anschein, als würde er zur gleichen Zeit lispeln und stottern, doch die Wahrheit war, dass er einfach nur zu schnell sprach.
In der Zeit, in der der Lockenkopf Silben über seine trockenen Lippen schickte, betrachtete er ihn sich näher.
Robin ahnte, dass sich hinter diesem nervösen Zittern ein schlaues Köpfchen verbarg.
Er merkte es sofort, wenn er auf ein Genie stieß. Anthony war keines, er gab es mithilfe der Phrasen anderer nur vor...
Der schüchterne Junge hieß Paul.
Schließlich bedankte der Geiger sich und drängelte sich durch die Menge.
Er musste einige Treppe hinauf steigen, ins Obergeschoss.
Mit müden Füßen durchquerte er den sterilen Gang, bestehend aus rutschigem Parkett.
Doch gerade als er an die Tür klopfen wollte, erblickte er durch das Spiegelfenster, dass schon jemand im Stuhl auf der anderen Seite von Mrs. Calendars Schreibtisch saß, Jack.
Wild gestikulierend diskutierte er mit der Direktorin.
Jack lief wohl Gefahr, im hohen Bogen von der Schule zu fliegen, doch die Schulleiterin versuchte ihn immer wieder davon abhalten zu können, ihm gegenüber schien sie weniger wie ein „Frauchen“, viel mehr wie eine weise Autoritätsperson, eine Psychiaterin, eine Mentorin, eine Mutter.
Robin setzte sich auf einen der Stühle, da ihr Gespräch wohl noch ein Weilchen dauern würde.
Er seufzte, betrachtete seine Finger, kaute aus Langeweile darauf.
Immer wieder Jacks Stimme, die bis zum Ende des Flurs zu hören war, wenn man den Hausmeister, der dort den Boden polierte, fragte.
Die geschlagene halbe Stunde vertrieb er sich damit, einige mathematische Formeln, lateinische Vokabeln und vor allem Notenfolgen von Mozart im Kopf durchzugehen.
Mit einem Mal wurde die Tür auf geknallt, das Geschrei war verstummt, umso deutlicher war das Knurren auf Jacks Lippen, als er mit großen, schweren Schritten aus der Tür schritt.
Robin war sogleich aufgesprungen, wohl aus Schreck, Angst, dem dämlichen Bedürfnis, Jack auf sich aufmerksam zu machen, genauso gut hätte er sich ihm als „Nachspeise“ servieren können.
Das war er in dem Augenblick auch.
Zuerst starrte er den nur wenige Meter von sich befindenden kleinen Jungen – „Erdnuckel“ wie er ihn ja genannt hatte – gleichsam fassungslos an, besann sich aber schnell wieder , sodass er Robin während er die Tür hinter sich schloss, mit seinen gefährlich funkelnden Augen, einem tödlichen Blick, weiter fixierte.
Robin wusste nicht wie er reagieren sollte, würde es seine Todesangst doch verraten, wenn er sich in den Sessel zurück plumpsen ließ.
Stattdessen verharrte er wie eine Startur an Ort und Stelle.
Im nächsten Moment fasste Jack in seinen Rucksack mit dem Transparent seiner eigenen kleinen Band, holte eine Zigarettenschachtel hervor, steckte sich eine zwischen die schmalen Lippen und setzte sie mit seinem schwarzen Feuerzeug mit dem roten Drachen drauf in Brand.
Genüßlich zog er dann daran, ohne die Augen von seinem gegenüber zu nehmen.
Das Rauchen war im ganzen Schulgebäude verboten, einer der Gründe, weswegen Jack zur Direktorin gerufen worden war, sogleich vor deren Zimmer eine Zigarette anzustecken, störte ihn kein bißchen.
Robin hingegen drohte an dem Gestank zu ersticken, obwohl er außer Reichweite war.
Schließlich wendete sich der Langhaarige mit den Tatoos auf dem Hals ab und schritt ohne Weiteres den Gang hinunter. Seine Boots dröhnten in Robins Ohren, er glaubte ihn frivol pfeifen zu hören.
Er blickte ihm noch lange nach.
Jack war ein Genie.
Bevor er nochmals anklopfte, atmete der Junge noch einmal tief durch, Jacks Zigarettenmarke.
Er wurde hinein gebeten.
Der Vorraum war leer, sah aus, wie ein weiteres Wartezimmer, das Wartezimmer eines englischen Psychologen.
Die Decke schien sehr niedrig zu hängen, sogar für Robins Verhältnisse, ein hohles Geräusch bei jedem seiner behutsamen Schritte.
Als er dann den Türrahmen passierte, erblickte er mit jedem weiteren Schritt mehr von der Frau, vor der er sich innerlich fürchtete.
„Tritt ruhig ein, Robin.“ , bat sie ihn mit einer Handbewegung, worauf er sich etwas nervös vor ihr plazierte.
Der Sitz war noch warm...
„Und, wie war dein erster Tag?“
Eine sehr persönliche Frage, mit der er gerechnet hatte; wie bei einem Arzt.
Robin überlegte, versuchte sie durch eine Lüge zu beschwichtigen:
„Nicht so schlimm, wie ich erwartet habe.“ Er versuchte zu lächeln, es als einen Witz abzutun, es war auch einer.
Lächelnd legte sie den Kopf schief:
„Siehst du, was habe ich dir gesagt.“
Tiefe Kerben um ihre Mundwinkel, das Sonnenlicht des Vormittags setzte streifenweise einen weißen Schimmer in ihr rotes Haar, wieder eine Kettenraucherin.
„Ich...habe dich hierher gebeten, um dich um einen Gefallen zu bitten.“
Robin schaute misstrauisch auf – Jane konnte sagen, dass es der gleiche misstrauische Blick war, den auch der vorige Junge hatte.
„Es wäre uns eine große Ehre, wenn du bei der morgigen Kirchenmesse Violine spielen würdest.“
‚Natürlich...‘, dachte der Junge.
„Dein musikalisches Talent wurde mir wärmstens empfohlen.“ ,
fügte sie dann hinzu und deutete ins Nebenzimmer, in dem Robin Anthony auffand.
Er stand mit einem Stapel Papiere neben dem Kopierer, zwinkerte ihm grinsend zu. Wieder die Brille auf seiner noblen Nase.
Das hatte er nun seiner Privatvorstellung vom ersten Abend zu verdanken, wie hinterhältig.
„Als Liebhaberin klassischer Musik wäre es mir eine Freude, wenn du dich dazu bereit erklären würdest.“
Am Abend saß Robin auf seinem Bett, schrieb ordnungsgemäß in sein Tagebuch. Noch kein einziges Wort über Jack.
Das Fenster stand weit offen, dieses Mal hatte er es öffnen können.
Er wartete darauf, dass die anderen beiden jeden Moment zurück kamen, doch die Tür knarrte nicht.
Also legte er das Tagebuch aus der Hand – er war Linkshänder - sprang schleunigst auf, sah noch einmal in Richtung Tür und begann sich auszuziehen.
Zuerst legte er diese grässliche Krawatte mit dem Signum der Schule ab, knöpfte mit seinen kleinen, gepflegten Händen das Hemd auf, legte seinen Rücken frei. Demolierte Wirbel, er wollte nicht der Spiegel sein, dem er seinen Makel entgegen wandte. Hoffentlich würde jetzt niemand hineinstürmen, welch eine Blamage!
Er verspürte immer noch das Bedürfnis, seine Arme zu verrenken, um zu versuchen, seine Schulterblätter zu betasten – von wegen er war nicht sportlich!
So schnell wie möglich ging er dann zum Schrank hinüber und schlüpfte in seinen Pyjama.
Ein Blick in den Spiegel, er schritt hinunter ins untere Stockwerk.
Wie umständlich es doch war in seinen Hausschuhen die Stufen hinunter zu gehen. Hoffentlich würde ihn keiner sehen, wer trug denn heutzutage noch Pyjamas?
Doch als er in den unheimlich stillen Gang schritt, fiel ihm wieder ein, dass irgendwo eine Party gefeiert wurde, sodass er beruhigt sein konnte.
Er wollte nur wissen, wo Anthony so lange blieb.
Vielleicht hatte er sich die beste Gelegenheit ausgesucht, um den Duschraum zu benutzen.
Es war stockdunkel, nur das Licht aus dem öffentlichen Raum galt Robin als Orientierungspunkt.
Normaler Weise hatte er ja Anngst im Dunkeln, aber mittlerweile schien ihm das Gebäude bei Nacht verführerisch.
Langsam schlich er sich an die Tür heran, sie stand einen Spalt offen, der Spalt, der einen Lichtstrahl über den schwarzen Boden schickte.
Der Dunst heißen Wassers kam ihm entgegen, als er einen Blick hinein warf, aus reiner Neugierde.
Vor den großen Spiegeln erblickte er dann Jack.
Er hatte seine Haare nach hinten gebunden, rasierte sich.
Robins Augen fixierten ihn, merkwürdig, ihm beim Rasieren zuzusehen.
Die tödlichen Augen, die konzentriert in den Spiegel schauten, ohne dass er zersprang, die sein Ebenbild betrachteten, ohne dass er tot umfiel, ein dunkler Schatten auf seinen Augen, obwohl die Lampe direkt über ihm war.
Er trug wieder sein schwarzes Muskelshirt, sodass Robin noch mindestens zwei weitere Tatoos entdeckte.
Der junge Mann hatte wirklich eine sportliche Figur.
Ein Gefühl des Neides, welches kleine Brüder empfanden, wenn sie ihre älteren Brüder beim Rasieren beobachteten.
Robin war gekränkt.
Im Hintergrund rauschte das Wasser, wurde dann schließlich abgestellt.
Eine Stimme erklang aus den Duschräumen:
„Hast du vor, bei der Kirchenmesse morgen zu erscheinen?“
Robin war überrascht.
Versuchte Anthony Jack dazu zu bringen, sein Konzert zu besuchen?
Ohne es ihn natürlich wissen zu lassen, sehr clever aber auch besorgniserregend. Der Pianist bemühte sich wohl, zwischen ihm und Jack zu vermitteln.
„Vielleicht.“ , antwortete Jack, während er sich den Schaum ab wusch. Anthony trat in den Vorraum nur mit einem Handtuch um den Hüften.
„...wenn ich vorher genügend gekifft habe.“ , fügte der Brünette noch grinsend hinzu.
Der andere reagierte darauf jedoch nur mit einem gequälten Lächeln, würde Jack doch endlich zu rauchen aufhören! Der Gestank störte ihn und Jack wusste das.
Die nasse Haut des großen Blonden glänzte im Lampenlicht. Er stellte sich neben Jack und trocknete seine goldenen Haare mit einem Handtuch ab, während er Jacks Spiegelbild ansprach:
„Ist jedes Mal wirklich eine Herausforderung für dich, dir die Predigten anzuhören, was?“
Jack biss sich mit erhobener Augenbraue auf die Zähne, Anthony lächelte verwegen:
„Wie du mit den Augen rollst. Dein Rekord liegt bis jetzt bei sechs innerhalb von fünf Minuten.“
Sein Lächeln war unwiderstehlich.
Doch dann geschah es.
Das war der Augenblick, in dem Robin stutzig wurde.
Anthony näherte sich dem anderen, der sich langsam aufrichtete. Mit sinnlicher Stimme strebte sein Gesicht auf das des anderen zu:
„Du hast also während des Gottesdienstes nichts Besseres zu tun, als mich zu beobachten.“
Der schmale, langgezogene Mund, ein intensiver Blick.
Mit großen Augen fixierte Anthony ihn, flüsterte genauso betörend:
„Immer doch, Jacky.“
‚Jacky??‘
Während Robin dieser Kosename, der überhaupt nicht zu dem Sportler passte, beschäftigte, staunte er nicht schlecht, als er Anthony seine Arme um Jacks Hüften legen sah, um ihn an sich zu ziehen und sein Gesicht gegen das des anderen zu pressen.
Die Pupille von Robins blauen Auge, das durch den Spalt stierte, reduzierte sich aufs Minimale, er musste es schmerzhaft anstrengen, um es richtig erkennen zu können, denn er sah nur Anthonys Gesicht, Jack stand ihm mit dem Rücken entgegen gewandt.
Robin trat zurück, ging geschockt und grübelnd den dunkeln Gang entlang zurück in das Zimmer.
Hätte er damals doch bloß schon gewusst, dass dies der Anfang vom Ende gewesen war.
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Blendendes Licht durchbrach die Rosette an der Decke der Kapelle, strahlte göttlich auf das Gesicht des jungen Geigers, kitzelte seine Sommersprossen. Durch das Gefühl, sie würden durch die Wärme gedeihen, senkte er seinen Kopf, presste das Streichinstrument tiefer in seine Kehle.
Er tanzte mit geschlossenen Augen, starr vor Angst.
Sämtliche Schüler saßen um ihn herum, waren unheimlich still. Ihren Gesichtern brauchte der kleine Junge gar nicht entnehmen, dass sie nicht die leiseste Begeisterung für seine himmlischen Musik aufbringen konnten.
Erfahrungsgemäß war kaum ein Junge seines Alters dazu fähig.
Außer natürlich die Direktorin, der Pfarrer, die Lehrer und selbstverständlich Anthony, der in der ersten Reihe saß.
Ehrliche Bewunderung für das Talent des 14-Jährigen lag auf seinem Gesicht.
Robin fiel es seltsamer Weise schwer, ihn anzusehen.
Viel zu sehr hatte ihn das, was er im Duschraum gesehen hatte, verwirrt. Zweifelslos hatten die beiden sich geküsst – er war ja nicht dumm, nur unerfahren und durch seine konservativen Erziehung geprägt.
So etwas hatte er noch nie zwischen zwei Jungen gesehen!
In der Gegend, aus der er stammte, hielt man nicht viel von dem 21. Jahrhundert, Homosexualität wurde tot geschwiegen.
Robin musste sich langsam eingestehen, dass er den Schock darüber schon längst überwunden hatte, eher eine Art Neugierde ihn erfasst hatte. Er wusste nur nicht, wie er darauf reagieren sollte. Irgendetwas sagte ihm, dass man darauf gar nicht reagieren brauchte, dass es nichts daran ändern würde, was er von Anthony hielt.
Im Grunde störte es ihn nämlich, dass Jack „involviert“ war.
Dieser saß in einer äußerste unangemessenen Haltung auf der anderen Seite der Sitzbänke, starrte Robin die ganze Zeit kritisch, wenn nicht bestialisch, an.
Sein dämonischer Blick stach wie unzählige Messerstiche in dessen Fleisch.
Doch seine innerliche Nervosität brachte ihn glücklicher Weise nicht soweit, dass er die falsche Saite erwischte.
Er hatte sich noch nie verspielt.
Anthony warf bewusst einen erwartungsvollen Blick zu Jack herüber.
Er wünschte sich so sehr, dass dieser sich mit dem Adoptivsohn seines Vaters aussprechen würde.
Gab es denn etwas zwischen den beiden zu besprechen?
Sicherlich. Anthony war der Meinung, dass sie sich sehr ähnlich waren.
Was hätte er selbst dafür gegeben, einen älteren Bruder zu haben, immerhin hatte er nur vier ältere Schwestern, in seinem Falle wäre dann doch wohl ein jüngerer Bruder notwendig...
Robin bemerkte den Blick, den Anthony Jack zu warf.
Erinnerung an den gestrigen Abend.
Was sich wohl hinter seinen tiefen dunklen Augen verbarg?
Einige Stunden später war Mittagspause.
Robin musste sie allein verbringen, da Anthony seinen Pflichten als Redakteur nachgehen musste.
Der Sonnenschein, der durch die großen Fenster drang, und die Bilder der Schüler an den Wänden, die er ins Visier nahm. Gottes weite Fluren. Die Sonne schien ihn schon den ganzen Tag zu verfolgen.
Er selbst konnte nicht malen, leider.
Er hatte das Gefühl, dass ihn alle beobachteten, mit den Finger auf ihn zeigten und tuschelten, strenge Kritik an seinem Auftritt.
Anthony musste so etwas sicher nicht über sich ergehen lassen, unfairer Weise.
Das Rumoren machte ihm nichts aus, er ermahnte sich, sich erhobenen Hauptes durch die Menge hindurch zu kämpfen, als wäre er besser als die anderen. Tief im Inneren wusste er auch, dass er es war.
Keine Abschiedsfeier zu Hause, bevor er hierher gekommen war.
Der langhaarige Brünette, dieses Mal ohne Boots, stand ungewohnt in seiner Schuluniform auf der anderen Seite des Ganges, die Band „Delirium“.
Während Robin konzentriert auf irgendeinem Punkt am Ende des Flures starrte, bemerkte er weder Jack noch das ausgestreckte Bein, das sich ihm plötzlich in den Weg stellte.
Sein weitaus kleinerer Fuß verfing sich in den Raum zwischen dem Knochen und dem Parkettfußboden, er fiel vornüber, wie in Zeitlupe und doch zu schnell, um es rückgängig zu machen.
Robin Lavigne, das kleine Wunderkind, der selbst ernannte Violinist, landete auf den Boden!
Erst als er aufgeschlagen war, als dieses dumpfe Geräusch seiner Kleidung, seines Körpers, ertönte, konnte er die Umstehenden wieder hören, sie lachten.
Spätestens jetzt war er jedermann aufgefallen.
Er lag da, starrte auf den nach Desinfektionsmittel stinkenden Boden, die schadenfrohen Übeltäter feierten ihren Triumph, das klatschende Geräusch ihrer Handflächen, Jungenspielchen.
Natürlich hatte Jack, der immer noch bei den Plakaten stand, den Vorfall bemerkt. Er trug seine schwarze Sonnenbrille, was selbstverständlich untersagt war.
Er zögerte, rümpfte seine Nase, seufzte wütend und stürmte zu der „Unfallstelle“.
Sie lachten noch immer.
Jack versetzte einem von ihnen einen kräftigen Stoß:
„Hast du sie noch alle?“
Sogleich verstummte das Gelächter.
Portland staunte nicht schlecht, als er es mit Jack zu tun bekam:
„Hey, was regst du dich so auf!“ , beschwichtigte er ihn mit einem dreckigen Grinsen,
„Der Kleine hat sich doch nichts getan!“
Robin spürte einen brennenden Schmerz in seinem rechten Knie, der sich über das ganze Bein ausbreitete.
Er wagte es nicht aufzublicken, die vielen Füße um ihn herum reichten ihm schon, da er sich deren hämische Miene denken konnte.
Obwohl er ihn nicht sah, wusste er, dass es Jack war.
Immer wieder versuchten die beiden Jungs einander abzuwehren.
„Gönnst uns wohl nicht mal ein bißchen Spaß, Viola!“ , zischte der
spargeldünne Schwarzhaarige, ein Ächter, wie er im Buche stand.
Er ergötzte sich gerne einmal an dem Übel anderer.
Jack hätte mit seiner Sonnenbrille nicht unnahbarer und souveräner wirken können, er schnaufte, als er die Bezeichnung „Spaß“ aus der verlogenen Fresse des anderen hörte.
Mit einem vorfreudigen Grinsen gab er dann zurück:
„NEIN, ABER MIR!“
Sogleich stürzte er sich auf die Bande.
Sie prügelten sich, die Mitschüler jubelten ihnen zu, der Sportler verpasste dem Widerling eine blutige Nase.
Innerhalb weniger Sekunden schritt er zurück, vor Robin.
„Komm, steh auf, Lavigne!“
Widerwillig bot er ihm die Hand an, aber Robin schaffte es nicht, sich aufzurichten.
„Na, los!“
Jack war in Eile, jemand würde die Schulleiterin benachrichtigen.
So packte er sich ihn einfach und zog den Jungen hinter sich her.
Die anderen gaben ihnen wortlos den Weg frei.
„Was ist denn?“ , meckerte Jack, als Robin lahmte, sein Knie blutete so stark, dass seine blaue Hose sich verfärbt hatte.
„Scheiße!“ Der Retter in der Not hielt kurz inne.
„Ich bring‘ dich ins Krankenzimmer.“
Immer noch schleifte er Robin hinter sich her.
Dieser brachte beim besten Willen kein Wort heraus, nicht einmal ein Danke. Ihn störte lediglich, dass der Ältere sein Handgelenk nicht los ließ, sodass er sich kurz vor dem Ziel von seinen Griff befreite, wie ein trotziges Kind.
Jack blieb stehen, drehte sich zu den Jungen mit den kastanienfarbenen Haaren. Ein empörter Blick, der schnell einem stummen Moment wich, in dem die beiden einander einfach nur verschlossen anstarrten.
Ob Schuldzuweisungen dabei mitspielten?
Jedenfalls ließ sich in Robins schillernde Augen sowohl Misstrauen und Angst als auch Unsicherheit gegenüber dem anderen ablesen.
Jacks Miene war hingegen undefinierbar.
„Wie du willst.“ , er löst sich aus der Starre, schob seine Hand zurück in die Hosentasche.
„Ich fang dich nicht auf, wenn du stolperst.“ , murmelte er dann, während er sich der Tür näherte und anklopfte.
Robin ließ seinen bösen Blick weiterhin auf den anderen ruhen, nun schmerzte auch noch sein Rücken.
Keine Antwort der Krankenschwester.
So trat Jack einfach in das Zimmer, sah sich suchend um.
Derweil folgte Robin ihm mit unsicheren Schritten, bei jedem Auftreten zuckte er zusammen.
Im Nebenzimmer war auch niemand, nur der Geruch von heißem Kaffe.
„Scheint wohl schnell mal eine Rauchen gegangen zu sein.“ , kommentierte Jack, als er wieder zurück stampfte.
Robin hatte sich auf die Liege niedergelassen, die Sonne schien ihm schon wieder von draußen in den Rücken.
Mit zusammengepressten Zähnen bemühte er sich sein Hosenbein hoch zu krempeln, um die Wunde zu begutachten.
Jack wollte sich wohl gerade eine Zigarette anzünden, wie es das Geräusch seines Feuerzeuges verriet, als er sich plötzlich neben Robin setzte:
„Zeig mal her!“
Er schob seine Sonnenbrille über die Stirn.
Unwillkürlich ließ Robin Jack, der die Zigarette unangezündet zwischen den Zähnen behalten hatte, die Wunde auf seinem wenig behaarten Bein freilegen. Aus irgendeinem Grund verspürte er Scham, sodass die Wahrscheinlichkeit, ein Wort in dessen Gegenwart zu verlieren, noch geringer wurde.
Der Jüngere sog tief Luft ein, als der andere die Hose über das verletzte Knie zog.
„Wow,“ , gab der Brünette durch seine zusammengebissenen Zähne, „scheinst ja noch ein Talent zu haben.
Sieht richtig professionell aus.“
Robins Gesicht legte sich in Falten.
‚Noch ein Talent...‘ - meinte er damit die Vorführung von heute Morgen, war das etwa ein Kompliment gewesen?
Sie blickte einander nicht an. Jack stand kurzerhand auf und ging zum Erste Hilfe-Kasten.
Das Blut quoll aus der Platzwunde, überdeckte die angeschwollenen, blauen Bereiche auf seiner Haut. Robin sah in die Wunde hinein, wohl um sich von Jack abzulenken, demoliertes Gewebe.
Wortlos nahm Jack wieder neben ihn Platz, wortlos säuberte er die Wunde, desinfizierte und versorgte sie, natürlich weiterhin mit der Zigarette im Mund.
Währenddessen beobachtete Robin jede seiner Handbewegungen, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen.
Solch sanitäres Können hätte er dem anderen nicht zugetraut!
„Warum hast du dich nicht gegen diese Wichser gewehrt?“ , fragte der Blauäugige dann nebenbei.
So eine Ausdrucksweise war der Spross seiner wohlhabenden Mutter nicht gewöhnt.
Stille kehrte ein, während Jack ihm den Verband anlegte.
Robin wusste nicht, ob er ihm eine ehrliche Antwort geben sollte oder eine, durch die er sein Gesicht wahren könnte.
Er entschied sich gegen seine Vernunft für den ersten Impuls:
„Ich weiß nicht. Ich hätte sowieso keine Chance gegen sie gehabt.“
Sofort blickte Jack skeptisch auf, dem Jungen direkt ins mit Sommersprossen bedeckte Unschuldsgesicht. Er schien verärgert.
„Hast du dich schon mal mit jemandem geschlagen?“
Robin schüttelte unsicher den Kopf, wieder dieser Killerblick.
„Woher willst du das denn wissen?“
Seine Augenlider verengten sich, wie die einer Raubkatze.
Obgleich die Zigarette ein Störfaktor war, schaffte der Langhaarige es trotzdem, einschüchternd auf den anderen zu wirken:
„Nur ein jämmerlicher Feigling drückt sich vor einer Sache, in der er sich überhaupt noch nicht geübt hat.
Auf den Versuch kommt es an, Lavigne.“
Robin nickte ehrfürchtig, senkte dann beschämt den Blick.
Wieder herrschte absolute Funkstille zwischen den beiden.
Robin wollte Jack helfen, den Verband zu festigen, befürchtete aber, er würde ihm dafür die Hand abreißen...
Solchen Leuten durfte man bloß nicht ins Handwerk pfuschen.
Plötzlich sprach er wieder mit seiner lässigen Stimme:
„Dann kannst du dir den Sportunterricht wohl erst’mal abschminken.“
Robin zuckte die Schultern: „Ich nehme sowieso nicht am Sportunterricht teil.“
Derweil fixierte Jack den Verband vorsichtig mit einer Klammer.
Ob er Anthony gestern Abend wohl auch umarmt hatte? Robin erinnerte sich nicht.
Erneut entgegnete der Ältere aufgebracht, als wäre es eine Schande:
„Wieso nicht?“
„Ein Artest von meinem Arzt.“ , verlegen erinnerte er Jack wieder an seine Beschwerden. Der andere hatte es ja damals als eine Ausrede abgetan.
„Ich habe einen schiefen Rücken.“
„So?“, Jack legte wieder den Kopf schief, war gerade mit seiner Arbeit fertig geworden.
„Lass mal sehen!“ , nuschelte er auffordernd.
Robin blinzelte verwirrt aus der Wäsche, sein Gesicht verfärbte sich.
Das war doch wohl ein Witz.
Unwillig sah er sein gegenüber an, der seine Zigarette gerade wieder eingesteckt hatte.
Erwartungsvoll richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen.
Jack rollte mit den Augen.
„Na, los! Hab dich nicht so!“
Wehrlos musste sich Robin Jack ergeben, der an seiner Jacke zog, ungeduldig wartete, bis Robin sein Hemd aufgeknöpft hatte.
‚Warum tue ich das eigentlich?‘ , fragte der 14-jährige sich.
Er hatte sich noch nie vor einem anderen Jungen ausgezogen. Natürlich musste es gerade Jack Viola, Ethans Sohn, sein, doch er hatte im Eifer des Gefechts keine Zeit, näher darüber nachzudenken.
So war das doch immer in entscheidenden Augenblicken.
Viel eher war dies der Grund für seinen Scham als der, dass er Jack einen anderen Jungen küssen sehen hatte.
Er drehte sich zur Seite, präsentierte Jack seinen verhassten Rücken.
Mit dem skeptischen Blick eines Arztes untersuchte Jack den mageren, unmuskulösen Rücken, betastete die kleinen verhärteten Stellen, die Robin gerne „Buckel“ schimpfte, mit seinen Händen.
„Sieht doch gar nicht so schlimm aus.“ , war seine simple Diagnose.
Noch bevor Robin irgendwelche Einwände vor Empörung über diese gewaltige Untertreibung äußern konnte, fügte Jack noch souverän hinzu:
„Außerdem...“, er biss sich triumphierend auf die Zunge,
„wer so Geige spielen kann wie du, kann kein Invalid sein.“
Schon wieder ein Kompliment. Robin warf ihm einen erstaunten Schulterblick zu.
Jack schüttelte grinsend den Kopf, klopfte sachte auf den entblößten Rücken:
„Du brauchst nur ein bißchen Training und voila...
du kannst deine Placebos in den Atlantik spülen.“
Robin wollte protestieren, platzte fast vor Raserei, da warf Jack ihm das Hemd entgegen.
„Training?“ , hakte Robin skeptisch nach.
Jack hatte seine begonnene Zigarette natürlich nicht vergessen, steckte sie sich jetzt so unbescholten wie er war an, in einem Medikamentendepot.
Eine Rauchwolke stieg über seinem Kopf empor.
„Ja, du kannst mit Anthony und mir joggen gehen.“
Seine azurblauen Augen fixierten Robin undefinierbar:
„Ich trainiere dich, Kleiner.“
In was hatte der Junge mit den verschiedenartigen Augen sich da bloß hinein geritten?
Dann vervollständigte Jack bewusst, klopfte mit einem trägen Grinsen auf Robins Oberschenkel:
„Damit du deine Koffer das nächste Mal alleine tragen kannst.“
Kirchengesang erfüllte die Kapelle, Knabenstimmen verhallten an den porösen weißen Wänden, dem Haus Gottes. Ein Geschenk seiner Nachkommenschaft aufstrebender Jugendlicher, tugendhaft, aufopferungsvoll, versteckt hinter ihren Gesangsbüchern.
Der kahlköpfige Musiklehrer versuchte alles, um der Meute himmlische Klänge zu entlocken, vergebens.
Robin stand auf dessen Anweisung in den oberen Reihen, da es erst noch herauszufinden galt, in welcher Oktave der junge Geiger sang, ob er überhaupt singen konnte.
Dummer Weise war der gute Mann jedoch so sehr damit beschäftigt die Jüngeren zu pirschen, dass er weder Robins zusätzliches Gesangtalent bemerkte, noch dass er einer der wenigen war, die überhaupt darüber verfügten.
Der Junge mit den verschiedenen Augen, dem hinkenden Bein, und ( der Vollständigkeit halber) kaputten Rücken, war sich jedoch genauso wenig über seine herrliche Stimme bewusst wie die anderen, sodass er nur leise vor sich hin sang.
Er beobachtete die anderen beiden, Anthony und Jack, die einige Meter vor ihm standen, eng aneinander, Händchen haltend!
Er konnte ihre ineinander verschlungenen Hände sehen, gut versteckt hinter ihren Hüften, aber nicht gut genug, um Robins Spürsinn zu entgehen.
Der Junge betrachtete die beiden Hände bis ins kleinste Detail, war von ihrer Unterschiedlichkeit fasziniert.
Anthonys Haut war um mehrere Nuancen heller als Jacks, beinah weißlich, wie Porzellan.
Robin schätzte einmal, er sollte eigentlich ein Albinokind werden.
Doch hatte er wohl als Embryo noch einmal Glück gehabt, sich dieses Merkmal aber zu Nutze machen können, sodass Anthony nun mit seiner milchfarbenen Haut und seinen blonden Haaren schöner nicht hätte sein können.
Seine Fingernägel waren gepflegt.
Ethan Lavigne war Genforscher.
Jacks Hand war hingegen straffer und kräftiger gebaut, wie zartes Leder über seinen robusten Fingerknochen, die er in Pauls Gesicht gerammt hatte. Dreckige, ab abgenagte Fingernägel, ansatzweise gelblich durch sein Raucherproblem, wenn man genau hinsah, schwarzer Schmuck. Leicht gebräunte Haut, Robins im Gegensatz weiß wie Schnee.
Sie schienen sich zu amüsieren und niemand außer ihrem Mitbewohner sah es.
Als sie die Kapelle wieder verließen, den Eingang durchquerten, fiel Licht auf sie. Es blendete Robin und die anderen Schüler, die ihren Gottesdienst absolviert hatten.
Immer noch rannte er den anderen beiden hinterher, die weiter vorn in der Menge nebeneinander her gingen.
Er war allein.
Jemand wartete bereits auf sie.
Ein großer dürrer Junge mit einer teuren Brille aus der Oberstufe, wie Robin erkennen konnte, kurze dunkle Haare, hinterhältig.
Richard, der elitäre Neffe der Direktorin, das Ekel.
„Viola,“ , sprach er mit aufrechter Haltung und hinterm Rücken verschränkten Armen, wie frisch aus dem Militärdienst.
„Miss Calendar schickt mich. Sie möchte dich sofort sprechen.“
Jack sah den Wichtigtuer nur herablassend an, neben ihm Anthony.
Richard Fenning konnte sich sein hämisches Grinsen nicht verkneifen:
„Nicht notwendig, dir den Anlass zu nennen.
Er ist vorlaut, hat eine gebrochene Nase und sein Vater, der Bankier, kann es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen.“
Seine Stimme klang grauenhaft, die traditionelle Arroganz eines Engländers, das Schlimmste war sein übertriebener Zynismus.
Jack hatte seinen Blick nach vorne gerichtet, um diesen Widerling nicht ansehen zu müssen, er fuhr sich mit seiner spitzen Zunge über die Zähne, schien nicht gerade begeistert.
Sein einziger Kommentar:
„Du kannst wohl nie genug von deinem selbstgefälligen Gelaber bekommen. Was, Richi?“
Anthony schmunzelte, zog dann aber an Jacks Jackett:
„Es ist besser, wenn ich dich begleite.“ , sagte der Blonde ernst.
Richard verschwommen im Vordergrund, dunkler Augenwinkel.
„Nein, ist schon gut.“, winkte Jack freundlich ab und machte sich auf in Richtung Schulgebäude.
„Die kriegen mich nicht klein.“
Er spuckte seinen Kaugummi auf den Rasen.
Anthony schaute ihm mit einem besorgten Gesichtsausdruck hinterher, warf dem Schülersprecher, seinem Rivalen, einen misstrauischen Blick zu.
Richard trat vor ihn, machte eine ironisch höfliche Kopfbewegung zum Abschied.
„Anthony.“ , gurrte er mit tief männlicher Stimme, undurchdringliche Augen.
Dann schritt der Brillenträger Jack mit seinem triumphierenden beinah tuntigen Gang hinterher.
ANTHONY HASSTE IHN!
Er war der Freund seiner um ein Jahr älteren Schwester, Christine, die die benachbarte Mädchenschule besuchte.
Was sie nur an diesem Richard fand!
„Scheiße...“ , fluchte Anthony vor sich hin. Jack würde wohl endlich von der Schule fliegen!
Plötzlich hörte er jemanden hinter sich seinen Namen rufen.
Robin war, nachdem er das Spektakel aus der Ferne beobachtet hatte, zu dem anderen hinüber gehumpelt. Der Kleine schien wahrlich besorgt, zog ein wenig an dem Ärmel des Älteren:
„Anthony, es ist meine Schuld.
Jack hat sich wegen mir mit diesen Typen geschlagen, da mir einer von ihnen ein Bein gestellt hatte.“
Befremdung in dem Gesicht des Pianisten, das im prallen Licht der Sonne glänzte.
Das hatte er nicht gewusst, weder von den anderen noch von Jack erfahren!
Natürlich hatte er ihm seine Heldentat, die Anthony sehr erstaunte, verschweigen müssen!
Seine kastanienbraunen Augen musterten den Jüngeren:
„Daher dein verletztes Bein?“
Robin nickte mit zusammen gepressten Lippen.
„Gut.“ , Anthony legte seinen Arm um seine Schulter, sein Blick ungewöhnlich seriös.
„Dann komm mit.“ Sie folgten den anderen beiden ins Direktorat.
Dort angekommen, fanden sie sich in einer wirren Diskussion wieder, die Portlands Eltern provozierten.
Ihr lieber Sohn jedoch ganz unschuldig in ihrer Mitte, auf seiner Nase ein weißer Streifen. Die Schwellung in seinem Gesicht machte ihn auch nicht hübscher anzusehen.
Miss Calendar versuchte die wohlhabende Familie zu beruhigen, doch sie schenkten ihren Bemühungen keine Beachtung, verlangten nur immer wieder, dass Jack Viola für seine Gewalttat von der Schule verwiesen würde.
Der Langhaarige stand kommentarlos inmitten des Gebrülls, seine Hände locker in seinen Hosentaschen. Die Pause zum Rauchen zu nutzen konnte er dann wohl vergessen.
Wenn er mal aufsah, warf er den bemitleidenswerten Portland, das Baby seiner Eltern, nur ein herausforderndes Grinsen zu.
Er verhielt sich Jane nicht gerade sehr dankbar gegenüber, wenn man ihre vielen Bemühungen bedachte, ihn an der Schule zu behalten.
Doch als Anthony mit Robin im Schlepptau herein platzte, musste Jack seine gleichgültige Haltung wohl oder übel aufgeben.
Sein lieber Freund konnte mit seinem Dickkopf wirklich alles erreichen, wenn er denn wollte.
Deswegen war er Richard, der sich neben seiner Tante im Raum aufhielt, ohne dass es überhaupt notwendig war, auch immer ein Dorn im Auge gewesen.
Nur ganz allein Anthony verdankte Jack seinen verlängerten Schulaufenthalt.
„Was machst du denn hier?“
„Ich sorge dafür, dass deine Bescheidenheit dir nicht den Hals kostet!“
Anthony schob den Jungen mit den unterschiedlichen Augen in die Mitte des Geschehens und führte an, dass Portland es nicht anders verdiene, da er Robin, das Wunderkind, diesen armen kleinen Jungen, gepeinigt hatte.
Sofort verstummte die Familie Portland, dessen Sohn hatte den Blick gesenkt.
Wie es Anthony geplant hatte, jemanden wie Robin, dem Stolz der Schule, Idol der Direktorin, zu schikanieren wiegte weitaus mehr als das ohnehin schon erbärmliches Gesicht von Paul.
Auge um Auge.
Der Blonde hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt.
Richards intrigante Blicke.
Jack kam erneut mit einer Ermahnung davon, die im Grunde eher einem Lob der Direktorin glich.
Robin hatte das ganze Dilemma kaum mit verfolgen können.
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Zur Feier des Tages gönnten sich die beiden Älteren am Abend ein bißchen Alkohol, den Jack irgendwo deponiert hatte.
Sie saßen auf Anthonys Bett, waren heiter.
Derweil befand sich Robin im hinteren Teil des Zimmers, hielt bewusst von seinem Revier aus Abstand.
Er zog es vor, seinen Tagebucheintrag zu tätigen, ihr Gekicher, ihr Geläster, über sich ergehen zu lassen.
Betrunkene Leute waren ihm suspekt. Seine Mutter trank viel am Abend.
Jack erhob den kleinen Plastikbecher:
„Ein weiterer Sieg über Cali! Mann, die Schnepfe wird mich in tausend Jahren nicht von der Schule schmeißen können!“
„Sicher?“ , Anthony setzte seinen ab, seine Wangen waren errötet, er grinste belustigt:
„Du bist ja auch ihr Liebling, ihr Günstling.“ , fügte er in einem gewissen Unterton hinzu und kniff provozierend in Jacks Wange, wie man es bei einem kleinen Jungen tat, wie Robin es kannte.
Der Junge mit den verschiedenfarbigen Augen beobachtete das Ganze insgeheim, skeptisch , aber die beiden nahmen sowieso keine Notiz von ihm, zum Glück.
Jack schob Anthonys Hand von sich, behielt sie aber in seiner.
Er lehnte sich in einer coolen Haltung zurück, verzog das glühende Gesicht:
„Eher ihre pädagogische Herausforderung auf Lebenszeit, das schwarze Schaf!“
Er zog den Mundwinkel hoch und fügte herablassend hinzu:
„Wenn die alte Jungfer sonst keine Gelegenheit bekommt, ihren Blutdruck zu erhöhen!“
Sogleich brach Anthony in Gelächter aus, steckte Jack damit an.
Noch nie zuvor hatte Robin die beiden so gesehen.
Nicht nur Anthony, dem er nicht zugetraut hätte, dass er gern mal einen über den Durst trank, vor allem Jack, dessen Lächeln, dessen Lachen nur in Gegenwart seines Freundes auftrat.
Unbewusst begann der sommerspössige Junge, die beiden am Rand der weißen Nachbarseite zu zeichnen. Nur unsicher tanzte die Kugelschreibermiene über das Papier.
Eigentlich zeichnete Robin nicht, weil es ihn zu sehr an seinen geliebten Vater erinnerte, dem Künstler David Lavigne.
Er erinnerte sich, wie er ihm, an einem der wenigen Tagen, an denen es ihm gut ging, beim Malen ihres alten Gartens beobachtet hatte. Die sicheren, exakten Linien, seine rauhen, faltigen Hände, das Aderwerk.
Robin kniff gequält die Augen zusammen, als er daran dachte, zu groß war der Verlust. Er zeichnete nur die Umrisse der beiden Jungen, wie Silhouetten.
„Diese arme Lesbe!“ , murmelte Jack dann, bevor er zum nächsten Schluck ansetzte.
„Du solltest nicht so über sie sprechen!“, kommentierte Anthony dann etwas affektiert, strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht.
Sein Blick wurde ernst:
„Immerhin verdankst du ihr, dass du noch hier bist.“
– In Gedenken an seine Bemühungen, für die Jack auch keine große Dankbarkeit zeigte.
Der Dunkelhaarige prustete verächtlich, sodass es seinen Freund irgendwo kränkte.
„Natüüür-lich!“ , erwiderte der Jüngere von beiden dann mit einem hohen Maß an Spott und Zynismus, während er seinen Blick kurz nach draußen aus dem Fenster richtete.
Als er seine Augen wieder auf sein gegenüber richtete, hielt er einen dunkeln Blick für ihn bereit, der mit einer obszönen Begierde an Anthony klebte:
„Entschuldige, Ma’am.“
Wieder legte sich ein herausforderndes Grinsen auf seine Lippen:
„Als ob du das nicht auch von ihr denken würdest!“
Jack Violas hypnotischer Blick, der einen in seinen Bann zog.
Doch plötzlich wich dieser einer lebhaften, heiteren Miene:
„Komm schon, ich habe doch recht, oder?“
Anthony hatte zu viel getrunken, als dass er Jacks versteckte Beleidigungen widerlegen konnte.
„Jaaa...“ , antwortete er dann ehrlich, drehte sich mit falscher Verlegenheit weg.
Dabei fiel ihm Robin in seiner dunkeln Ecke ins Auge.
„Siehst du?“, Jack tätschelte den Oberschenkel des anderen,
„Du brauchst doch gar nicht immer so brav zu tun!“ – ein bitterer Blick, in Wahrheit hatte er noch nicht so viel getrunken wie sein hübscher Freund.
Jack bemerkte, dass Anthony einen Plan ausheckte, sein schadenfroher Blick verriet es.
Sogleich sprang er auf, entriss sich Jacks Hand, und rannte fidel herüber zum dritten Bett.
Robin war so tief in seiner Gedankenwelt versunken, dass er kaum mitbekam, dass Anthony sich direkt vor ihn gesetzt hatte.
„Was schreibst du denn da?“ , er griff nach dem Umschlag, beinah übergeschnappt.
„Etwas über uns?“
Robin atmete den süßlichen Geschmack des Alkohols von ihm ein.
Jack beobachtete die beiden kaum merkbar.
Robin warf nervös einen Blick auf die Zeichnung von den beiden.
„Ich..ähm...“
Doch noch ehe er reagieren konnte, hatte Anthony ihm sein wertvolles Eigentum schon vor der Nase weg geschnappt. Er zog Robin auf die Beine, berücksichtigte aber dessen verletztes Knie.
„Komm doch mit zu uns!“
Wieder legte er den Arm um Robin, führt ihn auf die andere Seite des Zimmers, ohne irgendwelchen Widerstand zu akzeptieren, überhaupt zu erwarten.
„Du brauchst hier doch keine Trübsal zu blasen.“
In seinem schamlosen Übermut warf er dem Langhaarigen, der immer noch bequem auf dem Bett lag, einen lasziven Blick zu.
Anthony konnte richtig obszön sein, wenn er es zuließ. Jack wusste das nur allzu gut...
Robin wurde sanft auf das mittlere Bett gestoßen
„Setzt dich ruhig.“ , Anthony nahm Jack ohne zu fragen die Flasche aus der Hand:
„Möchtest du auch was trinken?“
Jack wollte sie nicht hergeben.
„Nein.“ , antwortete Robin entschlossen, die Hände auf dem Schoß gefaltet, in einem sicheren Abstand von dem anderen Brünetten.
„Wirklich nicht?“ , hakte Anthony mit seinen roten Wangen noch einmal nach, während er sich weiterhin stumm mit Jack um den Alkohol stritt.
Robin schüttelte erneut den Kopf, Anthony brach den Kampf mit Jack ab und gab dem kleinen Jungen sein Tagebuch, das er die ganze Zeit in der Hand behalten hatte, zurück.
„Hier.“
Robin war froh, es wieder in seiner Gewalt zu haben. Nicht auszudenken, wenn Anthony darin herumgestöbert hätte.
Anthony setzte sich an das Ende von Jacks Bett, stützte sich auf seinen Knien ab, wie ein Mann:
„Also was schreibst du? ...Gedichte?“
Der 14-jährige fühlte sich überrumpelt, irgendwie unsicher, besonders durch Jacks Anwesenheit.
Verlegen starrte er hinunter auf sein Tagebuch:
„Ja, einige. Aber nichts Originelles.“, log er schnell hinterher.
Plötzlich meldete sich Jack zu Wort, deutete mit dem Zeigefinger auf Robin, wie mit einer Waffe:
„Auch ne Methode, sich vorm Training zu drücken!“
Robin blickte ihn von der Seite an.
Sein privates Training – bis jetzt war daraus noch nichts geworden. Er hatte angenommen, Jack hatte es vergessen, oder einfach nur gelogen.
Die Erinnerung an den einen Vormittag im Krankenzimmer.
Im nächsten Augenblick flog Jack ein Kissen aus Anthonys Richtung entgegen:
„Das musst du gerade sagen!“ , lachte er.
„Lies uns doch mal eins vor!“ , forderte der Blonde das Wunderkind dann auf.
Das hatte Robin gerade noch gefehlt!
Er weigerte sich, suchte Ausreden:
„Ich...glaube nicht, dass...“
Doch Anthonys Durchsetzungsvermögen war stärker. Er nahm keine Rücksicht auf Jack, wie es in einem Racheakt nun einmal so vorgesehen war.
„Na los! Zeig, was du kannst!“, feuerte er sein gegenüber an.
Robin seufzte innerlich, blätterte das Buch in seinen Händen durch, tat, was man ihm befohlen hatte:
„Schienen hinein in den Nebel des Schattenlandes
schneller als des Malers Pinselstriche
lauter als der Schrei der Geige,
aufgefangen von den eisernen Mauern des Klosters
wie der Bucklige im Glockenturm
Allein von der Dunkelheit durchtränkt wächst das Unkraut
Ich und die silbrigen Klänge
Das Zittern meiner Hand von dem Stromschlag der Gitarre“
Bedrückende Stille.
Der Kopf des Jüngsten war mindestens genauso rot angelaufen wie die der anderen beiden.
Anthony applaudierte energisch, Begeisterung sprudelte aus ihm heraus:
„Wow, das war brillant!!“
Robin bemühte sich, sein verlegenes Lächeln zu verbergen.
Mit Komplimenten konnte er nicht umgehen.
„Was sagst du, Jack?“ , sprach Anthony dann zur anderen Seite seines Bettes.
Die kleinen Ohren spitzen sich, Jack lag einen Meter von ihm entfernt:
„Respekt, Kleiner.“ war sein Kommentar.
Ein recht seltener Kommentar, den Anthony Robin gönnte. Ein Lächeln lag auf dessen Lippen.
„Erinnert mich sehr an deine.“
Anthony beugte sich nach vorn, um Jacks Fuß zu erwischen.
„Du schreibst auch Gedichte?“ , rutschte Robin plötzlich heraus, seinem Knie ging es schon besser.
„Ich...“ , er schaute besserwisserisch zu dem Blonden rüber,
„Ich nenne sie Songtexte.“
Anthony steckte ihm die Zunge entgegen, war richtig kindisch und...
„Für meine Band in meinem Kleinkaff von Zuhause.“ , wendete der Langhaarige sich dann eher widerwillig an seinen Nachbarn. Augenrollen.
Während Robin immer noch darüber staunte, da er es dem Sportler gar nicht zugetraut hätte, immerhin verehrte er das geschriebene Wort, warf Anthony Jacks anderes Kissen nach dessen Besitzer.
Ohne sich wirklich darüber klar zu sein, plauderte er dann aus:
„Ach ja? Und woher kommen die vielen Gedichte, mit denen du mich überhäufst?“
Jack missfiel Anthonys waghalsige Offenheit in der Gegenwart des Jungen.
„Schreibst du auch welche?“ , wendete der Kleine sich dann an den Blonden.
Sogleich legte sich eine Art von Bekümmertheit auf dessen Gesicht, er schien nachdenklich, beinah geknickt:
„Nein,“ , Anthony presste seine schmalen Lippen zusammen, „ich hab’s versucht, aber irgendwie fehlt mir die poetische Ader dazu.“
Dem traurigen Lächeln wich dann aber gespielter Optimismus:
„Dafür verschlinge ich alle möglichen Dichter. Ich verehre Walt Withman!“
Robins Augen vergrößerten sich, er hatte bis jetzt nur die zensierten Werke des amerikanischen Poeten lesen dürfen.
Jack presste wieder ein deutliches Prusten aus, ließ sich theatralisch in die Bettdecke fallen:
„Würg! Viel zu schwülstig.!“
Wieder kränkte er Anthony damit.
Jack streckte seinen Zeigefinger senkrecht nach oben:
„Wenn dann Blake, bestenfalls Heym, Trakl.“
Plötzlich deutete er zu seiner Rechten:
„Sagen dir die Namen was, Kleiner?“
Seine strähnigen Haare hingen ganz unordentlich in seinem Gesicht.
Immer noch mechanisch antwortete Robin dann:
„Natürlich. Die deutschen Expressionisten.“
Kurz darauf kramte Anthony sein Bücherregal dann nach Walt Withmans „Grashalme“ durch. Er hatte sich neben Robin nach vorne gestreckt, sah richtig akrobatisch und elegant aus.
Robin hielt die Luft an, als der Junge ihm so nahe war, Jack im Hintergrund.
Der Blonde seufzte erschöpft, als er es gefunden hatte und sich neben den anderen niederließ.
„Hier.“
Eine neue Ausgabe, selbst beschafft.
Robin nahm es dankbar entgegen.
Während Anthonys Kunststück hatte er so einiges an Dingen, die auf der oberen Kommode stand, umgestoßen. Der Blick des kleinwüchsigen Jungen fiel auf den umgefallene Bilderrahmen auf Anthonys Kommode. Er streckte den Arm aus, um es wieder ordentlich aufzustellen.
„Wer ist das?“ , fragte er neugierig.
Anthony und vier andere blonde Mädchen.
Er nahm es von der Kommode und betrachtete es durch seine schwachen Augen:
„Meine vier älteren Schwestern. Eine von ihnen geht auf unsere Nachbarschule.“
Derweil spielte Jack gedankenverloren mit einem diesen glatten, bunten Spielwürfeln.
Robins kleine Finger fuhren über das staubige Glas, die freundlichen Gesichter der Mädchen:
„Sie sehen dir wirklich zum Verwechseln ähnlich.“
Der Junge mit den verschiedenen Augenfarben formulierte es bewusst nicht anders herum.
Anthonys braune Augen regten sich nicht:
„Stimmt wohl...“
Wahrscheinlich war es eine Art Vertrautheit zu diesem Jungen, die Robin so indiskret sein ließ:
„Magst du sie nicht?“
Jack horchte gespannt auf.
„Doch!“ , eine metallische, überholte Antwort aus dem verführerischen Mund.
Robins grünes Auge, das an Anthony haftete.
Kleine Falten auf dessen Stirn.
„..Doch natürlich...“
Es muss wohl das Licht des Vollmonds gewesen sein, das Robin aufgeweckt hatte. Es war mitten in der Nacht, stockdunkel.
Übelkeit blühte in Robin auf, wie das nun mal war, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird, ohne dass das Bewusstsein schon in den Körper zurückgekehrt war.
Er erblickte wie immer zuerst die kahle Wand.
Das kalte Mondlicht stach ihm in den Rücken, es quälte ihn mit Schreckensvisionen, gönnte ihm keine Ruhe, eisiges Feuer.
Etwas war anders, etwas lag in der Luft, leise Laute.
Der Junge drehte sich zur anderen Seite und schaute durchs Zimmer.
Das Mondlicht war stark genug, dass es ihre Umrisse preisgab, dass er genug von dem erkannte, was sie taten.
Robins Pupillen erstarrten augenblicklich.
Sie lagen auf Anthonys Bett in der Mitte des Zimmers.
Der Blonde mit angespanntem, langem Körper, wie der eines weißen Schwans, völlig nackt; seine rechte Hand in das Kissen unter ihm gekrallt, seine Haare, die im Mondlicht golden glänzten, klebten wirr an seinen glühenden Wangen, bebende feuchte Lippen, ein stummer Schrei, der Adamsapfel, der zitternd hervortrat, während er sich wand, rosane Brustwarzen auf seinem Oberkörper, seine Rippen zeichneten sich deutlich darunter ab.
Und alles, was danach kam, wurde von Jack bedeckt, seine Lippen wanderten über die Bauchmuskeln des anderen, immer tiefer hinunter.
Robin glaubte, dessen Zunge zu sehen.
Sie blickten einander an, ein liebevolles und doch stummes Lächeln.
Anthonys andere Hand war in Jacks dunklem Haar vergraben, streichelten ihn zärtlich und drückte ihn wieder gegen die schweißbedeckte Haut. Der Größere legte den Kopf in den Nacken, genoss sichtbar Jacks Liebkosungen, wie er seine Zunge in dessen Bauchnabel gleiten ließ und vor allem seine Hand über den Oberschenkel, der sich immer mehr dehnte, wandern ließ. Sie verschwand in Anthonys Mitte, die von der Bettdecke im Verborgenen gehalten wurde.
Die weißen Hände fanden Jacks Gesicht, schmale Augen, bei beiden.
Robin konnte dank Anthonys angewinkelten Beines weder Jacks Kopf noch dessen Blick sehen.
Wieder dieses glückliche Lächeln, stumm und doch so deutlich, sie schienen heiter.
Anthony bäumte sich auf, als er den anderen gewähren ließ. Trockenes Keuchen.
Der Junge mit den verschiedenartigen Augen in seinem Pyjama wollte wegsehen, aber er konnte nicht, war zu erstarrt und gefesselt, geballte Fäuste.
Er beobachtete, wie Jack - auch nackt, ein muskulöser Oberkörper, um den feuchten Hals die Kette, die er immer trug – Anthony auf den Bauch drehte, sich über dessen Rücken beugte, immer näher an ihn heran.
Seine linke Hand fand Anthonys, die auf dem Kissen geballt waren, sie schienen eine EINHEIT zu sein.
Anthony blickte über seine Schulter, seine großen Augen im Mondlicht, offene Lippen. Jack machte irgendetwas im Schutz der Decke, bis Anthony seinen Kopf ins Kissen vergrub, als hätte er SCHMERZEN.
Sie tanzten, ganz langsam, kaum merkbar.
Die beiden Hände fest ineinander geballt, wie am Morgen in der Kirche. Jack küsste Anthonys Rücken, seine Haare strichen über die feucht glänzenden Muskeln.
Ihre Bewegungen glichen den brodelnden Wellen des Meeres.
Die Jungen hatten keine Gesichter.
Der Morgen danach.
Robin öffnete die Augen, lag immer noch auf dem Rücken, aber mit zur Wand gerichtetem Gesicht. Er versuchte sich zu erinnern, er hasste unterbrochene Nächte.
Bilder flackerten vor seinen müden Augen auf, dunkle Schatten, vereinigte Gestalten.
Er biss sich auf seine trockene Unterlippe, er hatte Durst.
Irgendwie gespannt drehte er sich dann in Richtung Anthonys Bett.
Da lagen sie noch immer, ineinander geschlungen, während das Morgenlicht auf sie fiel.
Bald würde der Unterricht beginnen.
Jack hatte sich an Anthonys Oberkörper geschmiegt, hielt ihn fest in seinen starken Armen – die Bettdecke offenbarte viel zu viel.
Sie sahen richtig friedlich aus, glücklich, ästhetisch anstatt abstoßend, das musste Robin sich eingestehen.
Zu seinem Pech wachten sie gerade auf, gleichzeitig, ziemlich erschöpft. Tiefe Kerben im Bettlaken, nackte Beine darin.
Die beiden blickten einander an, wieder dieses fabelhafte Lächeln.
Jacks Hände streichelten sogleich über Anthonys blanke Brust, nachdem seine Motorik wieder funktionierte, ganz instinktiv.
Sie schienen sich gerade küssen zu wollen, als der Blonde plötzlich inne hielt und zur rechten Seite des Zimmers blickte, die die beiden in der Nacht ganz vergessen hatten, wie alles um sie herum.
Robin hatte sich wieder zur Wand gedreht, um einerseits nicht auf sich aufmerksam zu machen und andererseits zu vertuschen, dass er sie in der Nacht beobachtet hatte.
„Ähm...“ , Anthony, dessen Haar ganz wüst von seinem Kopf hing, irgendwie natürlich, bemühte sich um eine Erklärung, ersuchte Jack, völlig verschlafen, um Hilfe, aber dieser grinste nur, verspürte keinerlei Panik.
Da Robin wusste, dass er angesprochen wurde, blickte er unsicher zu ihnen herüber.
„Versteh das nicht falsch, wir...“ Anthony war hilflos.
Jack schmunzelte.
„ Wir haben wohl zuviel...getrunken...“
- natürlich sah der Braunäugige ein, dass diese Ausrede nicht einmal ihn überzeugte.
Jack brach in Gelächter aus, steckte Anthony sogar damit an.
Robin nickte nur nervös, nicht unbedingt betroffen.
Was hätte er auch antworten sollen?
Am Nachmittag der Sportunterricht, Basketball in der Turnhalle.
Unzählige Füße, die über den blanken Boden rutschten, unaufhaltsam hin und her. Nur das Quietschen ihrer teuren Turnschuhe als Musikeinlage. Langweilig.
Dank dem Artest dürfte Robin die ganze Zeit über auf den Sitzbänken, die sich um das Spielfeld erstreckten, neben dem Sportlehrer sitzen,
Mr. Dalton.
„Und du kannst wirklich nicht mitspielen? Schade, da verpasst du was.“
Der in einem Sportanzug gekleidete Mann - man sollte ihn nie anders sehen – war wahrscheinlich Ende 30, hatte jedoch schon dünnes Haar, das sein freundliches Gesicht betonte, Menschenfreundlichkeit.
Robins Bedauern hielt sich in Grenzen.
Er hatte eine aufmerksame Haltung angenommen, um nicht zu zeigen, für was für eine Zeitverschwendung er dies doch hielt, viel lieber wollte er Violine spielen.
Neben ihm saß ein weiterer Ersatzspieler, Paul.
Jack und Anthony mank der vielen Teenager, braunes und blondes Haar über ihren mit Schweiß benetzten Stirnen, sie ließen sich’s nicht anmerken.
„Aber dafür hast du ja andere Talente, Robin.“
Schon wieder diese Beschwichtigungen, er konnte sie nicht mehr hören.
„Ich versteh zwar nicht viel von klassischer Musik, aber du hast wirklich brillant gespielt, einsame Klasse.“
Der Mann beugte sich weiter zu ihm, flüsterte:
„Ich hab fast geheult...aber nicht verraten!“
Robin musterte ihn mit großen Augen.
Das Talent, die Gefühle anderer zu manipulieren.
Sogleich bäumte der Mr. Dalton sich auf und schrie quer durch die ganze Halle, nachdem er einmal kräftig durch seine Trillerpfeife gepustet hatte. Ein schriller Ton.
„Hey, Viola! Teamwork bitte!“
Robin zuckte augenblicklich zusammen, wie auch sein anderer Banknachbar.
Jack reagierte auf die nur allzu deutliche Anweisung mit einem halbherzigen Blick, ignorierte sie einfach und stürmte nur weiter wie ein Wind durch die Halle.
Keine Anzeichen. Er trug natürlich immer noch seine schwarze Kette um den Hals.
Der Sportlehrer seufzte, stützte seine Ellenbogen nach vorn ab:
„Mann, der Junge ist echt‘n Profi, aber diese Alleingänge...“
Robin blickte heimlich auf seine Uhr.
Und wieder fuhr er vor Schreck zusammen, als der Mann neben ihm brüllte:
„Los, rann da Levoy! Trau dich!“
Anthony hatte wieder einen Fehlgriff getan, schien sichtlich beschämt.
Was sportliche Aktivität betraf war der Blonde wohl kein herausragendes Beispiel, genauso wenig wie Robin. Obwohl...
Nachdem sich der Orkan wieder gelegt hatte, wendete sich Mr. Dalton wieder an den jungen Geiger:
„Und du hattest vorher Privatunterricht? Kommt man da vor Langeweile nicht um?“
Er hasste direkte Fragen, die eine persönliche Antwort verlangten.
Zögerlich antwortete der Junge mit den Sommersprossen:
„Nein, eigentlich nicht.“ Seine Augenlider verengten sich.
„Es hat schon seine Vorteile, allein zu arbeiten.“
Paul blickte von seinen Rechnungen auf. Er hatte noch mehr Sommersprossen als Robin.
Mr. Dalton schien verwundert, beinah gekränkt, versuchte aber Verständnis für den verschlossenen Jungen aufzubringen:
„Nebenbei Kekse zu naschen?“ , scherzte er dann ungeschickt, brach in Gelächter auf, ein dröhnendes Gelächter.
Robin und der andere Junge sahen sich unmittelbar an.
Der alleinstehende Lehrer merkte schließlich, dass sein Scherz nicht angekommen war, wendete sich nun an den anderen verhinderten Schüler mit seinem Taschenrechner in der Hand.
„Na, Paul. Hast du das Problem für mich lösen können?“
Der Lockenkopf mit der Brille riss sich von seinen Skizzen, wie Robin unschwer erkennen konnte, los, war schüchtern wie eh und je.
Mit seiner vor Nervosität vibrierenden, heiseren Stimme gab er dann ein einfaches „Ja...“ zurück und reichte dem Lehrer die Materialien an Robin hindurch, komplizierte Formeln.
Nachdenklich kratzte Mrs. Dalton sich sein schlecht rasiertes Kinn, während er die Planungsskizzen für das nächste Spiel betrachtete. Freudig stieß er dann aus:
„Prima, was das Entwerfen von Strategien betrifft, bist du der Beste.“
Das stimmte.
Robin erinnerte sich an die letzte Mathematik-Stunde, hinter der schüchternen Fassade verbarg sich wirklich ein mathematisches Genie, das mit seinen Noten alle in den Schatten stellte, sogar Robin, sogar Jack. Anthony war unerwarteter Weise kein gescheites Köpfchen auf dem Gebiet.
Als hätten sie es wissen müssen, schrie er sogleich wieder wütend in Richtung Spielfeld:
„Hey, Viola! Was hab ich dir gesagt?!“
Doch dieses Mal stand der Mann, zu seinerzeit ein wahrer Champion, auf und ging mit großen, schweren männlichen Schritten zu der Meute in den kurzen Shorts herüber.
Ein leises Seufzen der beiden zurückgelassenen Jungs.
Robin stützte sich entspannt nach hinten ab.
Der muskulöse Sportlehrer diskutierte wie immer in voller Lautstärke mit Jack, der sich nichts, absolut nichts, vorschreiben ließ.
Anthony stand dicht hinter dem Langhaarigen, blieb aber nicht von Daltons Kritik verschont.
„Er kann’s nicht lassen.“ , hörte Robin plötzlich von der anderen Seite.
Stumm blickte er den mageren Jungen mit dem Taschenrechner an.
„Diese Sportskanone Viola. Egal was er anstellt, er kommt damit durch.“
Seine Stimme klang nun viel fester als zuvor, er stotterte kaum.
„Zum Beispiel?“ , hakte der jüngste Schüler dann nach, beinah neugierig.
„Er ist schon an die 30 Mal beim Rauchen erwischt worden. Bei der letzten Jahresfeier hat er den Punsch auf gemischt und man munkelt...“
Als der kleine, aber durchtrainierte Jack immer noch keine Kooperation zeigte, nur mit seinen verschränkten Armen, in denen Anthony zuvor gelegen hatte, und provozierenden Augen in der Mitte des Geschehens stand, erbebte die Turnhalle wieder unter Daltons Flüchen:
„Verdammt! Reiz mich nicht!“
Und so etwas von einem Katholiken.
Als Krönung verteidigte Jack seinen Freund Anthony auch noch vor ganzer Mannschaft, war richtig hartnäckig und anmaßend. Das gab Dalton einfach den Rest.
Die beiden Jungen, Außenseiter schlechthin, beobachten das traurige Desaster, wussten es besser.
„Manche Menschen schreien, wenn sie sich nicht anders auszudrücken wissen.“ , kommentierte Robin mit ernster, schier bitterer Miene.
„Stimmt.“ , antwortete Paul, fand Robin jedoch ein wenig zu streng:
„Mr. Dalton ist aber in Ordnung, der beste Lehrer an unserer Schule.“
Paul verwunderte selbst, dass er soetwas Positives von sich gab.
Bei der Auswahl der Mannschaften blieb er immer der letzte.
In der Gegenwart eines Gleichgesinnten taute Robin allmählich auf.
Dieses Mal sah er dem anderen direkt ins Gesicht, ein kleines Grinsen: „Besser als dein Mathematiklehrer?“
Es war offensichtlich, dass dieser Junge mehr als der selbstgefällige Professor drauf hatte.
Ein schüchternes, vielleicht auch seltenes Lachen:
„Auf jeden Fall.“ , erwiderte der Lockenkopf mit falschem Selbstbewusstsein.
Ein Augenblick verging.
Er 14-järige hielt dem anderen die Hand hin, so wie es sich gehörte.
„Mein Name ist Robin.“
Etwas verwundert starrte der andere auf diese traditionelle Geste, schlug dann aber ein:
„Paul.“
Schließlich war der Unterricht vorbei.
Anthony verließ als erster das Feld, schritt schleunigst in den Duschraum. Nicht nur um so schnell wie möglich ins Atelier zu kommen, sondern auch, weil er sich immer ein wenig unwohl fühlte, in Gegenwart der anderen Jungen zu duschen.
Es lag nicht an Jack.
Er würde jedem die Eingeweide heraus prügeln, kam er Anthony zu nahe; was dies betraf, konnte er beruhigt sein. Vielleicht war das auch nur ein Hirngespenst, Anthony genoss so viel Ansehen, dass es keiner wagen würde, sich an ihm zu vergreifen, aber das ein oder andere Mal hafteten schon einige Blicke der anderen auf seinem schlanken und femininen Körper.
Wohl möglich wollte der Blonde das auch vermeiden, weil es Jack gegenüber unfair war.
Sie waren ja kein festes Paar, jedenfalls hatten sie es nie so genannt.
Es hatte sich einfach so ergeben, nachdem die beiden völlig unterschiedlichen Jungen sich vor ca. einem Jahren kennengelernt hatten. Keiner von ihnen hätte das voraussehen können!
Doch sie empfanden viel zu viel füreinander, als dass sie nur wegen des gleichen Geschlechtes aufeinander verzichtet hätten.
In Wahrheit hatte Anthony sich jedoch nie mit dem Gedanken abfinden können, dass er eine Liebesbeziehung mit einem Jungen hatte.
Er dachte so gut wie nie darüber nach, tat trotzdem alles dafür.
Vielleicht lag es auch daran, dass niemand mitbekommen dürfte, dass der Junge aus gutem Hause magersüchtig war.
Jack folgte nicht viel später mit den anderen, kleidete sich wie immer neben dem Blonden um, nicht das geringste Anzeichen.
Sie waren gute Schauspieler, besonders Anthony.
Der Brünette liebte es, sich mit den anderen anzulegen, ob verbal oder mit den Fäusten.
Anthony hatte kein Verständnis dafür. Stattdessen bürstete er schon sein zum Teil rotblondes Haar, richtete sein Jackett, stellte sicher, dass ihn niemand bestohlen hatte und verabschiedete sich von seinem „Jacky“.
„Bis später!“
Man merkte, dass er nicht schnell genug aus dem stinkenden Raum kam, flüchten wollte.
„Viel Spaß bei den Klugscheißern!“ , gab Jack kaltschnäuzig zurück.
Sogleich blieb der andere am Ausgang stehen, drehte sich noch einmal zu ihm und verzog das Gesicht.
Das Lachen der anderen, ahnungslos.
Er musste eilen. Seine Mitarbeiter an der Schülerzeitung gehörten allesamt dem höheren Jahrgang an, er kam immer zu spät.
Es war eine Ehre für ihn, als gleichberechtigt im Team aufgenommen worden zu sein, was er sicherlich seiner Beliebtheit zu verdanken hatte.
Wie erwartet: Als er in die Redaktion schritt, waren schon alle versammelt. Die Älteren grüßten ihn.
„Verzeiht, Leute.“ , entschuldigte er sich ehrlich, legte seine Sachen ab.
Einer von ihnen, der brave und unscheinbare Jason kam auf ihn zu, ein beschwichtigendes Lächeln:
„Ist schon gut, Tony.“
Er legte seinen Arm um seine Schulter, deutete auf das Archive, die Entwürfe, das Resultat.
„Ich hoffe, es stört dich nicht, dass wir schon einmal ohne dich angefangen haben.“
Ihm wurde die neueste Ausgabe vor die Nase gehalten, auf dem Transparent natürlich ein großes Kreuz.
„Wie findest du die?“
Anthony blätterte voller Selbstbeherrschung das Heft durch, war neugierig, ob seine Befürchtung sich bewahrheiten würde.
„Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, den Artikel über das Sportfest zu streichen?“
Seine kastanienbraunen Augen funkelten beinah gefährlich.
Jason senkte den Blick, schuldbewusst: „Ja, aber...“
Doch im nächsten Augenblick ertönte die Stimme aus Richtung Nebenzimmer, der letzte, den er jetzt sehen wollte, sein ewiger Konkurrent:
„Wir haben uns anders entschieden, Anthony.“ , sagte Richard, näherte sich dem Jüngeren mit seinem steifen, erhabenen Gang.
„Du warst nun einmal nicht zugegen.“ , grinste er provozierend in das Gesicht des Blonden.
Er stank aus dem Mund.
„Richard...“ , zischte Anthony mit düsteren Blick.
Jedes Mal, wenn dieser Schleimbeutel in der Nähe war, legte sich ein dunkler Schatten über den sonst besonnenen Jungen. Es gefiel ihm nicht, dass Richard etwas mit seiner Familie zu tun hatte.
Nachdem seine Schwester ihn ihren Vater vorgestellt hatte, schien dieser seine Sympathie gewonnen zu haben.
„Versteh das nicht falsch. Aber die Ausgabe muss heute noch in Druck gehen, wie du weißt.“
Wie gewöhnlich die Hände hinterm Rücken verschränkt. Der Leberfleck unter seinem Augen ekelte Anthony an.
„Sicher.“
Er war bemüht so zu tun, als würde ihn diese Respektlosigkeit nichts ausmachen. Natürlich eine prompte Lüge.
Dieser Vorfall beschäftigte Anthony den ganzen Tag.
Er verstand beim besten Willen nicht, wie seine Kameraden ihm so in den Rücken hatten fallen können!
Immerhin war es bei der letzten Besprechung nur Richard gewesen, der für den Artikel gestimmt hatte. Er war ein hinterhältiger Bastard, den niemand leiden konnte, nicht einmal Anthonys Schwester Christine.
Tatsache jedoch war, dass er sehr einflussreich war, sein Vater als obszön reicher Mann seinem Sohn alles ermöglichen konnte.
Richard hatte sich seine Position als Schülersprecher sozusagen erkauft.
Anthonys Familie war zwar auch wohlhabend, aber er schaffte es allein durch seine hinreißende, charismatische Art, so viele Freunde zu gewinnen.
Es lag wohl daran, dass er nicht nur als Herausgeber der Schülerzeitung in Frage kam sondern auch für die Wahl als Schülersprecher.
Somit war er Richard ein Dorn im Auge.
Auch wenn Anthony sehr ehrgeizig sein konnte, war ihm diese Rolle nicht so wichtig wie dem Primus des Internats, jedoch hatte er sich dazu entschlossen, diesem selbstverliebten Mistkerl zu trotzen, nicht nur weil er das Zeug dazu hatte, sondern auch wegen seinem Vater.
Der Gedanke, dass Richard dessen Gunst als „Schwiegersohn“ genoss, dessen absoluter Liebling zu sein schien, war unerträglich für den Blonden, dem jüngsten und einzigen Sohn.
Nachdem Anthonys Mutter Eve bei seiner Geburt gestorben war und seine Geschwister nur aus Mädchen bestand, hatte sein Vater ihm eine gewaltige Last aufgebürdet.
Auch wenn seine Schwestern allesamt sehr talentiert und zielstrebig waren, hatte seinem Vater immer daran gelegen, auch aus Anthony einen erfolgreichen Geschäftsmann zu machen.
Er trimmte ihn regelrecht darauf, ein Mann zu werden.
Doch war Anthony, der seine Mutter immer vermisst hatte, unter seinen älteren Schwestern aufgewachsen, besser gesagt von ihnen aufgezogen worden. Die Rolle als eiskalter Patriarch, die ihm sein Vater aufzwang, schien ihm immer schon eine Lüge. Er war nicht so ein elitärer Tyrann, ein Narzist vielleicht, aber nicht so ein gefühlskalter Ignorant, der nach der Meinung seines Vaters seine Zeit mit der Muse, mit dem Klavier Spielen, verschwendet.
ANTHONY HASSTE IHN.
Er sah es nicht ein, nur deswegen die ganze Verantwortung tragen zu müssen, weil er ein Junge geworden war.
Er konnte in diesem kontrollierten System nicht leben, wollte entfliehen, so sein, wie es ihm beliebte, und er wusste, dass er das bei Jack konnte, ganz allein bei Jack.
Er war die Verbindung zu Anthonys wahrer Identität, bei ihm musste er nicht das Sonnenscheinchen spielen.
Und der blonde Schönling LIEBTE ihn dafür!
Es kam nicht oft vor, dass Anthony sich in seine eigenen Welt zurückziehen musste, so von seinen Gefühlen, seiner Wut auf die anderen, überwältigt wurde! Gewöhnlich schenkte er der Enttäuschung über die Lieblosigkeit seines Vaters, der unbändiger Sehnsucht nach seiner Mutter, dem brennenden Hungergefühl in seinem mageren Bauch keine Beachtung.
So spielte er vor sich hin, in der Aula.
Wütete über die schwarzen und weißen Tasten unter seinen Fingern mit solch einer verzerrenden Leidenschaft, dass sie sogar Jack erstaunt hätte.
In dessen Augen war er immer viel zu brav und anständig, wenn nicht trivial, ein LÜGNER.
Fletschende Zähne, sich zusammenziehende Schultern, flackerndes Haar.
Wieso konnte er nie gut genug sein, egal, was er auch tat?
Er wusste nicht, dass Jack in dem Augenblick auch spielte, sich die gleiche Frage stellte.
Der Langhaarige saß auf dem Dach neben seinem Fenster, sein und Anthonys Zufluchtsort.
Seine Finger streiften über die Saiten der Gitarre, wie ein sanftes Schlagen. Das Bild eines einsamen Cowboys, Geächteten, Boots an seinen baumelnden Füßen.
Er sang, aus voller Kehle, aus tiefsten Herzen, immer wenn ihn Verzweiflung überkommt.
Jack war wohl zu stolz, um sich einzugestehen, dass es mit seiner Mutter zu tun hatte, mit seinem ihm völlig fremden Vater, diesem seltsamen Jungen.
Er zwang sich, sie zu hassen.
Bei seiner Mutter ein Leichtes, sie war eine herzlose Medea.
Die Tatsache, dass ihr Freund sie verlassen hatte, nachdem sie ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte, hatte sie ihren Sohn bei jeder Gelegenheit spüren lassen. Nicht nur durch verbale Schuldzuweisungen sondern auch durch ihre Schläge.
Für einen kleinen Jungen, der nichts außer seiner assozialen, alkoholabhängigen Mutter hatte und kannte, nicht leicht. Dabei sah er ihr auch noch so ähnlich.
Jack hatte schon früh gelernt, auf sich allein gestellt zu sein, sich durchs Leben zu kämpfen. Seine Mutter war ohnehin immer in ihren vielen Jobs gewesen, sodass er sich der Literatur und der Musik gewidmet hatte. Wie oft er doch nach Fotos von seinem Vater gesucht hatte, aber nichts.
Sie hatte alles verbrannt.
Die Lektion des Lebens:
Vertraue nur dir selbst, denn das ist alles, was du hast.
Er hatte nie jemanden geliebt.
Bis er Anthony begegnet war. Der wunderschöne Junge schaffte es, einen Zauber auf ihn zu legen, ihn durch seine Anwesenheit all den Schmerz, all den Hass, vergessen zu lassen. Er war der einzige, der ihm Liebe entgegen brachte, Vertrauen und die Chance, unbeschwert zu sein.
Er schrieb wieder einmal einen Song für ihn.
Sicher keine Gefühlsduselei, die Wahrheit, so erschreckend und enttarnend sie auch sein mochte.
„Der Kuss des Vergessens auf meine dunkle Seele“
Nie und nimmer die drei Worte.
Er rauchte währenddessen, eine Notwendigkeit.
Jemand war in ihr Zimmer getreten.
Robin war erschöpft, seufzte, als er seine Mappe auf das Bett warf.
Sein Knie schmerzte nicht mehr so stark, er legte es frei, um zu sehen, wie die blaue Färbung zurück ging, als würde sie aufgesaugt werden.
Unwillkürlich erinnerte er sich an die letzte Nacht.
Nur unter großer Überwindung schaffte er es, einen Blick zu Anthonys Bett zu werfen, immer noch unordentlich.
Jemand beobachtete ihn durchs Fenster.
Der Junge mit den langen aber glatten Haaren, sein „Adoptivbruder“ oder so etwas Ähnliches.
Einen Augenblick starrten sie einander ausdruckslos an.
Sie wussten, dass es weniger mit dem zu tun hatte, was Robin herausgefunden hatte, eher mit dem, was die beiden zusammen herausgefunden hatten.
Jack hielt sich irgendwo am Fensterrahmen fest, kühle Luft von draußen, der Geruch des Sonnenuntergangs.
Ein plötzliches Lächeln:
„Und, auf zum Training?“
Die Sonne schien blendend auf sie nieder, auf das feuchte Gras, dessen Tautropfen wie Perlen leuchteten. Der smaragdfarbene Waldrand, der nur wenige Meter von ihnen entfernt lag, er schien an ihnen vorbei zu schwinden, wie es auch in dem Zug gewesen war, nur langsamer, hypnotischer, wie in einem Traum, den man im Halbschlaf hat.
Sechs Füße, die den sandigen Weg passierten, ein kräftiger Schritt vor dem anderen.
Anthony und Jack liefen hinter ihm, ein Mitleidsakt.
Der blaue Himmel über ihnen, von keiner einzigen Wolke getrübt, wie klares, weiches Wasser.
Er schwitzte, ungewöhnlicher Weise.
Sie tuschelten hinter seinen Ohren, er konnte sie nicht sehen.
Der Junge mit den verschiedenfarbenen Augen erinnerte sich an die gestrige Nacht, ganz deutlich und sinnlich.
(Flashback 1 begins)
Es dürfte ungefähr um Mitternacht gewesen sein.
Der Regen hatte rhythmisch gegen das Fenster am Ende des Zimmers geschlagen, sehr tückisch und peinigend. Wie die Tasten eines Pianos.
Ob sie jemand von draußen beobachten hatte können?
Jeder hatte in seinem Bett gesessen, still gelesen oder in Robins Fall geschrieben. Dieses Mal waren die beiden glücklicher Weise nicht auf die Idee gekommen, sich mit Hilfe von Alkohol anzutörnen, also war keine Ausrede gegeben.
Jack hatte auf seiner Bettdecke gelegen, mit einem dicken Wälzer vor der Nase, das stand ihm nicht. Seine nackten Füße von sich gestreckt, er hatte eine schwarze Shorts getragen.
Plötzlich war ein Kissen nach ihm geworfen worden, hatte seinen Schoß getroffen.
Betont langsam hatte er das Buch sinken lassen, um seinen tödlichen Blick zu offenbaren.
Anthony hatte ihm entgegen gegrinst, ein unschlagbares, unwiderstehliches Lächeln als Entschädigung.
Doch sogleich hatte sich etwas anderes über sein Engelsgesicht gelegt, ein Ausdruck, der für Jack kaum verkennbar gewesen war. Fixierte kastanienbraue Augen, die an ihm gehaftet hatten, ihm bis unter die Haut gegangen waren. Anthonys Körpersprache.
Er hatte eben Jacks Gedicht fertig gelesen.
Der Langhaarige hatte natürlich die Begierde im Gesicht seines Geliebten verstanden, sie war so groß gewesen, dass er sogar ihr Knistern hören hatte können.
Dann hatte er jedoch in Richtung Robins Bett gedeutet.
Der Blonde hatte sich zu ihm gedreht.
Der 14-jährige Junge schien über seinem Tagebuch eingeschlafen zu sein.
Wie unschuldig und friedlich er doch ausgesehen hatte, seine Sommersprossen hatten sich der stetigen und vibrierenden Bewegung seiner Gesichtsmuskeln während er geatmet hatte, ergeben.
Die beinah panische Unruhe, das Keuchen, der Drang nach Luft toste in Robins Körper. Seine Arme hatte er angewinkelt, wie ein Sportler das nun einmal machte, er hielt sich gut fürs erste Mal. Er presste den Kohlenstoffdioxid aus seinen Lungen. Seine Beine wurden schwerer.
Nur er hatte Socken getragen.
Anthony war barfuß über den Teppich gehüpft, hatte sich auf Robins Bettrand gesetzt. Eine Weile hatte er ihn liebevoll betrachtet, Erinnerungen an das, was er noch vor zwei Jahren gewesen war.
Der Ältere hatte dem Jungen die Haare aus dem Gesicht gestrichen, beinah mütterlich, ihn richtig zugedeckt und das offene Tagebuch neben ihn aufs Kissen gelegt, natürlich ohne es gelesen zu haben.
Jack hatte diese Fürsorge unauffällig im Schutze seines Buches beobachtet, ein Gedanke.
Anthony war zurück geschlichen, jedoch ein Bett weiter.
Frech wie er war, war er unaufgefordert zu Jack unter die Decke gekrabbelt.
Mit einem breiten Grinsen hatte er sich auf seinen Schoß nieder gelassen, betörende Wärme seiner wohl geformten Schenkel.
Jack hatte seinen Kopf zu dem anderen empor gereckt, eine hochgezogene Augenbraue:
„Was soll das denn werden?“
Der Angesprochene hatte ihm ganz souverän das Buch aus den Händen genommen, auf den Boden fallen lassen.
„Denk mal ganz angestrengt nach!“
Dann hatte er begonnen, mit den Händen unter Jack schwarzem Hemd dessen Oberkörper hinauf und wieder hinunter zu wandern.
Dieser war zuerst so überrumpelt gewesen, dass er einfach nur regungslos abgewartet hatte. Anthony war nicht oft der Aktive gewesen, doch es hatte ihm offensichtlich gefallen, ihn erregt.
Der blonde Junge hatte sich hinunter gebeugt, um seinen Freund zu küssen, verführerisch hatte er über dessen Lippen geleckt, dessen Zunge heraus gefordert. Betörend sinnlich hatten seine Hüften begonnen, sich in dessen Schoß zu pressen.
Robin biss sich auf seine Zähne, versuchte, die verbrauchte Luft durch sie hindurch zu pressen, tanzende Sommersprossen, tanzendes Haar.
Anthonys schimmerte golden im Sonnenlicht, wehte im Wind, wunderschön. Seine zarten Mundwinkel, die sich nach oben beugten, eines der bezauberndsten Lächeln überhaupt.
Wer könnte ahnen, was sich dahinter verbarg?
Das geschlossene Buch am Boden des Bettes, kommentarlos, verbannt, hatte schon bald Gesellschaft von Anthonys Unterhose bekommen – er war ohne Schlafhose in Jacks Bett gestiegen, bewusst.
Die beiden unterschiedlichen Augen hatten auf geblüht, erschrocken die Wand an gestarrt. Robin hatte gar nicht geschlafen.
Hätte man einen Blick über den Rand des Bettes gewagt, hätte man Anthonys nackten Fuß aufgefunden, die rasierten, weißen Beine, die weichen, cremigen Schenkel, die sich über Jacks Becken geöffnet hatten.
Anthony hatte ihm die Shorts über den Hintern gezogen, während der andere dessen blaues Hemd geöffnet hatte, um seine pulsierende Brust mit seinen Händen zu liebkosen, runde Ansätze.
Die Finger des Poeten hatten die kleinen, roten Knospen herausfordernd massiert, sodass sie sich verhärtet hatten und nicht nur das, wie Jack unschwer erkennen hatte können.
Anthony war ziemlich schnell zum eigentlichen Akt gekommen, hatte sich ohne Vorbereitung auf Jacks steifes Glied sinken lassen. Sicherlich nicht, ohne Schmerzen, ziemlich selbstzerstörerisch, könnte man meinen.
Gewöhnlich benutzten sie Gleitgel.
Doch Anthonys Hitze hatte den Jüngeren, dessen Haar ausgebreitet über dem Kopfkissen gelegen hatte, um den Verstand gebracht. Er hatte gespürt, wie sich dessen Muskeln, dessen weiche Innenwände um ihn geschlossen hatten, ihn in sich aufgenommen hatten. Anthony hatte den Kopf in den Nacken geworfen, voller Wonne, ein unterdrücktes Seufzen.
Jack hatte den anderen intensiv beobachtet, seinen offenen Mund, die heiße Zunge die zum Vorschein gekommen war, ein unbeschreiblicher Anblick, den nur er kannte.
Sobald der Blonde sich daran gewöhnt hatte, hatte er sein Gewicht auf seine Arme verlagert, um Jack besser unter Kontrolle zu haben, um sein Innerstes besser stimulieren zu können, seine Knie waren rot angelaufen.
Jack lief aus Langeweile rückwärts, ließ sich von seinem hübschen Freund nicht ermahnen, Robin gegenüber nicht so spöttisch zu sein. Sie schäkerten, fanden immer wieder Gelegenheit, sich gegenseitig zu berühren.
Hinter Jacks dunklem Haar ein Lachen, seine gefährlich funkenden blauen Augen, ein Lied der Begierde.
Anthony hatte ihn geritten, direkt und innig mit seinen Hüften, die über Jacks entblößten Oberschenkel tanzten. Die dunkeln Hände hatten sich nach der schweißbenetzten Haut ausgestreckt, waren unter den an Anthonys Schultern hängende Stoff geglitten, hatten ihn umfasst, ihre Finger tief in die runden Backen gekrallt.
Die beiden hatten einander tief in die Augen gesehen, wie immer hatten sie sich um Selbstbeherrschung bemüht, kleine, sanfte Laute, die aus ihren Kehlen gestoßen waren. Ein leidenschaftlicher Kuss, ineinander gegrabene Hände, ein Lächeln auf den rosanen Lippen. Einer hatte den Herzschlag des anderen gehört, der durch seinen Körper geschnellt war. Ihre Zellen hatten vibriert.
Jack, mit einem verschleierten und doch liebevollen Blick, hatte schließlich seine Hand aus Anthonys befreien können, um sie zwischen dessen Beine zu führen, dessen beträchtliche Errektion gleichsam zu verwöhnen.
Er hatte sie fest mit seiner Handfläche umschlossen, sie im Rhythmus ihrer Bewegungen gepumpt.
Es gab nichts auf der Welt, das eine vergleichbare Erlösung mit sich brächte.
Es gab nichts, das den beiden so viel bedeutete, als in dieser unmittelbaren Nähe zueinander von der Seele des anderen zu kosten.
Anthony hatte sich aufgebäumt, Jacks Finger sich tiefer in die weiße Haut gekrallt.
Robin wäre beinah gestolpert.
Die Erinnerung daran, als er einen kleinen Blick hinüber zu ihnen geworfen hatte. Er hatte sich ja nicht regen dürfen, sonst hätte er sich verraten.
Das einzige, das er aus der Entfernung sehen hatte können, waren Anthonys nackte Füße, in die Bettdecke gepresst, wie sie sich angespannt, bis in den kleinsten Zeh gestreckt hatten, um sich schließlich wieder zusammenzuziehen, zu zittern.
Ein erschöpftes Seufzen war zu ihm herüber gedrungen.
( Flashback 1 ends)
Der Jüngste fragte sich immer wieder, was sie so weit hatte bringen können?
Mit nachdenklicher Miene rannte er vor sich hin.
Plötzlich spürte er die Hand auf seinem Rücken, er schauderte.
„Alles okay?“ , fragte Anthony lächelnd, „Du musst immer noch locker atmen können.“
Robin nickte nur, konnte ihm nicht antworten. Es war merkwürdig, das Vertrauen war noch da – wenn der Junge überhaupt vertrauen konnte – aber Anthony, die beiden, schienen ein unlösbares Rätsel für ihn, er verstand sie nicht.
Der Älteste von den Dreien richtete sich wieder auf, lief vor sich hin:
„Du hältst dich ziemlich gut, Robin. Was meinst du, Jacky?“
Der Angesprochene spielte immer noch den Unterforderten, wendete sich zu seinem Freund:
„Nicht schlecht.“
Eine Erleichterung für Robin.
Anthony band sein nackenkurzes Haar zu einem winzigen Zopf zusammen.
„Was macht dein Rücken?“ , hörte er den Dunkelhaarigen plötzlich fragen.
Schon wieder eine dieser indiskreten Fragen, die eine Antwort kaum wert waren.
„Geht schon.“ , der Junge drehte seinen Kopf ein wenig über die Schulter, „Nur ein leichter Krampf.“
Er hatte wirklich nur geringe Schmerzen, besorgniserregend.
Im nächsten Augenblick tauchte Jack an seiner rechten Seite auf, ein kritischer Blick:
„Du hältst dich ziemlich gekrümmt. Wirbelsäule durchdrücken!“
Er demonstrierte es dem Jüngeren.
Robin schaute nur skeptisch an seinem Körper hinunter.
Der Sportler grinste, deutete auf den blonden Schönling, dem Vorzeigeobjekt:
„Nimm dir Anthony als Beispiel, der ist groß genug!“
„Oh...“ Der Pianist hielt seinen Blick nach vorn gerichtet, wusste nicht, wie er das werten sollte, ein falsches Grinsen.
„Aber viel zu dünn.“ , fügte Jack dann noch hinzu, „Langer Lulatsch!“
Sofort starrte der Blonde ihn giftig an, beinah aufbrausend:
„Wie hast du mich eben genannt?“
Jack hob seinen Kopf an, die Nase überlegen in die Luft, seine Augenlider verengten sich, er provozierte seinen Liebhaber:
„Ist doch so. Du bestehst doch nur aus Haut und Knochen.“
Diesbezüglich musste Robin ihm recht geben.
Er beobachtete das Schauspiel aus der gefährlichen Mitte, fühlte sich wie immer außen vor.
Anthonys Gesichtszüge erstarrten, wurden zu Eis. Er traute sich nicht, Jack zu widersprechen. Sein Freund hatte ihn sichtlich verletzt.
Als wäre nichts gewesen, wendete der Langhaarige sich wieder an den Jüngeren, unangebracht sorglos:
„Also, die letzten fünf Minuten schaffst du’s doch noch!“
Zum ersten Mal gab er Robin einen freundschaftlichen, vielleicht auch brüderlichen, Schlag auf den Rücken.
Der Junge mit den unterschiedlichen Augen zuckte schmerzhaft zusammen, presste angestrengt heraus:
„Ich versuch’s!“
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Die rotbraune Tür fiel ins Schloss, das Klirren eines Schlüssels.
Durch das Muster des Guckfensters hätte man bestenfalls nur ihre Umrisse sehen können. Doch sie waren auf Nummer sichergegangen, um diese Uhrzeit schlich keiner der anderen Mitschüler durch die Gänge.
Draußen schien noch immer die Sonne, das hatte sie angelockt.
Doch Jack und Anthony blieb nichts anderes übrig, als sich vor ihr zu verstecken, vor ihren Mitmenschen, vor ihren Familien, vor der Gesellschaft, vor der Freiheit.
Jacks Boots standen im Vorraum, was dahinter geschah, war verboten.
Anthonys Jackentasche, in denen Kondome enthalten waren, blieb unberührt. Sie wussten ja beide, dass sie im Grunde überflüssig waren.
Jack drängte Anthony mit seinen feurigen Küssen gegen die glatten Kacheln an den Wänden der Duschen.
Deren Kälte stach dem Blonden, dessen Zopf der andere zur selben Zeit gelöst hatte, ins Mark, erregte ihn noch mehr. Er wurde von Jacks nacktem Körper regelrecht eingeengt, er gehörte ihm, schon seine Zunge machte Anthony unterwürfig, ließ ihn vor Begierde vergehen.
Jack erging es nicht anders, er verzerrte sich mit jeder Faser seines Seins nach Anthonys Körper, seinem Duft, seiner weißen Haut, seinen vollen weichen Lippen, es gleich einer KRANKHEIT.
Seine Hände schienen überall gleichzeitig an dessen entblößten, nassen Körper zu sein. Mit leidenschaftlichen Berührungen strich er über die beinah wässige Haut, die vom Wasserstrom der über ihnen befindlichen Dusche umspült zu sein schien, sich wie feuchte Blütenblätter anfühlten und auch so schmeckten.
Der Kleinere biss sich in Anthonys Hals fest, während dieser sich von der berauschenden Flutwelle übermannen ließ.
Wie sehr er das doch begehrte, Jack schutzlos ausgeliefert zu sein, sein langes Haar an seiner Haut, einen streifen Penis an der Innenseite seiner Schenkel zu spüren.
Wie von selbst gingen auch seine Hände, die Hände eines Künstlers, auf Entdeckungstour, griffen sehnsüchtig nach den Muskeln, zeichneten die Konturen mit ihren Fingerkuppen nach, zogen seinen Geliebten näher an sich.
Das Gefühl der vereinten Körper, die Becken, die sich aneinander rieben.
Während Anthony Jack seine runden Pobacken massieren fühlte, ließ er seine Hände zu dessen Brust wandern, griff in die kleinen Rundungen, bis er bewusst in die Brustwarzen kniff, eher brutal anstatt verführerisch.
„Autsch!“
Sofort stierten Jacks himmelblaue Augen den anderen angriffslustig an.
Die Wonne war aus Anthonys Gesicht gewichen, aber die roten Wangen, umspielt von dem Dunst des heißen Wassers, verrieten ihn, er war wütend:
„Nenn mich nie wieder ‚Langer Lulatsch‘, sonst...“ , fauchte er aus seinen zusammen gepressten Zähnen.
„Sonst was?“ , unterbrach Jack ihn abrupt, in seiner provozierenden und gefährlichen Art.
Ein Moment der Stille kehrte ein, Anthony starrte ihn aus seinen sowohl vor Sturheit als auch vor Verlangen funkelnden Augen an, sodass Jack den Blonden schließlich umdrehte und ihn gegen die Wand drückte.
Weiße Arme stützten sich senkrecht von dem willigen Körper ab, der den anderen gewähren ließ.
Immer noch war Anthonys Mund weit geöffnet, hingegen seine Augen geschlossen, als Jack behutsam in ihn eindrang, er zitterte, gab sich der aufregenden Wonne in seinem Inneren hin. Er wurde vollkommen ausgefüllt, bäumte sich auf, als Jack zum ersten Mal in seinen heißen Körper stieß.
Seine Handflächen spannten sich auf den quadratischen Kacheln an, übten immer wieder einen krampfhaften Druck aus, um sich gegen den anderen zu bewegen. Starke Hände waren in seine Hüften gekrallt.
Beide hatten die Augen geschlossen, genossen das verbotene Spiel.
In der Zeit lag Robin mit ausgestreckten Gliedern auf seinem Bett. Müdigkeit hatte sich über seinen Körper gelegt, erdrückende Hitze von draußen.
Er starrte wie immer in die weiße Decke, perfekte Leere.
Sie hatte einen Schatten auf seine Augen gelegt.
Er wusste nicht, wo sie waren, jedoch waren ihre Blicke Anzeichen genug dafür gewesen, dass sie sich an diesem freien Nachmittag ein stilles Plätzchen für sich haben suchen wollen.
Er wollte sich gar nicht ausmalen, was sie gerade taten.
Das stumme, verlassene Bett zu seiner Linken.
Seit er die beiden das erste Mal beobachtet hatte, plagten Robin allerhand Fragen. Sein Unterbewusstsein holte die anzüglichen Bilder immer wieder hervor.
Noch nie zuvor hatte er so etwas gesehen, sich nicht einmal vorstellen können, wie Männer es wohl taten.
Homosexualität war bis vor kurzem ein Fremdwort für ihn gewesen!
Er fragte sich, wie es sich wohl für den blonden Jungen angefühlt hatte? Sicherlich kostete es unbeschreibliche Schmerzen. Jedoch schien es für Anthony eine Freude gewesen zu sein.
Robin erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Niemals hätte er geahnt, dass dieser vorbildliche Junge sich so etwas gefallen lassen würde. Und dann auch noch von einem Jungen wie Jack.
Er ließ die ganzen letzten Wochen noch einmal vor seinen geistigen Auge abspielen, konnte aber nicht die geringsten Anzeichen finden, Anzeichen dafür, dass die beiden ein Liebespaar waren.
Der 14-jährige war bestimmt der einzige, der von ihren körperlichen Interaktionen wusste. Den anderen gegenüber ließen sie es sich nicht im Geringsten anmerken, schienen ganz NORMAL zu sein.
Doch was bedeutete es? - Dass er der einzige sein durfte, der ihr Geheimnis kannte?
Vertrauen oder Gleichgültigkeit.
Robin schätzte das letzte, da er als unscheinbares Bürschchen in ihren Augen einfach keine Gefahr darstellen würde. Niemand würde ihm glauben, wenn er es verraten würde.
Aber das wollte er ja gar nicht.
Er wunderte sich nur über die Tatsache, dass zwei Jungen an dieser streng konservativen Schule so etwas tun konnten. Und sie schienen so souverän dabei, irgendwie geheimnisvoll.
Dem Jungen fiel es schwer, sich einzugestehen, dass ihm das, was er gesehen hatte, nicht gerade kalt gelassen hatte.
Ja, ihr Liebesspiel hatte eine Wärme in seinem Körper entfacht, die er zuvor noch nie empfunden hatte!
Bei der Erinnerung an diese Gefühlsregung musste er sich auf die Lippen beißen.
Eine zwiespältige Angelegenheit.
Insgeheim trafen ihn die Erinnerungen an seinen Vater, die leeren Farbtöpfe, die bunte Farbe an dem alten Holz der Staffelei, die schnellen, gekonnten Pinselstriche, sein liebevolles Lächeln unter der Baskenmütze, die er immer beim Malen getragen hatte.
Plötzlich packte Robin ein Gedanke und er richtete sich auf.
Sein Blick fixierte die andere Seite des Zimmers, die verbotene Zone.
Trotz des Muskelkaters, der seine Glieder durchzog, ließ er sich auf seine Beine nieder, schritt bedächtig hinüber zu Anthonys Kommode. Sicherlich würden die beiden noch eine Weile fort bleiben, nichts bemerken.
Im Falle, dass sie ihn ertappten, würde er jedoch gewaltigen Ärger bekommen.
Doch viel zu groß war die NEUGIER – neugierig war er sonst nie.
Robin ging dicht an den Schränken vorbei, sein Blick fiel wieder auf Anthonys Familienfoto.
Er sah wirklich aus wie seine Schwestern.
Ziemlich mädchenhaft die ganzen Anhänger, Bücher, sogar seine Handschrift, oder war es Jacks?
Er fand einige von den Gedichten, die der Dunkelhaarige für seinen Freund geschrieben hatte.
Sie waren direkt, offensiv und provokant, jedoch auf ihre eigene Art sinnlich.
„Der Tanz unserer beiden Fühler.“
Wieder eine Seite an Jack, die ihm niemand zugetraut hätte.
Walt Withman fehlte. Anthony hatte ihn ihm ja ausgeliehen.
Ein fataler Fehler.
„Seetrieb“ war nämlich rot hervorgehoben worden, offensichtlich dessen Lieblingsgedicht.
Robin war bei der Kommode angelangt.
Zuerst die unterste Schublade. Als er sich bückte, erstarrten seine Oberschenkelmuskeln, eine Erschütterung.
Er fand einen alten Schuhkarton auf - einer, der immer Geheimnisse bewahrt. Fotos, weitere Familienfotos.
Auf jedem von ihnen war ein und dieselbe Frau abgebildet.
Anthony war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, seine Mutter Eve.
Sie war mindestens genauso schön wie er, lange gelockte Haare verzierten ihr liebliches Gesicht, das entzückende Lachen.
Nach den Daten auf der Rückseite der Fotos zu urteilen waren sie alle schon über 16 Jahre alt, so alt wie Anthony.
Robin legte sie wieder ordentlich zurück. Solche Bilder hatte er von seiner Mutter nicht. In der Regel sah man sie in Schwarz-Weiß in politischen Zeitungen.
Er musste sich an den Schubladen klammern, um wieder auf seine Beine zu finden. Im obersten Schubfach wurde er dann fündig.
Vielerlei Kondome – er hatte noch nie welche angefasst – und eine merkwürdige Tube, Gleitgel.
Der Junge errötete, als er die Beschreibung laß, seine Finger bekamen sie kaum gehalten.
Auch am nächsten Tag brannte die Sonne auf das Gotteshaus nieder, ungewöhnlicher Weise.
Das Licht drang durch die Rosette der Kapelle, das matte Glänzen des Beichtstuhls, der schon beleuchtete Altar.
Doch auch die Glasfenster der Turnhalle wurden durchdrungen, Staub über dem blanken Holz, Stille an diesem schwülen Vormittag, nur zwei Personen an dem großen Trainingsplatz.
Jack saß neben seinem Sportlehrer auf den Sitzplätzen, eine Szene, die der von Mr. Dalton und Robin nicht einmal so unähnlich war, aber das konnte der Dunkelhaarige ja nicht wissen.
Er schwitzte. Daltons Sondertraining beanspruchte ihn sehr, so wie er es auch verlangt hatte.
Sie gönnten sich eine Pause, die Hitze stahl einem die Kraft.
Dalton war in Jacks Augen ein recht erträglicher Kerl, im Gegensatz zu den anderen Lehrern heuchelte er nicht, sagte stattdessen immer ganz offen und ehrlich, was ihm gerade durch den Kopf ging, wie es auch Jacks Art war.
Er wirkte beinah väterlich.
Er hatte dem Jungen eine Zigarette angeboten.
„Also deine Kondition ist nicht zu toppen, ehrlich gesagt sogar besser als Gregs. Das Zeug für die Meisterschaften hättest du.“ , sagte der Mann mit dem dünnen Haar und dem gütigen Gesicht.
Jack schnaufte, verdrehte die Augen: „Oh, die Meisterschaften...“
„Ich weiß ja, dass du dir nichts daraus machst, sondern ganz allein für dich.“
Die Kette um den strammen Hals.
„Das ist mutig, wenn nicht rebellisch...“ , Dalton pausierte, „aber auch dumm.“
Sofort stierten ihn zwei wild funkelnde Augen an, Jack hustete halb:
„Dumm?“
Der ältere Mann presste die Lippen aufeinander:
„Du bist ein Einzelgänger, Jack, da haben die anderen schon recht. In keinem Spiel kooperierst du mit den anderen, Teamwork ist für dich ein Fremdwort, hm?“
Nur Jacks stummer Blick, leer und doch angriffslustig.
Den Lehrer verwunderte diese kühle Reaktion nicht, er faltete die Hände zusammen:
„Das ist kein Vorwurf, du hast sicher deine Gründe. Aber wenn du weiterkommen willst, musst du dich anpassen, sonst verendest du.“
Der Teenager hatte sich abgewandt, starrte ins Leere, der erstickende Qualm der Zigarette.
Mit bitterer Miene kommentierte er nur herablassend:
„DAS GESETZ DER NATUR, hm?“
Mr. Dalton schüttelte den Kopf:
„EINE FRAGE DES VERTRAUENS. MAN GIBT ETWAS...“
„UND BEKOMMT EINS IN DIE FRESSE.“ ,
unterbrach ihn der andere dann aggressiv und endgültig, ein kaltes Lächeln lag auf Jacks geschwungene Lippen.
Der Lehrer verstand dieses ablehnende Verhalten des Jungen einerseits, andererseits konnte er sich nicht mit dieser Lebensweisheit anfreunden.
Er stockte, versuchte auf ihn einzureden:
„Natürlich ist es ein Risiko.“
Sogleich biss sich Jack auf die scharfen Schneidezähne, knirschte:
„Ein FIASKO.“
Stille kehrte ein.
Welch ein grausiger Anblick, wie das heitere, glänzende Licht der Sonne versuchte durch die dicke Rauchwolke zu dringen. Es miefte nach Extremität, Nihilismus, gefräßiger Enttäuschung. Als würde man Parfum mit Galle anreichern.
Daltons Augen blieben verborgen:
„Was ist mit deinem Freund, Anthony? Ihm vertraust du doch, oder?“
Es wunderte den Langhaarigen nicht, dass der gute Mann den blonden Jungen als dessen einzigen Sympathieträger bemerkt hatte.
Er wusste, dass er den Mann nicht ansehen brauchte, dass die Frage nicht wichtig war.
„JA.“
++++++++++++++++ ++++++++++++++++++++ ++++++++++++++++
Die Aula wurde von herrlicher Musik erfüllt, von lieblichen Tönen der hoffnungsvollen Jugend, könnte man sagen, Liebe, Perfektion, Hingabe, stumme Verzweiflung.
Robin spielte Violine, während Anthony ihn mit den Klängen seines Pianos begleitete.
Ein traumhaftes Spiel, die beiden fühlten sich wie in Trance versetzt, trotz des verschwiegenen Misstrauens, dem eigentlichen Egoismus der beiden reichen Söhne.
Robin genoss es, konnte dennoch nicht lächeln.
Nach den letzten Tagen war Anthony ein Fremder für ihn geworden, oder sollte es zumindest sein.
Die Wahrheit lautete aber, dass es dem Jungen mit den verschiedenfarbigen Augen in dem Moment, so magisch und verschlingend er doch war, völlig gleichgültig war.
Musik war für die beiden gleichermaßen ein unentbehrliches Ausdruckmittel, ein Medium des Herzens, des Impulses, der Intuition.
Und Robin hörte Anthonys Seele, sie rührte von Feingefühl, Sanftheit, ununterbrochen von tragischen Akkorden.
Ja, er würde es keinem verraten.
Jack, Jack Viola.
Nachdem der Unterricht vorbei war, ging Robin mit dem Jungen Paul über das Schulgelände.
Mittlerweile waren die beiden Wunderkinder, umgangssprachlich Außenseiter, richtig redsam geworden, hatten ihren gemeinsamen Nenner insofern gefunden, dass sie unterschiedliche Gewohnheiten hatten, sich jedoch ähnlicher waren als den anderen.
Zuerst ging es um die bessere Lernmethode, um sein Schicksal als allgemeiner Streber zu besiegeln.
Als nächstes die Diskussion über Musik und Mathematik, dem Anschein nach sich völlig widersprechende Dinge.
Robin trug seine Schulmappe unter seinem Arm, völlig aufgelöst von seinen Gedanken:
„Sie ist eine Muse, die jedermann bewegt, Gefühle entfachen kann. Sie kann auch die Lernmotivation fördern.“
Noch nie zuvor hatte er so frei und uneingeschränkt geredet, überhaupt das Bedürfnis danach gehabt:
„Wohlmöglich,“ , erwiderte der andere grübelnd, „doch während du mit deiner Musik Geschichten aus dem wahren Leben erzählst, eine Illusion aufbaust,“
- das Gefühl von Macht, seine Zuhörer zu manipulieren.
„versuche ich sie durch meine Formeln zu ergründen, Zusammenhänge zu beweisen.“
Der Brillenträger schien erst davon überzeugt, als er es ausgesprochen hatte, wie glücklich ihn diese Idee doch zu machen schien.
Ein Lebenssinn.
Schließlich gelangten sie zu dem Resultat, dass sowohl die Musik als auch die Mathematik eine Form der Ästhetik waren, auch wenn viele das gar nicht wahrhaben wollten.
Die Jungen taten’s.
Vertieft in das fesselnde Gespräch richtete Robin seinen Blick kaum nach vorn.
Die Sonne brannte noch immer in ihren Gesichtern, das Gelände erstrahlte hell und klar, so lügnerisch, dass seine Augen es kaum ertrugen.
Auf ihrem Weg kamen sie an dem Schülersprecher vorbei, der sich gerade mit einem Mädchen unterhielt.
Seit er hier war, hatte er kein Mädchen gesehen.
Aus Verwunderung darüber blickte er auf, staunte bei näherer Betrachtung darüber, dass sie Anthony zum Verwechseln ähnlich sah.
Ja, er hatte sie schon auf dessen Familienfoto gesehen. Christine Levoy.
„Ja, meine Freundin Jessica hat nach ihm gefragt. Ich befürchte...“
konnte er dann nur im Vorbeigehen von ihnen aufschnappen.
Ihm entging jedoch nicht Richard Fennings misstrauischer Blick, mit dem er ganz besonders ihn, Robin, musterte.
Die beiden Oberschüler machten nicht unbedingt den Eindruck, als wären sie ein Paar, so wie es Anthony erzählt hatte. Vielmehr...
Das schallende Geräusch der riesigen Tür der Kapelle hallte an den porösen Wänden wider. Die kleinen Hände, die die beiden Türflügel zu schließen versuchten, es hätte genauso gut „Das Fegefeuer“ sein können.
Anscheinend war er ganz allein.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen durch die Halle, die Sitzbänke links und rechts von ihm. Er kam dem Altar, dem Bildnis des gekreuzigten Jesus, immer näher, Misstrauen.
Er konnte nicht sagen, dass ihm dieser Ort ohne die anderen Schüler oder Lehrer weniger unheimlich erschien.
Wieder das Sonnenlicht, das durch die hölzerne Rosette fiel, die Halle aber nicht zu erleuchten vermochte.
So setzte er sich an einen Platz, an dem es ihn nicht erreichen konnte, in die erste Reiche rechts, dort, wo Jack bei seinem Auftritt gesessen hatte. Das Kerzenlicht des Altars umgab ihn.
Natürlich enthielt das Holz nicht mehr dessen Wärme, so wie Robin insgeheim gehofft hatte, sich aber niemals eingestanden hätte.
( Flashback 2 begins)
Seine Augen fixierten die Flammen der Kerzen, verloren sich ganz darin.
Die Erinnerung an seinen Vater übermannte ihn urplötzlich, denn hatte eine Kerze neben dessen Sterbebett gestanden.
Sie war beinah herunter gebrannt, unnütz.
Die Lichtverhältnisse waren wie in dieser Halle gewesen, denn hatten die blauen Vorhänge verhindert, dass die Sonnenstrahlen - es war mitten im Sommer gewesen - durch das Fenster in das Zimmer des Künstlers treten hatten können.
Sein Vater David hatte im Sterben gelegen, sein 4-jähriger Sohn an seiner Seite.
Robin hatte seine große Hand gehalten. Sie war ganz rauh, schweißbedeckt, kraftlos gewesen.
Der Anblick des Mannes hatte dem sensiblen Kind ins Herz geschnitten, doch er hatte nicht geweint, das hatte Robin noch nie gekonnt.
„Daddy, bitte verlass mich nicht. Lass mich nicht mit Mama allein zurück. Ich will bei dir sein...“ , hatte der kleine Junge mit den großen Augen und den roten Sommersprossen gefleht.
Schluchzen aber keine einzige Träne.
„Mein kleiner Junge...“, der Mann hatte seine Hand auf die Wange des Kindes gelegt, „bitte sei nicht traurig.
Ich werde immer bei dir sein.“
Der Kleine hatte sich auf die Lippen gebissen.
Ein Lächeln auf Davids Gesicht:
„ICH HAB DICH LIEB, HÖRST DU.“
In seiner Verzweiflung hatte Robin die Hand seines Vaters näher an sich gedrückt:
„Ich hab dich auch lieb, Daddy.“
Dem Mann hatten seine Schmerzen gar nichts mehr auszumachen geschienen, die Gegenwart seines geliebten Sohnes hatte ihm die Angst genommen.
„Heute ist dein Geburtstag. Erzähl es nicht deiner Mutter, aber ich habe dir ein Portrait gemalt.
Na los, geh zur Staffelei und sieh es dir an!“
Die Augen des Jungen hatten sich geweitet, nur ungern hatte er die Hand seines Vaters entlassen, seine Aufforderung befolgt.
In seinen schmutzigen Sandalen, die er bei seinen Ausflügen mit seinem Vater immer angehabt hatte, war der kleine Robin dann hinüber zu den Werken seines Vaters geschlürft.
Er hatte seinen kleinen Arm ausstrecken müssen, um das rote Tuch von der Staffelei zu nehmen, das Licht hatte ihn erwischt.
Der rote Stoff war zu Boden gefallen, der kleine Junge hatte das Bild mit seinen Kulleraugen genau betrachtet, ein Portrait von ihm selbst. Intensiver als würde er in den Spiegel blicken.
Doch er hatte keine Angst vor der großen Abbildung seiner selbst gehabt, sein Dad hatte es ja gezeichnet.
Seine Mundwinkel hatten sich zu seinem begeisterten Lächeln nach oben gezogen.
Er hatte sich wieder zu seinem Vater gedreht.
„Daddy, ich...“
Doch in diesem Augenblick hatte er feststellen müssen, dass sein Vater regungslos auf dem Bett gelegen hatte.
Ängstlich hatte der Kleine sich ihm genähert:
„Daddy, bist du eingeschlafen?“
Die Augen seines Vaters waren geschlossen gewesen, ein friedliches Lächeln.
„Daddy!“
Der Kleine hatte an ihm zu rütteln versucht, nichts.
Das Gefühl, zurück gelassen zu sein.
Robin war über den Bettrand geklettert, hatte sich zu seinem Vater gelegt, sich an ihn gedrückt, als würde er ihn beschützend halten.
Auch er hatte seine Augen geschlossen.
( Flashback 2 ends)
Unwillkürlich fand sich Robin in der Realität wieder.
Das Gotteshaus.
Gott, der ihn seines Vaters beraubt hatte. Der Grund, weswegen er immer einen HASS auf ihn hatte!
Wieso hatte sein Vater sterben müssen? Neben ihm. Wieso hatte er Robin nicht auch geholt?
Wie sehr er ihn doch vermisste, die einzige Person, bei der er sich je sicher gefühlt hatte.
„Hast du etwas auf dem Herzen, mein Sohn?“
Der Junge schaute vor Schreck auf. Der Pfarrer, Prediger, Pater Andrews, ein alter Kauz.
Sogleich wendete er seinen Blick wieder ab, rang mit sich, zu antworten, während der Mann sich neben ihn niederließ.
Robins Augen starrten unbeholfen in die Leere:
„Vor 10 Jahren starb mein Vater.
Er war sehr krank. Ich habe ihn sterben gesehen.“
„Du hast ihn sehr geliebt, nicht wahr?“ , erwiderte der andere, dem der traurige Gesichtsausdruck des Kleinen reichte.
„Ja.“ , gab er dann radikal als Antwort zurück,
„Aber das macht ihn auch nicht wieder lebendig.“
Die kleinen Hände waren in seinem Schoß verschränkt, bekriegten sich gegenseitig.
Stillschweigen kehrte ein, Robin war verdammt.
Schließlich war Pater Andrews ein Gegenargument eingefallen:
„Vielleicht seinen Körper nicht, aber seine Seele. Du ehrst ihn mit deinem Gedenken.“
- Die ständige Erinnerung an ihn.
„Er ist jetzt in Gottes Hand, mein Kind...“
Die Erinnerung, wie sein Vater David ihn am Wochenende des öfteren mit zu einem anderen Mann mitgenommen hatte. Der kleine Junge hatte desweilen seine große Hand gehalten, ein Lächeln.
„...und wacht über dich.
Er möchte bestimmt nicht, dass du dich von deiner Trauer überwältigen lässt.“
Der warme, faulige Mundgesuch des alten Mannes mit dem eingefallenen, faltigen Gesicht, faltigen Wachs, drang von der Seite zu Robin herüber.
Unter großer Überwindung wagte er es, seine Bedenken zu äußern, die Predigten endlich einmal in Frage zu stellen, seine Hände verkrampften sich ineinander, wie Anthonys und Jacks damals auf dem Kopfkissen.
„Doch bin ich ihm das nicht schuldig?“ , er schrie beinah,
„Wie kann ich glücklich sein, wenn er doch tot ist, wenn er einen so elenden Tod gestorben ist?“
Wieder musste der Mann sich die Worte erst einmal zurechtlegen, antwortete natürlich nicht direkt, sondern mit einer großen Umschweife, schier fatal:
„Eltern wollen immer nur das Beste für ihre Kinder.“
Die beiden anderen Jungs, Anthony und Jack saßen derweil am See. Der kalte Wind, der ihr Haar anregte, der dunkle, hoffnungslose Blick in die unbescholtene Ferne, bei jedem von ihnen.
„Sollte deine Liebe seinen Wunsch nicht gerecht werden wollen?“
Auch seine blassen, haarigen Hände, mit unzähligen tiefen Kratern von alter Haut übersehen, schienen nervös, sich der Lügen bewusst zu sein, menschliche Schwächen.
Im nächsten Augenblick ereilte Robin ein Gedanke, ausdruckslos hauchte er:
„LIE-BE...“
Seine Sommersprossen leuchteten rot im Licht der Kerzen.
„Pater, als Verkünder des Guten lobt Gott doch jede Form der Liebe, oder?“
Die aufgequollenen Augen des Alten zogen sich zusammen:
„Wenn es reine und rechtschaffene Liebe ist, ja.“
Robins Zungenspitze spielte mit seinen Vorderzähnen:
„Existiert diese Liebe wirklich nur zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Mann und Frau?“
„Was meinst du damit?“ , hakte Pater Andrews dann auf einmal direkt nach, beinah misstrauisch und verärgert.
„Was ist mit der Liebe zwischen...“ , der Junge mit den verschiedenartigen Augen musste den Atem vor Aufregung anhalten, sprach durch die Nase,
„zwischen zwei Jungen, ich meine, wenn sie über Freundschaft hinaus geht?“
Jetzt war es raus, hoffentlich würde er wegen dieser simplen Frage nicht von der Schule verwiesen werden. Dazu tat er so, als wäre es nur eine nüchterne Frage eines jungen Menschen, nichts aus dem realen Leben.
„Du meinst...homosexuelle Liebe?“
Korrekt, er hatte es ausgesprochen, noch nie in seinem Leben hatte ein Erwachsener dieses Wort in seiner Gegenwart erwähnt.
„Sie ist in jeder Hinsicht verderblich.“
Doch diese Bezeichnung wirkte noch drastischer auf ihn, wie der schallende Schuss einer Pistole, wie das matte aber klägliche Geräusch eines Körpers, der am Boden zerschellt, wie eine Porzellanpuppe.
„Unser Herrgott sagt, was von Natur aus, also von seiner Schöpfung aus, nicht zueinander passt, und nicht zum Fortbestand des Lebens beiträgt, ist teuflisch und die schlimmste Sünde überhaupt.“
Prima auswendig gelernt.
Robin entsann sich, dass, soweit er es hatte erkennen können, Anthonys und Jacks Körper perfekt „zusammengepasst“ hatten und kein Blitz hatte sie in den Augenblick ihres Lustspiels von Gott ereilt, getrennt.
Obwohl diese Gedanken Robin nicht gerade fremd waren, er am Anfang auch in der Überzeugung derer gewesen war, hörte es sich jetzt nur noch töricht für ihn an.
Er zwang sich, einfach laut zu denken, ohne die möglichen Konsequenzen in Betracht zu ziehen:
„Doch Pater, sollte Liebe sich nicht auf die Seele beschränken, nicht auf den Körper? Ist der Körper nicht nur ein Gefäß?
Wenn zwei Seelen zueinander gehören und sich lieben, sollten deren Gefäße dann nicht bedeutungslos sein?“
Robin erwartete, dass Feuer von der Sonne mit dem Lichtstrahl, der durch das Fenster drang, geschickt und ihn verbrennen würde, oder Pater Andrews ihn zumindest ins Gesicht schlagen würde.
Beides blieb aus. Der alte Mann schien in Gedanken versunken, sprachlos.
„Es heißt doch auch, mach dir kein Bildnis? Ist der Körper denn kein Götzenbild?“
Außer seinem natürlich.
In der Zeit hockten Anthony und Jack auf dem Baumstamm am See.
Das Dickicht ließ heute ein wenig mehr Sonnenlicht hindurch, auch der Dunstschleier über dem modrigen Wasser war dünner als sonst.
Die Schultasche des Blonden stand halb offen im Gras, ein Mathebuch luchste raus, vielleicht in der Hoffnung, dass es doch noch angerührt würde, aber Anthony blieb diesbezüglich eiskalt.
Lieber las er Gedichte, während sein Freund Jack einen Songtext für ihn schrieb, als Unterlage verwendete er praktischer Weise Anthonys Schulter.
Der größere Junge blätterte in dem kleinen Gedichtsband von Walt Withman, den er gerade von Robin zurückbekommen hatte.
„Hör dir das an, Jacks!“, sagte er begeistert.
„Dämon oder Vogel!( rief des Knaben Seele)
Singst du wirklich deinem Weibchen, ganz sicher?
Oder schenkst du mir deine Stimme?
Denn ich, eben noch ein Kind, dessen Zunge noch nicht erweckt, jetzt, da ich dich hörte, in diesem Augenblick weiß ich meine Bestimmung.
Und ich erwache, niemals wird dieser Schrei unbefriedigter Liebe in meiner Seele verhallen, nie wieder kann ich nun das Kind werden, das ich einst war
Unter dem gelben, hängenden Mond,
der Bote entfacht das Feuer
und im Inneren die süße Hölle, das unbekannte, drängende Schicksal, das in mir schlief.“
Seine kastanienbraunen Augen leuchteten, ein warmes Gefühl schlich sich in sein Herz.
Doch so nüchtern wie Jack war, kommentierte er nur:
„Meine sind besser.“
Anthony grinste skeptisch:
„Das hättest du wohl gern!“ und versuchte dem anderen mit seinem Ellenbogen in die Rippen zu stoßen.
„Autsch! Du drückst mir die Miene noch bis auf die Knochen!“, zischte er dann unter Jacks harscher Reaktion.
„Nur noch wenige Tage, Tony.“ , drang dann Jacks zärtliche Stimme in seine Ohren.
Ein Lächeln legte sich auf Anthonys rote Lippen:
„Ich weiß. Wir machen London unsicher, nur wir beide.“
- Wieder versuchte er den anderen zu kitzeln. Jack wich zurück, war eifrig dabei, weiterzuschreiben.
Plötzlich fragte er dann mit bewusster Neugierde:
„Kein Trouble mit deinem Vater?“ Eine seiner Augenbrauen zuckte.
Anthony blätterte mit falscher Gelassenheit in seinem Buch weiter:
„Nein, ich habe ihm geschrieben, dass ich dort ein Praktikum bei einer der Zeitungen mache.“
Daraufhin befeuchtete Jack seine Lippen, ein Schatten auf seinen Augen, er grinste:
„Du Heuchler, du!
Wie kannst du den armen Mann nur in Ungewissheit darüber lassen, dass es wenn dann schon das Hotelbett sein wird, über das du einiges in Erfahrung bringen wirst.“
Sein heißer Atem an dem weißen Hals.
„Er hat’s nichts anders verdient.“, gab der Blonde nur eiskalt wieder, schaute seinen Freund immer noch nicht an.
„Ich bin ihm nichts schuldig, ich habe ihn ja nicht um seine Unterstützung gebeten.“ Seine blendenden Zähne knirschten.
Ein Augenblick der Stille kehrte ein.
Anthony erblickte wieder den Schatten der alten Frau am anderen Ufer. Sie schob einen kaputten Einkaufswagen vor sich her.
„Wenigstens hast du die Möglichkeit dazu.“, sagte der Dunkelhaarige schließlich, stieß ein bitteres Schnaufen aus, „Meine Alte schert sich doch einen Scheißdreck um meine Ausbildung.“
„Hat sie sich wirklich nicht mehr bei dir gemeldet, nachdem du weg warst?“ , formten Anthonys Lippen dann, voll und glänzend wie sie waren.
Jack behielt seine vorgetäuschte Gleichgültigkeit bei:
„Was glaubst du denn? Jetzt hat das Miststück wenigstens ein zusätzliches Zimmer, in dem sie ihre ganzen Whiskeyflaschen bunkern kann.“
Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit, als wäre nichts gewesen, verschlossene Gedanken.
Anthonys braune Augen fixierten die Wörter vor seiner Nase, mit dumpfer Stimme murmelte er vor sich hin:
„Mein Vater trinkt auch wie ein Loch.“
Sogleich beendete Jack sein Gedicht und übergab es mit einem Lächeln seinem Freund. Dieser nahm es an und setzte sich dem anderen gegenüber.
Doch noch bevor er zu lesen begann, fragte er:
„Und was ist mit dem Kleinen?“
Jacks blaue Augen vibrierten, er verzog das Gesicht, beinah trotzig:
„Was soll mit ihm sein?“
Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des Älteren. Provozierend stellte er den anderen bloß:
„Komm schon, du magst ihn!“
Instinktiv verdrehte Jack die Augen und prustete theatralisch.
Er hatte seinen Blick abgewandt, starrte nun gedankenverloren in die Ferne, in das undurchdringliche Dickicht des Waldes.
Er war in sich zusammengesackt, eine Statue der Verzweiflung.
Wortlos rückte der Blonde an ihn heran, nahm seinen Liebsten in die Arme, um ihm Trost zu spenden. Und Jack erwiderte die Umarmung.
Kein einziges Geräusch des Wassers.
Wenig später regte sich das leuchtend grüne Gras gen Himmel, keine einzige Wolke war zu sehen es schien wie ein Paradies, eine Utopie des Friedens und der Harmonie.
Natürlich war es nur eine Täuschung, die Jack und Anthony jedoch zu ihrem Vorteil ausnutzen wollten.
Sie hatten sich zwischen das hohe Gras auf einem der Felder gebettet, keiner würde sie sehen können. Einige Kleidungsstücke dienten als Unterlage, auf die der Blonde vollkommen nackt, wie er war, von den starken Händen gelegt wurde.
Wie von selbst schlang er seine weißen Beine um die ebenso blanken Hüften des anderen.
Anthony konnte es kaum erwarten, biss sich vor Aufregung auf die Unterlippe während Jacks Finger mit grausamer Präzision seinen Oberkörper hinauf glitten.
Der Langhaarige beugte sich sogleich hinunter, seine Zunge kam zum Vorschein, sowie das Piercing, das sie enthielt, wie ein Geheimnis, ein zusätzlicher Genuss, wie Anthony sagen könnte...
Dieser spannte seinen schlanken Körper an, als er das kalte Metall über seine Bauchpartien, seine hervorstehenden Rippen, die zierliche Region inmitten seiner Brust, hinauf zu seinem Halsknochen wandern fühlte, um über die Pulsader zu streicheln.
Jack konnte natürlich die wachsende Erektion seines Freundes an seinem Bauch reiben fühlen, umso mehr seine eigene.
Der Anblick, den der wunderschöne Junge ihm bot, zog ihn in seinen Bann, Anthonys Gesichtszüge, seine einladenden Lippen, wie er sich unkontrolliert unter seinen Berührungen wandte, seine Arme um den Langhaarigen schlang, ihn fest an sich drückte.
Er wollte genommen werden, sein verschleierter Blick verriet es, die dunkle Begierde in seinen braunen Augen.
Obwohl er sich selbst kaum mehr beherrschen konnte, bemühte Jack sich, den anderen erst einmal mit seinen Fingern zu weiten, ließ es sich jedoch nicht entgehen, seinen mit einem Schweißfilm bedeckten Freund genau zu betrachten.
Schließlich drängte Anthony ihn, die Vorbereitung abzubrechen, und zum Eigentlichen zu kommen.
Jack kannte diese ungezügelte Seite an ihm ja schon, wusste genau, dass sogar er Anthony in dieser Situation keine Einhalt gebieten konnte.
So hob er dessen heiße Hüften an, positionierte sich und drang vorsichtig in Anthonys Körper ein.
Der Junge unter ihm zuckte zusammen, doch der Schmerz konnte ihn nicht davon abbringen, den Akt, die entstehende Verbindung zwischen den beiden genau zu beobachten.
Keine falsche Bescheidenheit, sondern maßlose Schamlosigkeit.
Anthonys Augen vibrierten, seine Gesichtsmuskeln schienen elektrisiert, doch blieb sein Blick weiterhin auf den Jungen unter ihm gerichtet.
Er sog Jacks ganze Existenz in sich auf, dessen Schweiß, dessen Regungen, dessen errötete Wangen, die Seelenruhe seiner dunklen Mähne, die Hände, die sich in seine Hüften krallten, sie anzogen und den ersten Stoß wagten.
Beide Jungen zuckten zusammen.
Anthonys Augen tränten, er verspürte diesen überwältigenden Strom aus maßloser Sinneslust durch seine Adern rauschen, das verlockende Pulsieren seines Inneren.
Er regte Jack an, ihm diese süße Pein noch ein weiteres Mal zu bescheren, seine weiße Nase kräuselte sich.
Gewissenlos gab er sich dem Genuss hin, mit seinem Geliebten vereint zu sein.
Anthonys starke Arme, die er neben seinen Kopf in den Stoff des Anzuges presste, zitterten, sein zierlicher Oberkörper war bis aufs Äußerste angespannt, sodass der Dunkelhaarige dessen Muskelpartien unter seinen Augen betrachten konnte, dieses göttliche, ungenierte Abbild eines Engels, voller Ekstase.
Jack musste sich wirklich beherrschen, sich nicht gewaltsam in gegen ihn zu bewegen. So mitreißend war der Bann, der von dem Blonden ausging, dessen Augen so dunkel und doch so leuchtend zu ihm hinauf starrten, voller Liebe und Wonne.
Der Sportler wusste, wie er seinen Freund in dieser Situation, an der Schwelle des Wahnsinns, zu behandeln hatte. Er quälte ihn, indem er seinen zärtlichen Rhythmus beibehielt, Anthony sich vor Ungeduld unter ihm wandte.
Dessen weiche Hände, die nach Jacks Unterleib griffen, sich in seinen Pobacken krallten, ganz instinktiv.
Der heitere Himmel erstreckte sich immer noch über ihnen, kein Luftzug, kein Ungewitter, kein Blitz, der sie gewaltsam auseinander riss.
Nur die trügende Stille, die Ungewissheit der Menschen, das uralte Geheimnis.
Anthonys weiße Zähne traten hervor, als Jack sich nach vorn beugte, dessen lange Beine über seine Schultern klemmte, um somit noch tiefer in diesem Heiligtum aus Fleisch und Blut zu versinken.
Dieser Augenkontakt, kein einziges Blinzeln, die Neugierde über die momentanen Gefühle des anderen, ein offener Blick, wie es ihn nicht oft auf der Welt gibt.
Jacks funkelnde Augen fixierten Anthonys, bis er das Aufleuchten sah, mit dem der andere sich aufbäumte und heiße Flüssigkeit gegen Jacks makellosen Bauch spritzte. Im selben Augenblick bekam auch er einen Orgasmus, ging ganz und gar in seinem Geliebten, seinem Seelenverwandten, auf.
Nicht lange danach hielten sie einander in den Armen, liebkosten einander, Jack schleckte Anthonys Hals ab, während der andere an seinem Ohrläppchen kaute.
Sie brauchten einander ihre Liebe nicht zu bekunden, sie wussten es, hatten sie absorbiert.
Herrliche Stille, die allgemeine Stille vor dem Sturm.
+++++++++++++ ++++++++++++++++++++++ +++++++++++++++++++
Kurz darauf kehrten sie aufs Schulgelände zurück.
Sie tollten miteinander herum, solange es niemand sehen konnte.
Diese Verbundenheit, dieses Lächeln in den Gesichtern der beiden würde sie wohlmöglich verraten. Alles schien so perfekt, zu perfekt.
Sie hätten es wissen müssen.
Als sie die Anlage erreichten, wartete schon das blonde Mädchen auf sie, neben ihr Richard.
Sobald Jack sie entdeckte, machte er seinen Freund darauf aufmerksam.
Ende es Glücks.
„Was macht sie denn hier?“ , murmelte Anthony eher entrüstet als erfreut, ging dennoch übereifrig auf seine ältere Schwester zu, ließ Jack hinter sich.
Misstrauen wenn nicht die Spur einer bösen Vorahnung in den azurblauen Augen.
Er folgte dem Blonden unauffällig, nachdem er sich seine schwarze Sonnenbrille vom Kopf auf die Nase geschoben hatte.
Anthony fiel herzlichst seiner Schwester in die Arme:
„Christine, was machst du denn hier?“
„Darf ich dir denn hin und wieder keinen Besuch abstatten?“ , erwiderte das Mädchen belustigt und drückte den anderen an sich.
Jack versuchte sich derweil hinter Anthony zu verstecken, hielt bewusst Abstand.
Mit einem skeptischen Blick betrachtete er diese geschwisterliche Geste der beiden. So etwas war ihm fremd, wenn nicht unheimlich.
Anthony befreite sich aus ihrer Umarmung, grinste in Christines Gesicht:
„Du meinst wohl: einen Kontrollbesuch.“
Jack sah, wie sich Richards Mundwinkel unbemerkbar nach oben zog, wie immer seine intrigante Visage.
Christine stellte sich demonstrativ enger zu ihrem Freund, tätschelte pflichtgemäß seinen Rücken:
„Außerdem habe ich Richard vermisst.“
Ein Argument, das eher nebensächlich zu sein schien.
Der Blonde verengte seine Augenglieder, piesackte seine Schwester:
„Der Nachteil einer Fernbeziehung.“
Darauf tat das Mädchen nur beleidigt.
Urplötzlich drehte Anthony sich um, holte den Brünetten gegen dessen Willen ins Spiel:
„Ähm, ich möchte dir Jack vorstellen, Jack Viola.“
„Freut mich, dich endlich kennenzulernen.“, sie bot dem muskulösen Jungen, der es nicht für nötig hielt, seine Brille abzusetzen, ihre weibliche Hand hin.
Nachdem er Anthony noch einmal einen empörten Blick zugeworfen hatte, erwiderte Jack die obligatorische Geste eher abgeneigt.
Ihre übertrieben freundliche Visage, die jedem zeigte, dass sie ein Mädchen aus gutem Hause war, gefiel ihm nicht.
„Anthony erzählt viel von dir.“
Er musste sich zügeln, ihre kleine Hand nicht zu zerdrücken. Jacks typisches gefährliches Grinsen:
„Ich hoffe, nur Schlechtes.“
Prompt kehrte Stille ein. Keiner wusste etwa zu sagen.
Bis Christine wieder zum Lächeln ansetzte und in Richtung ihres jüngeren Bruders deutete:
„Er ist wirklich so sarkastisch, wie du gesagt hast.“
Auch Jack wendete sein stolzes Haupt in dessen Richtung:
„Danke vielmals.“
Plötzlich ergriff Christine die Hand des Blonden und flüsterte ihm zu:
„Anthony, kann ich dich bitte unter vier Augen sprechen.“
Etwas überrumpelt willigte er dann aber ein und schritt in ihrem Schlepptau einige Meter von den anderen beiden, während er Jack stumm anblickte.
So blieben er und Richard allein zurück. Kein Wort zwischen ihnen.
Jack beobachtete die beiden Geschwister misstrauisch, während Richard vor Schadenfreude verging.
Was konnte sie nur von Anthony wollen?
„Ich habe gestern einen Brief von Vater erhalten.
Er möchte, dass du über die Ferien nach Hause kommst, um ihm bei der Arbeit zu helfen.“ , offenbarte Christine dann endlich.
Anthonys Gesichtszüge erstarrten, pure Entgeisterung:
„Wie bitte?“ , in seiner Stimme lag ein Hauch von Belustigung.
„Das ist doch wohl ein Witz, oder?“
Seine weißen Fäuste ballten sich.
„Anthony...“ , beschwichtigte ihn seine Schwester, da sie genau wusste, wie sehr diese Nachricht ihren Bruder aufregen würde.
- Für Jack war sie eine missgestaltete Ausgabe seines Freundes.
„Er wusste genau, dass ich andere Pläne hatte und jetzt auf einmal...“ ,
er kochte vor Wut, ungewöhnlich für Christine.
„Er will doch nur...“ , versuchte sie ihn wieder zu beruhigen, wurde dann aber von Anthony unterbrochen:
„Und warum hat er mir diese grandiose Nachricht nicht von selbst mitgeteilt?“
Seine Augen blitzten vor unbändigen Zorn.
„Du weißt doch, wie seine Absicht aussieht.“
Christine hatte blaue Augen, wie die ihres Vaters.
„Er will, dass du in seine Fußstapfen trittst...“
Dafür hatte der Jüngere nur ein verächtliches Schnaufen übrig:
„Und der Musik mannhaft adieu sage?“
Doch dann senkte Christine ihren Blick, wirkte beinah zärtlich, denn sie hatten beide unter der Tyrannei ihres Vaters zu leiden, sie vielleicht mehr als er.
Wie gebrochen ihre Stimme doch klang:
„Er hat gesprochen. Du wirst nicht gegen seinen Willen ankommen,“, Anthony seufzte,
„auch mit deinem Sturkopf nicht...“
Sie streichelte ihrem hübschen Bruder durchs Haar, hatte sich mit ihrer Niederlage schon seit Jahren abgefunden.
Nur wenige Meter entfernt, in der Höhe der Dächer, drang Geigenmusik durch die Winde über das Anwesen, nur nicht zu den anderen herüber.
Leidige Töne, zuerst geformt in fromme Freudenlieder, wie sie Gott doch verehrte, doch nun konnte seine kleine Hand nicht leidenschaftlicher den Bogen über die Saiten führen.
Wie immer hielt er die Augen verschlossen, war völlig in seinem Spiel vertieft, Vergessen.
Er wusste nicht, dass er genau an der Stelle spielte, wo zuvor auch Jack Zuflucht gesucht hatte. Nur der Wind flüsterte ihm davon.
Seine Sommersprossen waren so viel heller als die Farbe der Violine, verblasst, leergebrannt.
Der seidige kleine Kindermund, so bewegungslos und nahe einem Wimmern.
Er konnte die anderen sehen, Anthony und Christine nahe beieinander, abseits von ihnen Jack und Richard, erwartungsvoll.
Doch sobald er seine verschiedenfarbigen Augen öffnete, verschwand die Vision, nur der Ostflügel des Gebäudes, pechschwarzer Schatten.
Der Wind tat sich auf.
Nur die Kirche war in der Ferne zu erkennen, ihr galt Robins ausdrucksloser Blick.
Die Sonne hatte sich gesenkt.
Ein tiefdunkler Schatten hatte sich hinter dem Gebäude erstreckt, der perfekte Platz für ein Privatgespräch.
Niemand würde sie sehen und hören.
„Ich habe mich wohl verhört!“ , schrie der Brünette aufgebracht, zwang sich dann aber, leiser in Anthonys Gesicht zu zischen:
„ Zwei Tage vor unserem Trip sagst du ab?“
Natürlich war vorherzusehen, dass er so reagieren würde.
Der Ältere hatte seinen Blick abgewandt, fixierte betrübt den schwarzen Boden unter ihnen.
Treibsand der Schatten.
„Tut mir leid, Jack!“, seufzte er dann mit ehrlicher Reue.
Hilflos zuckte er die Schultern:
„Wie schon gesagt, Christine hat es mir mitgeteilt. Ich muss zu meinem Vater, auch wenn...“ , er machte eine Pause, versuchte Blickkontakt mit seinem Freund, der genervt auf und ab ging, aufzunehmen,
„...ich viel lieber mit dir zusammen wäre.“
Doch als er sich Jack näherte, seine Arme zur Versöhnung um ihn zu legen versuchte, wies jener sie brutal von sich.
Der andere wendete sich wieder ab, spuckte niederträchtig auf die Erde:
„Schon klar. Während du im Büro deines Alten Däumchen drehen darfst, schlafe ich halt auf der Straße.“
Das hatte Anthony nicht bedacht:
„Kannst du nicht zu deiner Mutter fahren?“
Zeitgleich starrte Jack ihn entgeistert an, schnaufte belustigt:
„Du machst wohl Witze.“
„Und wenn du einen deiner Band-Kumpels fragst?“ Vorsichtig näherte der Blonde sich ihm wieder.
„Das Betteln geht mir gegen den Strich.“ war Jacks simple Antwort, er schien in seinen Jackentaschen nach Zigaretten zu suchen.
Doch plötzlich hielt er inne, drehte sich wieder auf diese unheimliche Art zu dem anderen:
„Ich könnte doch auch einfach mit dir mitkommen.“
Die Provokation in seiner Stimme war unverkennbar.
„Jack...“
Anthony stieß einen tiefen Seufzer von sich, während er seine Hände in seinen Hosentaschen vergrub.
Sonst eigentlich nicht seine Art, eher Jacks.
Stillschweigen, bis der Brünette dann theatralisch ausposaunte:
„Oh, natürlich! Wie konnte ich das nur vergessen!“
Ein dreckiges Grinsen auf seinem Gesicht:
„Dein lieber Vater weiß ja nichts von mir...“
„Jack...“, konnte der andere nur weiterhin ratlos.
Sogleich schritt der langhaarige Junge schnurstracks auf ihn zu, bedrohlich, wie seine bestialische Stimme Anthony attackierte:
„Ahnt nicht im Geringsten, dass sein Wunderknabe Schwänze lutscht!“
Und er versetzte dem Blonden einen laschen Stoß, immer und immer wieder. Anthony versuchte diese instinktiv abzuwehren, konnte seine Wut über Jacks Worte jedoch nur durchs Fluchen ausdrücken.
„Scheiße!“ , fauchte er.
Im nächsten Augenblick wurde er brutal gegen die Wand gestoßen. Einerseits schockierte ihn diese erbarmungslose Aktion, andererseits auch nicht.
Nur seinem Geliebten und auch seinem Vater gegenüber war er hilflos.
Er war in Jacks Fängen.
„Nicht wahr, Tony?“ , zischte Jack in das weiße Gesicht des Jungen, dem der Atem stockte.
„Du würdest so’n Abschaum wie mich doch nie deinem Vater vorstellen, weil du dich verdammt noch mal für mich schämst!“ , brüllte Jack voller Zorn, voller Verzweiflung die Wahrheit, die schon immer zwischen den beiden gestanden hatte.
Dem Älteren fehlten zuerst die Worte, sodass er nur ein schwaches
„Das tue ich nicht...“ herausbekam.
„Ach ja?“ , Jack zog seine Augenbraue kritisch hoch,
„Hast du deiner süßen Schwester gegenüber bei den vielen Malen, dass du ihr von mir erzählt hast, je erwähnt, dass du dich auch von mir ficken lässt?“
Instinktiv versuchte Anthony sich von Jacks starken Armen zu befreien, sie begannen, sich gegenseitig zu schubsen und zu schlagen, so wie es normale Jungs ihres Alters taten.
Selbstverständlich gelang es Anthony nicht, sich von dem anderen loszureißen. Er bebte vor Wut, fragte ungeduldig durch zusammengebissene Zähne:
„Was verlangst du denn von mir, Jack?“ Eine hässliche Grimasse bildete sich auf Anthonys sonst hübschem Gesicht:
„Dass ich mein ganzes Leben aufgebe nur wegen...“
Dennoch wagte er es nicht, den Gedanken zu vollenden, er hatte schon viel zu viel gesagt.
Und Jack würde ihm den Satz vervollständigen, wie sonst auch:
„Nur wegen mir...?“ – wie ein Lachen.
Wieder schnaufte der Sportler, bitterer denn je.
Für Anthony schien eine Ewigkeit, eine brennende Ewigkeit, die nicht zerreißender hätte sein können, zu vergehen, bis Jack ihn ein weiteres Mal gegen die Wand stieß, ein grausamer Schmerz an seinem Hinterkopf, wieder einmal brachte er seinen „Tony“ zum Keuchen, unterdrückt.
Zusätzlich musste der Blonde jetzt feststellen, dass Jack seine Hand um den schlanken Hals des anderen geschlungen hatte!
Auch wenn er unbeschwert atmen konnte, raubte die Panik, die sich in ihm breit machte, Anthony jegliche Vernunft, Panik bei dem Menschen, der ihm am nächsten stand.
„Weißt du was, Tony?“ – stechende Gleichgültigkeit in Jacks Stimme, wie bei seinen anderen Schlägerkumpanen.
Kastanienbraune Augen in der Dunkelheit.
„Du bist ein elender Heuchler.“
Das Demütigendste war, dass der Jüngere seine Lippen dann auch noch auf seine Stirn presste, ein kalter, hörbarer Schmatzer, und ihn dann fallen ließ.
Obwohl er nicht zugedrückt hatte, keuchte Anthony erleichtert vor sich hin. Das lag wohl an dem erstickenden Kloß in seinem Hals, den irrsinnigen Herzschlag, die Enttäuschung.
Jack ging aus dem Schatten, hielt seinem Freund bei näherer Betrachtung den Mittelfinger hin.
Er fauchte: „Fahr zur Hölle!“ und kickte wütend eine Büchse durch die Gegend.
Während das Klirren noch widerhallte, blieb der Blonde regungslos an der Wand stehen, starrte in die Leere:
„Ich hätte dich ihm vorgestellt.“
Ein Flüstern, das Jack nie hören sollte.
Der Sonnenaufgang lag noch in der Luft, kalte Luft, sogar in der verlassenen Turnhalle.
Weißes Licht, das durch die hohen Fenster drang, viele schliefen noch.
Jack in seinen lockerem T-Shirt und Shorts stand mitten auf dem Spielfeld, das blanke Parkett unter seinen miefigen Turnschuhen, ein leises Gähnen von der Person, die vor ihm stand.
Er vergewisserte sich, dass Robins Rücken angespannt war, schritt dann vor ihn.
„Nanana,...du wirst doch wohl nicht einpennen, Kleiner.“
Er trug noch immer seine Sonnenbrille, aus gutem Grund.
Robin mit seinen müden Augen errötete:
„Tut mir leid.“
Die ganze Zeit berührte der Ältere ihn, checkte Robins Muskelkraft.
Obwohl er es sonst nicht mochte, wenn ein anderer ihn anfasste, machte ihm das bei Jack weniger aus, als er angenommen hatte.
Auf dem Boden lagen allerhand Ertüchtigungsgeräte herum.
„Du wolltest das Training.“, sagte Jack dann gnadenlos,
„Also,...streck deine Arme nach vorne.“
Robin tat, was man ihm sagte, streckte seine blassen und mageren Arme senkrecht von seinem Körper.
Jack hob etwas Metallisches vom Boden auf.
„Nun halt das.“
Unwillig nahm Robin beiden Griffe in seinen Hände. Das runde Gebilde war schwerer als es den Anschein hatte, das Seil, das nach unten hing, kontinuierlich auf und ab zu rollte, wie ein defektes Jojo.
„Ach, nein.“ , schmollte Robin.
Aus irgendeinem Grund nahm der Langhaarige nun endlich die Brille ab, offenbarte seine traurigen Augen. Ihre Farbe schien erblasst, verbraucht, irgendetwas stimmte nicht.
„Doch, doch...schön kurbeln, mindestens 10 Minuten lang.“ , gab Jack dann als strikte Anweisung und setzte sich auf die Sitzbänke, unfairer Weise.
Robin versuchte ihn nicht anzustarren.
Er würde zu gern wissen, was ihm auf der Seele lag.
Sicherlich hatte es etwas mit Anthony zu tun, am gestrigen Abend hatten die beiden kein einziges Wort miteinander gewechselt, einander nicht mal eines Blickes gewürdigt.
Offensichtlich hatten sie sich gestritten - aber warum?
Jack rauchte, was natürlich strengstens verboten war.
„Morgen endlich Ferien, was?“ , drang es dann lustlos von drüben herüber.
„Ja.“ , gab Robin genauso freudlos zurück, er wollte gar nicht daran denken.
Einige Stunden darauf trat Anthony in die Redaktion. Es war niemand da.
Wahrscheinlich würden die anderen erst später eintrudeln, so konnte er die Zeit bis zum Unterricht schon ein wenig vorarbeiten.
Was sollte er auch anderes tun? Zum Klavier Spielen hatte er komischer Weise keine Lust.
Als er seine Tasche ablegte, in trüber Erinnerung die Beule an seinem Hinterkopf befühlte, entdeckte er die Blumen.
Ein großer, sündhaft teurer Blumenstrauß stand auf dem Tisch, ein Briefumschlag anbei gestellt, auf dem Anthonys Name stand.
Eher misstrauisch als überrascht ging er auf ihn zu, betrachtete die schillernden Blüten.
Wer sollte ihm denn Blumen schenken?
Er war an einem Jungeninternat.
Geburtstag hatte er nicht, noch nicht.
Vielleicht die Direktorin – aber wofür?
Vielleicht aber auch...
„Nein, nein, niemals...“ , lachte der Blonde über den Gedanken, dass Jack ihm so etwas Romantisches wie Blumen schenken würde.
Vielleicht ja als Wiedergutmachung.
Innerlich freute er sich so sehr darüber, dass er vergaß, sich die unbekannte Schrift näher anzusehen.
Schnellstens öffnete er den dicken Umschlag, beinah hoffnungsvoll.
Doch dann entdeckte er darin etwas Schwarzes, ein Stapel Fotos, der aus dem Umschlag herausquoll.
Bei näherer Betrachtung erkannte er die beiden Personen, die darauf abgebildet waren:
Anthony Levoy und Jack Viola, zusammen.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er feststellen musste, dass darunter auch seine privaten Fotos waren.
Jemand stand hinter ihm.
Vorsichtig drehte er sich um, und als hätte er es geahnt, fand er den Schülersprecher auf. Dessen schadenfrohes Grinsen war unverkennbar.
„Richard...“
„Guten Morgen, Anthony.“, grüßte er mit seiner typischen affektierten Stimme, wie ein Psychopath.
„Ich hoffe, du hast gut geschlafen,“ – ein Schatten legte sich auf seine Augenlider und er fügte lasziv hinzu:
„...in den Armen deines Lovers.“
Anthonys Pupillen erstarrten, ein lähmendes Gefühl durchfuhr seine Gliedmaßen, seinen ganzen Körper. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er war ertappt, von seinem persönlichen Konkurrenten.
„Da verschlägt es dir wohl die Sprache, was?“
Wie immer behielt der Primus seine Hände hinter dem Rücken verschränkt, näherte sich dem anderen mit dem nervtötenden Quietschen seiner teuren Stiefel.
„Ich meine, es ist nicht so, dass ich es als einziger geahnt habe.
Es gibt viele an dieser Schule, die über dich und diesen dreckigen Mistkerl rumoren.“
Anthony wich vorsichtig zurück, erfühlte sich wie im Käfig eines Tigers, versuchte einen Ausweg aus der heiklen Situation zu finden, Ausreden, Lügen für das, was auf den Fotos zu sehen war, aber das wäre wohl nutzlos.
Was sollte er nur tun?
Richards widerliches Grinsen erstickte ihn, er war hilflos.
„Natürlich hört niemand darauf, niemand würde auf die Idee kommen, unseren süßen Sonnyboy, den Liebling aller, in aller Öffentlichkeit bloßzustellen.“
Wie sehr ihn das alles mitzunehmen schien...
Plötzlich blieb das Schlitzohr stehen:
„Außer mir.“
Anthony hielt sich noch immer an der Tischkante fest, blickte den Älteren mit unendlicher Verachtung an, ein tödlicher Blick, der mit Jacks konkurrieren könnte.
„Was willst du?“ - seine Stimme war ungewöhnlich männlich.
Eine belustigte Geste über Anthonys Ungeduld, Richards trotzten nur so von habgieriger Besessenheit:
„Du wirst nicht für die nächste Schülersprecherwahl kandidieren. Und mir auch nicht länger die Leitung der Schülerzeitung streitig machen.“
Obwohl solche trivialen Motive bei Richard vorauszusehen waren, wäre Anthony fast in schallendes Gelächter ausgebrochen. Stattdessen wendete er sich nur ab, schaute gedankenverloren aus dem Fenster und gab dann verständnislos zurück:
„Was interessiert es dich. Du wirst nächstes Jahr sowieso nicht mehr hier sein.“
Kurzerhand überbrückte Richard die wenigen Schritte zwischen ihnen, näherte sich seinem Rivalen so sehr, dass dieser seinen faulen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.
Doch staunte Anthony nicht schlecht, als der andere ihm eine seiner goldenen Strähnen von der Stirn strich, widerlich zärtlich.
„Es geht ums Prinzip, Tony.“
Wenn Anthony es nicht besser gewusst hätte, hätte er Richards Blick mit denen der Jungen im Umkleideraum verglichen...
Sofort stieß er dessen schmierige Hand von sich.
„Neid ist eine jämmerliche Sache, du kranker Sadist!“ ,
fauchte Anthony mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.
„Umso mehr, anderen hinterher zu spionieren und in ihrer Abwesenheit ihre Zimmer zu durchstöbern.“
Dann solle es hart auf hart kommen.
„Soll ich dich dafür bei der Direktorin anschwärzen?“ , drohte Anthony dann, innerlich dem Triumph sicher.
Doch ließ sich der Schülersprecher davon nicht beeindrucken.
Mit selbstgefälliger Gelassenheit ließ er sich auf der Tischkante nieder, verschränkte souverän die Arme:
„Das würdest du nicht wagen.“
Ein heißer aber stummer Lufthauch durch Anthonys zusammengebissene Zähne.
In Richards Gesicht spiegelte sich der verurteilende Ausdruck wider, der bei weitem grausamer war als dessen sonstiges kaltes Lächeln.
„Dann würden vielleicht deine Neigungen ans Licht kommen und Unzucht mit gleichgeschlechtlichen Partnern tolerieren sie an dieser orthodoxen Schule nicht.“
Tatsächlich, Anthony hatte beinah vergessen, dass er ein schwarzes Schaf war, das sich unter den anderen weißen Schafen in einem weißen Pelz gekleidet hatte.
Sie würden ihn lynchen, wenn sie erführen, wer er wirklich war!
Er wollte sich die Konsequenzen gar nicht näher ausmalen.
Doch erledigte Richard das natürlich für ihn, Anthonys Alptraum wahr werden zu lassen:
„Genauso wenig wie in deiner Familie, würde ich schätzen.
Oder willst du etwa, dass ich Christine diese Fotos zeige?“
Dennoch klappte Anthonys Unterlippe sich augenblicklich vor Empörung und Hilflosigkeit nach unten.
Er schüttelte den Kopf, täuschte den Unglauben jedoch nur vor:
„Das würdest du nicht wagen, du Bastard.“ , murmelte der Jüngere vorsichtig. Er war drauf und dran, sich auf diesen Mistkerl zu stürzen und ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen.
Während Anthony von seinen Gefühlen gefesselt wurde und in ein tiefes Loch fiel, seine ganze Welt zusammenbrach, lehnte Richard sich gemütlich nach hinten und erklärte in seiner perversen Schadenfreude:
„Als der Freund deiner Schwester will ich dir nur helfen, den richtigen Weg wieder zu finden.“
Fäulnis erfüllte die Luft, der Geruch kalter Säure und die Sonne so erstickend, dass alles in eine Traumwelt getaucht, gewaltsam gepresst, wurde, in einen ALPTRAUM , der soeben begonnen hatte.
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Die alte Uhr über dem Eingang der Kapelle hatte noch nicht einmal Mittag geschlagen, wie langsam die Zeit doch verstrich, und wiederum auch so schnell, dass jeder Atemzug unser letzter sein könnte, uns weder Gedanke noch Gefühl unabdingbar abhanden kommt, wir sie nie wieder so erleben, wie es ursprünglich gewesen war,
kleine unsichtbare Abschiede, TODE.
Doch schenkte der 14-jährige Junge weniger der rostigen Uhr Beachtung als vielmehr der Rosette darüber. Ohne sich wirklich darüber bewusst zu sein, zeichnete er nicht etwa die gegebenen Muster sondern das, was hinter ihnen im Verborgenen lag.
Zwei sich umschlingende Körper, das Abbild zweier Jungen, die zu betrachten er auf jeden Fall vermeiden wollte.
Seinen Kopf hatte er in seiner Handfläche abgestützt, trübselig saß er am Geländer des weißen Pavillons. Um diese Uhrzeit würde ohnehin keine Menschenseele hierher kommen. Das Schulgelände war leer gefegt, nur einige unbedeutende Stimmen aus der Ferne.
Er war ganz vertieft in seinen formlosen Gedanken, ein Zustand, den er sich selbst nicht erklären konnte bzw. wollte. Aus welchem Grund auch immer er die beiden zeichnete.
Und plötzlich tauchte er wieder in diese Vision ein.
(Flashback 1 begins)
Er als kleiner Junge an der Hand seines Vaters.
Sie waren in den Wald gefahren, ohne dass sie seiner Mutter Bescheid gegeben hatten. Das Sonnenlicht streifte das Blätterwerk, fiel auf Robins pausbäckiges Gesicht, voller Sommersprossen, die heißen Strahlen taten seinen großen Kulleraugen weh, sodass er sie unentwegt rieb.
Sonst hatte sein Vater ihm immer irgendwas über die Natur erzählt, sie mit seinem poetischen Gemüt lobgepriesen. Doch immer wenn die beiden diesen Mann, den besten Freund seines Vaters, besuchten, war dieser so aus dem Häuschen, dass er seine Lehrstunden über seine Euphorie vergaß.
Der Weg war modrig, die Schuhe des kleinen Jungen wurden wie immer schmutzig.
Dann sah er die Lichtung, auf der eine Holzhütte stand.
(Flashback 1 ends)
Im nächsten Augenblick riss ihn eine wohl bekannte Stimme aus seiner Gedankenwelt.
„Hey, Robin. Was machst du hier?“
Sobald er den Blonden erblickte, schloss er hektisch seinen Zeichenblock und nahm die Beine von der Sitzbank.
„Ausruhen.“ , gab der Junge dann nüchtern wieder, während der Ältere neben ihm Platz nahm.
Der Kleine musterte Anthony mit großen Augen, als würde er dessen merkwürdige Gestalt mit jeder Faser seiner Augen absorbieren wollen.
Obwohl er sich bemühte, sein typisches Lächeln aufrecht zu halten, bemerkte Robin sofort, dass ihn etwas bedrückte, er einen innerlichen Schock mit sich trug.
Doch hätte er ihn denn so einfach nach seinem Problem fragen sollen, wie der Pfarrer ihm eine Beichte entrissen hatte?
Eine Kluft zwischen ihnen, während Anthony schwerlich die richtigen Worte zu finden versuchte.
„Was ist denn?“ , hakte Robin dann vorsichtig nach, wie ein Kleinkind.
Ein stummes Seufzen entwich Anthonys trockenen Lippen, während er seinen Blick senkte:
„Hör zu, Robin. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“
Unbemerkbar zog sich die kleine Hand des brünetten Jungen auf seinem Zeichenblock zusammen.
„Es ist so. Jack und ich hatten geplant über die Ferien nach London zu fahren.
Nun ist aber etwas dazwischen gekommen.“
Es fiel dem Älteren so schwer, dass er scharf Luft einsog, aber nicht wieder ausatmete, vibrierende Augen:
„Ich kann nicht mit ihm fahren.“
Robin warf einen flüchtigen Blick auf Anthonys Hände, die dieser zitternd in seinen Schoß gedrückt hatte, sie schimmerten bleicher denn je, wurden vom idyllisch strahlenden Sonnenlicht nicht erreicht.
„Das Problem ist, dass Jack nirgendwo anders Zuflucht suchen kann.“
- Dinge, um die nur die beiden wussten.
Robins Gesicht legte sich in Falten:
„Also, möchtest du, dass, dass ich...“
Anthony sah sich wie erwartet blanker Entrüstung entgegen:
„Ja, bitte lass ihn bei dir wohnen.“ , um sein Flehen zu verdeutlichen, presste er die Lippen zusammen,
„Wäre das möglich?“
Total überrumpelt blinzelte Robin vor sich hin, fand kaum die Worte zu antworten, denn die Vorstellung von ihm und Jack schien zu obskur.
„Ich...“, stotterte er nervös, „vielleicht...“
Anthony trug das größte Verständnis für den Gewissenskonflikt , in den er den Jüngeren gebracht hatte. Doch irgendetwas sagte ihm, dass diese Lösung die beste sei, für jeden der beiden, vor allem für ihn selbst.
„Mir ist durchaus bewusst, wie anmaßend diese Bitte doch ist.
Aber...“
Welch Überwindung es ihn doch kostete.
„Jack wird jetzt einen Freund brauchen, jemanden, der für ihn da ist und auf ihn aufpasst.“
Noch nie zuvor hatte Robin den anderen so erlebt, seine Augen waren undefinierbar trübe.
„Wieso?“ , erwiderte er mit ehrlicher Sorge.
Anthonys Lippen weigerten sich, es auszusprechen, seine Entscheidung kund zu geben, sein ganzer Körper zog sich zusammen. Sein rechtes Bein, dass er vor seinem Körper angewinkelt hatte, woran er sich hilflos klammerte, begann plötzlich unaufhaltsam zu zittern.
„Ich...ich muss Schluss machen, das zwischen ihn und mir beenden.“
Das war das erste Mal, dass er es Robin gegenüber zugab und es hatte keine Bedeutung.
Vielmehr übertrug sich dessen Trauer darüber auf den Jungen. Der Blonde litt schrecklich, Robin glaubte Ansätze von Tränen in Tonys Augen entdeckt zu haben:
„Auch wenn ich das nicht will, ich habe meine Gründe.“
Auf einmal begann sein Haar golden in der Sonne zu glänzen. Jetzt hatte sie ihn doch erwischt.
„Er weiß nichts davon und ich bitte dich, ihn nichts zu erzählen.
Das würde das Ganze nur noch schwerer machen, für uns beide.“
Was für eine Zumutung.
Obwohl Robin der letzte war, der etwas von diesen Problemen verstand, war er sich über das Ausmaß dieser Bitte bewusst, konnte jetzt schon Jacks schakalen Schrei hören.
Plötzlich wurde seine Hand von dem Zeichenblock gezogen und von Anthonys Händen umhüllt.
Kalter Schweiß.
Das traurigste Lächeln überhaupt.
„Bitte kümmere dich um ihn, Robin.“
Es schien ihm, als brannten sich seine Sommersprossen in seine Haut, er war beschämt und wütend zugleich.
„Traust du dir das zu?“
Eine schwierige Aufgabe.
Dennoch nickte der Junge mit den verschiedenfarbigen Augen, von Anthony aus gesehen, erkannte man nur das eine, das blaue.
Er wusste zwar nicht, welche Gestalt das Ganze annehmen sollte, aber da war wieder diese Gewissheit, dass es nicht anders sein sollte.
„Ich danke dir.“
Das letzte Mal, dass er Anthony als Anthony gegenüber haben sollte.
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Dunkle, strähnige Haare, die wirr und wehrlos mit jedem Ruck seiner Wut die unsichtbare Luft peitschten.
Hektisch stopfte Jack seine Sachen erbarmungslos in seinen Rucksack.
Das Klicken eines Feuerzeuges. Es streikte, setzte nichts als stickiges Gas frei.
Gepflegte Fingernägel.
Einsame Stille hatte sich über das Zimmer gelegt.
Er vermied es mit krankhafter Anstrengung zu dem Nachbarbett zu blicken.
Jack wollte sich einfach nicht eingestehen, dass er sein eigenes Verhalten mehr verabscheute als Anthonys!
Die Dinge, die er ihm im Hinterhof angetan hatte, waren unverzeihlich.
Sie würden sich nicht voneinander verabschieden.
Schließlich wurde das Feuer entfacht. Eine lodernde Flamme, der kein einziger Luftzug trotzte.
Im Schneidersitz hatte Anthony sich mitten im Gras, dort, wo es niemand bemerken würde, wo er gestern noch in Jacks Umarmung gelegen hatte, niedergelassen.
Zwischen seinen Beinen ruhte ein Blatt Papier, gewaltsam einem Einband entrissen.
Er hielt es vor sein Gesicht, um das Gedicht ein letztes Mal zu lesen, nichts dabei zu empfinden, gar nichts.
Dann hielt er es in die hungrige Flamme.
„Shit!“ , fluchte Jack in seiner blinden Wut vor sich hin, bemerkte gar nicht, dass jemand ins Zimmer getreten war.
Reglos blieb der Junge vor ihm stehen, natürlich in einem sicheren Abstand. Seine blasse Hand ruhte auf dem Holzbalken, verkrampft.
Er wartete, bis der andere seine Anwesenheit wahrnahm.
„Was willst du?“ , fragte der Ältere schließlich mit brummender Stimme.
Das Feuer verschlang das weiche Papier, die Seite, die der Blonde am meisten gelesen hatte, mit solcher Sehnsucht studiert hatte.
NUN WAR DEM EIN ENDE GESETZT.
Weiß formte sich zu Schwarz, Ruß an den gekrümmten Rändern, das Dahinsiechen einer Existenz, eines Traumes.
„Was hältst du davon, mit zu mir zu kommen?“ ,
fragte Robin schließlich mit ungewöhnlich fester und ruhiger Stimme.
Zum ersten Mal dachte er nicht über die Konsequenzen seiner Offenheit nach, zum ersten Mal musste er kein Nein erwarten.
Die sterbende Gedichtseite wurde kaltherzig zu Boden geworfen, zu Anthonys Füßen.
Er hatte Walt Withman verbannt.
Die Reflexion der lodernden Flammen in seinen Augen tränkten sie mit roter Farbe.
Bald würde die Sonne untergehen, er spürte es durch die Haut seines Rückens.
Ohne auch nur die geringste Regung beobachtete er die Hinrichtung der WAHRHEIT, des sündhaften Bösen in den Augen der Kirche, nun auch in seinen.
Nichts würde wieder so werden wie es einmal gewesen war, nie wieder.
Doch vermochte Anthony keine einzige Träne vergießen, nicht einmal für seinen Geliebten.
Er hatte alles von sich abgelegt, was er gewesen war.
Nun war es Zeit, erwachsen zu werden.
Die Klänge des Pianos waren auf ewig verstummt, nur noch das Knistern hallte durch seine Ohren.
Vollkommene Verwirrung lag auf Jacks Gesicht.
Robins Worte hatten es doch tatsächlich geschafft, ihn für einen Augenblick von seiner innerlichen Aufregung abzulenken.
Jedoch wurde diese nun durch etwas anderes ersetzt.
„Du meinst...“ , murmelte er, nicht sicher, wie er reagieren sollte.
Immer noch in diesem souveränen Zustand vervollständigte der Jüngere dann:
„Über die Ferien. Ich habe die Erlaubnis bekommen.“
Jack staunte nicht schlecht, konnte sich nun gar nicht mit der Idee anfreunden.
Skeptisch antwortete er grinsend:
„Von deinen Eltern. Das wäre“ , er lachte beinah über diese absurde Vorstellung,
„...Nein, unmöglich. Das weißt...“
Doch noch bevor Jack zum ersten Mal seit dem ersten Tag von Robins Ankunft ein Wort über die zwischen ihnen stehende Problematik verlieren konnte, unterbrach ihn der Junge:
„Nein.“ , ein trauriges Lächeln, „von meiner Tante.“
„Damit ich dich richtig verstehe...
Deine Eltern schieben dich, da sie ja so furchtbar beschäftigt sind, gerne mal an die Schwester deines leiblichen Vaters ab, die irgendwo an der amerikanischen Küste wohnt.“
„Ja.“
„Und wie ist sie so drauf?“
„Sie ist Künstlerin, wie mein Vater es gewesen war. Ganz anders als die anderen Erwachsenen aus meiner Familie, wahrscheinlich menschlicher.
Ich hab sie gern.
Sie hat mich sozusagen aufgezogen.“
„Ist sie verheiratet?“
„Verwitwet, soweit ich weiß.
Ich glaube, meine Mutter verachtet sie deswegen.
Sie wohnt ganz allein da unten.
„Sie hat mir das Geige Spielen beigebracht.“
Während sie im Flugzeug waren, erste Klasse, das Licht von dem kleinen Fenster zu ihnen hinein drang, saßen sie nebeneinander.
Immer wieder blickte der Kleine zu Jack, der in seinen schwarzen Sachen, mit seiner Sonnenbrille auf der Nase gelangweilt in seinem Sitz zu hängen schien, Kaugummi kauend, die Aufmerksamkeit der anderen schicken Leute auf sich zog. Wohl möglich wollte er sie durch seinen Versuch, den Kaugimmiblasen-Rekord zu brechen, sogar provozieren.
Wie es dem Anschein hatte, würde ihm beides gelingen.
Zuerst wäre Robin vor Scham beinah im Boden bzw. in seinem Sitz versunken, doch als er das meckernde Getuschel der feinen Gesellschaft hörte, schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen, ein kleines Prusten entschlüpfte ihm, ein beinahes Lachen.
Jack war ein guter Schauspieler.
Auf der endlos langen Taxifahrt bekamen sie einen Einblick in die unberührte Natur auf dem Land. Immer weniger Häuser je näher sie ihrem Ziel kamen. Reihen von goldenen Feldern zogen an ihnen vorbei, der Himmel hätte perfekter nicht sein können.
Der absolute Gegensatz zur gespenstischen, tristen Aura des Internats, das von Dreck und Zeit nur so stank.
Kein Gedanke daran, es war wie ein Traum, ein Traum, der dem Vergessen geweiht war.
Der Taxifahrer - seinem Ausweis zu urteilen hieß er Nick - pfiff noch immer fröhlich vor sich hin.
Er war ein Hippi.
Jack hatte seine Sonnenbrille aufbehalten, starrte wie sein Nachbar, ununterbrochen aus dem Fenster.
Nach einer Weile spitzte er seine Lippen und begleitete den Mann mit der Baseballmütze mit seinem Pfeifen, als würde er ihn herausfordern wollen.
Robin blinzelte verwundert vor sich hin, seine Lippen blieben unbewegt, er kannte den Taxifahrer, er hatte den Jungen schon einige Male nach draußen zu seiner Tante gefahren.
Die Geige war im Kofferraum verstaut, sicher, dennoch musste er bei jedem Holperstein an sie denken.
Jack schwitzte, obwohl er sich endlich überwunden hatte, seinen schwarzen Mantel auszuziehen. Wärme strömte nur so aus ihm.
Bald würden sie ihre Tante erreicht haben, Robin zählte die Sekunden.
Bis jetzt hatte er sich erfolgreich davon ablenken können, über die ganze Situation nachzudenken. Darüber, warum er Anthonys Bitte überhaupt gefolgt war, wie es wohl bei seiner Tante werden würde, wenn Jack, ausgerechnet Jack, auch in ihrem Haus wohnen würde, warum er überhaupt eingewilligt hatte.
Er wusste doch genau, dass er Ethan Lavigne nicht begegnen würde.
Bis jetzt hatten die beiden kein einziges Wort über ihre gemeinsame Abenteuerreise verloren, geschweige denn über denjenigen, dem sie den ganzen Schlamassel zu verdanken hatten.
Aber bereute Robin seine impulsive Entscheidung denn?
Bis jetzt noch nicht.
Sie hatten die Landstraße erreicht. Holzzäune engten sie ein.
Die letzten zwei Minuten der Reise, die er sich niemals mit ihm an seiner Seite vorgestellt hätte.
„Ach, da wartet sie ja schon.“ , bemerkte der bärtiger Taxifahrer, während er das Auto zum Stillstand brachte.
Jack senkte seinen Kopf ein wenig, um das Anwesen in Farbe durch die Fensterscheibe betrachten zu können, seine Besitzerin konnte er noch nicht erkennen.
Der Wagen hielt abrupt, ein kleiner Ruck nach vorn.
Sie befreiten sich von den Gurten, wollten einander einen Blick zuwenden, ließen es aber.
Der Taxifahrer, der ja beinah ein Bekannter war, hatte nicht danach gefragt, wer der junge Mann bei seinem Stammkunden war.
„So, Jungs. Ende der Fahrt. Bitte aussteigen.“ , lächelte der ältere Mann freundlich mit einem Schulterblick.
Den beiden fiel es nicht gerade leicht, sich aufzuraffen. Ihre Glieder waren während der Fahrt eingeschlafen. Robin übermannte dabei immer noch eine Übelkeit, obwohl er an das ständige Reisen ja gewöhnt war.
Das Geräusch dreier sich öffnender Wagentüren.
Jack setzte seine Boots auf den Steinweg, die Sonne hätte ihn fast geblendet, wäre er ihr nicht zuvor gekommen.
Während der Taxifahrer ihre Sachen aus dem Kofferraum lud, trat die blonde Frau zu ihrem Neffen.
„Hallo, mein Schatz.“ , ihre weißen Arme legten sich ganz liebevoll um den Jungen und er protestierte nicht, ließ sich an ihre Brust drücken,
„ Schön, dich zu sehen. Ich freue mich über deinen Besuch.“
Auch wenn er diese Geste nicht erwidern konnte, wovon sie ja wusste, lächelte er in ihrer Anwesenheit:
„Ich mich auch, Tante.“
Wenn er schon Gefühle besaß, die ein Junge für seine Mutter empfand, so galten sie ihr.
Sie roch wie immer nach Jasmin, eigentlich nach allen möglichen Blumenarten, die sie in ihrem Reich aufzog.
Jack verschlug es den Atem.
Bein näherer Betrachtung erkannte er, dass das Landhaus keines dieser von Geld protzenden Paläste war, sondern eher schlicht und heimisch.
Wenn dann protzte es vor Farbenpracht, die schillernden Farben der Pflanzen, die das ganze Haus umhüllten, sogar das Dach.
Fasziniert schob Jack seine Brille über die Stirn, schritt zu den anderen beiden.
Jedoch war er immer noch im Bann des poetischen Traumbildes, dem er sich gegenüber sah.
Die Frau blickte von Robin auf.
„Du musst dann wohl Jack sein.“
Was Robin ihr wohl von ihm erzählt hatte?
Sie hatte kurz geschnittenes Haar, eine Männerfrisur, sah jedoch elegant in ihrem langen Sommerkleid, auf dem sogar künstlerisch gestaltete Blumenmuster waren.
„Willkommen.“ Sie bot dem älteren Jungen ihre zarte Hand an.
In seiner typisch coolen Haltung trat er ihr gegenüber, seine Augen funkelten gefährlich.
„Jack Viola, Miss Lavigne.“
Doch wunderte er sich über den unerwarteten starken Händedruck, der mit seinem konkurrieren konnte.
Robin beobachtete sie aus seinen Augenwinkeln, war in Gedanken versunken, ganz still.
Ein geheimnisvolles Lächeln legte sich auf die Lippen seiner Tante, natürlich:
„NENN MICH EVELIN.“
Also hatte der Kleine es ihr doch verraten.
Der Taxifahrer hatte mittlerweile ihre Koffer neben sie gestellt.
Als ein guter Bekannter von Evilin verabschiedete sie sich herzlichst von ihm und er fuhr in die Stadt zurück.
„Also, kommt erst einmal hinein und gönnt euch etwas Frisches.“
Sie legte ihre Hände auf ihre Rücken und geleitete sie durch das Gartentor.
Für beide Jungen war diese mütterliche Berührung seltsam fremd.
Ein Steinweg führte zur gläsernen Hintertür.
Wie schon erwartet prangten überall Blumen, ein großer leuchtender Garten mit einem kleinen Teich, in dem exotische Fische schwammen.
Noch nie zuvor war das Sonnenlicht so klar gewesen.
Jack kam sich an diesem Ort komisch vor.
Sie schlüpften aus ihren Schuhen und ließen sie auf der Veranda.
Die Koffer trugen sie selbst hinein, zu Jacks Erstaunen half Robins Tante ihnen dabei.
„Und, war die Fahrt wieder sehr lästig? Dieses Mal hattest du ja Gesellschaft.“ , wendete sie sich an ihren Neffen.
Jack hatte sich aus ihren Fängen befreien können, bestaunte das Haus.
Sobald er den Holzboden in seinen Socken betreten hatte, kam ihm er esoterische Geruch entgegen, an den Wänden die ein oder andere mystische Antiquität, ja es glich einem Esoterikladen.
Dann passierte er unzählige eingerahmte Fotos an den Wänden. Neugierig betrachtete er sie, nutzte die Gelegenheit, um sich eine Zigarette aus der Rucksacktasche zu fischen, im Flugzeug hatten sie dummerweise im Nichtraucherabteil gesessen.
Auf jedem der Bilder sah er eine andere Frau, mit langen schwarzen Haaren.
Und als er die Zigarette anstecken wollte, legten sich zwei schmale Finger um sie und zogen sie ihm aus den Lippen.
Jack blickte sie mürrisch an.
„Tut mir leid, Sonnyboy, aber nicht im Haus.“
Daraufhin gelangten sie in ein großes Atelier.
Evelin war weiter in die Küche gegangen.
Der Abstand zu Robin wurde systematisch eingehalten.
Das ganze Zimmer war mit Gemälden ausgestattet, mehrere Staffeleien standen vor dem großen Fenster, eine Ranke hing von der Decke herunter, die ganze Zeit war das Klang eines dieser Glockenspiele zu hören.
Jack schaute sich jedes der Bilder an, die ihn faszinierten, Robin stand wartend im vorderen Teil des Zimmers.
Als der Langhaarige aufblickte, wusste er auch warum.
Vor ihm stand ein großes Piano.
Peinliche Stille erfüllte den Raum.
Bis Evelin plötzlich mit Getränken aus der Küche erschien.
Dankbar nahm griff Robin nach dem einen Glas, in dem Eiswürfel miteinander rangen. Es war so kalt, dass er ein Stechen in seinem Kopf vernahm.
„Wo ist Anna?“ , fragte er seine Tante dann, während er das kalte Glas in seinen Händen wiegte.
Jack besah sich derweil das Piano, als hätte er noch nie zuvor eines gesehen, stumme Erinnerungen, die er wie ein Geheimnis hütete, der tapfere Einzelgänger.
„Du weißt, sie arbeitet nur hin und wieder bei mir.“
Dann ging es wohl nicht um die Frau, die auf den Fotos abgebildet war.
Evelin strich ihrem Neffen ein Haar aus dem Gesicht, betrachtete seine Sommersprossen, die von Jahr zu Jahr blasser wurden. Der Junge wurde langsam erwachsen, obwohl er es sowieso schon immer war.
„Sie wird morgen kommen. Sie kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen, Robin.“
Als er dann wieder zum Trinken ansetzte, die durchsichtige Flüssigkeit regelrecht verschlang, versuchte die Frau ihm Einhalt zu gebieten, senkte seinen Arm.
„Nicht so hastig.“ , schmunzelte sie über Robins ungewöhnliche Maßlosigkeit, „Was machen deine Asthmabeschwerden?“
Schleunigst wischte der Angesprochene sich den Mund mit dem Handrücken ab, antwortete nachdenklich:
„Ich habe schon lange keinen Anfall mehr gehabt. Mein Arzt sagte, es könnte sich gelegt haben.
Das Asthmagerät ist überflüssig geworden.“
Sein Zustand hatte sich wirklich erheblich gebessert, seit er das letzte Mal hier gewesen war.
„Das freut mich. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du es bei deinem letzten Besuch vergessen hast.“
Sie war wirklich fürsorglich, jedoch nicht auf diese übertriebene, aufgezwungene Art wie seine Mutter, wie Mütter ohnehin. Sie hatte Robin wirklich gefehlt, immerhin war sie seine einzige Bezugsperson.
„Sie spielen Klavier.“ , drang es plötzlich von drüben herüber.
Der ältere Junge glitt mit seinen Fingern über die schwarzen und weißen Tasten, als wäre er in Trance, einer qualvollen Trance.
Sogleich wendeten die beiden sich ihm zu, Robin blieb an Ort und Stelle stehen, beobachte den anderen intensiv.
Er wusste genau, an wen er gerade dachte.
„Ja, eine große Leidenschaft von mir.“ , sie schritt auf ihn zu, bot ihm eine Erfrischung an,
„Du kannst ruhig drauf spielen, Jack.“
Etwas misstrauisch trank auch der Dunkelhaarige von dem frisch gepressten Saft.
Er wusste, dass sie anders war, als die Frauen, denen er bis jetzt begegnet war. Doch diese unglaubliche Gastfreundlichkeit und natürlich die Ungewissheit über ihr Wissen verwirrten Jack.
Wer war nur die Frau, die sie auf ihren Fotos gehalten hatte?
„Vielleicht wollt ihr euch erst einmal von eurer Reise erholen.“ , schlug Evelin den beiden dann vor.
„Ist mein Zimmer noch da?“ , fragte ihr Neffe dann hoffnungsvoll.
„Natürlich. Unverändert.“ , gab die Frau dann lächelnd wieder.
„Wir haben nur eine Liege hinzu gestellt, für deinen Freund Jack.“
Augenblicklich starrten die beiden Jungen sich perplex an.
Nicht einmal hier konnten sie in verschiedenen Räumen schlafen.
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Morgenlicht drang durch das Fenster, legte einen rötlichen Schimmer auf sein auf dem Kopfkissen ausgebreitetes dunkles Haar.
Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er dass er nicht im Internat war, sondern an einem anderen Ort, in einer tieferen Etage, von der aus die Anziehungskraft der Erde stärker auf ihn einwirkte.
Wie immer hatte er sein Gesicht unter seinen starken Armen versteckt, wäre beinah unters Kissen gekrochen.
Es war ungewöhnlich warm. Niemand anderes im Zimmer, er stand auf.
Als er Minuten später die Treppe hinunter schritt, so barfuß wie er war, hörte er die typischen Geräusche aus der Küche, familiäre Geräusche der Stimmen mehrerer Personen, das Brummen und der Geruch der Kaffeemaschine.
Für einen Schluck Kaffee würde er jetzt morden.
Misstrauisch setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er die erste Etage erreicht hatte. Das Haus hatte wirklich viele schmale Korridore, wie das Wirrwarr eines Labyrinths. Wo ging es noch mal zur Küche?
Erneut umgaben ihn diese Fotos, ein nachdenklicher Blick.
Als er sie endlich gefunden hatte, trat er nicht gleich hinein, sondern beobachtete diese fremden Menschen.
Seine Gastgeberin konnte er nicht sehen, ihre Stimme drang aus dem hinteren Teil des Zimmers.
Umso deutlicher erkannte er jedoch Robin, der ihm mit dem Rücken entgegenstand, vor ihm eine ältere Frau, mit dunkler Haut, ihre weißen Zähne leuchteten, wenn sie lachte.
„Robin, mein Goldjunge! Lass dich drücken!“
Sogleich schlang sie ihre großen, runden Arme um den Jungen, presste ihn an ihren Busen.
Bei dem schmerzhaften Anblick glaubte Jack die Ursache für Robins Rückenprobleme gefunden zu haben.
Er verstand nicht, wie dieser es sich gefallen, so dermaßen wie ein Kleinkind behandelt zu werden.
Doch ahnte er nicht, dass es dem Jungen mit den verschiedenartigen Augenfarben beinah genauso fremd erschien wie ihm selbst.
„Anna, vergiss nicht, ihn wieder los zu lassen!“ , rief Evelin ihnen dann mit lachender Stimme zu.
Schweren Herzens gab die Angesprochene den Kleinen wieder frei.
„Entschuldige, aber wir haben uns so lange nicht mehr gesehen.“ , rechtfertigte die korpulente Frau sich, während sie sich vor Scham den Kopf kratzte. Dann beugte sie sich zu dem Teenager hinunter und sprühte nur so vor Enthusiasmus:
„Jetzt kann ich dir auch wieder deine Lieblingspfannkuchen machen.
In diesen schicken Internaten haben sie bestimmt nichts Anständiges zu essen, oder?“
Robins Kopf nickte.
Sein Gegenüber verschränkte darauf nur die Arme, sie strotzte nur so vor Weisheit:
„Siehst du!“
Im nächsten Moment waren die Laute nackter Füße auf dem Küchenboden zu hören.
Jack kratzte sich den Hinterkopf, als müsste er ernsthaft überlegen, was man in solchen Situationen sagte:
„Ähm...Morgen.“
Sogleich drehte Robin sich um, beinah geschockt. Wieder diese großen Kinderaugen, die den Älteren genauso zu fürchten schienen wie bei ihrer ersten Begegnung.
„Morgen. Jack, darf ich dir Anna vorstellen.“ , sagte der Kleine obligatorisch, mit zitternder Hand.
Die Frau bot ihm daraufhin ihre dunkel glänzende, mütterliche Hand an.
„Ich arbeite für Miss Lavigne.“, blinzelte ihm dann dem jungen Mann dann flüsternd zu:
„Ihre Haushaltsgehilfe auf Lebenszeit, hoffe ich.“
„Ich auch.“ ,
kommentierte eine andere Frauenstimme.
Robins Tante, Evelin, war in die Küche getreten. Ein liebevoller Ausdruck lag auf ihrem bildhübschen Gesicht :
„Anna ist einfach unentbehrlich.“
IN ANGESICHT EINER FAMILIE.
Mit aufeinander gepressten Lippen, einem schmalen farblosen Strich, legte er seine rebellische Hand in ihre.
„Jack.“
Noch nie zuvor hatte er mit jemandem Bekanntschaft gemacht, in dessen Augen noch nicht die verurteilenden Gedanken über ihn, diesen Problemkind, zu lesen waren.
Wahrscheinlich lag das daran, dass die beiden aus dem gleichen Milieu kamen.
„Gut, Jack, du hast doch bestimmt einen gesunden Appetit, oder?
Dann werde ich erst einmal Frühstuck für die Jungs machen.“
Und schon suchte Anna alle Zutaten für das kalorienreiche Frühstück zusammen.
Mit einem wohlwollenden Lächeln sahen ihr alle Anwesenden hinterher.
„Gut geschlafen?“ , fragte die Hausherrin dann mit ebenso verschränkten Armen.
Jack nickte, log über seine von Liebeskummer geprägte, durchwachte Nacht.
Sie trug wieder einen ihrer langen Röcke, das gleiche Outfit wie gestern.
„Gut. Wollt ihr mir beim Tisch Decken helfen?“
Wieder war es nur ein flüchtiger, oberflächlicher Blick, den die beiden Jungen einander würdigten.
Der Junge mit den verschiedenfarbigen Augen, der Junge mit den Katzen.
Mehrere Katzen traf Jack im Wohnzimmer an.
Er wunderte sich darüber, dass sie sich am gestrigen Tage noch nicht blicken lassen hatten. War nur zu hoffen, dass sie nicht alle seiner Gastgeberin gehörten. Er mochte nämlich keine Katzen, im Gegensatz zu Anthony...
Den langhaarigen Sportler wunderte nicht, wie liebevoll Robin mit ihnen umging, viel eher:
„Wow, keine Katzenallergie?“ , kommentierte er dann zynisch, böswillig, ohne es wirklich zu beabsichtigen.
Natürlich entging dem Jüngeren die Demütigung nicht, sodass er Jack nur vorwurfsvoll anstarrte, während er eine weiße Katze auf dem Arm hielt.
Sonnenlicht erwärmte das Zimmer.
Im nächsten Augenblick trat Evelin zu ihnen, trug altes Geschirr mit sich, während Anna in der Küche ein Liedchen pfiff.
„Kommst du an eurer Schule überhaupt dazu, Violine zu spielen?“, fragte sie Robin und ging in Richtung Esstisch.
„Ja.“ , antwortete ihr Neffe eher desinteressiert, reichte ihr die anderen Bestecke, während Jack sich auf den Boden gehockt hatte, um sich die Katzen zu betrachten.
Eine fauchte den Langhaarigen angriffslustig, misstrauisch wenn nicht ängstlich, an. Doch ließ Jack sich nicht einschüchtern, krächzte nur animalisch zurück, sodass sich die Ohren der Katze beugten.
„Die Direktorin besteht darauf, dass ich bei der morgendlichen Kirchenmesse spiele.“
Evelin lächelte voller Stolz: „Sogar dort hast du schon Fans.“
Von dort unten schien er noch unbedeutender, ein Außenseiter wie eh und je zu sein.
Plötzlich:
„Spielst du auch ein Instrument Jack?“
Nun richtete er sich wieder auf die Beine, richtete seine Sachen:
„Verschiedene.“ , antwortete er bewusst bescheiden, „Ich hab eine kleine Band, in der ich Leader bin.“
Seine Gastgeberin schien beeindruckt, hatte ihre Hände vor ihrem Gesicht ineinander verankert.
„Singen kann er.“ , flüsterte Robin ihr zu. Sonst kamen ihm nur wenige Komplimente über die Lippen.
Doch schon stand Jack wieder außen vor.
„Schade, Robin. Ich wollte dir vorschlagen, ein- zwei Konzerte in der Stadt zu geben.
Du weißt ja, die Leute hier sind verrückt nach dir.“
Der Junge schien zu grübeln.
Wirklich keine einzige Wolke am Himmel, wie idyllisch.
„Dabei könntest du dir wieder ein wenig Taschengeld verdienen.“
– Seine Tante wollte ihn nicht drängen, es lag in seinem Ermessen und das wusste er.
„In Ordnung.“ , er gab sich geschlagen, lächelte : „Zum Zeitvertreib.“
„Und was soll ich tun?“
Im nächsten Augenblick meldete sich der ältere Junge zu Wort, wie ein trotziges Kind, das nach Aufmerksamkeit verlangte.
„Was meinst du?“ , erwiderte die blonde Frau ruhig und gelassen, womit sie Jack im Vorteil war.
Er seufzte, fuhr sich mit seinen Fingern durchs Haar:
„Miss, Sie müssen wissen, dass ich mir mein Geld bis jetzt jedes Mal selbst verdient habe.“ , gestikulierte er eifrig, beinah verzweifelt in Robins Augen.
Er lachte beinah:
„Ich kann hier nicht kostenlos leben und die Zeit totschlagen. Haben Sie nicht irgendeine Aufgabe für mich?“
Stillschweigen.
Evelin schloss ihre Augen, ein verstecktes Lächeln auf ihren roten Lippen:
„Gut. Dann dreh‘ dich mal um.“
Darauf legte sich Jacks Gesicht in Falten, aber er befolgte ihre Anweisung, wendete sich dem großen Glasfenster entgegen, Licht erfasste ihn, blendete ihn.
„Der Garten?“ , fragte er ungläubig.
„Und das Streichen des Hauses, wenn du Interesse hast. Für eine dieser Arbeit werde ich dich gut bezahlen.“
Der Junge mit den unterschiedlichen Augen musterte seine Tante verwundert. Sie hatte ihr feines Kinn in ihre Hände gebettet, trug jedoch den Blick einer Geschäftsfrau, einer Schuldirektorin.
„Einverstanden?“
Ein Moment verstrich, bis der Ältere sich auf seinem Hacken drehte, sie Robin erkannte, die Fäuste geballt hatte, und die beiden ansah:
„Einverstanden.“
„Gut.“ , erwiderte seine Tante nur gelassen, „Dann lass uns jetzt essen.“
Evelin schaute aus der gläsernen Balkontür hinaus, lauschte der lieblichen Geigenmusik ihres Neffen.
Robin hatte das kastanienbraune Instrument in seine Halsbeule gelegt und angefangen zu spielen.
Stumme Gedanken, kein einziges Widerwort gegen diese Entwicklung der Dinge, keine einzige Silbe über den blonden Jungen ging über seine Lippen.
Warum auch? Darin hatte er sich nicht einzumischen.
Seine Augen waren matter denn je.
Plötzlich wendete seine Tante sich von dem Tageslicht, blickte zu dem Wunderkind herüber:
„Und, wie verlief das Gespräch mit deiner Mutter?“
Wie erwartet zeigte ihr sein trüber Blick, das Anzeichen eines Kopfschüttelns, einen Misserfolg.
„Mach dir nichts drauß, Robin.“ , sie begab sich wieder in ihre Ausgangsposition zurück.
„Auch wenn du es nicht glaubst, sie will nur das Beste für dich.“
Der Junge schwang daraufhin den Bogen nur abrupter, starrte gedankenverloren vor sich hin.
Ein spöttisches Lächeln legte sich auf die roten Lippen der Frau, während sie ihre Arme vor ihrer Brust verschränkte:
„Ethan hat sich wohl wieder in seinem Labor eingesperrt.“
Robins Sommersprossen vibrierten im Licht. Er hatte aufgehört zu spielen.
Evelin war zu der Kommode gegangen, um ihrem Neffen ein Glas Wasser einzuschenken. Sie lächelte ihn liebevoll an:
„So können wir wenigstens wieder zusammen musizieren und der Muse freien Lauf lassen.“
Ihre zarten Hände aber ledernen Hände, ähnlich wie Sandpapier, stellten ihm das Glas dann auf dem großen Tisch, während Robin Platz genommen hatte.
Er trank still, versuchte, den verzerrenden Durst zu verbergen.
„Hast du mir wenigstens den Gefallen getan und das Zeichnen ausprobiert?“ , fragte sie dann neugierig.
Augenblicklich schossen ihm die Motive seiner Bilder in den Kopf, sodass er innerlich vor Scham errötete, bescheiden antwortete:
„Ein wenig.“
Sie machte eine stolze Geste, voller Vorfreude:
„Schön, ich bin schon sehr gespannt auf deine Bilder.“
Robins Zehen verhakten sich vor Nervosität ineinander, natürlich im Verborgenen.
Dann waren nur noch ihre graziösen Schritte im hell beleuchteten Zimmer zu hören.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das, was außerhalb des Hauses lag, auf den Garten,
„Dein Freund ist anscheinend vielseitig begabt.“ , kommentierte sie plötzlich in einem kritischen Unterton.
Seine verschiedenfarbigen Augen fixierten das rotierende Wasser innerhalb des Glases, das Farbenspiel, das er durch seine Finger verursachte.
„Das ist er.“ , gab er dann monoton, beinah selbstzerstörerisch zurück.
Sie hatte keine Ahnung.
Jack stand mitten auf der Wiese, neben dem kleinen Teich, hatte seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Alle möglichen Gartengeräte lagen um ihn verstreut, die erste Herausforderung war wohl die gigantische Rosenhecke. Er seufzte, verhielt sich aber wie ein Profi.
Währenddessen brachte Anna den Müll aus dem Haus, schaute zu dem Jungen herüber.
„Er ist sehr eigensinnig, aber ehrlich.“
Diese Eigenschaften erinnerten Evelin an jemanden.
Und ohne zu überlegen, petzte der Junge:
„Er hat mich vor einigen Jungs beschützt, sie meinetwegen verprügelt.“
Niemandem seiner Angehörigen hatte er zuvor von den Demütigungen anderer Kinder erzählt.
Doch er wusste, dass es sie nicht sonderlich überraschen würde.
„Wirklich?“ , hakte sie dann etwas skeptisch, schier bewunderungsvoll, nach.
Das verstärkte nur Robins Affekt, der wie ein gewissenloses Kleinkind herum posaunte:
„Und er versucht mir dabei zu helfen, diese Rückenschmerzen los zu werden.“
Seine Tante legte den Kopf schief:
„Erfolgreich?“
„Erfolgreicher als zuvor.“
Er lief Gefahr, das Glas in seiner Hand zu zerbrechen.
Die 32-jährige Frau drehte ihm wieder den Rücken zu:
„Hmm, ein Schaf im Wolfspelz.“ , murmelte sich gedankenverloren, ein blasser Hauch:
„Natürlich...“
Hallende Schritte auf der Treppe, unverkennbar selbstsicher und hilflos zugleich.
Evelin und Robin schauten auf von den Tarotkarten, blinzelten einander an
„Kann ich mal telefonieren?“
Jack war ins Zimmer getreten, die schillernde Röte des Sonnenuntergangs überflutete die Fensterscheiben.
Der junge Mann trug noch immer eines seiner ausgewaschenen T-Shirts, extra für die Arbeit im Haus, sein dunkles Haar lag wirr auf seinen Schultern.
‚Welche Überwindung, es ihn wohl kosten muss?‘, dachte Robin, der in seiner kleinen Hand die Karte des „Narren“ hielt.
„Natürlich, auf dem kleinen Tisch im Flur.“ , antwortete seine Tante.
Ohne ein weiteres Wort nickte Jack und stürmte innerlich zum Telefonhörer.
Robin blickte ihm besorgt hinterher, starrte auf die Karten vor ihm, während Evelin das Zimmer verließ.
Er wusste genau, wen er anrufen würde, dass er die Erklärung ein verlangen wollte, die der andere ihm noch schuldete. Doch bezweifelte Robin, dass er sie je bekommen würde.
Mittlerweile war es schon Zeit für das Abendessen.
Sein Zeigefinger – abgekaute, dreckige Nägel – drückte die Zahlenkombination, viele Male. Sicher würde er nicht mit dem Telefonkabel spielen, so wie er, die Person, die er zu erreichen versuchte, es gerne tat.
Er wartete, lauschte dem Freizeichen, das unerträglich in seinen Ohren dröhnte, immer und immer wieder.
Niemand nahm ab.
Das Knirschen seiner Zähne, er hatte noch nie so viel geraucht wie in den letzten Tagen.
Seine Faust würgte die Schnur, obwohl er keine Fingernägel hatte, brannte seine Handinnenfläche.
Wut brodelte in ihm auf, er zitterte, hätte am liebsten das Haus zusammen geschrien, auf dass es ihn begraben hätte!
Er verstand beim besten Willen nicht, warum Anthony kein Lebenszeichen von sich gab!
Im nächsten Augenblick stampfte er hinauf in sein Gästezimmer.
Natürlich hatte er die beiden braunen Augen, die ihn beobachtet hatten, nicht bemerkt. Sowie nicht die schmale Hand, die auf dem Türrahmen ruhte, den Ring an ihren Mittelfinger.
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Später schritt Robin ins obere Stockwerk, fürchtete, was er in seinem Zimmer auffinden würde.
Vorsichtig öffnete er die Tür einen kleinen Spalt, luchste hinein.
Es war dunkel, er hatte jedes Licht aus getan, damit er im Mondlicht, das durch das kleine Fenster, aus dem er sich lehnte, drang, baden konnte.
Selbst von der Tür aus konnte Robin den herrlichen Vollmond sehen, die schwarzen Wolken die ihn langsam verschlangen.
So ungeschickt wie er war, konnte er das Knarren der Tür nicht verhindern, das tat sie immer.
Sogleich warf Jack ihm einen Schulterblick zu, der trotz der Dunkelheit furchterregend war.
„Ähm,“ , schluckte der Junge eingeschüchtert, „das Abendessen ist gleich fertig.“
Der Dunkelhaarige nickte bloß und richtete seinen Blick wieder in die Ferne.
Einen Moment stand Robin noch in der Tür, war versucht, es ihm zu verraten. Doch er wusste, dass Anthonys Worte ihn noch mehr verletzen würden.
So biss er sich auf seine jungen Lippen, zögerte, und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Wie sonderbar das alles doch war; mal waren sie einander vertraut, fast wie Freunde, und im nächsten Augenblick hätten sie sich fremder nicht sein können.
Robin staunte aber nicht schlecht, als Jack wenig später die Treppe hinuntergesaust kam, beinah quietschfidel in die Küche trat.
Annas Leibgericht roch köstlich, so verlockend, dass man im Beisein beinah berauscht werden konnte.
Doch hatte Jack doch tatsächlich die Frechheit, sie zu belehren, ihre Kochkünste zu übertrumpfen versuchte, indem er ihr einige seiner Geheimtipps verriet.
Wider Erwarten war Anna nicht in ihrem Stolz verletzt, sondern eher begeistert von Jacks unglaublichen Ideen, die ihre Gerichte noch schmackhafter machen.
Nun würde Jack ihr auch noch den Ruf als beste Köchin an der südlichen Küste streitig machen.
Sie aßen zusammen, vier Personen an einem Tisch.
Vom Fenster aus gaben sie wohlmöglich ein hübsches Familienbild.
Und so war es erschreckender Weise auch!
Sie verbrachten einen ( für beide Jungen) ungewöhnlich geselligen Abend bei Robins Tante.
Etwas, das sie so bisher noch nicht gekannt hatten.
An einem der nächsten Tage fuhren sie in die weit abgelegene Stadt, zu Robins Konzert.
Angeblich war es sogleich ausverkauft gewesen.
Anna saß vorn neben Evelin, die beiden hatten sich natürlich über Gebühr herausgeputzt, sowie auch ihren armen Robin, der mit beschämter Miene neben Jack saß.
Das Auto war nicht gerade das neuste, obwohl seine Tante bestimmt genügend Geld für eine schicke Limousine hatte. Bei jedem Holperstein wurde Robins Übelkeit weiter geschürt.
Wie immer war er bemüht, Jack nicht permanent anzustarren.
Während des Konzerts, bei dem überwiegend alte als junge Menschen anwesend waren, Leute, die zu gern Robins Großeltern gewesen wären, fühlte Jack sich als in Schwarz gekleideter Rebell ziemlich unwohl. Wenn die alten Schwätzer nicht so sehr auf das Wunderkind fixiert gewesen wären, hätte er sicher noch mehr verurteilende Blicke von ihnen bekommen.
Doch weder Robin noch seine Tante schienen sich besonders wohl inmitten dieses Vorstadtkreises zu fühlen.
Der 16-jährige roch Ignoranz, wenn er ihr begegnete und die ganze Kapelle stank danach.
Hinter ihm kursierte das ein oder andere spitzzüngige Gerücht über die obszön wohlhabende Witwe, in deren Haus kein einziges Foto von ihrem verstorbenen Mann zu finden war.
Irgendetwas stimmte da nicht.
Die drei waren froh, als die Show endlich vorüber war und sie heim fahren konnten.
Kleine Burschenschritte, das Schlürfen von Sandalen auf dem Steinweg.
Plötzlich durchbrach seine Stimme die idyllische Stille, der es an Jacks Pfeifen fehlte.
„Kann ich dir helfen?“
Der Ältere, der auf der Leiter saß und das Haus anstrich, hielt inne, schaute dann hinunter auf den Jungen mit dem blauen und dem grünen Auge.
„Du willst mir helfen?“ , fragte er misstrauisch.
Robin nickte nur, etwas unsicher.
In Jacks Gesichtsausdruck lag immer noch Skepsis, bis er plötzlich eingeschnappt tat und schnaufte:
„Pte, du gönnst mir wohl nicht den Lohn deiner Tante, was?“
Ein unergründlicher Blick zweier azurblauer Augen.
„Doch, aber...“ , stotterte Robin gedemütigt, schüchtern.
Wie konnte er ihm nur sagen...
Er hörte Jacks Seufzen, das schlüpfrige Geräusch, als dieser den Pinsel in den Farbeimer warf und in die Hände klatschte.
„Was hältst du von ner kleinen Trainingsrunde?“
Pause.
Eine Pause, die sich Robin nicht grausamer hätte vorstellen können.
Jack verlangte nun etwas von ihm, das weitaus schwieriger war als die sonstigen Ausdauerübungen.
Gewalttätiges, unzivilisiertes Ringen.
„Na los! Greif mich an!“ , forderte der Ältere ihn auf, als sie mitten im Garten standen.
Nicht nur, dass Robin sich nie zuvor geschlagen hatte, viel eher dass es gerade Jack, der beste Sportler der Schule, war, der ihm als Gegner gegenüber stand.
Beide taten so, als würde dieser Konkurrenzkampf nichts bedeuten.
Dem Zwang ergeben stürzte der Jüngere sich dann auf den anderen, rammte ihn und vermochte, aus unvorhergesehenen Gründen, aus unerwarteten Kräften, seinen Gegner zu Boden zu stoßen.
Jack fiel nach hinten über ins Gras.
„Tut...mir leid...“ , stotterte Robin in seinem Schock, wollte ihm helfen, wieder aufzustehen.
Doch reagierte Jack nicht auf die angebotene Hand, zog es stattdessen vor, herzlichst zu lachen.
Das war zu viel für den jungen Geiger.
„Nein, entschuldige dich bloß nicht.“ , erwiderte der Langhaarige dann in seiner blauen Latzhose, richtete sich auf und schlug Robin als Geste der Anerkennung auf den Rücken.
„Nicht schlecht, Kleiner.“
Und er lächelte nur unsicher, während das Sonnenlicht auf seine blasse Haut prallte.
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Als Jack später ins zurück ins Haus ging, passierte er wieder die vielen Fotos.
Da niemand in der Nähe zu sein schien, betrachtete er sie sich noch einmal näher, suchte unbewusst nach einem von Robins Adoptivvater, SEINEM VATER, doch natürlich fand er keines.
Nicht einmal eines von dem verstorbenen Ehemann der Hauseigentümerin, keine Spur, ausschließlich nur diese andere dunkelhaarige junge Frau.
Sie schien Evelins beste Freundin zu sein, wohlmöglich sogar...
Er hatte ihre Anwesenheit schon längst bemerkt, was ihm aber nicht davon abhielt, , seinen Blick weiterhin auf ihr Privatatelier zu richten, seinen Finger über die Konturen der beiden Frauen fahren zu lassen – sicher nicht weil sie Frauen waren, sondern um sich diese uneingeschränkte Freiheit, Heiterkeit, die die beiden darauf zu haben schienen, ins Gedächtnis zu rufen.
„WER IST SIE?“
Wieder hatte sie ihre Arme vor sich verschränkt, wie ein MANN, wie er es auch gerne tat.
Es kostete sie Zeit und Überwindung ihren Namen auszusprechen, ihre heisere Stimme verriet es:
„Sara, meine Freundin.“
Wie er ihn auch immer bezeichnet hatte, die Reduzierung, Beschwichtigung der Wahrheit.
„Sie ist vor zwei Jahren verstorben.“
Sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, trieb ihn irgendetwas dazu, sich panisch zu ihr umzudrehen, wie eine böse VORAHNUNG, die in ihm ruhte.
Ihr trauriger Blick stach ihm entgegen, den er schon seit seiner Ankunft bemerkt hatte, Trauer wie sie nur von seinesgleichen empfunden werden konnte.
Er ertrug diesen Ausdruck völliger Verzweiflung nicht, mochte er auch noch so poetisch auf ihn einwirken, doch verachtete er schwache Frauen zu sehr, sie erinnerten ihn zu sehr an das reglose, schlaffe Gesicht seiner Mutter.
„Das...“ , er sprach genauso kraftlos wie sie, „tut mir leid.“
Worte, die nicht oft über seine Lippen kamen. Die Worte, die er Anthony hatte sagen wollen.
„Mir auch.“ , murmelte sie dann vor sich hin, lehnte sich gegen die Wand.
Ein Augenblick der puren Stille kehrte ein. Nur Gott, der die Zukunft zu sehen vermochte, sprach.
Der Fluch, der auf diesem Haus lag, auf ihresgleichen.
„Hör mal, Jack.“, begann Evelin dann plötzlich, „Du kannst dir für heute eine Pause gönnen.“
Immer noch wurde die Hand auf den Hüften der anderen in seinen Augen reflektiert.
„Was hältst du davon, mit Robin und mir zum Angeln zu fahren?“
Doch musste er sich losreißen, wegen der Heftigkeit, mit der dieses Wort auf ihn einschlug.
„Angeln?“ , wiederholte er beinah besorgt.
Doch war der „Familienausflug“, dieser familiäre Zeitvertreib, so grässlich harmonisch, wie Jack erwartet hatte.
Der kleine See lag nicht weit vom Haus entfernt, schien jedoch im Verborgenen zu liegen, Evelins geheimer Zufluchtsort zu sein.
Es erinnerte Jack an seinen See, der im Vergleich zu diesem ruhigen Plätzchen jedoch eher einem stinkenden Tümpel glich.
Evelin schien die geborene Anglerin zu sein, in ihrer schwarzen Reiterhose wirkte sie eher wie ein Mann, der beim Angeln seinen inneren Frieden zu suchen schien.
Was auch für die anderen beiden galt.
Die Jungen hatten sich in ihre Klappstühle gelegt, warteten auf den Sonnenuntergang, der, wie Jack mittlerweile festgestellt hatte, so fern schien, dass er mit einer unglaublichen Geschicklichkeit über diesen Ort hereinbrach, ohne dass ihn jemand hatte sehen können.
Dennoch trug Jack seine schwarze Sonnenbrille auf der Nase, schrieb eifrig an seinen Gedichten, um seinen Seelenschmerz zu lindern, um zu lamentieren und im Selbstmitleid zu ertrinken, um seinen unglaublichen Zorn im Kampf zwischen Feder und Papier auszudrücken.
Evelin stand an der Böschung, neben ihm saß der andere Junge, war dem Anschein nach während seines Tagebucheintrages eingeschlafen.
Mit einem kalten Blick sah Jack auf ihn nieder – wie unschuldig und friedlich er doch im Schlaf aussah, wie ein Kind eben.
Er konnte es nicht vermeiden, dass ihn noch immer ein Hauch von Neid befiel.
Er löschte seine Zigarette, indem er sie zu Boden warf und sie mit seinen Boots austrat.
Vorsichtig beugte er sich zu ihm, streckte seine Arme aus, umschloss den Einband des Buches mit seinen gelben Fingern.
‚Was da wohl so über meiner einer drin steht?‘ , fragte Jack sich von Neugier erfasst.
Doch im nächsten Augenblick, noch bevor er erkennen sollte, dass Robin leere, weiße Seiten vor sich zu liegen hatte, wachte dieser auf und verteidigte sein Tagebuch instinktiv.
Erschrocken und verärgert zugleich blitzte er den Älteren durch seine müden Augenlider an.
Also hatte Jack keine andere Wahl, als davon abzulassen und das Ganze mit einem Grinsen abzutun.
Im nächsten Moment schritt Evelin auf die beiden zu, hatte schon den ein oder anderen Fisch gefangen.
Natürlich bekam sie von der versteckten Feindseligkeit der beiden Jungen nichts mit, bewunderte stattdessen Jacks poetische Ader.
Ihre Freundin Sara hatte auch Gedichte geschrieben...
Wie unfähig sich Robin angesichts Jacks Anzahl von Gedichten doch fühlte. In letzter Zeit war es ihm einfach nicht gegönnt, etwas zu Papier zu bringen.
Letztendlich verbrachten sie aber einen angenehmen Abend dort am See, sehr gesellig.
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Mitten in der Nacht schlich Jack sich wieder einmal aus dem Zimmer, sicher schon zum dritten Mal in den letzten zwei Stunden.
Robin tat so, als würde er schlafen. Das Licht des Mondes hatte ihn erfasst, bereitete ihm Kopfschmerzen und Schreckensvisionen.
Neben ihm lag noch immer sein offenes Tagebuch, unbeschriebene Seiten blickten traurig vor sich hin. Hitze erstickte das Zimmer, er konnte beim besten Willen nicht schlafen.
Seine nackten Zehen wippten vor Nervosität auf dem Fußboden, der plastische Geruch des Telefonhörers in Verbindung mit seiner schweißigen Hand widerte ihn allmählich schon an
Seine Zähne hatten seine Unterlippe vor Ungeduld schon beinah blutig gebissen.
„Tony...geh verdammt noch’mal ran, du Mistkerl...“ , fluchte er vor sich hin.
In seinem innerlichen Wutanfall bemerkte er nicht, dass ihn wieder zwei kastanienbraune Augen beobachten.
Die Telefonschnur wieder bis zum Äußersten verformt in seiner Hand.
Er knallte den Hörer brutal auf den Apparat zurück.
„Verdammte Scheiße!“ , fauchte er kochend vor dich hin.
„Ist das dein Freund?“, ertönte es plötzlich hinter ihm.
„Ja.“ , gab der Junge schließlich zur Antwort, während er seine verkrampfte Hand betont langsam vom Hörer nahm, ohne sich auch nur zu ihr zu wenden.
„Anthony, dieser ignorante Arsch!“ , fluchte Jack dann weiter.
Pure Verzweiflung lag in seiner Stimme. Er versuchte, sein schmerzerfülltes Gesicht unter seinen zottigen Haaren zu verstecken, war kurz davor, zu heulen.
Evelin sah, dass er vor Wut und unendlicher Verzweiflung bebte, nicht wusste, wie er dies ausdrücken geschweige loswerden konnte.
Ein Anblick, der ihr sehr vertraut war, für den sie nur ein trauriges, wenn nicht selbstzerstörerisches Lächeln, hatte.
„Komm, lass uns eine rauchen.“ , schlug sie dem leidenden Jungen dann vor.
Eine Sommernacht wie sie im Buche stand, der Vollmond schien klar auf die beiden nieder. Der Lärm der Stadt lag weit entfernt, wurde von dem Ziepen der Grillen, dem Zischen der Mücken überschattet.
Betörende Kälte lag in der Luft, die von den Nachklängen der schwülen Luft aufgesogen wurde.
Sie saßen auf der hinteren Veranda, konnten die salzige Prise des Teiches riechen.
In der Ferne war nichts zu sehen, nur der Dunstschleier über den schwarzen Feldern.
Jack hatte sich auf seine Knie gestützt, rauchte tief über den Boden, die schwarze Leere, in die er starrte, beruhigte ihn.
Asche zu Asche.
Währenddessen lehnte Evelin an dem Holzbalken, sog gekonnt an ihrer Zigarette:
„Hmm, das Verhalten deines Freundes ist nicht ungewöhnlich. Die meisten reagieren so.“
Jacks Augen waren dunkler als der schwärzeste Punkt der Sommernacht.
Noch nie zuvor hatte er jemandem von Anthony erzählt, geschweige denn ihre Beziehung in Worte gefasst.
Gleich, ob sie nun wusste, wer er war oder nicht.
Irgendetwas verband die beiden, sie waren von dem gleichen Schlag.
Eine weitere Ewigkeit schien sich dem Ende zu neigen, bis sie zu erzählen begann, mit der heiseren Stimme einer alten aber weisen Frau die Sichel des Mondes betrachtend:
„Ich hatte auch eine Geliebte, jahrelang.“
- Wie es Jack ja geahnt hatte.
„Obwohl ich verheiratet war. Ich musste meine Liebschaft vor ihm geheim halten.
Eines Tages jedoch fand er es natürlich heraus. Du kannst dir ja vorstellen, wie sehr ihn das aufgebracht hat, wie oft wir uns doch wegen Sara gestritten haben.“
Es waren nur ihre nackten Zehen, die sich rührten, zuckten, sich einkauerten.
„Und dann starb er. Ich zog mit Sara zusammen, in dieses Haus.
Ich kann nicht behaupten, dass ich seinen Tod bedauert habe; die Leute aus der Stadt denken, ich hätte ihn vergiftet.“
Kein spöttisches Schnaufen, nur das Aufglühen ihrer Zigarette in der Dunkelheit.
„Doch verlebte ich, bei Gott, die glücklichste Zeit meines Lebens hier mit ihr, das Leben, das ich mir innerlich immer gewünscht hatte.“
Wegen dem Schleier der Nacht vermochte niemand das kleine, versteckte Lächeln, ein ehrliches, zufriedenes Lächeln, ausgelöst durch die süßen Erinnerungen, zu erkennen.
„Leider waren uns nur zwei Jahre zusammen gegönnt, bis Sara an Krebs starb.“
Sie schickte eine Rauchwolke in die Lüfte. Jacks Hände rührten sich nicht, hielten kraftlos den Filter.
„Seitdem kümmere ich mich um ihren Garten, das war ihr Traumhaus.“
Er hätte es doch wissen müssen, dass hinter dem Lächeln der herrlichen Blüten der Tod steckte.
„Robin hat sie noch gekannt, er war wie ein Sohn für uns.
Ob der Kleine sich jedoch so richtig bewusst war, dass wir ein Liebespaar waren, glaube ich nicht.
Vielleicht wollte er es bis dahin gar nicht.“
Der junge Poet wusste natürlich nicht, dass sie Robins Bilder von ihm und Anthony gesehen hatte, dass solche überhaupt existierten.
Die professionelle Verschwiegenheit Ihresgleichen.
Wieder nippte Jack an seiner Zigarette, ein letztes Mal, ließ sie dann zu Boden fallen und trat sie aus.
„Und was ist die Moral von der Geschicht‘?“, fragte er mit ignoranter Stimme, wie ein Cowboy,
„Treue der Gesellschaft oder sich selbst gegenüber?
Letztendlich haben Sie einen noch größeren Verlust mit dem Tod ihrer Geliebten erlebt.“
Nun endlich blickten die beiden einander an.
Aus irgendeinem Grund tat Jack noch immer überlegen, gefaltete Hände, wie um des Gebetes Willen, der Mond spendete den beide ein wenig Licht, kalte Wärme.
„Ja, ich musste wohl den Preis dafür bezahlen.“ , erwiderte Evelin nach einer kurzen gedankenverlorenen Pause.
Wieder blickte sie in die Ferne:
„Eine richtige Antwort gibt es wohl nicht.
In Menschen wie uns wütet immer der Zwiespalt, die Angst vor der Wahrheit.
Ich für meinen Teil habe die Wahrheit gewählt, weil ich nur in ihr meinen inneren Frieden finden kann.“
Das zerbrochene Herz in ihrer Brust summte, wie behinderte Töne einer kaputten Spieluhr.
„Glück ist damit wohl ausgeschlossen?“
Das Wort „Glück“ schien ihm so fremd, so irrsinnig, so fatal.
„Wahrscheinlich. Wenn man den Mut hat, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, muss man dieses Risiko eben eingehen.“
Sie hatte ihre Hände in den Schoß gelegt, ihre alte Fassade aufgelegt, während Jack, verwirrter denn je, mit leeren Augen den Sternenhimmel betrachtete.
Es gab keinen Ausweg, keinen Kompromiss, keine Lösung, keine Lebenschance.
„Vielleicht will dein Freund ja auch lieber den Weg des Glücks folgen, Jack...“
Als Jack bald darauf wieder hinauf in sein und Robins Zimmer schritt, lautlos zu sein versuchte, jedoch vergeblich, wollte er so tun, als wäre der Jüngere nicht anwesend. Immerhin erinnerte er ihn an Anthony, er war jemand, der ihn auch kannte, mit dem er, Gott bewahre, sogar über seinen Geliebten reden konnte.
Wohl kaum.
Wie immer murrte die Liege, als er sich niederlegte.
Die Decke schien mit schwarzer Farbe bedeckt.
Stille, Todesstille, nicht einmal ein Schnarchen, alles wie gelähmt, hypnotisiert.
Doch meldete sich plötzlich die WAHRHEIT zu Wort.
Der Junge mit den unterschiedlichen Augen lag noch immer wach.
„Mein Vater David war Künstler, wie meine Tante auch.“ , begann er mit ungewöhnlich fester, beinah erwachsener Stimme zu erzählen.
„Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich als kleiner Junge immer seine Landschaftsgemälde bewundert habe.“
Jack unterbrach ihn nicht, rührte sich nicht, hinterfragte nicht dessen Beweggründe.
Robins Sommersprossen waren von der Dunkelheit durchtränkt, schienen ausgemerzt.
„Eines Tages fand ich ein Portrait von einem Mann, den Freund meines Vaters.
Meine Mutter wusste wohl nichts von ihm, wusste nicht, dass mein Vater mich des öfteren mit zu dessen Waldhütte nahm.
Er war Musiker, ein Geiger. Ich glaube, ich mochte ihn.“
Der Langhaarige war so betäubt, dass er die Kälte seiner nackten Füße nicht spürte, hingegen schüttelte sich Robin, weil seine Zehen so froren.
Eine kleine Kinderhand zu einer Faust geballt, presste sich in seine Decke.
„Als ich sechs Jahre alt war, brach die Krankheit meines Vaters aus.
Er musste viele Medikamente nehmen. Ich half ihm, sie zu sortieren und regelmäßig einzunehmen.
Damals habe ich die meiste Zeit neben seinem Bett gesessen. Meine Mutter, Caroline, kam nie zu ihm ins Zimmer. Wir hatten damals kaum Geld für die Medizin meines Vaters.“
Die Stimme verstummte kurz, er rang nach Luft, hielt sie an, vermied jeglichen Atemzug, jeglichen Geruch.
„ICH SAH IHN STERBEN.“
Wenn man genau hinhörte, konnte man das geringe Rascheln eines Kissens hören von anderem Bett stammend.
„Gleich nach seinem Tod, zwang meine Mutter mich dazu, mit ihr fort zu ziehen.
Mein Vater hatte uns sein Erbe hinterlassen.
Doch das war nicht wichtig für mich, lieber hätte ich das schlichte Leben in unserem alten Haus weitergeführt, mit ihm.“
Die Dunkelheit verbarg das Funkeln der salzigen Flüssigkeit in seinen Augen. Natürlich ließ Robin es sich an seiner Stimme keineswegs anmerken.
„Meine Mutter spricht so gut wie nie über ihn, als hätte er nie existiert, in ihren Augen war er wohl der größte ‚Fehler‘ ihres Lebens.“
Das war das erste Mal, dass er ihre erste Interaktion am Abend seiner Ankunft im Jungeninternat aufgriff, Jacks Unterstellungen widerlegte.
Die Salzsäure ätzte sich in seine Wangen, erinnerte ihn unfreiwillig an seine Sommersprossen.
Das Tagebuch lag offen auf dem Fußboden, ein mutwilliger Mord.
„Erst jetzt, wo ich älter bin, ist mir klar geworden, dass dieser Mann mehr als nur der Angelfreund meines Vaters war.
Deswegen hatte er ihn auch vor meiner Mutter geheim gehalten.“
Der Mond hatte ihn freigegeben, sicherlich das Interesse verloren, den Jungen zu ärgern. Dennoch schien er auf Robins blasser Haut zu brennen.
In Wahrheit starb er an AIDS.“
Das erste Mal, dass er dieses Wort aussprach.
Und sogleich hatte er das Bedürfnis diese Wahrheit durch eine noch größere, wichtigere zu übertrumpfen:
„Und ich vermisse ihn mehr als alles andere.“
Wieder herrschte die allumfassende Stille, in Form eines Wasserpegels weit über ihren Köpfen.
Robin erwartete nicht, dass Jack irgendetwas dazu zu sagen hatte – beide wussten über dessen Bedeutung.
Nein, der Junge erwartete etwas ganz anderes.
Kurz darauf setzte er seine nackten Füße auf den Teppichboden nieder, seine Pyjamahose war noch immer zu lang, versteckte Knöchel, versteckte Handgelenke, ein versteckter Herzschlag.
Jack stierte noch immer die Decke über ihn an, als hätte er die Geschichte nicht gehört.
Mehr denn je rumorte die Sehnsucht nach Anthony in ihm.
Er hatte seinen Arm unter den Kopf geklemmt, ein See aus schwarzen Haaren, wie das Muster einer berührten Wasseroberfläche.
Er bemerkte Robin wirklich erst, als er auf dem Rand der Liege saß, seine Hand ausgestreckt auf seiner Bettdecke lag, ein innerliches Zittern.
Der Junge starrte ihn an, konnte aber nicht dessen Blick erkennen, ob er ihn auch ansah, ob er nicht sogar schlief.
Das dumpfe Geräusch der Tränen, die von dessen rundem Gesicht in den Stoff seines Pyjamas kullerten, drang in Jacks Ohren.
Beide warteten, ohne etwas zu tun, bis Robin ohne Vorwarnung unter dessen Bettdecke schlüpfte.
Sein Schluchzen kam immer näher, nun wendete Jack sich ihm endlich zu, immer noch stumm und lethargisch.
Er spürte die Körperwärme, den hektischen Puls und die Tränen des Jungen. Wie immer haftete der Geruch eines reichen, verwöhnten Sohns an ihm, von Eltern gewaschene Wäsche.
Doch ahnte der 16-jährige nicht, dass es nicht die brüderliche Zuwendung war, die Robin suchte.
Doch der Kleine war so verzweifelt, dass Jack in seiner Not auf seinen Instinkt zurückgreifen musste, nicht auf brüderliche Erfahrung zurückgreifen konnte.
So legte er seien Arm um ihn, versuchte ihm Trost zu spenden:
„Ist schon gut...“ , heuchelte er mit versteckte irritierter Miene, Selbstironie.
Robin drückte sich an seine Brust, vergrub sein weinendes Gesicht in seine Wärme.
Sonst klagte der Junge nicht, erkrankte Tapferkeit.
Wie merkwürdig, beinah ekelhaft, es doch war, jemandem so nahe zu sein, der nicht Anthony war.
Diese Situation war so unscheinbar, so lächerlich.
Vor allem als der Jüngere plötzlich sein Gesicht anhob, Jack direkt ansah, mit schwarzen Augen, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war.
Der salzige Geruch von Tränen, der Ältere drohte zu ersticken, zu implodieren, als dieser Abstand immer geringer wurde, der Abstand zwischen ihren Mündern, als die Lippen sich öffnend auf ihn zu bewegten.
Vor Entrüstung, gänzlichen Unglauben, fand er sich mit Robins Lippen auf den seinen wieder.
Es war ein sanfter Kuss, ein Kinderkuss, Robins erster.
Jacks Augen starrten dem anderen nur aufgerissen entgegen, sodass dieser noch einmal ansetzen konnte, mit unglaublicher Unsicherheit, grässlicher Zärtlichkeit, dessen Oberlippe zu umschließen begann.
Doch was das Ganze nur noch makaberer machte, war das Gefühl der zitternden Kinderhand an seinem Körper, die zarte Haut, die seine Brust streichelte, unaufhaltsam hinabfuhr bis in...
Im nächsten Augenblick stieß Jack den Jungen mit aller Muskelkraft, jeglichem Verstand und Vernunft aus dem Bett, sodass dieser vom Rand fiel, auf den Boden aufschlagen würde...
Plötzlich wachte er auf, schreckte aus seinem Bett.
Auf diese Heftigkeit folgten schnell Übelkeit, Traumsequenzen.
Die Erinnerung an einen Traum?
Einen Traum, in dem er, Robin, ihn, Jack...
Er wollte sich übergeben, ballte die Fäuste, fühlte seine Sommersprossen im Morgenlicht vibrieren.
Das Nachbarbett war leer, nicht annähernd so ordentlich wie im Internatszimmer.
Voller Verwirrung und Schamgefühl über diesen abartigen Gedanken versuchte Robin sich aufzurichten.
Und die Erinnerung verblasste, immerhin war kein Abdruck auf dem Boden neben Jacks Bett.
Gegen Mittag schritt Evelin in ihrem Kleid und ihren flachen Schuhen hinaus in den Garten.
Er leuchtete mehr denn je. Sie betrachtete die Bete, den Teich das frisch angestrichene Haus.
Jack hatte gute Arbeit geleistet, doch war nirgends aufzufinden...
Und wieder hing er an dem Telefonhörer.
Seine Hände würgten die Leitung mit solcher Erbarmungslosigkeit, dass seine Fingerknochen die Haut weiß färbten.
Immer noch das monotone Freizeichen in seinem Ohr, so ätzend, dass sich daraus nicht einmal eine anständige Melodie machen ließe!
Sein angespannter muskulöser Arm holte währendes aus, öffnete seinen Zopf, sodass seine dunkeln Haare nur so aus dem Haarband wallten.
Taktisches Zähneknirschen, seine Pupillen waren aufs Minimale geschrumpft.
Er lief Gefahr zu beten.
Hinter ihm Robins Tante am Türrahmen gelehnt, ihr unendliches Mitleid stach ihm in den Rücken.
Im Wohnzimmer ein offener Karton, die eine Hand des Jungen krallte sich an dem Bilderrahmen fest, während er mit der anderen die Konturen seines Vaters nachzeichnete.
Unbewusst fuhr der Dunkelhaarige sich mit seinem Daumen über die Lippen.
Jacks blaue Augen starrten ins Leere, ertrug noch immer seine einzige Kette um den Hals, die damals auf dem nackten Oberkörper seines Geliebten getanzt hatte.
„Anthony...“ flüsterte er in seiner unheilbaren Sehnsucht.
Das Telefon am anderen Ende der Leitung.
Es klingelte seit Tagen ununterbrochen durchs ganze Haus.
Natürlich wusste er, dass es nur Jack sein konnte, er ihn auf seinem persönlichen Telefon anrufen würde.
Nur seiner Feigheit hatte der Blonde es zu verdanken, dass er in den letzten Tagen kaum schlafen hatte können.
Anthony saß halb auf dem Nachttisch, auf dem das Telefon stand, starrte es noch immer mit verschränkten Armen an.
Unergründliche kastanienbraune Augen.
Das permanente Signal wie ein qualvoller Widerhall in seinem Herzen.
Jacks Rache, Jacks Rache, die grausam werden würde, sobald die beiden sich wiedersehen würden.
Anthony musste allen Mut zusammennehmen, denn wenn er den Hörer beiseite legen würde, wüsste Jack genau von seiner Ablehnung, seinem VERRAT.
Doch er hatte sich entschieden, den Weg des Glücks gewählt.
So streckte er seine Hand – bis aufs Fleisch gekürzte Fingernägel – nach dem Hörer aus, umschloss ihn kaltherzig, hob ihm an und versenkte ihn in der Tischdecke.
ES WAR GETAN.
Jacks Stirn legte sich so sehr in Falten, dass seine blauen Adern zu sehen waren.
Tränenloser Himmel.
Robin hatte sich im Schneidersitz auf dem warmen Teppich niedergelassen.
Er verinnerlichte jedes Detail des Bildnisses seines Vaters David sowohl mit seinem grünen als auch mit seinem blauen Auge, befühlte das Glas, in der Hoffnung das Gefühl der gestrigen Nacht zu vergessen.
Seine Sommersprossen tanzten mehr denn je, er lauschte der Todesstille des Schicksals, der Ruhe vor dem Sturm.
Ein letzter Blick auf seine Schandtat, auf das geköpfte Telefon.
Endlich herrschte Ruhe in seinem Zimmer.
Bevor er es verließ, nahm er seine Brille ab steckte sie in die Innentasche, so wie man(n) das nun einmal tat.
Anthony schritt in seinen schwarz glänzenden Schuhen, seinem sündhaft teuren Anzug, den sein Vater schon vor seiner Ankunft für ihn bereit gelegt hatte, den Korridor entlang.
Nun trug er einen seriösen Herrenhaarschnitt, sämtliche Attribute der Eitelkeit ausgemerzt.
Auch kein Ansatz eines Lächelns, nur eine kostbare Uhr an seinem Handgelenk, ein Geschenk seines Vaters.
Als er das Arbeitszimmer erreicht hatte, den Stapel von Papierkram sah, mit dem er sich schon die letzten zwei Wochen begnügen dürfte, hörte er plötzlich die Stimme seiner Schwester.
„Anthony, Besuch für dich! Jessica ist da!“ , rief sie vom Eingang aus.
„Ja-a!“ , antwortete der Junge, seufzte innerlich und schritt zu ihr, nachdem er seinen Anzug noch einmal gerichtet hatte.
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Die ausgetretene Zigarette der letzten Nacht, verwesend im Schutz der leuchtenden Grashalme am Fuße der Veranda wurde von der gütigen Sonne durchtränkt.
Plötzlich folgte eine noch größere Demütigung durch Jacks schwarze Boots, die in den Garten stampften.
Er servierte den anderen stolz seine köstlichen Gerichte inmitten des Gartens.
Ein selbstgefälliger Schein harter Arbeit.
Gemeinsam deckten sie den Tisch, genossen den perfekten letzten Nachmittag miteinander.
Das Abschiedsessen.
Es schien zu idyllisch, zu theatralisch um wahr zu sein.
Sowohl die beiden Jungen als auch Evelin versuchten ihre innerliche Zerrissenheit zu überspielen, wollten ein letztes Mal den Geschmack eines Familiendaseins kosten.
Wohl wahr, das war die schönste Zeit bisher, voller Lachen und Harmonie, so grausam prägend für den schmerzhaften Abschied, wie sie erwartet hatten.
„Lass dich drücken!“
Anna schloss Robin mit ihrer unendlichen Warmherzigkeit in ihre Arme, so liebevoll, dass sie ihn beinah vom Boden zu heben vermochte.
Jack und Evelin beobachteten diese Szene voller Sorge um den armen kleinen Jungen.
Dann sahen sie einander an.
Der langhaarige Sportler wusste nicht, wie man sich in solchen Situationen verhält.
Wie auch? Die einzige Person, die ihm etwas bedeutete, war sich zu gut gewesen, um sich von ihm zu verabschieden.
Das verstärkte seine Abscheu vor übertrieben sentimentalen Abschieden noch mehr.
Doch ihre Augen waren gütiger denn je, ohne dass sie ihn einschüchterten.
Sie war ihm wohl eine Art Mentorin gewesen.
„Komm her, Jack.“ , flüsterte sie und legte ihre Arme um den muskulösen Jugendlichen.
Eine Geste, die er beim besten Willen nicht erwidern konnte, nur unter großer Anstrengung eine instinktive Assoziation mit seiner Mutter vermeiden konnte.
Wieso konnte sie nicht so wie Evelin sein?!
Sie hatte ihm viel Geld für seine Arbeit bezahlt, übergebührend viel Geld.
„Ich freue mich, dass du hier warst, wirklich.“ , lächelte sie ihn
liebevoll an.
Doch er konnte sich gerade so auf seine wenigen guten Manieren besinnen, indem er automatisch erwiderte:
„Danke für ihre Gastfreundschaft, Evelin.“
Plötzlich richtete sie seine Jacke, was ihm nicht sonderlich behagte:
„Selbstverständlich, du gehörst doch praktisch zur Familie.“
Das Merkwürdigste war wohl der Kuss auf die Stirn, der darauf folgte.
Hieß das, dass sie doch darüber wusste, dass er der uneheliche Sohn des zweiten Mannes der ehemaligen Frau ihres verstorbenen Bruders war?
Wahrscheinlich hatte das auch keine Bedeutung, war nicht der alleinige Anlass, einen fremden Jungen so willkommen zu heißen und in seine Mitte aufzunehmen.
Er wollte sich das Wort einfach nicht eingestehen, aber wenn, dann war sie für ihn hier.
„Ich möchte dich bitten, gut auf Robin aufzupassen.“ , sagte die blonde Frau dann mit ernstem Gesichtsausdruck.
Ein kurzer, kaum merkbarer Seitenblick, eine stumme Erinnerung.
„Du hast ihn verändert. Noch nie zuvor habe ich ihn so ausgelassen erlebt, so viel lachen sehen.
Als sein bester und einziger Freund tust du ihm gut.“
Insgeheim zweifelte Jack an ihren Worten, nickte aber trotzdem verantwortungsbewusst.
Dann brachte sie ihn dazu, ihr direkt in die Augen zu blicken:
„Aber pass auch auf dich auf, ja.“
Der Junge sog scharf Luft ein, als wollte er ihr widersprechen, immerhin wusste er nur zu genau, was sie meinte.
„Ich wünsche dir viel Glück.“
- Viel Glück mit Anthony. Nach ihrer eigenen Aussage etwas, das sehr unwahrscheinlich war.
Sie stiegen ins Taxi.
Natürlich fuhr sie wieder derselbe Mann zurück zum Flughafen, Nick.
Erst als sie nebeneinander auf dem Rücksitz saßen, kamen sie dazu, einander anzusehen.
Peinliche Stille zwischen ihnen.
Niemand wusste, was Realität und was Traum gewesen war.
Die beiden Frauen winkten ihnen eifrig nach.
„Kommt uns bald mal wieder besuchen!“ , rief Anna mit ihrer lauten, tiefen Stimme.
„Auf wiedersehen!“ von ihrer Arbeitgeberin.
Robin drehte sich um und winkte ihnen vom hinteren Fenster, etwas, das ihm nicht peinlich war.
Nicks Lieblingsmusik hatte sich dummer Weise während der 14 Tage nicht geändert.
Die beiden trauten sich nur durch den Vorderspiegel anzusehen.
Eines hatten ihre Gesichter gemeinsam:
Den Ausdruck Bedauern, von Wehmut, wieder ins Internat zurückzukehren, ANGST.
Evelins Kleid wehte im Wind, ihre Ketten, ihr Schmuck.
Sie und ihre getreue Gehilfin Anna warfen sich undefinierbare Blicke zu.
Die winkende Hand, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Doch sie sollten sich nicht wiedersehen.
Denn Jack war auf dem Weg zur Wahrheit.
Am späten Nachmittag kamen sie im Internat an.
Es regnete in Strömen, aber weder Jack noch Robin konnte dieser dazu bringen, eilig ins Schulgebäude zu laufen. Das kalte Wasser rann über ihre Haut, wusch die herrliche Erinnerung an die südliche Küste davon, immer weiter und weiter.
Kaum jemand war auf dem Schulgelände, nur unzählige Autos, nachdem die Ferien vorbei waren.
Robin wagte einen Blick in Richtung Kirche. Sie schien versteinert, verstummt, bedeutungslos.
Er hatte seine Hände geballt, genauso wie Jack, nervös, gespannt, wie er war.
Doch ahnten sie nicht, dass sie vom Fenster ihres Zimmers aus beobachtet wurden, wie sie über den Ziemendweg schritten, dicht nebeneinander.
Sein weißer Nacken war nunmehr völlig nackt, von Kälte umworben, beschnitten.
Seine eine Hand ruhte zuerst auf dem Fensterrahmen, krallte sich dann aber krampfhaft darum.
Kein einziger Laut, kein einziger Atemzug schien ihm zu entgleiten, nur die kleine Rauchwolke, die über seinem blonden Kopf empor stieg, immer und immer höher, bis sie erstarb.
Da sie sich zuerst bei der Direktorin melden mussten, durchquerten sie die Fluren des Schulgebäudes, während ihre Sachen in ihr Zimmer gebracht wurden. Dieses Privileg stand den Schülern nur an solchen Tagen zu.
Ihre widerhallenden Schritte pulsierten durch den Gang, so laut, dass sie das Geflüster und Kichern der anderen Jungen, die sich von ihnen abwandten, gegen die Wände drängten, kaum hörten.
Robin wunderte ihr Verhalten, wie die anderen mit dem nackten Finger auf sie zeigten.
Ahnten sie etwa, dass...?
‚Unmöglich!‘
Aber irgendein Gerücht machte hier die Runde, das war nicht zu verkennen. Und ihren Gesichtsausdrücken, dem Ekel darin, war zu entnehmen, dass es etwas Anormales, etwas Abstoßendes zu sein schien.
Nervosität, wenn nicht Panik, machte sich in dem Jungen breit.
Er warf einen flüchtigen Blick zu Jack.
Der schien die anderen gar nicht zu beachten, immer noch nur dieses einzige Ziel vor Augen zu haben. Das, was ihm schon seit ihrer Abreise bedrückt hatte.
Doch drang plötzlich wildes Diskutieren in ihre Ohren, ausgehend von der Gruppe, die für die Schülerzeitung verantwortlich waren.
Zu ihrem Pech kreuzten sie Jacks Weg.
Sobald sie ihn sahen, schreckten sie auf und verstummten augenblicklich.
„Wärt ihr so gnädig?“ , maulte der Langhaarige die Gruppe von vorbildlichen Schülern an.
„Viola...“ , murmelte der jüngste und unscheinbarste von ihnen, Jason, ängstlich, während seine Hände zitternd einen Stapel der Hefte zu halten versuchten. Jack bräuchte nur zu knurren und der Junge würde einen Herzinfarkt bekommen.
Doch gab sich der liebe Portland, ebenso ein Mitglied der Möchte-gern-Jounalisten, zu erkennen, legte seinen Arm um die Schulter des Jungen und fragte den Sportler grinsend:
„Schon einen Blick in die neuste Ausgabe geworfen?“
Jacks Augen funkelten tödlich, zu gern hätte er ihm noch eine gebrochene Nase verpasst.
Belustigt legte er sein Gesicht in Falten und gab desinteressiert wieder:
„Natürlich nicht. Wieso sollte ich?“
Sogleich zeichnete sich der Ausdruck der anderen auch in ihren Mienen ab, wie Robin misstrauisch feststellte.
Portland platzte beinah vor Schadenfreude, Jack Viola eines ihrer Zeitungshefte, das er dem anderen Jungen aus der Hand riss, überreichen zu dürfen.
„Dann sieh dir mal ganz genau die Titelseite an!“
Lustlos aber skeptisch nahm er es entgegen, bettete es in seine Handflächen und machte eine unvorhergesehene Entdeckung!
Da der Ältere zu Stein erstarrte, riskierte auch Robin einen Blick hinein und erlitt sogleich den selben Schock.
Ohne sich wirklich darüber bewusst zu sein, las er laut den Text, der unter dem anzüglichen Foto seiner beiden Zimmergenossen stand:
„Jack Viola unberechenbar auf der Jagd nach Freiern:
Um seine homosexuellen Neigungen an dieser Schule zu befriedigen, versuchte Jack Viola einen seiner Zimmergenossen, Anthony Levoy, mit Geld zu bestechen. Da dieser aber nicht kooperierte, musste er ständig körperliche Gewalt und Terror von ihm ertragen. Aus Scham traute er sich bisher nicht, es einem der Vertrauenslehrer zu sagen, ...“
Sprachlos starrte der Junge mit den verschiedenfarbigen Augen den anderen an, während das Gelächter der anderen sie umgab.
Das Foto brannte sich wie Säure in sein Gehirn, auch wenn es jedem schleierhaft erscheinen sollte, wie jemand die beiden im Hinterhof so erwischt haben konnte.
Es zeigte, wie Jack Anthony gegen eine Wand presste und ihm zu drohen schien.
„Wer hat das geschrieben?“ , fauchte Jack wutentbrannt. In seinen Händen erlitt das Blatt die schlimmsten Qualen.
„Was fällt euch Sitzpissern ein?“ , brüllte er, kurz davor, wild um sich zu schlagen.
Da Portland aus dem Grinsen nicht herauskam, erklärte einer der anderen mit zitternder Stimme:
„Der Verfasser war anonym. Wir wussten nichts von dem Artikel.“
Jacks Fäuste ballten sich, zerknüllten das frisch gedruckte Papier.
„Also war’s einer von euch.“
Sicher war er imstande, jeden einzelnen von ihnen zu vermöbeln, in der Hoffnung, den Übeltäter zu erwischen.
Plötzlich bekam Jason, angesichts des tobenden Jacks etwas heraus, um ihn zu beschwichtigen:
„Wir versuchen die Erstausgaben schon wieder einzusammeln!“
Der Angeklagte, der Sündenbock, fletschte nur die Zähne, wagte es nicht sich an Robin zu wenden, wenn er ihn in all der Aufregung nicht vergessen hatte.
„Zu schade,“ , kommentierte Portland dann sarkastisch, „sie schlägt richtig ein!“
So wie Jack darauf reagierte, war sich jeder sicher, dass er ihn gleich schlagen würde.
Doch zerriss er in seinem Wutanfall das Schundblatt mit beiden Händen, schmiss die Reste zu Boden und durchbrach die Menge wie ein Orkan.
Das ging alles so schnell, dass Robin nichts anderes tun konnte, als ihm unauffällig zu folgen.
Sein Herz drohte zu zerspringen.
Das Dröhnen seiner Schritte war verebbt.
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Robin stand auf seinen Zehenspitzen, versuchte so viel von ihrem Gespräch zu sehen und zu hören, wie er nur konnte.
Ihre Direktorin, Miss Calendar, hatte Jack gleich gebeten, in ihrem Büro zu bleiben. Natürlich wollte der Junge mit den unterschiedlichen Augen die Anschuldigungen, die Reaktion dieser von ihm respektierten Frau mitbekommen.
Natürlich hatte Jack Anthony nicht dafür bezahlen müssen.
Er selbst war unglaublich aufgebracht, beinah wütend, obwohl es eigentlich nicht ihn betraf.
Doch dies war eine Angelegenheit, für die Jack wirklich von der Schule geworfen werden könnte, ein für alle Male.
Was sich doch alles geändert hatte, seit er das letzte Mal durch das Fenster der Direktoratstür spioniert hatte.
Dinge, die er sich damals nicht einmal vorstellen hatte können!
Jack dürfte nicht suspendiert werden, dann wäre er ganz allein...
Unglaublich viele Falten im Gesicht der Direktorin, mütterliche Sorgenfalten.
Robin erkannte, dass sie in ihrer rechten Hand eine der Zeitungen hielt.
„Jack, ich weiß nicht, was ich sagen soll. “
Die Frau seufzte bedrückt, schaute in das ausdruckslose Gesicht des jungen Mannes, der sich auf dem Stuhl lümmelte.
Ein kaltes Lächeln legte sich auf seine Lippen:
„Das, was die Vorschriften besagen.
Na los, fragen sie mich, ob es wahr ist!“
Er bemühte sich, ganz cool und unerschütterlich zu wirken, bebte innerlich aber vor Zorn.
Am liebsten hätte er ihre unter den Büchern versteckte Zigarettenschachtel genommen und ordentlich Nikotin konsumiert.
„Du hast Recht.“ , entgegnete sie ihm dann vertraut,
„Das muss ich. Obwohl ich die Antwort schon kenne.“
Jack interpretierte ihre Worte falsch, grinste bitter mit zusammen gepressten Zähnen:
„Ich hoffe, sie haben nicht vergessen, auch das ‚Opfer‘ zu befragen.“ , konterte er dann mit gereizter Stimme.
Das Licht fiel auf ihre Gesichter, hüllte alles andere im Zimmer in Dunkelheit, Anonymität.
„Anthony nimmt keine Stellung dazu.“
Sein Hals war nackt. Seine geliebte Kette hatte der Dunkelhaarige bei Evelin vergessen.
Wie leer doch seine Augen waren:
„Dann tue ich es auch nicht.“
Wieder seufzte Miss Calendar, schien gedankenverloren.
Robin wunderte sich, dass ihr lieber Neffe, der gute Richard, nicht an ihrer Seite war.
„Du weißt, das bringt mich in eine schwierige Situation, in der selbst ich dir nicht helfen kann.“
Jack legte den Kopf schief, immer noch lag Aggressivität in seiner Stimme:
„Würde es denn helfen, wenn ein gewisser jemand es bestreiten würde?“
Seine azurblauen Augen blitzten besessen aus seinen verengten Lidern.
Jane kannte seine Unberechenbarkeit, schaute ihn skeptisch an:
„Nicht, wenn du ihn dazu zwingst.“
- Wäre doch eine Möglichkeit.
„Kein Panik.“ , erwiderte der 17-jährige dann souverän,
„Sie sollten wissen, dass das nicht meine Art ist.“
Jack blieb noch eine ganze Weile in ihrem Büro, sodass Robin kurzerhand die fixe Idee übermannte, Anthony aufzusuchen. Sicher würde er ihn in ihrem Zimmer auffinden.
So rannte er schnurstracks ins andere Gebäude, wie ein Wind schien er über die vielen Stufen zu fliegen, ohne auch nur ein Mal anhalten zu müssen.
Er brauchte eine Erklärung, vielleicht genauso sehr wie Jack.
Jedoch wagte er in dem Moment nicht daran zu denken, welche Konsequenzen es haben könnte, Anthony Auge in Auge gegenüber zu stehen, nachdem...
Der frische Gestank von Zigaretten kam ihm entgegen, als er in das Zimmer stürmte.
Nachdem er die Silhouette des Jungen, der noch immer vor dem Fenster stand, erblickt hatte, wurden seine Beine langsamer. Er keuchte, warf einen Blick durchs Zimmer.
Seine Koffer waren schon nach oben gebracht worden, standen stumm auf seinem Bett.
Auch der Blonde schien gerade beim Auspacken zu sein.
Anthony war aufgeschreckt, hatte ganz vergessen, die Tür wieder zu verschließen, nachdem die Packesel die Sachen seiner Mitbewohner gebracht hatten.
„Robin!“ , der Ältere drehte sich zu ihm, schritt auf ihn zu, nachdem er seine Zigarette im Aschenbecher, der auf dem Fensterrahmen stand, auch stumm, ausgedrückt hatte, möglichst, ohne dass der andere es sehen konnte.
Doch der Geruch war unverkennbar und auch, dass Anthonys goldenes Haar jetzt kürzer war.
Nun stand ihm ein Junge mit einer Herrenfrisur gegenüber.
„Freut mich, dich zu sehen. Ich hoffe, du hattest schöne Ferien.“
- Das altbewährte Lächeln, die altbewährte Höflichkeit machten ihm aber einen Strich durch die Rechnung.
„Anthony...“ , japste Robin nur gänzlich außer Atem, hilflos, vorwurfsvoll.
Sogleich wich die falsche Freude aus dem Gesicht des anderen, er biss sich auf die Lippen und murmelte:
„Du weißt es, oder?“
Und ohne zu überlegen, gab der Jüngere seine Entrüstung, seine Enttäuschung, beinah sogar persönliche Demütigung kund, als würde ein Foto von ihm auf der Titelseite sein:
„Wie konntest du so einen Artikel veröffentlichen?“ , fragte er mit geballten Fäusten.
Daraufhin hielt Anthony einen Augenblick inne, starrte den Jungen innerlich gekränkt an.
„WAS, ICH?“, deutete er mit deutlicher Empörung auf seine Wenigkeit,
„Du glaubst wirklich, ich würde so etwas veröffentlichen? Jack so etwas antun?“
Wo waren nur seine vielen Kuscheltiere? Da stand nur das teure Kofferset auf seinem ungewohnt ordentlichen Bett.
Robin runzelte seine Stirn, gab nachdenklich, beinah unverschämt, wieder:
„Na ja, du hast ihn ja auch zu mir geschickt....“
Anthony entging der Vorwurf nicht, innerlich getroffen wandte er den Blick ab, bis er neugierig nach hakte:
„War’s denn so schlimm?“
Nun war es an Robin beschämt seinen Blick zu senken, sich in seinen geheimen Gedanken zu verlieren:
„Nein,“, er schüttelte den Kopf nachdenklich, „eigentlich nicht.“
Vor seinen Augen spielte sich jenes Ereignis ab, jene stumme Versuchung und eine Art Schuldgefühl Anthony gegenüber befiel den Jungen.
Jedoch versuchte er sich zu beherrschen:
„Aber wer hat ihn dann geschrieben?“ , fragte er erwartungsvoll.
„Ich...“ Anthony fuhr sich durchs kurze Haar, starrte zu Boden, LOG:
„Ich weiß es nicht. Irgendeiner der anderen...“
Erst kurz zuvor hatte der Blonde erfahren, dass Richard wohl kapituliert hatte.
Sein Vater, ebenso ein reicher Geschäftsmann wie Anthonys, hatte ihm innerhalb der letzten Wochen eine beträchtliche Stelle in seiner Firma verschafft und da für den letzten Jahrgang jetzt nur noch die Prüfungen zu bewältigen waren, würde er ihn in nächster Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Gott sei dank, würde man sagen.
Dem Anschein nach hatte Anthony den Kampf dann wohl gewonnen.
Doch in Wahrheit gebührte Richard der Sieg, denn er hatte ihn dazu gebracht, eine andere Rolle anzunehmen, Jack um seinetwillen zu opfern.
„Und jetzt?“ , attackierte der Jüngere ihn weiterhin mit Vorwürfen,
„Willst du etwa, dass er suspendiert wird?“
Robin verstand gar nichts mehr, solch ein Verhalten war ihm einfach unbegreiflich.
„Nein, natürlich nicht.“ , murmelte der andere dann gequält, setzte sich auf der Lehne seines Bettes ab, verloren.
Das war das erste Mal, dass er jemanden einzuschüchtern zu können schien, das erste Mal, dass Robin überhaupt seinen Standpunkt vertrat.
Das hatte er dann wohl Jack zu verdanken...
„Dann solltest du klarstellen, dass er niemals...“
Seine Stimme brach abrupt ab, die Erinnerungen der vielen Male, dass er sie insgeheim beobachtet, beneidet, hatte überkamen ihn.
„...soetwas getan hat!“ , ergänzte er dann verunsichert.
Er wusste, dass er sich damit verraten würde, er wusste, dass es eines der wenigen Male war, dass er mit dem anderen darüber sprach.
Anthonys maskuline Finger tippten nervös auf das lackierte Holz.
„Ich weiß, ich weiß....“, seufzte er kraftlos,
„Ich werde es tun.“
Ein Weilchen später:
„Jack, hör zu! Ich gehe zu Miss Calendar und stelle die Sache klar.“ , versicherte der Blonde dem anderen energisch.
Jede Minute unter Jacks verächtlichen Blick waren, wie erwartet, eine Folter für ihn.
Seine Enttäuschung, seine Empörung waren unverkennbar der blauen Krampfader auf dessen Stirn, die immer hervortrat, wenn der Dunkelhaarige kurz vorm Explodieren war...
Die KÄLTE zwischen ihnen war unerträglich.
„Fragt sich nur, warum du noch nicht früher auf die Idee gekommen bist!“ , erwiderte er verärgert, während er vor Unruhe auf und ab ging.
Anthony hatte fast vergessen, wie unwiderstehlich Jack aussah, wenn er auf 180 war....
Mit ehrlicher Reue sah er ihn an, blieb aber im Gegensatz zu ihm auf einer Stelle stehen:
„Ich wollte bestimmt nicht, dass sie dich...Okay?“
In Wirklichkeit war es weitaus schrecklicher, Jack nach all dem gegenüber zu treten, als der Ältere es sich vorgestellt hatte, trotz der vielen Möglichkeiten dieser entscheidenden Situation, die er unzählige Male in seinem Kopf durchgespielt und geprobt hatte.
„Nichts ist okay, Anthony!“ , jammerte sein Freund dann qualvoll, die muskulösen Arme in die Luft werfend.
Spätestens jetzt würde es beginnen.
„Und das weißt du. Es geht mir nicht um diesen Scheißartikel!“
Anthony hielt sich ihm entgegen gewandt, als würde er sich verstecken wollen, doch er wusste, dass er Jacks Tortur von Vorwürfen verdient hatte.
„Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?“ , schrie der Langhaarige zornig und verletzt.
Doch war der andere nicht fähig zu antworten, rang trotz allem mit sich, von der Wahrheit geplagt, während Jack sich ihm unaufhaltsam, vor allem unüberhörbar, näherte.
„Ich meine, letztendlich habe ich ja verstanden, warum du dich nicht von mir verabschieden wolltest.“
Die Sache in der Gasse, die er sich nicht verzeihen konnte. Nun war sie ihm zum Verhängnis geworden.
Dann gönnte Anthony ihm einen Schulterblick und gab zynisch zurück:
„Ich dachte, du stehst nicht auf Abschiede.“
Seine dunklen Augen - so erbarmungslos wie nie.
„Hör zu.“ , versuchte der Jüngere von beiden es mit der Entschuldigung, die ihm seit Wochen auf der Seele lag, verzweifelt gestikulierend,
„Es tut mir wirklich leid, was ich vor der Abreise gesagt und getan habe. Das war dir gegenüber nicht fair!“
„Wie war es denn mit Robin?“ , stellte Anthony dann gespannt in den Raum.
Während der Ferien hatte er sich oft gefragt, ob die beiden wohl miteinander klar kamen.
Jack durchbohrte ihn sogleich mit einem misstrauischen Blick:
„Du weißt davon?“
Anthony atmete tief durch, weil er genau wusste, was ihn jetzt erwarten würde. Das würde alles nur noch schwerer machen.
„Warte mal!“, und ein Zeigefinger richtete sich abwertend auf ihn ,
„Du hast ihn doch wohl nicht auf die Idee gebracht, mich...“
Jack lachte widerlich, rächte sich mit seiner grausamen Art der Erniedrigung.
„Wow, was für eine wohltätige Geste, Mr. Levoy! Herzlichsten Dank!
Nicht nur, dass du mir die kalte Schulter zeigst, nicht mal ein Lebenszeichen von dir gibst...
da schiebst du mich an Robin ab!“
Ein blaues und ein grünes Auge fixierten die Leere der Wand, die gegenüber der Tür lag.
Jacks Rachegelüste waren so groß, dass sein Körper, sein Herz vor zerreißender Pein erzitterte.
Auch wenn er sich seinem Geliebten zu nähern versuchte, die Distanz zwischen ihnen war unüberwindbar.
Spätestens jetzt würde er auch erfahren, wieso.
Unwillkürlich drehte sich Anthony nun gänzlich zu ihm.
„Jack, es hat sich einiges verändert. Ich...“ , stotterte er wehmütig.
Im nächsten Moment ließ sich Jack auf sein Bett plumpsen, stützte sich mit einem Ausdruck von Überlegenheit auf seine Arme, streckte provokant die Beine von sich.
Er grinste verächtlich:
„Dein Outfit zum Beispiel.“ , er deutete abwertend auf Anthonys beinah konventionelle Zusammenstellung von einer langen, weiten Hose und einem teuren Designerhemd, das seiner zierlichen Figur nicht gerade schmeichelte:
„Was soll denn das? Du wirkst ja fast wie ne...“
„Ich habe eine Freundin, Jack.“,
ertönte es dann im Raum.
Eine lächerliche Halluzination, wollte Jack sich sagen, aber die Realität schien durch diese Worte so durchbrochen, so prägnant die Stille, die Reglosigkeit des Jungen vor der Tür, dass Anthony sie wirklich ausgesprochen haben musste.
Allmählich schlichen sie sich sogar in Jacks Kopf, hallten unaufhaltsam in seinem Inneren wider.
Wie das Dröhnen der Fußschritte draußen im Flur.
„Komm schon, du und ein Mädchen!?“, verspottete er den anderen dann bewusst – so, wie nur er ihn verspotten konnte...
Ein herrlicher Witz! Eine abartige Vorstellung!
Doch ballten sich Anthonys bisher leblos von seinem Körper herabhängende Hände nun zu verkrampften Fäusten, Fleisch auf Fleisch.
„Ich möchte Schluss machen, Jack.“, verkündete der Blonde atemlos,
„Das zwischen uns beenden.“
Jacks Krampfader pulsierte mehr denn je.
Er schien zu Stein geworden zu sein, seine Augen wie Eis. Nur seine Mundwinkel rührten sich mechanisch:
„Es ist dir ernst.“ , raunte er mit einer gespenstisch tiefen Stimme.
„Ja.“ , antwortete Anthony darauf nur trocken, seine Augen, sein ganzes Verhalten so abgestumpft und matt.
„Ich möchte, dass wir Freunde bleiben.“
Sogleich sprang der Langhaarige von seinem Bett auf, überbrückte die Entfernung zwischen ihnen mit gefährlicher Geschwindigkeit, hatte jegliche Selbstbeherrschung verloren.
Wie ein tollwütiger Orkan wütete er, so gewaltig, dass selbst Robin die Erschütterung seiner Welt, seiner zerstörten Welt, von draußen spüren konnte.
„FREUNDE?!“ , grölte Jack,
„Hast du’n Knall?! Wir könnten niemals Freunde sein!“
Direkt konfrontierte er den anderen mit seinem Gesicht, der Wahrheit und fletschte bestialisch die Zähne:
„Wir sind...“
Kurzerhand stieß Anthony ihn von sich, als wäre er in Lebensgefahr, eine KRANKHEIT, die Jack für ihn darstellte.
„Genau!“ , schrie er genauso unbeherrscht,
„Und das will ich nicht mehr, verstehst du!“
Jacks feuriger Blick hätte tödlicher nicht sein können.
„DAS IST NICHT NORMAL!“
Anthonys Worte schienen durch das ganze Gebäude zu hallen, über das Gelände, hinüber zu der Kapelle.
Es hörte sich so vernünftig in Robins Ohren an, aber etwas sagte ihm, dass die Art und Weise wie die Leute es von sich gaben, wie Anthony es keifte, krank war.
Auch er hatte so gedacht, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch nun verstand er gar nichts mehr.
Was ist normal? Sicher nicht natürlich, oder?
„NORMAL?“ - Jack prustete heftig, geriet dann aber wieder in einen Wutanfall:
„Gott, was haben die dir nur für eine Gehirnwäsche verpasst!“
Nun war es an ihm, Anthony einen Schubs zu verpassen.
Die gleiche Situation wie vor ihrer Abreise, nur weitaus schlimmer.
Der größere Junge verzog das Gesicht, war kurz davor, auszurasten.
„Ich meine, es so, wie ich es sage, Jack!“ , fauchte er, während er den anderen abzuwehren versuchte,
„Ich will nie wieder, dass wir so etwas tun!“, brüllte er aus vollem Leib, voller Verzweiflung und Selbstverachtung.
Jetzt konnte der Junge aus gutem Hause es nicht einmal mehr aussprechen.
Schon jetzt verdiente sein ehemaliger Geliebter Jacks Mitleid.
Er wollte kotzen.
„Weißt du was, Tony!“ , sagte er schließlich direkt in dessen Gesicht, so nahe, dass es den Blonden an ihre vielen Male erinnern würde.
„FICK DICH!“, zischte er wie besessen, „Ehrlich, fick dich!“
Anthony war wie gebannt von seinem Zorn, beobachtete aber stillschweigend wie Jack im nächsten Moment aus dem Zimmer stürmte.
Er rannte so schnell, dass Robin dummer Weise nicht zeitig genug reagieren konnte und die Tür ihn beinah erschlagen hätte.
Geschockt standen er und Jack sich gegenüber.
Jacks Gesichtsausdruck würde er nie vergessen.
Er war so betroffen, dass er sich nicht einmal für das Spionieren entschuldigen konnte.
Eine Ewigkeit schien zu vergingen, bis der Ältere sich los riss und den Flur hinunter rannte, wie damals am Tag von Robins Ankunft.
Benommen sah er dem Poet hinterher, sehr lange.
Bis er schließlich einen Blick in das Zimmer warf.
Anthony sah sogleich in eine andere Richtung, vergrub sein Gesicht in seine feuchten Hände, schluchzte ebenso.
Robin verstand die Welt nicht mehr.
Doch der Countdown hatte soeben begonnen.
Das Quietschen von Turnschuhen, aufgeregtes Atmen, kollabierende Lungen, nie wieder würde er seine Lieblingskette um den Hals tragen können.
Er schlug drauf los, so fest und so erbarmungslos, wie er konnte.
Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, wie eine Bestie.
Und er erinnerte sich an den Vormittag.
( Flashback 1 begins )
Die versiegelten Fenster, die monotone Stimme des Lehrers, wie ihm tödliche Blicke und Gelächter in den Rücken stachen.
Er schenkte dem keine Aufmerksamkeit, versuchte es zumindest.
Jedoch bemerkte Robin, der rechts von ihm saß, eine Brille auf der Nase trug, die Tortur sehr wohl, war ganz und gar abgelenkt, den Matheunterricht zu folgen.
Anthony war im Direktorium.
Sie beschmissen Jack mit Papierkügelschen, fettig und ekelhaft, während der alte Herr so tat, als würde er es nicht mitbekommen.
Natürlich hatte auch er den Artikel gelesen – jeder hatte das.
Doch gab es im ganzen Gebäude kein einziges Exemplar mehr. Wozu auch, wenn doch jeder wusste, was drin stand!?
Jungengelächter, affenartig und sinnlos, aber dennoch prägnant.
„Hey, Viola, wenn du willst, lass ich dich für 10 Dollar meine Eier lecken.“,
flüsterte ihm Portland lasziv zu. Seinen Mundgeruch konnte sogar Robin riechen.
Keine Reaktion des langhaarigen Musikers.
Der Lehrer hatte es sicher gemerkt.
„Meine Herrschaften, ich bitte um Ruhe.“, kommentierte der kahlköpfige Mathematiker nur, ohne sich auch nur zur Klasse zu drehen, geschweige denn das Bekritzeln der großen dunkelgrünen Tafel zu lassen.
„Ja, Sir...“ , erwiderte Portland übertrieben mit rauher Stimme.
Einen Augenblick war nur die permanente Melodie der Kreide auf der Tafeloberfläche zu hören.
Bis es wieder los ging.
„Hey, Viola...“
Robin spielte mit dem Gedanken, Portland seinen Kugelschreiber in die Pulsader zu rammen.
„Ich wette, du würdest sogar Mr. Fish bezahlen, he?“
Wieder brachen sie in dreckiges Gelächter aus, mit ihren verkorksten Stimmen.
Robin beobachtete Jacks Bewegungen genau; unter dem Jackett steckten unglaubliche Muskeln, die man nicht unterschätzen sollte, die der Sportler den Ignoranten hoffentlich spüren lassen würde!
Dabei sollte der Junge mit den unterschiedlichen Augen froh sein, dass er dieses Mal nicht der Sündenbock war.
Und dann: Ein Zucken, die Löwenmähne.
Jack Viola sprang von seinem Stuhl auf, hatte Portland binnen weniger Sekunden in seinen Krallen.
Er hatte ihn so fest an dessen Kragen gepackt, dass er ihn über den Schreibtisch auf seine Augenhöhe ziehen konnte und dessen Füße über dem Boden baumelten.
„Dieses Mal würde ich dir so in deinen jungfräulichen Arsch treten, dass dich unsere Musiklehrer für den Sopran einteilt, du selten hässliche Pissnelke!“
Robin konnte es nicht vermeiden, tiefe Bewunderung für den Sohn des zweiten Mannes seiner Mutter zu hegen.
Er glaubte, eine Schweißtropfen über Portlands Schläfe perlen zu sehen, dessen Kehlkopf bewegte sich pausenlos hoch und runter.
Doch dann meldete sich der Lehrer zu Wort.
„Mr. Viola, verlassen Sie bitte meinen Unterricht.“ , rief der alte Mann in seine Richtung.
Ohne von dem Unruhestifter abzulassen, erwiderte Jack empört:
„„Wie bitte? Dieser Wichser hat doch angefangen.“
Mr. Fish‘ einzige Reaktion darauf, bestand darin, die Arme in die Hüften zu stemmen und ein paar Schritte zu seinem Pult zu tun.
Seine Wut machte ihn nur noch faltiger:
„Sie haben mich schon richtig verstanden.“
Darauf hielt der Jugendliche nur inne, schnaufte und warf den selbstgefällig grinsenden Portland zu Boden, dass er sich beinah den Hinterkopf an seiner Tischkante aufgeschlagen hätte, leider.
Seine sogenannten „Freunde“ zogen es vor, den Raum mit ihrem Geflüster zu erfüllen, anstatt ihm zu Hilfe zu eilen.
Mit seiner berüchtigten Souveränität schnappte Jack sich dann seinen Rucksack und stolzierte durch die Reihen, an dem Lehrer vorbei.
Kurz bevor er die Tür erreicht hatte, sagte er dann noch laut und deutlich, provokant und ehrlich:
„Ihre Lektion für uns lautet heute dann wohl:
Mathematik hat nichts mit Moral zu tun.
Geschweige denn mit Toleranz. Nicht, Abraham?“
In einem waren sich alle einig, Jacks Courage war beeindruckend, den Lehrer bei seinem Vornamen zu nennen, welch eine Unverschämtheit!
„Raus hier, Viola!“ , brüllte der Alte daraufhin, wies abrupt auf die Tür.
Die Schüler befürchteten, dass er Jack sein Gebiss im nächsten Moment hinterher werfen würde.
Aber der Geächtete war schon zur Tür hinaus und hatte sowohl den alten Mr. Fish ganz rot im Gesicht als auch ein lebhaftes Rumoren zurückgelassen.
Nur Robins Blick blieb an der zugeknallten Tür heften. Er konnte es nicht vermeiden, sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen, jetzt, nachdem alles ans Licht gekommen war, sich alles verändert hatte.
Sowohl für Jack als auch für Robin.
( Flashback 1 ends)
Jack schlug zu, immer und immer wieder, gegen die Polsterhandschuhe seines Trainers.
All die Erinnerungen an die glückliche Zeit, da sie noch zusammen gewesen waren, überfluteten ihn, verschlangen ihn, die Erkenntnis, dass es nie wieder so zwischen ihnen sein würde, nie wieder.
Tatsache war, dass Anthony sich geändert hatte, oder sich ändern wollte, der anderen zu Liebe.
Wie wenig Verständnis Jack doch dafür aufbringen konnte! Wie sehr er seinen Geliebten doch wegen seiner Feigheit verachtete, sowie sich selbst. Aber er würde nicht den Schwanz einziehen und eine Lüge leben.
Nein, er würde alles Erdenkliche tun, um Anthony wieder zugewinnen!
‚Ein Mädchen...ein verdammtes Mädchen!...“ , fluchte er innerlich vor sich hin und rammte seine Fäuste dem anderen entgegen.
Zu dessen Glück konnte Mr. Dalton noch rechtzeitig ausweichen, brauchte eine Verschnaufpause.
Er wischte sich hechelnd den Schweiß von der Stirn:
„Kleiner, du bist ja ne lebende Zeitbombe!“
Obwohl der Junge lieber noch weiter um sich geschlagen hätte, nahm er Rücksicht auf den alten Mann und setzte sich mit etwas Frischem zum Trinken auf die Bank, wortlos.
Natürlich war dem Sportlehrer dessen Seelenpein nicht entgangen, geschweige denn die Gerüchte.
„Calendar hat dich wohl noch‘mal davon kommen lassen, he?“,
fragte er und setzte sich neben ihn.
Jack trank in harten Zügen, ein Moment verging, bis er desinteressiert antwortete:
„Bis jetzt.“
Wie immer starrte der Langhaarige apathisch vor sich hin, wog nun die Büchse in seinen Händen.
Schließlich hörte er seinen Nachbarn mit sanfter Stimme sagen:
„Auch wenn deine Wut dir unglaubliche Kraft gibt, kann sie dich verblenden, auch beim Boxen.“
Jack legte seine Stirn in Falten, schien belustigt und bekümmert zugleich:
„Wie philosophisch, Dalton.“
Seine Hände schlangen sich um das Aluminium, versuchten es, zu zerdrücken.
„Behaupten Sie nur nicht, dass Sie nie wütend werden.“
Der Jugendliche warf dem Mann einen skeptischen Blick zu.
Grübelnd, wenn nicht bloßgestellt, kratzte der Ältere sich daraufhin den kahlen Kopf, antwortete nachdenklich:
„Doch.“ , gab er dann zu, „Aber ich versuche, den aufgestauten Frust dann irgendwie los zu werden.
Yoga ist ein gutes Heilmittel.“
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Jacks Lippen, als er sich seinen korpulenten Lehrer mit der Grazie eines Elefanten beim Yoga vorstellte.
Eine Weile starrte er ihn verwundert an.
Doch dann meldete sich wieder sein Missmut, sein verletzter Stolz zurück und Jack murmelte vor sich hin, mit besessenem Blick zweier gefährlich funkelnder Augen:
„ICH WILL MEINEN HASS ABER NICHT LOS WERDEN.
ICH WILL RACHE.“
Ein Pakt mit sich selbst, der ihm teuer zu stehen kommen sollte.
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Der Kleine saß wieder einmal in der Kapelle, auf dem selben Platz wie zuvor, bekümmert und verloren.
„Ach, du bist es wieder.“ , hörte er plötzlich die Stimme des Paters hinter sich.
Der graue Mann setzte sich, ohne dass Robin ihn wirklich wahr nahm.
Er hatte seine kleinen Hände gefaltet, wie auf einem unsichtbaren Beichtstuhl.
„Was liegt dir auf der Seele, Sohn.“ , offerierte er dem Jungen wieder, sein Herz auszuschütten, seine Bedenken und Zweifel kund zu tun, ohne Hoffnung auf eine direkte und absolute Antwort hegen zu können.
Obwohl er wusste, dass es ihm nicht weiterhelfen würde, stellte er ihm dann die Frage, die ihm ständig durch den Kopf ging
„Pater, was ist wichtiger, seinen eigenen Prinzipien treu zu bleiben oder die Erwartungen unserer Mitmenschen zu erfüllen.“
Alles schien so unwirklich, so klein und unbedeutend an diesem dunklen Ort, selbst seine Frage.
„Eine schwierige Frage.“ , seufzte der Pater.
„Es hängt von der Situation ab. Man sollte versuchen, einen Kompromiss zu schließen.“
Das hatte man ihm immer gesagt, verständnisvoll und hilfsbereit gegenüber den anderen zu sein.
Doch hatten sie es verdient? Brachten sie ihm denn das Gleiche entgegen?
„Doch wenn die anderen nicht kompromissbereit sind?“ , zischte es dann durch seine zusammengebissenen Zähne, verbittert dank seiner schlechten Erfahrungen.
„Die Bibel lehrt uns doch, immer das zu tun, was wir für richtig halten, aber heißt das gleich, dass es moralisch gerechtfertigt ist?
Wer kann schon sagen, ob etwas wirklich richtig oder falsch ist?“
- Wieso konnte er eigentlich nur hier den Mut aufbringen, solche widerstrebenden Fragen zu stellen?
Vielleicht, weil er hier weder Strafe noch eine Antwort erwarten dürfte.
Wie sehr er doch diese Kirchgänger verachtete!
Wie vorauszusehen war, brachte der andere eine Weile, um eine mittelmäßige Antwort zu finden:
„Uns Menschen ist es leider verwehrt, Gottes Willen sofort zu durchschauen.
Selbst ich als einer seiner Diener kann dies nicht behaupten.
Doch unter unserem Herrn hat alles seine Rechtfertigung.“
Also waren die Menschen unfähig, versklavt, den Willen Gottes zu erfüllen.
Wieder dachte er an Anthony, an Jack, dessen Gesichtsausdruck an der Tür, so unglaublich verletzt, Blut.
„Auch wenn alles in einem Desaster endet, in einer Tragödie?“
Der Ruf der Vorahnung in seinem Inneren.
Derweil saß der Poet gänzlich in schwarz gekleidet, wie auf einer Trauerfeier, auf dem Dach, ließ wieder die Beine in der Luft baumeln, wie eine Leiche.
Seine Zigaretten lagen unberührt neben ihm.
Viel zu sehr war er mit dem Schreiben beschäftigt, als dass er sich zum Rauchen hätte herablassen können.
Die Feder tanzte eifrig übers Papier, ein blutiger Tanz, das kratzende Geräusch eines Messers.
Ein leidenschaftliches Schriftstück, so wie es sich für einen Dichter gehörte, für einen verschmähten Liebhaber.
Jack Viola würden sie nicht klein kriegen.
Kurz darauf kletterte er durch das Fenster in ihr Zimmer, steuerte nach Langem wieder Anthonys Bett zu.
Wie merkwürdig dessen Revier doch nun aussah, so heterosexuell und erwachsen.
„Was für eine Selbstvergewaltigung!!“ , murmelte Jack mit leeren Augen.
Im nächsten Augenblick legte er den Zettel unter Anthonys Kissen, so, dass nur er ihn finden würde.
Obwohl er seine Gefühle zu Papier gebracht hatte, war es dennoch keine Genugtuung für ihn gewesen, viel zu sehr vergiftete eines von Anthonys Fotos die Luft in dem Zimmer.
Er erbarmte sich, sich ihm zu nähern, es in die Hände zu nehmen, um sich daran zu ergötzen.
Anthony und seine neuartige Freundin.
Sie hatte rotblonde Haare, Sommersprossen in ihrem Sonnenscheinchen-Gesicht, sicher diente dieses Attribut ihr als Manipulationsmittel, natürlich konnte sie mit Anthonys natürlicher und femininer Schönheit nicht mithalten.
Jack hasste sie auf den ersten Blick, ohne auch nur ihren Namen zu kennen.
Doch als er näher hinsah, bemerkte er eine blasse Handschrift auf dem Foto.
Sie hieß Jessica. Natürlich.
Er hätte den Bilderrahmen in alle Einzelteile zerbrechen können, wie damals Robins Familienbild.
Schlanke, weiße Finger mit beschnittenen Nägeln glitten über die schwarzen und weißen Tasten.
Ein dumpfer Ton, keine Gefühlsregung, keine Motivation.
Der neuerdings kurzhaarige Blonde hing über dem Klavier, gelangweilt, verzweifelt.
Seit Tagen hatte er schon dieses Problem. Egal was er tat, er konnte nicht spielen.
Seine Augen waren dunkler denn je.
Doch als er die Tasten ein letztes Mal berühren wollte, ließ er es, schlug den Deckel mit einem gehörigen Knall zu und stürmte aus der Aula.
Wie sehr ihn das doch kränkte, demütigte, immerhin war das Piano seine Leidenschaft!
Doch jetzt, jetzt...
Er griff in seine Jackentasche und holte seine Zigarettenschachtel heraus, während er sich noch ein Mal umblickte, damit ihn auch ja keiner im Hinterhof beobachtete.
Nicht schon wieder.
Nicht schon wieder dieser Schatten durchtränkte Ort, an dem sie sich gestritten hatten, an dem das alles begonnen hatte, oder war dies damals schon das Ende gewesen?
Er wusste es nicht, wollte auch nicht weiter darüber nachdenken, zog es vor, den Filter zwischen seine Lippen zu klemmen, ihn anzustecken und ordentlich dran zu ziehen.
Was machte es schon, dass es für ihn noch vor einigen Wochen nichts Verabscheuungswürdigeres gab als zu rauchen?
Ja, es hatte sich alles verändert, ER hatte sich geändert und es gab kein Zurück mehr für ihn...
„Jack, du überspannst den Bogen, mehr und mehr.“ , erklärte Mrs. Calendar ihrem Lieblingsschüler, ihrem „Wohltätigkeitsprojekt“ Jack am Nachmittag in ihrem Büro.
„Du entziehst dich meiner Hilfe, das weißt du.“
„Mir kann niemand helfen.“ ,
erwiderte ihr gegenüber, lustlos und immer noch apathisch,
„Nicht einmal Sie.“
Der Raum schien so weit, gleichzeitig aber auch unwahrscheinlich eng, als würde jeden Augenblick die Decke über ihn zusammenbrechen. Es war so still, eine Stille, die ihn ermahnen sollte, dass es an ihm läge, in seiner Hand läge, was aus ihm werden würde.
Nichts als das Geschrei der Fußball spielenden Jungs unten im Hof. Wie in dem Viertel, aus dem er kam.
„Ist es wegen Anthony?“ , sprach sie Jack dann ganz direkt drauf an,
„Habt ihr euch immer noch nicht versöhnt?“
Wenn sie nicht irgendwo eine Vertrauensperson für ihn dargestellt hätte, hätte er sich aufgrund dieser indiskreten Frage persönlich angegriffen gefühlt. Doch mittlerweile schien sie ihn gut zu kennen, zu gut.
Doch Jack blieb so undankbar wie immer.
„Oh, bitte. Ihnen ist es doch lieber so.“ , er schnaufte verächtlich, ohne sie anzusehen,
„Besser für den Ruf der Schule.“
Natürlich wusste Jane genau, was er meinte, verstand seine aggressive Reaktion sogar ein wenig.
So beugte sie sich über den Tisch näher zu ihm, faltete die Hände und versuchte ihr Verständnis walten zu lassen:
„Ernsthaft, Jack. Ich weiß, wie viel er dir bedeutet, aber er ist nicht dein Eigentum, auch wenn der Artikel eine Lüge war.“
Dieser Vorwurf schmerzte sogar ihn.
Obwohl er wegen seiner Gewissensbisse Anthony gegenüber beinah wahnsinnig geworden wäre, klangen diese Worte aus dem Mund einer anderen Person noch weitaus verletzender, wahrhaftiger.
Er war keinesfalls bereit, jetzt, nachdem Anthony ihn sitzen gelassen hatte, als der eiskalte Liebhaber die Schuld bei sich zu suchen, das wäre nicht fair!
„Wollen Sie sagen, dass ich zu anmaßend bin?“ , fauchte Jack sie dann rasend an, zügelte sich dann aber und murmelte mit rauher Stimme:
„Nicht mehr als andere auch.“
Ein Moment verstrich, Jacks Bein hing noch immer über der Stuhllehne.
Er hatte schon geahnt, dass ihm jetzt die Mitleidstour bevorstehen würde.
„Ich achte dich, du bist der einzige Schüler, der es ohne die Hilfe seiner Eltern hier her geschafft hat.
Aber dein Sturkopf ist dein Verhängnis.“ , fiel Cali ihm dann in den Rücken, umso mehr, als sie vorschlug:
„Wenn du meinen Rat hören willst, solltest du deine Mutter anrufen.
Oder ich tue es für dich.
Trotz allem macht sie sich sicher Sorgen um dich.“
Ihre aufeinander gepressten Lippen, dieses beschwichtigende Lächeln, war Beweis genug, dass sie genauso wenig davon überzeugt war wie der Junge.
Dieser schlug die Augen auf und sagte stumpf:
„Ich habe keine Mutter.“ , Schulterzucken, „Ich war schon immer ein WAISENKIND.“
In seiner Realität, Gefühlswelt war er das wirklich. Seine Eltern haben nie eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt, zumindest nicht so wie die Eltern anderer Kinder. So hatte er schon früh gelernt, unabhängig und ohne Illusionen zu leben.
Auf jegliche Hilfe verzichten zu können, über alles zu stehen, bis ER in sein Leben getreten war.
„Jack...“ hauchte die Frau besorgt.
Doch auch sie hatte keine Bedeutung für ihn.
„Meinetwegen schmeißen Sie mich doch raus.“ , sagte Jack dann genervt, seufzte, während er in die Leere seines Lebens starrte,
„Das ändert auch nichts mehr...“
Am Abend fand der Junge mit dem blauen und dem grünen Auge sich dann im Duschraum wieder, zusammen mit dem Blonden, nackt.
Robin war schon dabei, sich abzutrocknen, hatte es nicht lange neben Anthony aushalten können, vor Scham, Neid, Schuldgefühlen.
Natürlich hatte er alles getan, um zu verbergen, dass er peinlich berührt gewesen war.
Immer noch glühten seine Wangen.
Und er erinnerte sich plötzlich an das erste Mal, dass er ihn und Jack zusammen von draußen in diesem Raum sich küssen gesehen hatte.
Wie fern das alles doch mittlerweile schien, bedauernswerter Weise.
Er wusste, dass die beiden sich nun endgültig getrennt hatten und Jack Amok laufen würde, wenn er wüsste, dass Robin gerade eine Aussicht gehabt hatte, um den der Langhaarige ihn beneiden würde.
Trotz seines neuen Lebensstils war Anthony noch göttlich anzusehen. Schatten seines wahren Ichs.
„Kommst du morgen auch zu dem Fest?“ , schallte es dann von den rauschenden Duschen herüber.
„Ich bin mir noch nicht sicher.“ , gab Robin dann als Antwort, murmelte vor sich hin:
„Du weißt, die vielen Menschen...“
„Ja, unsere Nachbarschülerinnen werden wohl auch vorbei kommen.“
Plötzlich tauchte der Blonde hinter ihm auf. Sogleich wickelte der Jüngere sich das Handtuch um die Hüften, nachdem er einen nervösen Blick auf Anthonys feuchten und glänzenden Körper riskiert hatte, beschämt weggesehen hatte.
Seine kurzen Haare waren ein Mahnmal, >>Selbstverstimmlung<< traf es wohl eher.
Der Ältere ging zu den Spiegel, genau an den Platz, an dem er Jack umarmt hatte.
Währenddessen trocknete Robin seine Füße auf der Sitzbank, die inmitten des Vorraums stand, wartete, zögerte, bis er da sagte:
„Was ist mit dir und Jack?“
Er sah wie Anthony ihn sogleich durch den Spiegel ansah, undefinierbare starrende Augen.
„Ich meine, dass ihr nicht einmal mehr miteinander sprecht, euch die ganze Zeit aus dem Weg geht.“
Natürlich hatte es ihn nicht zu interessieren, natürlich gab er zum ersten Mal zu, ein Teil ihrer Welt zu sein.
Er erinnerte sich nur an die Abende, an denen die drei Jungen in dem Zimmer saßen, keiner sagte ein Wort, dieses Schweigen war die reinste Folter, für beide Seiten. Hass und Schuldbewusstsein.
Schließlich konnte sich Anthony aber zu einer ehrlichen Antwort erbarmen, gerade weil es nur Robin war, der es hören würde:
„Ich weiß.“ , hauchte er, hatte den Blick abgewandt, so dass nichts als sein magerer Rücken zu sehen war,
„Ich vermisse unsere Freundschaft auch, aber er...“
Schon wieder diese Art von Schulterzucken, das wohl auf gescheiterte zwischenmenschliche Beziehungen zurückzuführen war:
„Ich verstehe durchaus, warum er mich hasst.“
Worte der Gnade, Worte der Hoffnung.
Im nächsten Moment platzte es strikt aus Robin heraus:
„Er liebt dich und das weißt du.“
Wieder konnten wie sich nur durch die Reflexion in die Augen sehen.
Vielleicht konnte er Anthony zurückholen, davon überzeugen, dass sein Tun falsch gewesen war.
Obwohl Robin sich nicht erklären konnte, wollte, warum ihm daran gelegen war.
„Du liebst ihn auch noch, oder?“ , so stellte er den anderen mit sanfter Stimme zur Rede.
Angst, Hilflosigkeit, Anthonys wahres Gesicht stach ihm entgegen. Dieser biss sich auf die Lippen, bis er kleinlaut antwortete:
„JA...“
- Schwach aber ehrlich.
Nun war es an Robin, vor Ratlosigkeit mit den Schultern zu zucken. Noch nie war er so typisch, so selbstsicher gewesen!
„Ich verstehe nicht, warum ihr beiden dann nicht zusammen sein könnt.“ , sprach er dann ganz ungeniert aus, während er Anthony, der ihm mittlerweile in seinem Handtuch gegenüber stand, mit seinen verurteilenden Blicken konfrontierte.
Eine Zeit lang starrte Anthony ihn betreten an, beinah empört, obwohl er genaus wusste, dass der Kleine im Recht war.
Er argumentierte vor Verzweiflung, dass es einer LÜGE glich:
„Robin, du weißt, der Artikel, die Schüler und Lehrer, diese Einrichtung...“
Doch noch bevor er weitere Ausreden suchen musste, unterbrach der andere ihn plötzlich mit harter Stimme:
„Er wird von allen gehasst und sicher bald von der Schule geworfen!“
Er riss den Mund auf, wütend, als würde er Jack für sich sprechen lassen:
„IST ES DAS, WAS DU WILLST?“
Zwiespalt und Gewissensbisse zeichneten sich in Anthonys hübschen Gesicht ab, er hielt Robins Grausamkeit nicht länger stand, blickte zu Boden.
Doch dann näherte er sich ihm und setzte sich neben ihn, ganz nah, ganz vertraut, ganz offen:
„Robin, du musst wissen, mein Vater ist zwar ein sehr profitgieriger aber auch ein streng religiöser Mann.
Meine Mutter starb, als ich auf die Welt gekommen bin.“
Er schluckte und Robin sah die Hoffnungslosigkeit, die Selbstvorwürfe, in dessen Augen.
„Ich bin sein einziger Sohn und darf ihn nicht enttäuschen, indem ich ihm sage:“,
und er schrie lauthals, voller Verzweiflung:
„‚Nein, Vater, ich kann nicht so werden wie du, ich möchte Klavier spielen und den Jungen lieben, den ich will! Sieh endlich ein, dass wir im 21. Jahrhundert leben und belaste meine älteren Schwestern mit diesen Pflichten!‘“
Die traurige Gestalt, das ungeliebte Kind, neben Robin zitterte vor innerer Zerrissenheit, genauso wie der er selbst.
Wie sehr Anthony sich doch wünschte, das je gegenüber seinem Vater ausgesprochen zu haben. Doch selbst diese einzige Mal, schien ihn zu zerschmettern, vor sich selbst zu ängstigen.
„Aber ich bin es ihnen nun einmal schuldig.“ , sprach er dann kraftlos weiter, mit gesenktem Haupt und in seinen Schoss gebetteten Hände, und die Wahrheit, die schreckliche, nackte Wahrheit, strömte aus ihm heraus:
„Ich bin der Junge, sie sind die Mädchen, an denen er sich vergriffen hat...“
Der Junge mit den verschiedenartigen Augen biss sich vor Entrüstung auf die Unterlippe, hätte am liebste mit ihm geweint.
Einen kurzen Moment sagte niemand etwas.
Anthony spielte mit den Garn seines Handtuches, bis er offenbarte:
„Wie gern würde ich mich bei Jack für das entschuldigen, was ich ihm antue, glaub mir.“
Jedes seiner Worte schien so leicht und doch so schwer über seine bewegungslosen Lippen zu kommen, aus seinem erstarrten, tauben Körper, der Staue des Hephaistion.
Plötzlich richtete er sich wieder direkt an den Jungen, dem es die Sprache verschlagen hatte.
„Und du bist seine Familie, Robin, alles, was er noch hat.“
Erneut bat er ihn, Jack zur Seite zu stehen, so, dass er nicht Nein sagen konnte und wollte.
+++++++++++++++++++ ++++++++++++++++++++++ ++++++++++++++++++++++
Das Schulfest am darauffolgenden Tag, einem Samstag.
Oft war den Schülern so etwas nicht gegönnt, solch eine Vorzeige-Veranstaltung für die jungen Talente des Knabeninternats.
Alle würden sich von ihrer besten Seite zeigen, besonders gegenüber der Eltern, die eine großzügige Einladung erhalten hatten.
Doch warum waren dann die Schülerinnen des Nachbarinternats eingeladen?
Um zivilisierten Umgang zwischen den sonst isolierten Geschlechtern zu heucheln?
Schick, wie es sich schickt, solch eine Schikane geschickt zu inszenieren.
Doch nicht alle Eltern würden erscheinen, wie die von Robin, Anthony und natürlich Jack.
Er wusste, dass diese Jessica mit Anthony zu der Veranstaltung gehen würde.
Ein weiterer Grund, seinen Plan in die Tat umzusetzen, die Show zu wagen.
Er würde hoch empor steigen und seine Flügel über seine Ächter ausbreiten.
Die Rache war gekommen, die WAHRHEIT rief.
Es war mittlerweile schon später Nachmittag.
Alle waren auf dem Hof versammelt, Anthony, seine Schwester, seine Freundin, sein ganzer Freundeskreis.
Nichts ahnend tranken sie den Punsch, während die Lehrer so taten, als merkten sie es nichts.
Nicht einmal Mrs. Calendar war bereit, die Fassade der stolzen Direktorin abzulegen, redete mit den Eltern, ging lächelnd umher.
Ein grausiger, scheinheiliger Anblick.
„Dad war wohl wieder zu beschäftigt.“ , sagte der Blonde zu seiner Schwester, als er ihr einen Kuss zur Begrüßung auf die Wange drückte, ihnen sogleich ihre Gläser überreichte.
Christine lächelte nur bitter:
„Du weißt, er hält nicht sehr viel von solchen Veranstaltungen.“
Ihr jüngerer Bruder schnaufte darauf nur abwertend, begrüßte dann seine Freundin, die hinter Christine auftauchte.
Sie hatte langes rotes Haar und lächelte ihn freudig, aber auch etwas schüchtern an, bevor sie sich vor allen Anwesenden küssten.
Natürlich hatte Christine Richard als ihre Begleitung mitgebracht.
Sein Grinsen war versierter denn je.
Robin beobachtete das skeptisch etwas abseits vom Geschehen.
Wenn Paul nicht gewesen wäre, hätte er sich sicher nicht hier blicken lassen.
Viel zu sehr kränkte ihn die Tatsache, dass seine Mutter etwas Besseres zu tun hatte, als zu dem Fest zu kommen.
Irgendwo war er aber auch ganz froh darüber.
Der Kleine hatte die Bitte der Direktorin abgelehnt, dieses Mal einen musikalischen Beitrag zu leisten.
Das erste Mal, dass er sich verweigert hatte, aus Trotz, aus Wut, aus Sorge.
Er hatte Jack seit Stunden nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Er ahnte Schlimmes.
Ein Blick und Robin wusste, dass es Jessicas Vater war, dem sie Anthony vorstellte.
Wie grausam.
Die Darbietungen des Karateteams vermochten die Meute nicht wirklich zu begeistern.
Die beiden Ausnahmeschüler langweilten sich zu Tode, tranken aber nur alkoholfreie Getränke.
Dann war die Bühne leer.
Eigentlich hatte auch Anthony eine Performance abgelehnt, da ihn ja zur Zeit seine musikalische Inspiration für das Piano verlassen hatte.
Doch seine Genossen drängten ihn dazu, doch noch sein Talent unter Beweis zu stellen.
Insbesondere Jessica wollte ihn unbedingt spielen hören.
Nervös und hilflos musste der Blonde sich ihnen ergeben schritt in Richtung Bühne, ratlos, ängstlich, sich zu blamieren. Seine Hände zitterten unaufhaltsam, seine Finger waren verkrampft.
Das letzte Mal, dass er in einer so ausweglosen Situation war, war, als er vor der Entscheidung stand, sich von Jack zu verabschieden oder nicht, ihn eiskalt fallen zu lassen oder nicht, den Leuten die Wahrheit über sich zu erzählen oder nicht.
‚Jack...‘ , dachte er im Stillen, als er die Treppe hinaufsteigen wollte, zu seinem Klavier, das in der Ecke stand.
Doch plötzlich fiel der Strom aus. Die Lichter der Bühne erloschen, alles war verwirrt.
Und ein Junge schritt auf die Bühne, wie immer in seinen Lederboots.
Seine langen dunklen Haare wehten im staubigen Scheinwerferlicht, als es sich urplötzlich auf ihn richtete.
Nun erkannte jeder, wer der Übeltäter war - der Unruhestifter,
der „perverse Schwule war, JACK.
Augenblicklich hielt Anthony inne, machte einen Schritt zurück und starrte seinen ehemaligen Freund erstaunt an.
Er wusste, dass Jack etwas Versiertes vor hatte, etwas Schockierendes, einen RACHEAKT.
Immerhin hatte er seinen Zettel gefunden, und den Songtext, der darauf stand, gelesen.
Ein derber Stich in seiner Brust, Schuldgefühle, Wut und Distanz.
‚Bitte tue es nicht...‘ , bat er ihn immer wieder mit stummer Stimme.
Auch Robin war vor Aufregung erstarrt, wusste nicht, was er tun sollte, ob er nicht auf die Bühne rennen sollte, um Jack davon abzuhalten, etwas Dummes zu tun, sich den hier Anwesenden auszuliefern.
Ein Hauch von Vorfreude zeichnete sich derweil in Richards Gesicht ab.
Sicher würde Jacks Auftritt einen Sieg für ihn darstellen.
Gesiegt hatte er ohnehin.
Jack war angezogen wie ein Rockstar, legte seine Hände um das Mikrofon, sein Blick machte sich alles zum Untertan und er war bereit, alles zu riskieren, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.
Die Wolken konzentrierten sich, ein Farbenspiel aus gefährlichen Grautönen, die das bläuliche Licht erstickten.
Es donnerte, noch eher er zu sprechen begann.
„Seid gegrüßt.“ , schallte durch das Mirkrofon.
Und im nächsten Augenblick hielt der das Schriftstück empor, das mittlerweile an der Schule verboten war.
Er hatte es aufgehoben.
„Ihr alle habt diesen Artikel gelesen. Spätestens durch ihn mögt ihr auf mich aufmerksam geworden sein.
Jack Viola.“
Robin beobachtete Jacks selbstzerstörerischen Auftritt wie gebannt.
Der Drang, ihn von hier weg zubringen war mehr als berechtigt.
Warum tat Anthony es denn nicht?
Dieser stand noch immer regungslos vor der Bühne. In ihm zog sich alles zusammen. Jack war der letzte, von dem er erwartet hätte, dass er die ganze Sache noch ein Mal hervorholen würde.
Doch eine bessere Methode, sich an dem Blonden zu rächen, gab es wohl nicht.
Er versank im Boden, schon jetzt, obwohl die richtige Demütigung noch auf sich warten ließ.
„Auch wenn dies eine Lüge war und der Verfasser immer noch mit einem Grinsen in seinem Gesicht unter euch ist,...“ , schrie er mit fester Stimme.
Richard tat kein Atemzug, badete sich in seinem Triumph.
Auch Miss Calendar befürchtete Schreckliches, doch war genauso machtlos wie die anderen.
Auf Jacks Gesicht zeichnete sich ein bitteres Grinsen ab, während seine Haare im kalten Wind, der sich heran bahnte, sein Gesicht peitschten.
„...werde ich euch nun wirklichen Gesprächsstoff liefern.
DIE WAHRHEIT.“
Das Blau seiner funkelnden Augen leuchtete heller als der erzitternde Himmel, ehe die Musik durch die Lautsprecher kam und er die erste Note sang.
„Once upon a time
you asshole, you were mine
now you’re just fine
Me, just out of t‘line
cause you’re a liar
a dirty little bitch
creepin‘ like a bug
for buying damned luck
when I see into your eyes
there’s nothin‘ but nasty lies
my desire to puke
Disgust for your trivial acts
Behind your smile
And your sweet voice
Behind the golden facade
You have only your dark heart
And your guilt.
Poor little boy,
nothing you can do
but wait
for my kiss of death“
Die ganze Zeit fixierten seine Augen den blonden Jungen, so hasserfüllt, so tränenbefeckt so hilflos, dass er die Lehrer, die sogleich zu ihm stürmten, nicht beachtete und sich von ihnen von der Bühne schleifen ließ.
Für Robin war es ein grauenhafter Anblick, zu sehen, wie sehr sie ihn demütigen konnten, als wäre er ein Betrunkener, ein Krimineller, ein Geisteskranker.
Es schmerzte den Jungen mit den verschiedenartigen Augen in der Seele.
Trotz seines extremen Handelns, konnte er Jack verstehen.
Wahrscheinlich hätte er dies auch gewagt, wenn er an seiner Stelle gewesen wäre.
Wie gerne er ihn doch verteidigt hätte! Doch letztendlich blieb ihm nichts anderes zu tun, als das ganze geschmacklose Szenario mit anzusehen, unbeteiligt wie Paul, mit dem er immer wieder stumme Blicke austauschte, und alle anderen auch.
Doch Anthony schien an der Stelle vor der Bühne angewachsen zu sein, traute sich nicht, in die Menge zu sehen.
Jack hatte ihn bloßgestellt, ihn verraten vor allen Anwesenden, seiner Schwester, seiner Freundin, dessen Vater und natürlich hatte er Richard die Bestätigung für alles gegeben.
Doch schließlich hatte der Blonde ihm Ähnliches angetan, auch wenn er den Artikel nicht geschrieben hatte, hatte er ihn nicht wirklich entkräftigt, denn Jack hatte am Ende allein da gestanden,
als Schlechter, als Schwuler als Störenfried, während er sich in seinem Ansehen gebadet hatte.
Nun war auch alles für ihn verloren.
Er hatte schon bei ihrem allerersten Treffen gewusst, dass man sich diesen rebellischen Jungen nicht zum Feind machen sollte.
Bewegungslos stand er im Regen.
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Das Fenster im Büro.
Sonst fiel mehr Sonnenlicht durch das Glas, doch heute prallten unzählige Regentropfen dagegen.
Die aufgeregten Stimmen verhallten im Unterbewusstein des Tages, der Tat, der Zukunft.
Stunden um Stunden starrte er es an.
Stunden später stand Anthony unter der Dusche.
Irgendwie hatte er es bis hierher geschafft.
Unerwarteter Weise hatten die anderen – seine Schwester Jessica - ihm statt Ignoranz MITLEID entgegengebracht.
Dem Anschein nach glaubten sie Jacks Worten nicht, taten sie als Hirngespinst eines besessenen Homosexuellen ab.
Welch unsagbares Verständnis Jessica ihm doch entgegengebracht hatte, als er sich in ihre Arme geschmiegt hatte.
Jedoch war sie klug genug, um zu erkennen, dass diese ungewöhnliche offene Zuneigung nur bedeuten konnte, dass vielleicht doch Wahrheit in Jacks Song steckte.
Auch wenn sie es zu verstecken versucht hatte, hatte er doch in ihren besorgten Gesicht gelesen, dass sie misstrauisch war!
Seine Schwester Christine hingegen hatte sich sehr darüber aufgeregt, dass Anthony ihr nichts von den Lügen in dem Artikel erzählt hatte. Vorauszusehen, dass so etwas sie so aus dem Häuschen bringen würde!
Sie hätte Jack wohl am liebsten besteinigt und irgendwo aufgehängt.
Ihre Reaktion hatte ihrem Bruder letztendlich nur bestätigt, dass seine Familie nichts für Homosexualität übrig hatte.
Hieß das nun, dass er verschont bleiben würde, während Jack dort oben im Direktorium gefoltert wurde?
Ja, er war nicht wirklich wütend auf ihn, jedenfalls verging der Zorn, je mehr er darüber nachdachte.
Doch irgendwo wünschte er sich schon, dass Jack die Schule verlassen würde, so herzlos das auch war.
Er gefährdete Anthonys Ruf nun einmal am meisten, mehr als Richard.
Wie gern er doch dieses ganze Desaster vergessen hätte, den Widerhall von Jacks Stimme, dessen hasserfüllten Worte, aus seinem Kopf verbannt hätte!
Der 17-jährige krümmte sich, während das heiße Wasser über seinen nackten Körper rann.
Er hätte am liebsten geheult, doch was sollte das schon bringen?
Immer wieder fuhr er sich mit den Fingern durch das kurze Haar, seine erste Opfergabe.
Die Tür wurde geöffnet und sorgfältig verschlossen.
Kleidungsstücke fielen zu Boden und nackte Füße schlichen sich über die nassen Kacheln.
Natürlich sah er es dem Jungen von hinten nicht an, dass er der VERZWEIFLUNG erlegen war.
Und er näherte sich ihm, dem begehrenswerten und schlanken Körper, den er so vermisst hatte.
Über den er sich nicht bewusst werden wollte, wie sehr er schon IHR gehörte.
Er musste es wagen, es herausfinden, es ihm begreiflich machen!
Ihn an ihre Zärtlichkeiten erinnern!
Und während Anthony mit geschlossenen Augen unter dem Wasserstrom stand, sich mit den Händen übers Gesicht fuhr, so sinnlich und verloren, fühlte er plötzlich heiße Lippen in seinem Nacken, ganz leidenschaftlich und liebevoll.
Er schauderte, war sicher, dies war nur ein Teil einer seiner Fantasien, der Fantasien und Wünsche, die er immer noch hegte, tief in der Nacht, wenn es niemand mitbekam.
Das erregende Gefühl zog sich durch seinen ganzen Körper, sodass er sich vor Ekstase auf die Lippen beißen musste. Als dann auch noch starke Hände über seinen zierlichen Rücken wanderten, seine Taille entlang und sich eine von ihnen seinen Achseln entlang bis zu seiner Brust schlich, tauchte er in ein Paradies seiner Sinne ab.
Ein leises Stöhnen, einer dieser Seufzer, die er schon lange nicht mehr gewagt hatte, entschlüpfte seiner Kehle, während seine rosane Brustwarze umspielt wurde.
Alles in seinem Körper spannte sich an, wurde elektrisiert in dieser herrlichen Illusion.
Als Nächstes wurden seine runden Hüften geknetet auf diese unwiderstehliche und verführerische Weise, wie es nur ein anderer Mann konnte.
Und als die Hand dann sein begehrtes Ziel erreicht hatte, gab er sich der geschickten Massur ganz und gar hin.
„Ich bin sicher, dass sie dich nicht so berühren kann...“ , hörte er dann in sein Ohr flüstern.
Augenblicklich wurde ihm klar, dass der andere wirklich hinter ihm stand!
Sofort riss er sich los, drehte sich zu ihm und erstarrte.
Da stand er, Jack Viola, ganz nackt und ihm ganz nah.
So stob der Blonde nach hinten zur Wand, unterließ es, seiner Empörung Nachdruck zu verleihen, fragte stattdessen vorsichtig, ängstlich:
„Was...was willst du von mir?“
Es gab keine Möglichkeit sich zu bedecken. Doch war das denn jetzt noch nötig?
Es fiel ihm schwer, Jack in die Augen zu sehen. Besonders jetzt, wo in ihnen dieser bestimmte Ausdruck lag und dieses Lächeln, das auf seinen bebenden Lippen brannte.
„Ich frage mich eher, was du von mir willst, Anthony.“ , erwiderte der Langhaarige dann mit einer verführerischen Stimme, die den anderen nur noch nervöser machte.
„N-Nichts.“ , stotterte der Blonde dann unsicher, erschrak, als er hinter sich die kalte Wand bemerkte, eine Sackgasse.
„Wirklich?“ hauchte Jack sinnlich, mit hypnotischem Blick, während er sich ihm immer weiter näherte.
„Das hat sich eben aber ganz anders angefühlt.“
Das Grinsen in seinem Gesicht wurde genussvoller, begehrender, betörender.
Anthony wusste genau, was es bedeutete, erinnerte sich, dass Jack es immer getragen hatte, wenn er über ihn gelegen hatte, voller Vorfreude, bevor, er ihn genommen hatte.
Alles in ihm zog sich zusammen, wie sehr er ihm auch entkommen wollte, es schien ausweglos, denn irgendetwas hielt ihn an Ort und Stelle.
So wehrte er sich nicht, als Jack im nächsten Moment seine Hand über seine Wange, über sein Kinn, über sein Schlüsselbein und über seine Brust streicheln ließ. Ganz zärtlich und sanft, dass sich Anthony beinah an dessen weiche Haut geschmiegt hätte.
Der Langhaarige hatte ihn in seinen Bann gezogen.
„Dein Körper sehnt sich immer noch nach mir. Nicht wahr, Tony?“
- Wie lange hatte er ihn schon nicht mehr so genannt!
Niemand außer Jack tat dies.
Doch noch ehe seine Hand wieder zwischen die heißen Schenkel verschwinden konnte, entriss sich Anthony der Liebkosung, einer simplen Berührung, die seinen Körper noch in Wallung bringen konnte, und stieß den anderen Jungen panisch von sich:
„Nein, lass das!“ , fauchte er mit aufgerissenen kastanienbraunen Augen,
„Ich will das nicht mehr, klar?!“
Darauf schnaufte Jack nur verächtlich:
„Wieso? Um deines verdammten Rufes willen?“
Sogleich brodelte wieder die Wut in Jack auf, seine zuvor noch liebevolle Hand ballte sich nun zu einer Faust.
„Herr Gott noch’mal, Anthony!“ , zischte er zornig, versetzte dem anderen einen harmlosen doch demütigenden Schubs.
Anthony erkannte die Unberechenbarkeit in ihm, die er soeben heraufbeschworen hatte, sagte dann etwas genervt:
„Wir sind nun quitt, okay?“
Jacks Augen waren zu Eis erstarrt, trotz des heißem Wasserstroms, der ihn umgab.
„QUITT?“ , wiederholte er mit stumpfer Stimme, griff im nächsten Augenblick brutal nach Anthonys Arm.
„Noch lange nicht!“ , erwiderte er wie ein Besessener und zischte in dessen bleiches Gesicht:
„Du wirst bezahlen!“
In seinem Wutanfall packte er sich auch noch seinen anderen Arm, hielt seine Arme senkrecht über seinen Kopf, sodass sich Anthonys magerer Rumpf anspannte.
Sogleich überkamen dem Blonden Erinnerungen an das letzte Mal, dass sie hier waren. Er befürchtete in seiner Panik, Jack würde ihn jeden Moment umdrehen und gegen die Wand pressen.
„Nein, fass mich nicht an!“ , schrie Anthony dann energisch.
Zwischen den beiden Jungen brach ein Kampf aus, sie rangen erbarmungslos miteinander, Haut an Haut, was daran lag, dass der Dunkelhaarige Anthony immer wieder festhielt.
Das Wasser überströmte sie noch immer, kommentarlos, sodass es ihre Blicke verklärte.
Schließlich schlug der Ältere Jack ins Gesicht, um ihm zu entkommen, doch stieß der andere ihn im Eifer des Gefechts dann brutal gegen die kalte Wand.
Anthony schlug mit seinem Hinterkopf gegen das steinharte Material und fiel zu Boden, wobei er sich seinen Rücken an dem kantigen Fußbrett aufriss.
„Ghn...“ , stöhnte er heftig und bäumte sich unter dem brennenden Schmerz auf.
Erst jetzt realisierte Jack, was er getan hatte. Nachdem er sich das Blut von der Nase gewischt hatte, hielt er inne und starrte geschockt seinen ehemaligen Liebhaber an.
Als dieser sich seine Hand vors Gesicht hielt, nachdem er mit ihr seine Wunde abgetastet hatte, stach ihm BLUT entgegen.
Noch bevor Anthony zu ihm empor blickte, zog dieser sein Bein an, um seine Vorzüge zu verbergen.
Der Gesichtsausdruck, der Jack dann offenbart wurde, brannte sich in sein Inneres.
HASS, unbändiger Hass, stand in den Augen des anderen.
Er knurrte aufgebracht in seine Richtung:
„ZUR HÖLLE MIT DIR!“
Gleich darauf bemühte der Ältere sich, wieder auf die Beine zu kommen, musste sich aber an den Kacheln abstützen, sein ganzer nackter Körper zuckte und schien jeden Moment zusammenzubrechen.
Doch noch bevor Jack auf die Idee kommen konnte, ihm zu helfen, humpelte Anthony seufzend davon, als wäre er in Lebensgefahr.
Gleich nachdem der Schülersprecher versucht hatte, die Wunde selbstständig zu versorgen, flüchtete er sich in die Redaktion.
Natürlich hätte er zur Krankenschwester gehen können, doch wahrscheinlich hätte dann er die Verletzung auch erklären müssen, doch er wollte sich auf keinen Fall an dieses Ereignis erinnern.
Dieses grauenhafte Erfahrung sofort vergessen!
Es war schrecklich, dass Jack ihm nach all dem so etwas antun hatte können.
Nach all der LIEBE, die sie einmal füreinander empfunden hatten, was sie einander bedeutet hatten, nachdem er sich die anderen Mitschüler als Leibwache gesichert hatte, um sich vor seinem Ex zu schützen.
Nun war Jack für ihn gestorben.
Anfangs hatte er ja noch Mitleid für ihn empfunden, wegen seiner Familie, wegen der Verachtung der anderen, wegen dem Artikel, wegen all dem, worunter Jack dank ihm leiden hatte müssen.
Doch nun war alles, was zwischen den beiden gewesen war, TOT.
Denn Anthony war sich sicher, dass Jack ihn absichtlich verletzt hatte, damit er nicht fliehen hatte können, er war davon überzeugt, dass Jack ihn... VERGEWALTIGEN hatte wollen.
Warum sollte er auch sonst zu ihm unter die Dusche gekommen sein?
Er hatte alles Vergangene vernichtet, sein Vertrauen missbraucht!
Und es gab keine Entschuldigung dafür!
Anthony würde sicherlich nie wieder irgendwelchen Scham für sein neues Leben empfinden, dafür, dass er zu einem dieser egoistischen, käuflichen, normalen Menschen geworden war, wie es alle von ihm verlangten.
Nie wieder würde er in den Zwiespalt geraten, in dem er sich befunden hatte, als er sich entscheiden hatte sollen, ob er sich von Jack verabschieden würde oder nicht, ob er mit Jessica ausgehen würde oder nicht, ob er Richard gewinnen lassen sollte oder nicht.
Wie man es betrachtete, er hatte gewonnen.
Anthony hatte es geschafft, sich Jack zum Feind zu machen.
Schon damals bei ihrer allerersten Begegnung wusste der Blonde, dass er dies bei diesem rebellischen Jungen nicht herausfordern hatte sollen.
Doch für das, was von ihnen übrig geblieben war, gab es wahrscheinlich gar keinen Ausdruck.
Anthony konnte nicht anders, als Jack nur noch zu verachten, zutiefst zu hoffen, dass er so schnell wie möglich von der Schule fliegen würde!
„Versuchst du dich, hier zu verstecken?“
Eine wohlbekannte Stimme riss ihn aus den Gedanken.
Er musste die Luft anhalten, um sich von dem Stuhl, auf dem er saß, zu dem Störenfried drehen zu können.
„Wer gibt sich denn da die Ehre?“, begrüßte Anthony Richard, der eben zur Tür hinein getreten war.
Während der Blonde versuchte, sich aufzurichten, verschloss sein Rivale bewusst und unbemerkt die Tür hinter sich.
Mit seiner typischen selbstgefälligen Miene trat er unaufgefordert in das Zimmer, durchdrang den anderen Jungen mit seinem psychopathischen Blick.
„Verschwinde, Richi!“ , zischte Anthony, noch bevor er etwas sagen konnte.
Der Oberklässler tat gekränkt, spreizte dann den Zeigefinger und gab theatralisch zurück:
„Nanana, du solltest freundlicher zu mir sein. Immerhin bin ich der Freund deiner Schwester.“
Ein Grinsen zog sich weit über Richards Gesicht:
„Und du neuerdings der ihrer Freundin.
Zusammen geben wir doch ein hübsches Quartett ab, so als Heterosexuelle, meinst du nicht?“
Anthony würdigte ihm keinen Blick, seufzte nur hörbar und fragte genervt:
„Was willst du?“
Während der Jüngere krampfhaft versuchte, sich an der Stuhllehne abzustützen, um möglichst weit von dem anderen entfernt zu bleiben, verzichtete Richard zur Abwechslung einmal darauf, selbstherrlich auf und ab zu schreiten, und setzte seinen knochigen Hintern auf den Tisch ab.
„Violas Liebeslied an dich war ja richtig herzzerreißend. Der Artikel hat wohl seinen ohnehin schon schlechten Ruf mehr als ruiniert, geschweige denn ihn.
Jetzt spielt er wohl nicht mehr denn Unerschütterlichen.“
Kommentarlos hörte sich Anthony das Geläster über seinen ehemaligen Geliebten an, ohne weder Kränkung noch Schadenfreude zu hegen.
Ob er Jack wohl mittlerweile genauso verachtete wie Christines Freund?
Dann schlug er die Beine übereinander, löste einen seiner verschränkten Arme und sagte:
„Da muss ich dem Verfasser wirklich auf die Schulter klopfen,“, pausierte kurz und legte seine Hand auf seine Schulter „besser gesagt...
MEINER Wenigkeit.“
Anthony presste die Lippen zusammen, hielt einen Augenblick inne, als würde er den ironischen Augenblick genießen.
Schließlich erwiderte er darauf nur souverän:
„Also warst du es. Hab ich’s mir doch gedacht.“
Richard konnte nicht anders, als triumphierend in sich hineinzulachen :
„Quasi als hübsches Abschiedsgeschenk.“
Pure Schadenfreude spiegelte sich auf seinem widerlichen Gesicht wider, schürte das alte Feuer des Hasses in Anthony, sodass er beinah sogar den für Jack vergessen hätte.
Für ihn überbrückte er die Entfernung zwischen ihm und seinem Rivalen.
„Für wen?“ , hakte der Blonde energisch nach,
„Für ihn? Woher kommt nur dieser unbändige Hass auf ihn, Richard?“
Nachdem der Angesprochenen sich aufgerichtete hatte, standen sie sich Auge in Auge gegenüber.
Immer noch stach dem Jüngeren dieser ekelhafte Leberfleck an, wie eine Pest.
„Doch nicht wegen diesem kleinen Dreckskerl.“, spottete der dunkelhaarige Narzist,
„Wegen euch,“ und seine Pupillen erstarrten zu Eis,
„besser gesagt: WEGEN DIR!“
Der Jüngere grinste bitter:
„Ich?“ , badete Anthony sich in seiner geistigen Überlegenheit,
„Immer wieder derselbe hässliche Neid. Nicht, Fenning?“
In der Hoffnung, er könnte ihn zur Rede stellen, ihn als das kindische, hinterlistige Miststück, das er war, bloßstellen, hatte er sich ihm noch mehr genähert.
Doch würde er enttäuscht, bestürzt.
Noch bevor er sich versah, streichelte Richard wieder seine rosige Wange, dessen Gesichtsausdruck unbeschreiblich, dessen Augen unergründlich – gefährlich:
„Nicht Neid.“ , seine Stimme war dunkel, ein seltsames Lächeln bildete sich in seinem Gesicht:
„Neid wird DIR sicher nicht gerecht.“
Er wirkte beinah zärtlich, beinah fasziniert von ihm.
„Du bist viel zu...“
Doch sehr schnell hatte Anthony dessen feuchte Hand abgewehrt.
Mit einem angeekelten Ausdruck fauchte er seinem Rivalen verächtlich zu:
„Nimm gefälligst deine dreckigen Finger weg, du...“
Doch im nächsten Augenblick wurde er von dem Älteren nach hinten auf die Tischoberfläche geschleudert, dass Anthonys reißende Wunde über seinen Hüften ungeheuerlich brannte.
Richard hatte seine Arme gepackt, fixierte sie über ihm, drückte seine Handgelenke gewaltsam gegen das Holz.
Zu Tode erschrocken starrte der Blonde seinem Angreifer ins Gesicht.
Zwei besessene Augen, eine Fratze der kranken Perversion, lachte ihm entgegen.
Noch bevor er eine Frage stellen konnte, um ihn zur Vernunft zu bringen, hielt Richard seine Arme mit einer Hand und begann mit der anderen Anthonys Hose zu öffnen!
Ungeduldig und gewaltsam riss er daran.
Das Opfer geriet in Panik:
„Scheiße! Was machst du denn da, Fenning!“ , schrie er und versuchte sich mit aller Kraft zu wehren.
Doch sein Schlechter war stärker, als er erwartet hatte.
Er zitterte vor Ungeduld, fauchte ihn wütend an:
“Sei still!“
Diese Reaktion bestätigte dem Blonden nur, was er innerlich befürchtete.
So schnell wie möglich wollte er sich ihm entreißen, doch der ungeheure Schmerz seiner Verletzung lähmte ihn, das Holz, das sich in sein offenes Fleisch schnitt.
Dem Jüngeren standen Tränen in den Augen. Das dürfte nicht sein!
„Du verdammter Bastard!“ , fluchte er.
Und sie rangen miteinander, bis Anthony es schaffte, Richard mit seinem Bein in die Weichteile zu treten.
Mit einem Schmerzensschrei ließ dieser von ihm ab, fiel nach hinten über und krümmte sich auf dem Boden.
Auch wenn ihn der Schmerz quälte, rappelte Anthony sich auf, knöpfte hastig seine Hose zu und trat über den anderen, der beinah regungslos dem Schmerz erlegen zu seinen Füßen lag.
Ohne zu überlegen trat er dem Dunkelhaarigen ein weiteres Mal zwischen die Beine, nun gezielt und erbarmungslos.
„Du hast meine Schwester nicht verdient!“ , schrie Anthony auf den Schleimer ein, der sich stöhnend unter seinem Fuß wandte.
Einen Augenblick lang spielte der Blonde mit dem Gedanken, nicht nur sich sondern auch JACK rächen zu müssen, behielt es aber für sich.
Nachdem er noch einige weitere Male zu getreten hatte, und Richard gedemütigt am Boden lag, riss er sich los und humpelte schnellstens zur Tür hinaus.
Er rannte und rannte, auch wenn ihn das Brennen in seiner hinteren Taille zusammenfahren ließ.
Nun wäre er beinah ein zweites Mal vergewaltigt worden.
Er konnte es nicht begreifen.
‚Wieso jetzt? Wieso gerade jetzt, wo ich doch...‘
Es kostete Anthony mehr Kraft denn je, seinen Tränen Einhalt zu gebieten.
Er spürte, dass die EINSAMKEIT ihn eingeholt hatte.
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Derweil saß Robin mit Paul in der Bibliothek.
Die beiden waren ganz allein, da um diese Zeit niemand hier war.
Bücher über Bücher überall um sie herum. Welch ein Genuss!
Die beiden Ausnahmeschüler versuchten, ihre Hausaufgaben zu erledigen, obwohl die Aufregung des Nachmittags sie noch immer durcheinander brachte.
„Sicher wird er dieses Mal wirklich von der Schule geworfen.“ ,
sprach der dunkelhaarige Lockenkopf mit der riesigen Brille auf der Nase ungewöhnlich lebhaft, während er beinah vergaß, mit dem Kugelschreiber, mit dem er die ganze Zeit zwischen seinen Fingern spielte, weiter zu schreiben.
Robin gefiel nicht, was die Leute über den langhaarigen Poeten sagten, der für sie nichts weiter als ein Rebell, ein „geisteskranker Homosexueller“ war, ohne dass sie es natürlich direkt aussprachen.
Am liebsten hätte er sie zum Schweigen gebracht, aufgeklärt, unterrichtet über die Dinge, von denen sie keine Ahnung hatten und über die sie sich kein Urteil erlauben dürften!
Teilnahmslos starrte er auf das weiße Blatt Papier unter seiner Nase, war bewegungslos.
Doch als der andere wieder einmal zum Schreiben ansetzte, ergänzte er leise mit seiner etwas brüchigen Stimme:
„Aber eins muss man diesem Viola lassen, er hat wirklich Courage.“
Ohne den Blick aus der Leere, die er vor sich sah zu nehmen, kam Robin dann plötzlich über die Lippen:
„ER IST MEIN BRUDER.“
Stillschweigen.
Er wusste auch nicht, warum er es laut ausgesprochen hatte! Nicht einmal seiner Tante hatte er es verraten! Niemandem gegenüber.
Doch nun hatte er zum ersten Mal gewagt, es jemandem zu anzuvertrauen, es seinem eigenen Körper und auch der Welt bewusst zu machen.
Plötzlich wurde ihm klar, welche Konsequenzen sein Ausspruch haben könnte und es lief ihm eiskalt über den Rücken.
Endlich antwortete Paul, eher neutral als übermäßig geschockt:
„Wirklich?“ , erwiderte er ohne weiter nach zu haken,
„Deswegen bist du so oft mit ihm zusammen und nicht wegen...“
Seine Worte irritierten Robin so sehr, dass er sich sehr schnell von dem Schock erholte, dann aber misstrauisch wurde:
„Wegen was?“
„Na ja...“ , Paul schien nachdenklich, flüsterte dem anderen dann geheimnisvoll zu:
„Einige tuscheln schon, dass du jetzt sein Freund bist, nachdem...“
„Ich?“ , quiekte der Junge mit den unterschiedlichen Augen dann entsetzt.
Sogleich erlitt er einen Schweißausbruch, sein Herz drohte zu zerspringen und er hätte vor Panik heulen können.
Erinnerungsfetzen an die Zeit bei seiner Tante blitzten in seinem Kopf auf.
Doch ehe Robin vor Scham in Ohnmacht fiel, beruhigte ihn der gute Paul mit seiner Gelassenheit, klopfte ihm auf die Schulter:
„Mach dir keine Sorgen.“ , ein verständnisvolles Lächeln des älteren Jungen,
„Das ist das erste, was sie über dich erzählen, wenn sie dich nicht verstehen.“
Seine Augen sprachen Bände, als hätten sie solche Gerüchte auch schon über ihn in die Welt gesetzt.
„Aber ich...“ I
mmer noch versuchte Robins Instinkt mit allen Mitteln zu widersprechen, auch wenn sein affektiertes Verhalten verräterisch war.
Doch wieder nahm der andere Junge ihm seine Angst im Voraus:
„Und wenn schon, die haben doch keine Ahnung.“ , sagte Paul mit kalter Stimme, wie ein Erwachsener.
Dann legte sich ein Lächeln voller Bewunderung auf seine Lippen:
„Außerdem wenn man sich Viola als Vorbild nimmt, kann man doch stolz darauf sein.
Er war der erste, der es offen ausgesprochen hat und auch noch dazu steht.“
Robin rechnete immer wieder damit, dass einer der Lehrer zu ihnen gestürmt und sie verpetzt hätte.
Doch Pauls Worte konnten in diesen Gemäuern gesagt werden, ohne dass ihn eine himmlische STRAFE traf.
Der Jüngere starrte ihn verwundert an:
„Also findest du soetwas nicht verwerflich?“ , stotterte nun Robin unsicher.
Obwohl er nie gedacht hatte, jemand anderem als seinen Zimmergenossen solch eine Frage stellen zu können.
„Eigentlich nicht.“ ,
antwortete der Lockenkopf dann achselzuckend, ganz ungeniert und ehrlich.
„Ich habe nie verstanden, warum es als Sünde in der Bibel gleich nach Mord kommt, so ein Unsinn.“
Und die Worte seines geistlichen Beraters in der Kapelle hallten Robin im Hinterkopf wider.
Mit kaltem Blick kommentierte er:
„Unser Pater sagt, weil es der Natur nicht gerecht wird.“
Daraufhin zog Paul eine seiner buschigen Augenbrauen hoch, völlig empört und sagte dann in seiner ganzen Aufregung:
„Sieh dir uns Menschen an!“ , er deutete wild gestikulierend auf die vielen Regale vollgestopft mit Büchern,
„Sieh dir diese Einrichtung an!“
Und tatsächlich sprang der ältere sonst unscheinbare Junge im nächsten Moment aus seinem Stuhl auf, schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch, dass es nur so knallte und rief dann laut heraus:
„Wir leben im 21. Jahrhundert!
Wo werden wir schon noch der Natur gerecht?!“
Schnell zog Robin seinen Freund wieder zurück, in der Befürchtung, dass sein Auftreten zu riskant war, besonders wenn ihm sein Ausspruch nicht für vogelfrei erklären würde.
Robin konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren.
„Wow!“ , sagte er voller Bewunderung,
„...Du hast nicht ein einziges Mal gestottert.“
Pauls erwartungsvoller Gesichtsausdruck verwandelte sich sogleich in ein herzliches Lächeln:
„Stimmt!“
Und die beiden lachten miteinander.
Und zum ersten Mal betrachtete Robin sich den anderen Jungen näher.
Sein Haar war pechschwarz, richtig exotisch und war zu Locken gedreht, die wirr Pauls intelligentes Gehirn verbargen.
Auch seine Sommersprossen schienen mit Blütenstaub auf seine blasse Haut getupft, unzählige Gedanken.
Die übergroße Brille wurde ihm nicht gerecht, also nahm Robin sie ihm kurzerhand ab.
Darunter verbargen sich dunkelgrüne Augen, die die Farbe des Blätterdaches hatten, das sich über ihn und seinen Vater erstreckt hatte, sobald sie sich in diesen Wald begeben hatten , so geheimnisvoll und allwissend glänzten sie unter seinen langen Wimpern.
Ohne zu zögern legte er seine Lippen auf dessen Mund.
Glücklicher Weise hatte Robin seine Brille auf seinem Nachtschrank vergessen.
Der Kuss dauerte länger, als er erwartet hätte, denn der andere Junge wehrte sich nicht.
Es war ein unschuldiger Kuss, sein allererster Kuss mit einem Menschen, der nicht zur Familie gehörte.
Schließlich richtete er sich wieder auf und sah Paul mit erröteten Wangen an, während er noch immer dessen Brille in der Hand hielt.
In dessen Gesicht spiegelte sich die gleiche Geistesabwesenheit wider, jedoch KEIN Ekel oder Ähnliches.
Nein, er glaubte, ein kleines Lächeln auf seinen Lippen zu sehen.
Als Robin kurz darauf die Treppe hinauf in sein Zimmer schritt, fuhr er sich noch einmal mit den Daumen über seine Lippen.
Noch immer klopfte sein Herz von all der Aufregung und Verwirrung, die der Kuss in ihm hinterlassen hatte.
Er hatte einen anderen Jungen geküsst.
Seine Lippen hatten sich so weich und so sanft angefühlt, als er seinen warmen Hauch, seinen Geruch, eingeatmet hatte.
Hatte er es richtig gemacht?
Es war immerhin keiner der leidenschaftlichen Küsse gewesen, die er bei Jack und Anthony gesehen hatte.
Nein, das war noch etwas anders gewesen, so einzigartig.
Paul hatte ihn nicht angeschrien, angespuckt, ausgelacht.
Nein, im Gegenteil. Er schien damit einverstanden gewesen zu sein.
Sicher war es auch sein erster Kuss gewesen.
Trotz seiner ungewöhnlichen Fröhlichkeit, plagte ihn sein Unterbewusstsein, das da immer in Frage stellte, was das nun zu bedeuten hatte.
Hieß das, dass Robin schließlich auch so geworden war wie die anderen beiden?
Wie hatte er es wagen können, nachdem er gesehen hatte, wie sie an dieser Schule mit so etwas umgingen?
Aber er hatte es wissen wollen, ja, wie es sich anfühlte.
Dieses tiefe Gefühl, das Jack dazu veranlasst hatte, sich die Seele aus dem Leib zu singen.
Eigentlich wollte er nicht länger darüber nachdenken, konnte nur hoffen, dass niemand die beiden gesehen hatte.
Schließlich war er in der obersten Etage angekommen.
Unbewusst hielt er sich den Rücken, schon lange hatten ihn keine Schmerzen mehr geplagt.
Es war wohl geheilt.
Und als er etwas misstrauisch ins Zimmer schritt, fand er, wie befürchtet, einen der beiden auf.
Es war Jack.
Er stand vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken in der Ecke des Raumes und rasierte sich.
Diese Szene, der nackte muskulöse Oberkörper, erinnerten den Jungen an das letzte Mal, dass er ihn dabei beobachtet hatte.
Der erste Kuss zwischen den beiden, den Robin gesehen hatte.
Er wusste nicht, dass Jack von der Schule verwiesen wurde und innerhalb der nächsten sieben Tage abreisen musste.
Das Handtuch, das er über seinen Schultern trug, schwenkte die ganze Zeit hin und her, während sein Gesicht mit dem klassischen Messer rasierte und dabei vor sich hin murmelte:
„Ein Mädchen, natürlich ein Mädchen. Nimmt sich die nächst Beste, nur weil sie Titten hat!“
Vorsichtig näherte der Junge sich ihm, stellte sich direkt hinter ihn, damit er ihn im Spiegel erkennen konnte.
Aber der Langhaarige ließ sich durch seine Anwesenheit nicht von seinem Fluchen abhalten.
„Und ich kann mich noch so viel rasieren, es bringt auch nichts.“
Er schnaufte verächtlich und verzweifelt zugleich:
„Gott, ein Mädchen, ich fasse es nicht!“
Es sah gefährlich aus, wie er die Klinge des Messers so halbherzig über seine Haut gleiten ließ.
Dann wendete er sich plötzlich an den anderen Jungen, blickte ihn durch die Reflexion an:
„Hast du gesehen, wie sie sich abgeknutscht haben?“
Robin erinnerte sich nur zu gut daran. Schüchtern nickte er mit dem Kopf :
„Hm.“
Es war merkwürdig, nun wieder bei Jack zu sein. Da wäre ihn Anthony schon lieber gewesen, wo immer er sich auch versteckte.
So wie er den Langhaarigen kannte, konnte er ihm ansehen, dass er einen Jungen geküsst hatte.
Der Scham lähmte seine Glieder und vielleicht stand er ja nur so reglos hinter ihm, damit er ihn zur Rede stellen konnte, es aus ihm heraus holen konnte.
„Widerlich!“ , krächzte Jack dann wie eine Krähe.
- Etwas, in dem der Jüngere ihm recht geben musste.
Die Zeit auf dem Land schien schon so fern, so unwirklich.
Und während er das Messer über seine Wange zog, murmelte er mit einem bitteren Grinsen:
„Aber er war schon immer ein guter Schauspieler.“
‚Wohl wahr...‘ , dachte Robin innerlich und setzte sich auf dem Bett hinter sich.
In der kurzen Zeit merkte er nicht, dass Jack seinen linken Arm vor sein Gesicht positioniert hatte und die Klinge, die er eben abgespült hatte, über sein Handgelenk streifen ließ.
„Dabei sieht er viel femininer aus als sie...“
Da musste selbst Robin grinsen, konnte, als er wieder aufblickte, nur schwer erkennen, was der Ältere vor hatte.
Mit schillernden, doch leeren blauen Augen, starrte er auf seine kraftlose Hand, die nie wieder Anthony berühren dürfte. Nach dem, was vor wenigen Stunden passiert war, erst recht nicht.
„Ich will mir das gar nicht vorstellen! Igitt! Wie er sie fickt...“
Und als er die Klinge in seine Haut drücken wollte, den Ellenbogen anhob, wurde Robin stutzig, stürmte schnellstens zu ihm, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.
Er packte Jack am Arm und schrie hektisch:
„Hey, tu es nicht!“
Jack schien richtig empört darüber, dass der Kleine es wagte, ihn daran zu hindern, verteidigte sein Mordinstrument.
„Als hätte ich noch etwas zu verlieren, nachdem....“ , fauchte er wehleidig und mehr als hoffnungslos.
ER HASSTE SICH FÜR DAS, WAS ER GETAN HATTE!
„Gib her!“ , beharrte der Junge mit den verschiedenfarbigen Augen noch immer darauf, den anderen zu retten, war wild entschlossen, nicht nachzugeben.
„Misch dich da nicht ein, das ist meine Sache!“
Jack geriet in einen richtigen Wutanfall, kämpfte genauso sturköpfig um die Klinge wie Robin.
Ein kleiner Kampf zwischen ihnen brach aus, der sicher ein wenig lächerlich wirkte, zumal Jack ganze zwei Köpfe größer war als Robin.
Doch plötzlich griff der Ältere sich seinen Arm und öffnete gewaltsam seine Faust.
„Was tust du da?“ , fragte Robin panisch, da er nun befürchtete, dass er ihn mit der Rasierklinge verletzten wollte.
So heftig er sich auch aus seinem Griff zu befreien versuchte, es hielt Jack nicht davon ab, in seine blasse Haut zu schneiden. Doch nicht etwa die von Robins Handgelenk sondern die seiner Handfläche.
Er zuckte, als er die Schärfe des Schnittes spürte.
Blut rann aus der Wunde, die jedoch nur klein war.
Bevor Robin reagieren konnte, hatte auch Jack sich in die Handfläche geschnitten, viel gleichgültiger.
Und er legte die blutende Hand in Robins.
„Dein Blut fließt jetzt mit meinem.“ , sprach er eindringlich auf den Jungen ein,
„WIR SIND BRÜDER.“
Nun waren sie wirklich Brüder, Brüder in der Blutsbrüderschaft.
Robin biss sich schluchzend auf die Lippen:
„Jack...“
Er wusste nicht, was er davon halten sollte, fühlte nur das rauschende Blut, das jetzt durch seine Adern strömte.
Während Jack geistesabwesend auf die Hände der beiden starrte, bemerkte
Robin einen roten Streifen in dessen Gesicht.
„Deine Wange blutet.“ , sagte er besorgt, streckte die Hand aus, um die Wunde zu berühren.
Doch Jack kam ihm zuvor, besah sich die rote Flüssigkeit auf seinen Fingern und kommentierte nur desinteressiert:
„Unwichtig.“
Er war wieder eiskalt, als wäre das eben nie passiert.
In seiner Verwirrung nahm Robin Jack die silberne Klinge aus der Hand.
„Gib’s her!“ , zischte er übertrieben aufgeregt.
Ja, er war plötzlich wütend auf Jack und schrie ihn erbarmungslos an:
„Denkst du, es ändert etwas, wenn du dich verstümmelst!“
Und ohne darüber nachzudenken, stellte er ihn zum ersten Mal bloß:
„DU WIRST TROTZDEM KEIN MÄDCHEN!“
Als hätte er ihm einen Dolch in den Rücken gerammt.
Wie erwartet hatten Jack diese Worte verletzt und er schubste den Jungen verächtlich zur Seite:
„Was weißt du schon davon?“
Robin wankte, konnte sich aber auf den Beinen halten, während Jack im Zimmer umherging und sich das Blut von der Wange wischte.
Noch nie war Robin so wütend gewesen. Ohne zu zögern nahm er allen Mut zusammen, ließ ihn sämtliche falsche Bescheidenheit ersetzen und erwiderte mit ausgestreckten Armen:
„Ich war hier, falls ihr das bemerkt habt! Ich hab‘ euch gesehen.“
Jack vermied es, den Jungen anzusehen, viel zu sehr quälten ihn seinen Gedanken.
Doch dann besann sich der Jüngere und versuchte zu beschwichtigen, zu vermitteln :
„Anthony hat seine Gründe, Jack!“
„Gründe...“ Jack stieß ein abwertendes Schnaufen aus.
Und auf einmal war Robin wieder er selbst, nur mutiger. Auch wenn er es nicht dürfte, verriet er dem anderen schließlich:
„Ich weiß, dass er dich liebt, aber er hat sich nun einmal dafür entschieden.“
Nun wurde Jack hellhörig, beinah misstrauisch. Der Kleine wusste etwas.
Er drehte sich zu ihm und sah ihn erwartungsvoll an:
„WOFÜR?“
Es kostete Robin Überwindung, es auszusprechen, aber dann schoss es wie eine Kanone aus ihm heraus:
„NICHT SCHWUL ZU SEIN!“
Als würde er auch Jack seine eigenen Probleme zu schreiben.
Gleich nachdem er es gesagt hatte, war Robin verstummt. Nachdenklich erinnerte er sich an das, was in der Bibliothek passiert war. Seine Zunge schien zu verätzen, ganz trocken.
Das Wort hatte Jack noch wütender gemacht, er tobte, bebte vor Zorn, lachte dennoch theatralisch:
„SCHWUL?“
Und schon trug er wieder die Grimasse einer Bestie, fauchte entsetzt:
„Sag mal, hast du’n Knall? Geh lieber wieder zurück in deinen Kindergarten.“
Eine Handgeste sollte Robin verdeutlichen, wie unwissend er doch war.
„Aber...“ , hauchte er verwirrt und gekränkt.
Jack ging ein paar Schritte, warf einen Blick aus dem Fenster, dem Sonnenuntergang entgegen, und klärte den Jüngeren energisch auf:
„Schwul ist nur eine Bezeichnung für übertrieben feminin, verweichlicht.“
Dann näherte er sich seinem „Bruder“ ein wenig, und fragte ihn direkt ins Gesicht:
„Wirke ich denn wie ne Tucke auf dich?“
Auch eines dieser Wörter, die der Kleine noch nie ausgesprochen hatte.
Ohne zu zögern hauchte er ein Nein und senkte beschämt den Kopf.
Der Langhaarige, der noch immer mit nacktem Oberkörper herum tobte, versuchte triumphierend zu grinsen, aber es gelang ihm nicht.
„Wenn dann ist er die Tucke...“ , murmelte er voller Verachtung gegenüber seinem Ex-Freund.
Doch im nächsten Augenblick kam die Erinnerung wieder, der falsche Hass hatte nicht lange gehalten.
„Und ich habe ihn...“ , schluchzte er und trat gegen die nächst beste Wand, immer und immer wieder.
Die Erinnerung an Anthony war unerträglich. Einerseits konnte er ihm nicht verzeihen, dass er ihn so zurückgelassen hatte, andererseits quälte ihn aber immer noch der Anblick von ihm, als er vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden gelegen hatte. Dass Anthony ängstlich vor ihm davongelaufen war.
Er hatte es nicht tun wollen!
Jemand rief seinen Namen, zog an ihm, doch er wehrte sich instinktiv, während seine Augen sich mit Tränen füllten.
Er kämpfte wieder gegen den Jungen, der seine Arme liebevoll um ihn zu schlingen versuchte, ihn trösten wollte.
Doch in ihrem dummen Kampf der Verzweiflung , verloren sie nur an Halt.
Jack sank kraftlos auf den Boden und ließ sich in Robins Arme schließen.
Der Junge konnte Jacks heiße Tränen spüren, hielt seinen sogenannten Bruder beschützend in seinen kleinen Armen, während auch seine Augen glasig wurden.
Er kannte Jacks Schmerz, besser als irgendein anderer Mensch.
Irgendwie waren sie einander ähnlich, auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussah.
Jacks strähniges Haar verbarg sein Gesicht, während das Blut seiner Wange an Robins Pullover gedrückt wurde.
Sein sonst so starkes Herz klang gebrochen, war schon lange gebrochen.
Als Robin sich gegen ihn lehnte, ihm den Trost spendete, den er selbst nur durch seinen Vater erfahren hatte, stach ihm die Klinge, die er während der Rauferei fallen lassen hatte, in die Augen.
Eine dunkle Vorahnung bemächtigte sich ihm.
Die Befürchtung, wie das alles enden würde.
Niemand konnte ahnen, dass Anthony in der Zeit auf ihrem Baumstamm, am See saß.
Obwohl er diesen Ort hatte meiden wollen, hatte er sich ganz von selbst auf seinen alten Platz niedergesetzt.
Doch Jacks Seite war leer.
Die andere Seite des Ufers schien undurchdringlicher denn je.
Er rauchte, hatte sich mit seinem Ellenbogen auf sein Knie gestützt.
Noch immer sah er die alte Frau an der anderen Seite, deutlicher denn je.
Ihre Einsamkeit schnitt ihm ins Herz, ängstigte ihn zu Tode.
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Mitten in der Nacht saß Jack wieder auf dem Dach, rauchend.
Er hatte einen Entschluss gefasst, einen Plan ausgeheckt.
Er hatte keine andere Wahl, sein Schmerz zerriss ihn von Minute zu Minute.
Mit dem Blonden in einem Zimmer schlafen zu müssen, war schon schrecklich. Zumal er nichts außer einem kalten Blick für Jack übrig hatte. Er hatte so gehofft, dass sein Song ihn dazu bringen würde, mit ihm zu reden.
Doch was hätte er ihm schon sagen sollen?
Anthony wollte nichts mehr von ihm wissen. Natürlich blieb ihm jetzt nur noch aufzugeben, die Schule ohne weiteres zu verlassen.
Aber das war nicht sein Stil.
Er würde trotz allem um seine Liebe kämpfen.
Darin war er gut, wenn bisher auch erfolglos.
Seine Vernunft warnte ihn, diesen Schritt zu gehen, aber sein Stolz zwang ihn dazu.
Er stand auf, seine Fußspitzen waren nur wenige Zentimeter vom Rand des Daches entfernt.
Wäre er doch gesprungen, aber dafür war es noch zu früh.
Der Vollmond blendete ihn, umhüllte ihn mit seiner eisigen aber liebevoll geplagten Kälte.
Er rief nach ihm und er antwortete mit einem bitteren Lächeln.
Als er dann durch das Fenster ins Zimmer zurückkehrte, fiel sein Blick unwillkürlich auf Anthony, der unruhig in seinem Bett schlief.
Während Jack dessen Rücken betrachtete, lehnte er seinen Kopf zärtlich gegen den Fensterrahmen, ohne lächeln zu können.
Würde es eine Tat aus Verzweiflung oder der Rache werden?
Er wusste es selbst nicht.
Seine Arme und Beine kämpften sich durchs Gestrüpp, waren fest entschlossen das Geheimnis zu durchdringen. Der Boden war auf dieser Seite des Sees fiel weicher und modriger, er versank darin mit seinen Boots.
Seine offenen Handflächen mit den dreckigen Fingernägeln drängten die dichten Äste zur Seite. Alles war schwarz, selbst den Himmel konnte man durch das dichte Blätterdach nicht sehen.
Aber er würde nicht aufgeben, diesen verborgenen Ort zu überbrücken.
Immer noch fror sein Hals, wie sehr ihm doch seine Kette fehlte.
Er sah nicht, dass die alte Frau ihn aus nicht allzu großer Ferne beobachtete. Sie lächelte.
Und schließlich sah er eine Lichtung, trat auf festes Gestein.
Hier war der Wald zu Ende.
Und er zog seine blutigen Hände aus dem Gestrüpp und schritt langsam seiner Entdeckung entgegen.
Weißer Himmel erstreckte sich über ihm, dessen Leere ihn verzauberte.
Umso mehr der Abhang, der zu seinen Füßen lag.
Neugierig sah er hinunter, nichts.
Plötzlich rutschte etwas Gestein unter seinen Füßen weg, er wäre beinah gestürzt.
Sein bitteres Lächeln.
Ja, hier war der richtige Ort für sein Vorhaben.
Die verzerrende Leere des Himmels wie ein weißer Strick, der ihn würgte.
Im nächsten Augenblick tauchte sie auf, sie hatte doch tatsächlich hier her gefunden.
„JACK?“
Wie ein Raubvogel wendete er sich zu dem rotblonden Mädchen, das nur wenige Meter von ihm entfernt stand.
Er hatte sie am frühen Morgen, als Anthony unter der Dusche gewesen war, über dessen Handy gebeten, an den See zu kommen, unter dem Vorwand, sich bei ihr für den Schock des gestrigen Auftritts entschuldigen zu wollen.
Natürlich unter Anthonys Namen.
Und sie war gekommen, blind in die Falle getappt.
Wie einfach es doch ablaufen konnte, wenn es falsch war.
„Was machst du hier?“ , fragte sie, deren müde Augen verrieten, dass sie in der Nacht kaum Schlaf gefunden hatte, misstrauisch, blickte sie sich suchend um.
„Wo ist Anthony?“
„Er wird nicht kommen.“ , antworte der Dunkelhaarige ihr schließlich, den unendlich tiefen Abgrund hinab schauend,
„Ich wollte mit dir sprechen, Jessica.“
Ein dunkler Schatten lag in seiner Stimme, in seinem Herzen. Seine Fäuste waren geballt, weißes Fleisch, das sich rot färbte.
Trotz ihrer Verwunderung und inneren Unruhe, verzichtete sie darauf, sich darüber aufzuregen, dass er sie herein gelegt hatte und erklärte sich einverstanden, zeigte Verständnis:
„In Ordnung Jack.“ , antwortete sie kooperativ, befeuchtete ihre Lippen und fragte erwartungsvoll:
„Worüber willst du mit mir reden?“
Darauf schnaufte Jack nur belustigt, starrte sie abrupt mit einem bestialischen Ausdruck an:
„Was glaubst du wohl?“
Ihre engelhaften Augen blinzelten vor Schreck über die tobende Wut in dem anderen, doch dann besann sie sich.
Sie konnte sich natürlich vorstellen, was ihm auf der Seele lag.
Mit ehrlicher Einfühlsamkeit erklärte sie dann vorsichtig, näherte sich ihm langsam:
„Ich weiß, dass er dir sehr wichtig ist, dass ihr die besten Freunde wart.“
In Jacks Ohren klang das mehr als beschwichtigend, durchweg heuchlerisch und verspottend, sodass er sie im nächsten Augenblick mit verurteilendem Zeigefinger anschrie:
„Wir waren mehr als Freunde! Du weißt nicht das Geringste über uns,
über Anthony!“
Er war kurz davor zu explodieren, schon jetzt, seine Krampfadern traten wieder hervor, er hatte sich kaum mehr unter Kontrolle, ertrug es nicht, in ihrer Nähe zu sein, die Art und Weise, wie sie mit ihrer süßen Stimme immer wieder seinen Namen aussprach. Zum Kotzen!
Doch sie trat ihm ganz uneingeschüchtert und ahnungslos entgegen, versuchte als einzige, es ihm offen und ehrlich zu erklären, ohne schlecht von ihm zu denken oder ihn als „perversen Irren“ abzustempeln.
„Ich weiß, dass er dich sehr vermisst,“ , offenbarte sie dem Jungen dann mitfühlend, senkte jedoch plötzlich den Blick,
„auch wenn er es nicht zugibt.“
Offenbar hatte sie einen Schwachpunkt, wie Jack mit seiner versierten Menschenkenntnis bemerkte, freudiger Weise.
Sie holte tief Luft, schien erkältet, dennoch versuchte sie es sich nicht anmerken zu lassen und mit fester Stimme zu dem ehemaligen Freund ihres Freundes zu sprechen, ihn zu verteidigen:
„Doch du hast einfach zu viel von ihm verlangt, ihn völlig für dich eingenommen.“
Ihre Worte ließen Jack zu Eis erstarren, mit solchen Vorwürfen hätte er nicht gerechnet.
„Du schadest ihm und deswegen ist es auch so weit gekommen,“ , sie hielt kurz inne, wollte nicht noch verletzender klingen, als diese Tatsachen ohnehin schon für Jack sein würden.
„...dass er dich jetzt HASST.“
Wie eine Kanone schoss es dann aus ihm heraus, auch wenn seine Vernunft ihn gewarnt hätte, dass diese Worte allzu kindisch und mitleidig waren:
„ER LIEBT MICH!“
Doch jeglicher Verstand und Sinn für die Realität hatten ihn schon verlassen.
„Nein, Jack!“ , erwiderte Jessica eifrig mit einer beruhigenden Geste,
„Das redest du dir nur ein!“
Dennoch verging Jack fast vor Zorn und Hass auf sie, lechzte nach Rache.
„Doch das tut er!“, schrie er abermals wie besessen, und dann das verächtliche Grinsen,
„Im Gegensatz zu dir!“
Wie erwartet ließ sie die Bemerkung sofort verstummen.
Die beiden Teenager standen sich mittlerweile unmittelbar gegenüber.
Ein gewisses MACHTGEFÜHL hatte den Musiker eingenommen, nun würde er zum Angriff übergehen.
Sie bis auf den Boden erniedrigen und demütigen, wie man es mit solchen verwöhnten Vorstadtmädchen am besten konnte.
„Glaubst du wirklich, dass das zwischen euch Liebe ist?
Er benutzt dich doch nur, um seinen Ruf zu bewahren!“
Trotz seines eigenen seelischen Dilemmas vermochte er es doch immer noch die Menschen mit seinem eiskalten Blick einzuschüchtern, in seinen zerstörerischen Bann zu ziehen.
Dem Mädchen war das Atmen ganz entfallen.
„Er hat sich wohl die erst Beste genommen.“
Mit einer niederträchtigen Grimasse und affektierten Stimme, in der ein Übermaß an Überlegenheit lag, brachte er sie dann in einen Zwiespalt:
„Ging ja auch ziemlich schnell bei euch nicht, wahr?
Hatte er denn vorher je Interesse an dir gezeigt?“
Er lachte: „Wohl kaum.“
Dann schob er sein Gesicht näher an ihres und verriet ihr besserwisserisch und grausam wie er war:
„Du kamst ihm gelegen, Schätzchen, weil wir uns zu dem Zeitpunkt gerade gestritten hatten.“
Vor ihren Augen schienen sich noch einmal die letzten drei Wochen abzuspielen und sie stand regungslos und klein vor ihm, als würde sie jeden Augenblick in sich zusammenbrechen.
„Aber...“ , hauchte sie kraftlos und mit feuchten Augen vor sich hin, während sie Jacks Atem auf ihrer blassen Haut spüren konnte:
„Du hast keine Ahnung von ihm, Jessi. Und das weißt du genau.“
Plötzlich wendete der Junge sich von ihr ab, ließ sie hilflos dort am Abgrund stehen, während er mit einer gewissen Belustigung aber auch Bitterkeit in der Stimme ergänzte:
„Ist ein Scheißgefühl, wenn man erkennt, dass man nur das Mittel zum Zweck ist, während er versucht, zu rehabilitieren.“
Der kalte Wind rauschte durch die Blätter, der See schien so nah und gleichzeitig nicht zu existieren.
Jack badete sich in seinem Triumph.
Eine Ewigkeit schien an ihnen vorbei zu rauschen.
Dann murmelte das enttäuschte Mädchen vor sich hin, ganz leis‘, damit es nur Jack hören konnte.
„Das heißt, dass ihr beide wirklich...“
Er hatte eine Hand in die Hosentasche gesteckt und mit der anderen hielt er die Zigarette, an der er heftig sog.
„Ja, wir waren ein festes Paar.“ , eröffnete er ihr stolz, überlegen und siegessicher.
„Wenn er dir wirklich vertrauen würde, hätte er’s dir erzählt!“
Ein weiterer Schlag ins Gesicht, sodass sie es in ihren Händen verbarg, ganz starr vor Kummer.
Es war so ruhig geworden, nur das Pfeifen des Windes und ihr aufgeregter Atem bezeugten seinen Racheerfolg.
Auf einmal jedoch formten ihre roten Lippen:
„Sicher hatte er einen GRUND.“
Und trotz des zischenden Windes drangen ihre Worte ganz deutlich in seine
Ohren.
„Was?“ , knurrte er zu ihr herüber und schritt wieder auf sie zu.
Als er vor ihr stand, hob sie ihr Gesicht, offenbarte ihre leeren Augen.
„Dich zu verlassen.“ , ergänzte Jessica dann langsam, mit einer grausamen Deutlichkeit.
Ein dumpfes Blinzeln ihres Gegenüber.
„Bei dir war er nicht glücklich, da er immer nur in deinem Schatten stehen musste.
Das hat er mir selbst gesagt.“
Obwohl ihre Worte schneidend und kränkend waren, hielt sie sie simpel, ihre Rache war simpel, darum umso effektiver.
Jack lief es eiskalt den Rücken herunter, seine Kehle trocknete aus, während seine Zigarette stumm verbrannte.
„Er war nicht gut genug für dich. Oder, Jack?“ ,
fragte sie ihn dann tatsächlich mit ihren Rehaugen, die genauso tugendhaft auf Wahrheit zielend auf einen einwirkten wie Anthonys.
Das widersprüchliche Verhalten des Mädchens peinigte ihn so sehr, dass der Angesprochene kurzerhand seine Zigarette auf den Boden fallen ließ, um sie an den Schultern zu packen und sie bedrohlich anzuschreien:
„Wie kannst du soetwas sagen?!“
Sein Griff war so brutal, dass sich auf ihr Gesicht ganz eindeutig ANGST legte.
Sie biss sich auf die Zähne, um ihren Schmerz zu unterdrücken, woraufhin Jack von ihr abließ, während er gedankenverloren murmelte:
„Wenn dann war ich nicht gut genug für ihn. Dieser kleine Bastard!“
Es juckte ihn unter den Fingernägeln, seiner ungeheuren Wut freien Lauf zu lassen, ihr weh zu tun.
Obwohl er sie mit seiner Unbeherrschtheit gequält hatte, hatte sie noch immer den Mut, ihm die Stirn zu bieten, indem sie ihn in Frage stellte:
„Nennst du sowas vielleicht Liebe?“
Jacks Gesicht legte sich in Falten und er starrte sie geistesabwesend an.
Und sie sprach in ihrer andauernden Souveränität weiter, ihre Augen durchdrangen ihn mit ihrer entblößenden Art:
„VIELLEICHT BIST DU JA GAR NICHT DAZU FÄHIG.“
Das gab Jack den Rest und sie hatte ihr Schicksal besiegelt.
Ohne zu überlegen konzentrierte er seine ganze aufgestaute Wut in seine muskulösen Arme, konfrontierte sie auf das Mädchen und versetzte ihr einen herben STOß, dass sie über die Klippe fiel.
„Halt den Mund!“ , schrie er aus ganzem Leib, mit vibrierenden aber blinden Pupillen.
Und auf einmal stand er allein auf dem Felsen.
Der Wind war verstummt. Er schritt nach vorn zu den sich in das Gestein krallenden kleinen Hände.
Er blickte hinunter und da hing sie, versuchte panisch Halt zu finden und sich wieder hinauf zu ziehen.
Nur ihre hilflosen, verzweifelten Laute, die in der Atmosphäre zu hören waren.
Tränen rannen ihr übers Gesicht, in dem Schürfwunden zu sehen waren, als sie zu dem Jungen hinauf sah.
„Jack!“ , stöhnte sie ängstlich, „Hilf mir rauf! Bitte!“
Wie ein Kind wandte sie sich hin und her, dem Tode nahe.
Doch hatte sich ein Schatten auf Jacks Gesicht gelegt.
Er blickte mit erhobenen Haupt zu ihr herunter, niederträchtig, sich an dem Anblick erfreuend.
„Jetzt winselst du.“ , grinste er.
Und seine Boots fuhren auf ihre kleinen, verkrampften Finger nieder.
Sie verzog das Gesicht, als er ihre Finger zu brechen drohte und sie an Halt verlor.
„Was tust du da...“ , keuchte sie weinerlich, in der Hoffnung, sie könnte an seine Vernunft appellieren, an den Jack, der damals Robin gerettet hatte.
Aber es war schon lange zu spät.
Er verlagerte sein Gewicht noch mehr auf seine Füße, mit denen er gewissenhaft immer stärker auf das wunde Fleisch drückte.
„Wie in Shakespeare.“ , sagte Jack dann bitter, hatte die Hände ganz gemütlich in die Hosentaschen gesteckt, als täte er nur etwas Nebensächliches.
„Ich kämpfe um meinen Geliebten, bis in den Tod.“
Doch zu einem richtigen schadenfrohen Lachen war er kaum fähig.
Ohne mit der Wimper zu zucken fixierten seine leeren Augen das von Schmerzen gequälte Opfer.
Sie hatte weniger Make-up aufgetragen, als er gedacht hatte.
Sie war tapfer, kämpfte mit aller Kraft um ihr Überleben.
„Jack, tue das bitte nicht!“
Ein Unterton, der ihm sagen sollte, dass sie durchaus wusste, weswegen er es tat.
„Hilf mir...“, flehte sie, doch die Erdanziehungskraft zerrte immer stärker an ihr, sie würde jeden Moment fallen.
Ihre Knochen knackten unter Jacks Lederboots.
Er sagte ausdrucksloser, freudloser, denn je:
„Und habe gewonnen.“
Und ihre Hände lösten sich, sie fiel und ein markerschütternder Schrei hallte durch die Landschaft.
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Robin lief so schnell er konnte.
Er konnte es sich auch nicht erklären, aber ein seltsames Gefühl hatte ihn gepackt, ihn in den Wald geführt.
Nachdem er Jack heute morgen in Anthonys Sachen schnüffeln gesehen hatte, nachdem er ihn auf dem ganzen Schulgelände nicht hatte finden können, war er seinem übersinnlichen Instinkt gefolgt, der ihn direkt an den Ort des Geschehens brachte.
An einem Abgrund, an dem er den Langhaarigen reglos auffand.
Er konnte seine Augen nicht sehen.
Wie er da so in einer unheimlichen Lethargie stand und hinunter starrte, befürchtete Robin zuerst, Jack wollte jeden Augenblick springen.
So stürmte der Jüngere wie der Wind zu ihm und krallte sich an dem Sportler, um ihn von seinem anscheinenden Vorhaben abzubringen.
„Jack, was...“
Doch als er ihn gerade hysterisch anschreien, gegen seinen Selbstmord argumentieren wollte, warf er einen Blick über die Klippe und blankes ENTSETZEN legte sich auf das mit Sommersprossen verzierte Gesicht.
„Oh, mein Gott!“
Der Anblick der blutverschmierten Leiche verstörte den 14-jährigen völlig, sein Herz war stehen geblieben und er konnte kaum atmen.
„Was hast du getan?!“ ,
schrie er Jack, der regungslos auf seinen beiden Beinen, in seinen schwarzen Schuhen stand, voller Entsetzen an, zerrte an seiner Jacke, immer weiter zu sich, um ihm direkt ins Gesicht zu brüllen:
„Was hast du getan???“
Doch der langhaarige Junge war nicht fähig zu sprechen.
Eine todesbleiche, todesgleiche, Miene stach ihm entgegen, die zu keiner Reaktion bereit war.
So ließ sich Robin von seinem Schockzustand übermannen und schlug dem anderen mit voller Wucht ins Gesicht, mehr als ein Mal, ohne dass er auf Widerstand stieß.
Gleich darauf sank der Junge zu Boden.
„Oh, mein Gott!“ , jammerte er immer wieder vor sich hin, verbarg sein Gesicht unter seinen schmerzenden Händen, fing seine unersättlichen Tränen auf.
„Sie ist tot, sie ist tot....“
Er hatte ein TRAUMA, konnte nicht mehr klar denken.
Der Anblick hatte einen Kurzschluss in ihm ausgelöst, er schien zu fallen, immer tiefer und tiefer, als würde der Boden unter seinen Füßen weg brechen und er wie das Mädchen auf dem Grund zerschellen.
Er vergaß völlig, wer er war, hatte nur immer wieder die Leiche vor Augen.
Sowie den Zigarettenstummel, der noch immer brannte.
Doch plötzlich das Geräusch von Schritten, Jack setzte unaufhaltsam einen Schritt vor den anderen, dem Abgrund entgegen.
Trotz der Übelkeit, der Kraftlosigkeit vermochte Robin kurzerhand aus der Hocke auf seine beiden Beine zu schnellen und sich auf den lebensmüden Jungen, MÖRDER, zu stürzen.
„Nein, tu es nicht, Jack!“ , schrie er und versuchte den Älteren nach hinten zu drängen, krallte sich immer fester an seiner Taille und weinte noch kläglicher.
„Das darfst du nicht!“
Ohne den Blick von seinem Ziel abzuwenden, zischte Jack, sich dem Griff des Kleinen widersetzend:
„Lass mich los!“
Wie ein typischer älterer Bruder versuchte er ihn von sich zu schütteln.
Doch Robin war festen Willens ihn nicht auch noch zu verlieren:
„Nein, das werde ich nicht zulassen!“
Augenblicklich sprang er von der Seite auf ihn zu und zog ihn mit sich, sodass die beiden auf den harten Boden knallten, nicht ohne Verletzungen.
Wie ein Wilder hängte sich Robin an seinen Hals, drückte sich eng an ihn und weinte:
„Du darfst mich nicht auch noch verlassen!“
Eine ganze Weile lagen sie so da und die ganze Welt schien an ihnen vorüberzuziehen.
Kein Laut, kein göttlicher Blitz, der die beiden STRAFTÄTER erreichte.
Robin zerrte Jack so schnell wie möglich zurück zur Schule und er wehrte sich nicht.
Es lag nun an dem Jüngeren, ob sie gefasst wurden oder nicht.
Er wusste zwar noch immer nicht, wie es dazu gekommen war, dass Jack Jessica umgebracht hatte – er sollte es auch NIE erfahren – aber er ließ trotzdem nichts unversucht, die beiden in Sicherheit zu bringen.
Jack war nur noch eine leblose Hülle, die sich von dem Kleinen an diesen grässlichen, gefährlichen Ort, die Höhle des Löwen, sobald sie die Leiche finden würden, bringen ließ.
Kurz darauf durchquerten sie die Schulgänge.
Alle schienen sie anzustarren und doch wieder nicht.
Robin glaubte, sie wüssten schon längst von Jessicas Tod, von ihrem Verschwinden, doch er irrte sich.
Viel mehr lagen Jacks gestriger Auftritt und unvermeidliche Suspendierung dem Getuschel zu Grunde.
Doch ihm schien das gar nicht mehr zu erreichen.
Viel zu sehr war er in seiner eigenen Welt gefangen, folgte den Jungen willenlos, musste sich von ihm sogar zerren lassen.
Robin passierte die Gänge mit gesenktem Haupt, wegen den Tränenspuren, die wohlmöglich noch in seinem Gesicht zu sehen waren.
Er glaubte Paul inmitten der Menge gesehen zu haben, konnte ihm aber keine Beachtung schenken, worauf dieser seinem Freund nur besorgt nachschaute.
Der Junge mit den unterschiedlichen Augen konnte sich selbst nicht dafür rechtfertigen, warum er Jack nicht ins Direktorium brachte und allen von dem Mord erzählte.
Aber das brachte er einfach nicht fertig!
Das wäre in seinen Augen genauso falsch gewesen, wie es geheim zu halten.
Immerhin lag das Mädchen jetzt Tod da unten im Tal.
Er konnte gar nicht daran denken, ohne nicht wieder den Drang zu verspüren, sich übergeben zu müssen.
Irgendwie schaffte Robin es, den anderen bis in die oberste Etage zu bringen.
Im Gegensatz zum ersten Mal, dass sie die Stufen bestiegen hatten, ging ER nun voran, ohne natürlich irgendein Triumphgefühl zu hegen.
Er konnte gar nichts mehr fühlen, außer Angst und Schuld.
Glücklicher Weise war Anthony nicht in ihrem Zimmer, was vielleicht besser für alle Beteiligten gewesen wäre.
Ob er schon von Jessicas Verschwinden gehört hatte?
Vielleicht suchte er sie schon.
Robin setzte Jack seinem Bett ab, ohne ihn in die Nähe von Anthonys Territorium kommen lassen zu wollen.
Das hätte alles wohl noch schlimmer gemacht!
Noch vor wenigen Stunden, dass Jack in diesem Zimmer gestanden und die Nachricht abgeschickt hatte, hatte Anthonys Freundin noch gelebt.
Robin setzte sich neben den Älteren, der keinen Laut, keinen Atemzug von sich gab.
So saßen sie wortlos auf seinem Bett, starrten in die Leere, mussten der Realität ins Gesicht sehen.
All die Angst, all der Scham und die Probleme zwischen den beiden Jungen waren erloschen.
Das zählte schon lange nicht mehr.
Niemand hätte ahnen können, dass soetwas passieren würde, dass sie so etwas zusammenschweißen würde.
Während der Minuten fiel Robins Blick auf sein Tagebuch, auf den Block mit den Zeichnungen von Jack und Anthony.
Ja, so hatte alles angefangen.
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„Was, Christine ist verschwunden? Seit heute morgen?“ , fragte der Blonde überrascht in den Telefonhörer.
Anthony stand an den Telefonautomaten der Schule.
Soeben hatte er Jessica zu erreichen versucht, doch nur seine Schwester Christine, deren Zimmergenossin, hatte reagiert.
„Nein, ich habe sie nicht gesehen seit gestern.“
Seine Finger spielten noch immer mit der Telefonschnur, eine alte Angewohnheit.
Immer noch schmerzte sein Rücken, er konnte kaum aufrecht stehen.
„Hat sie dir wirklich nicht Bescheid gegeben?“ , fragte er noch einmal hoffnungsvoll nach.
Doch Christine verneinte, war genauso beunruhigt wie Anthony.
Er machte sich ehrliche Sorgen um seine Freundin.
Eine Ahnung spukte durch seinen Kopf, aber er redete sich ein, dass sie sich jeden Augenblick bei ihm melden würde.
Sicherlich.
Obwohl Jessica nicht zu den aufdringlichen Mädchen gehörte.
Der Nachmittag verging, Stunden um Stunden, ohne dass ein Wort über das Ereignis fiel.
Glücklicher Weise hatten sie heute keinen ernsthaften Unterricht.
Robin hatte sich in die Aula geflüchtet, wo keine Menschenseele zu finden war.
Wäre er in die Kirche gegangen, hätte es ihn zum Beichtstuhl gezogen.
Das hätte er nicht riskieren können.
Außerdem war er noch immer nicht bereit, es jemandem zu gestehen.
Immerhin betraf es mittlerweile auch ihn, er trug sozusagen eine gewisse Mitschuld, in jeder Hinsicht.
Er hatte seine Geige hierauf getragen, holte sie aus dem Kasten, legte sie möglichst liebevoll an sein Kinn und ließ den Bogen über die Saiten streifen.
Noch ehe er ihn in seinen zitternden, mit kaltem Schweiß bedeckten kleinen Händen genommen hatte, wusste er, dass etwas in ihm lauerte, darauf wartete, ERLÖSUNG zu finden.
Nun würde er anders spielen als sonst.
Noch ehe er die erste Note gespielt hatte, überkam ihn ein Energieschwall, der seinen Arm in heftige aber dramatisch betonte Bewegungen versetzte. Klagende, herzzerreißende Klänge entrannen seiner Seele, erfüllten den Raum mit Kummer und verzerrender Pein.
Ein Wirrwarr des Gewissens.
Zur selben Zeit stand Jack seelenallein in der Mitte der Turnhalle.
Er hatte sich von Robin losgesagt, von seiner körperlichen Lethargie.
Dennoch war er innerlich noch immer taub, seine Augen waren nur zwei pechschwarze Tümpel.
Er hatte einen Volleyball in der Hand, mehrere umgaben ihn, schienen näher zu kommen und ihn unter sich zu begraben.
Jedenfalls hoffte er das.
Er warf den Ball hoch in die Luft – es war viel zu hell in diesem Raum, da draußen, obwohl die Sonne gänzlich verschwunden war.
Und als er gegen das Leder schlug, brach eine Welle der Wut und des Hasses, der puren Verzweiflung, aus seinem Körper nach außen, sodass der Ball einen solchen Schlag erlitt, dass er wie ein scharfer, rasanter Blitz am anderen Ende der Turnhalle auftraf.
Affektierte, schrille und nervöse Töne drangen qualvoll durch die Aula.
Der Junge konnte sich kaum halten, biss sich fest auf die Zähne, sein ganzer kleiner Körper war verkrampft, vibrierte, brannte innerlich lichterloh.
Wieder und wieder ließ Jack seine Wut an den Bällen aus. Wie Bomben schlugen sie auf den staubigen Holzfußboden ein.
All seine menschliche Kraft schien er los werden zu wollen, während er wie ein Besessener drauf los schlug, wie er Portlands Gesicht geschlagen hatte.
Selbsthass gärte in ihm auf, er schrie abermals, so laut, dass es mir Robins wüster Musik mithalten konnte.
Sie konnten es nicht lange geheim halten, das würde sie zerstören.
Im nächsten Augenblick packte Robin seine geliebte Violine an den Hals, hielt sie hoch über sich und ließ sie mit rasanter Geschwindigkeit auf den Boden unter seinen Füßen niederfahren.
Mit all seiner Kraft zertrümmerte er sie, TÖTETE er sie in seinem Wutanfall.
Tränen wurden mit dem Sog getragen, landeten irgendwo auf dem Parkett.
Jack hatte den letzten Ball in seinen Händen behalten, hielt ihn beschützend, obwohl er auch ihn zerschmettern wollte.
Er hatte einen Entschluss gefasst.
Es war das einzige, das er tun konnte, das er noch verdiente.
Er hatte es von Anfang an vor gehabt. Dieses Mal würde ihn niemand aufhalten.
Auch wenn er den Kleinen enttäuschen würde, er hatte keine andere Wahl.
Und es war sicher kein Gedanken, der ihm fremd war.
Den letzten Ball ließ er plump zu Boden fallen, GNADE.
Robin war zu Boden gesunken, hatte seine Arme um seine Knie geschlungen und sich eingekauert.
Er weinte bitterlich in den Stoff seiner Hose.
Alles war vergangen, die Musik, die Liebe, das Leben.
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So schnell wie möglich war Christine mit dem Fahrrad über den Campus gefahren, ins Gebäude geeilt, um Anthony zu finden.
Dieser war gerade auf den Weg in die Aula.
Wegen der ganzen Sorgen und Depressionen wollte er sich mit dem Klavier Spielen ablenken. Auch wenn er es in der letzten Zeit lieber gemieden hatte, ein letztes Mal.
Plötzlich, kurz bevor er in den großen Musikraum trat, hörte er jemanden seine Stimme rufen.
Seine ihm ähnliche, ältere Schwester rannte auf ihn zu.
An ihrem Gesicht merkte er, dass etwas mit Jessica zu tun hatte.
Doch war sie so erschöpft, dass sie erst einmal nach Luft ringen musste, während sie sich auf ihre Knie stützte.
Neben Jack war sie wohl die lebhafteste aus der Familie gewesen.
„Hast du etwas von ihr gehört?“ , fragte er ungeduldig auf sie nieder.
„Hast du...“ , sie prustete heftig, richtete sich dann aber langsam auf,
„Hast du ihr heute morgen eine SMS geschickt?“
Sie zeigte ihm Jessicas Handy.
„Nein.“ , antwortete Anthony verwirrt, las sich die Nachricht flüchtig durch,
„Das kann ich gar nicht gewesen sein.“
Dann warf er einen Blick auf die Zeitangabe und legte sein Gesicht noch mehr in Falten:
„Um diese Urzeit bin ich immer unter der Dusche.“
Das beunruhigte nun auch seine Schwester.
Schulterzuckend fragte sie den Jüngeren:
„Wer hat sie dann abgeschickt?“
Natürlich muss es einer von den anderen beiden gewesen sein.
Er wendete sich von seiner Schwester ab, versuchte sich seine Befürchtung vorzustellen.
Doch dann sah er, dass sich bereits jemand in der Aula aufhielt.
Bei näherer Betrachtung erkannte er, dass es Robin war, der regungslos auf dem Boden saß.
Unmittelbar schritt Anthony zu dem kleinen Jungen, der ihnen sicher bei ihrem Problem weiterhelfen konnte.
Jedoch war dem Blonden, als er die demolierte Violine bemerkte, plötzlich viel mehr daran gelegen, zu erfahren, was mit dem Kleinen los war.
Vorsichtig näherte er sich ihm, streckte ihm seine Hand entgegen, um ihn an der Schulter zu berühren, ihn auf sich aufmerksam zu machen.
„Robin...“ ,
flüsterte Anthony besorgt, musste jedoch mit ansehen, wie der Jüngere bei seiner Berührung, bei seiner Stimme hysterisch zusammenzuckte und ihn mit großen, feuchten Augen anstarrte.
Dieser mitleiderregende Anblick beunruhigte den Älteren sehr.
Noch nie zuvor hatte er Robin so derartig affektiert und verstört erlebt.
„Robin, was hast du?“ , fragte er den Jungen und hockte sich zu ihm hinunter.
Eine Weile fixierte der verzweifelte Geiger, der Junge mit den verschiedenfarbigen Augen, sein gegenüber, wurde unmittelbar mit seiner Gewissensbisse konfrontiert, war zu Eis erstarrt.
Doch dann hauchten seine Lippen, von der salzigen Flüssigkeit seiner Augen benetzt:
„Jack...“
Anthonys kastanienfarbige Augen blinzelten stumpf.
„Was ist mit ihm?“ , fragte der Ältere mit heiserer Stimme.
„Er wird sich umbringen.“
So stand er dort, in derselben Kleidung, die er am Morgen getragen hatte, an der selben Stelle, an der er sie getötet hatte.
Noch immer lag ihr Körper am Rande des Felsens.
Das Bild hatte sich nicht geändert.
Nur noch wenige Zentimeter bis zum Ende, bis zum unvermeidlichen Tod.
Er setzte einen seiner Füße über den Abgrund, kostete von der Gefahr und der Todesangst, die ihm bevor standen.
Er würde diese Welt verlassen, endgültig und es bedeutete ihm nichts.
Das einzige, das in seinem Herzen wohnte, das er sich die ganze Zeit und gerade jetzt vor Augen hielt war ER.
Aber was konnte das jetzt schon bedeuten?
Auch wenn er selbst immer die Kämpfernatur, der Überlebenskünstler gewesen war, hatte er schon immer das Gefühl gehabt, dass seine Zeit schon längst abgelaufen war, vielleicht gar nicht erst anfangen hätte sollen.
Denn es hatte nur wenige Momente in seinem Leben gegeben, in denen er wirklich ein wenig Glück erfahren hatte. Die, in denen er die Liebe in sein Herz gelassen hatte.
Doch sie langen schon lange zurück, würden nie wieder ausgegraben werden.
„Meinst du, das wäre Strafe genug, Jack!“
Plötzlich erreichte ihn eine Stimme vom weitem.
Obwohl seine Ohren sie wohl kannten, glaubte er zuerst, das Mädchen mit den roten Haaren dort drüben zu sehen, als würde er in einer Zeitschleife stecken und noch einmal eine neue Chance bekommen.
Doch schließlich war das nur eine Wunschvorstellung und die Person, die er jetzt am wenigsten sehen wollte, wartete auf ihn.
„Anthony..“ , hauchte Jack mit leiser Stimme, „Du bist es...“
Sogleich wandte er sich aber wieder seinem Vorhaben zu, versuchte dem Jungen keine Beachtung zu schenken.
Es wunderte den Langhaarigen nicht, dass der andere im nächsten Moment auf ihn zu gestürmt kam, sich ihn hektisch krallte und ihn zu sich zog.
„Wage es nicht, zu springen, hörst du!“ , fauchte er in Jacks Ohr, ergänzte dann aber:
„Nicht wegen MIR!“
Das verschlug Jack die Sprache.
Er war sicher gewesen, Robin hätte es ihm erzählt.
Nun stand er vor einer neuen Herausforderung, einer Bürde, die ihn fast so schwer fallen würde wie der Mord.
„Du weißt es nicht...“ , murmelte der Dunkelhaarige geistesabwesend.
„Was?“ , erwiderte Anthony dann aggressiv.
Jack holte tief Luft, wies auf den Abgrund und sagte:
„Sieh nach unten!“
Ahnungslos und verwirrt folgte Anthony Jacks Blick und entdeckte SIE.
Seine Hände entkrampften sich abrupt und ließen von Jack ab.
Wie betäubt stand der Blonde da, seine Pupillen waren bis aufs Minimale geschrumpft.
„Gott! Das...“ , stotterte er schockiert, sank sogleich auf seine Knie, als hätte ihn jegliches Leben verlassen.
„...JESSICA!“ , krächzte Anthony erschüttert, versuchte dem Abgrund immer näher zu kommen, als würde er nach ihr greifen und sie hinauf holen wollen.
Er wäre beinah hinunter gestürzt.
Jack stand in steifer Haltung neben ihm, gestand schließlich:
„Ich habe sie hinunter gestoßen.“
Diese Offenbarung ließ Anthony sich der Erdanziehungskraft widersetzen, indem er in einer ruckartigen Bewegung zu dem anderen empor blickte:
„WAS?“
Sein Herz drohte zu zerspringen und jeglicher Sauerstoff zu spät zu kommen. Er starrte und starrte Jack, seinen ehemaligen Geliebten, ununterbrochen an, aber dieser wagte es nicht, ihn nun mehr in die Augen zu sehen.
Dann wurde es Anthony blitzartig klar und während er nochmals hinunter auf die Leiche starrte, murmelte er mit ausdrucksloser Stimme:
„Du hast sie in den Glauben mich zu treffen, hierher gelockt.“
„JA.“ ertönte als bloße Antwort.
Anthonys feuchte Augen hefteten immer noch an dem Jüngeren.
Er stob krabbelnd zurück, schrie hysterisch:
„Wie konntest du nur, Jack?“
Panik befiel ihn, die Angst, das nächste Opfer sein zu können.
„Ich erkenne dich nicht wieder!“ , jammerte er einem Schüttelanfall erlegen.
Seine ohnehin schon geschädigten Nerven konnten dem nicht stand halten, sein Körper schien zertrümmert und er war nun mehr unfähig, zu flüchten oder Jack als Racheakt von der Klippe zu stoßen.
Doch dieser blieb noch immer an Ort und Stelle stehen, sagte, immer noch in die Ferne blickend:
„Sie hätte mich am meisten hassen sollen. Tat es aber nicht.“
Doch dann nahm er allen Mut zusammen und drehte sich zu Anthony, fuhr fort:
„IM GEGENSATZ ZU DIR.“
Wie er vorausgesehen hatte, traf er auf einen Gesichtsausdruck, der kaum in Worte zu fassen war, unendliche ABSCHEU und tödlicher HASS im Gesicht seines Geliebten, der ganz allein nur ihm galt.
Tränen tanzten in seinen Augenlidern, wurden jedoch nicht freigelassen.
Diese Genugtuung wollte Anthony weder Jack noch sich selbst gestatten.
Nun wendete er sich direkt an den Blonden, stellte sich direkt vor ihn, in einer Art und Weise, wie er zuvor noch nie gewesen war.
Reuevoll und aufrichtig:
„Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Ich wollte dich nicht verletzten!“
Dabei behielt er zum einen das Geschehen in der Dusche, zum anderen den Mord an Anthonys Freundin im Auge.
Dieser Junge hatte ihn retten wollen, trotz der Gewalt, die er ihm zugefügt hatte.
Dennoch schoss es im nächsten Moment aus Anthony, der kein Mitleid, kein Erbarmen, aufbringen konnte, heraus:
„Doch, das wolltest du! Du hast sie getötet.“
Ein unheilvolles Seufzen entrann seiner Stimme.
Und er hatte allen Grund dazu.
Ja, all der Hass, den Jack für ihn empfunden hatte, war erstickt, nun, da er etwas weitaus Schrecklicheres als er getan hatte.
Der langhaarige Junge mit den azurblauen Augen nickte verständnisvoll:
„ICH WEIß UND DARUM MUSS ICH AUCH SPRINGEN.“
Der stumme Wind, der auf ihn wartete.
„Es gibt in dieser Welt nichts mehr für mich.“
Beinah hoffnungsvoll fragte er den anderen „Nicht wahr?“
Doch er hatte kein Recht mehr darauf, auch nur irgendetwas anderes als Verachtung von dem Blonden zu erwarten.
Es war vorbei. Die braunen Augen versicherten es ihm.
„Die einzige Person, die mir etwas bedeutet hat, warst du.“
Wie merkwürdig diese Worte doch für ihn waren, aber selbst jetzt verspürte er Anthony gegenüber dafür keinen Scham.
Zumindest das war er ihm schuldig.
Er vermochte nichts mehr in Anthonys Augen zu lesen, gönnte es sich nicht.
Obwohl, ein kleines Blinzeln war da doch gewesen...
„Ich verstehe, warum du es getan hast.
Ich verstehe auch, warum, du mich nicht aufhalten wirst.“
Anthonys Fäuste pressten sich unaufhaltsam in das harte Gestein unter ihm. Seine Tränendrüsen hatten versagt, sich dem Kummer und dem Schmerz ergeben.
Schon schmeckte er das Blut auf seiner Zunge, das aus seiner Unterlippe rann.
„Ich würde und kann mir das auch nicht verzeihen.“
Jack begann einige Schritte zurückzugehen, ohne darauf aufmerksam machen zu wollen, während Anthony dies mit Entsetzen beobachtete.
„Du warst immer stärker als ich, lebensfähiger als ich.“ ,
gab Jack endlich zu, erinnerte an die Zeit, die Partnerschaft, die die beiden zusammen verbracht und geführt hatten.
Ein kleines Lächeln lag auf den Lippen des Jüngeren.
Noch bevor er sich umdrehte, fiel ihm noch ein:
„Bitte kümmere dich um Robin. Der Kleine wird es nicht verstehen.“
Anthony nickte nur, während der Klos in seinem Hals ihn zu ersticken drohte.
Wortlos beobachtete er, wie seine Liebe sich von ihm abwandte und zum Abgrund hinüber schritt.
Doch dann rief er alarmierend aus:
„Jack...“
Der Gemeinte zuckte zusammen, schien inne zu halten, bis er sich ein letztes Mal zu ihm umdrehte.
Er betrachtete ihn liebevoll und schenkte ihm ein unvergleichliches Lächeln, das Anthony ins Fleisch stach.
Dann musste er mit ansehen, wie er die Arme ausbreitete, den Kopf in den Nacken legte, sodass sein Haar sanft vom Wind umspielt wurde, und sich der Schwerkraft ergab, ganz und gar von seinem Horizont verschwand, nichts als LEERE hinterließ.
Kein einziges Geräusch folgte, dennoch spürte Anthony deutlich, wann Jack seinen letzten Atemzug tat und sein Herz zum Stillstand kam.
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Lähmende Stille umgab ihn, zwickte den Blonden unbarmherzig.
Er saß noch immer da, aufgestützt auf seinen Armen und mit angewinkelten Knien, eine Ewigkeit.
TRÄNEN flossen nun endlich über seine Wangen.
Wie damals, als er als kleiner Junge erfahren hatte, dass seine geliebte Mutter bei seiner Geburt gestorben war.
In seiner Kindheit hatte er immerzu geweint und sein Vater hatte ihn dafür ausgeschimpft und verprügelt.
So hatte er es vermieden, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, es verlernt.
Neben seiner Mutter war Jack der einzige gewesen, dem er seine Tränen geschenkt hatte.
Nun war sein Geliebter tot und er, Anthony Levoy, lebte.
Eine Ewigkeit saß er da, wie eine Statue, die Statue der Niobe.
Und er hörte ihre Stimmen aus der Ferne, sie hatten den See entdeckt, zerstörten ihn und sein Geheimnis.
Die alte Frau würden sie nicht finden, da ihr einsamer Geist IN Anthony weiterleben würde.
Er hatte sich für das Leben entschieden und musste den PREIS dafür bezahlen.
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EPILOG
Der Junge schloss die Tür hinter sich, trat einen Schritt nach vorn und stand zwischen seinen zwei Koffern.
So bückte er sich, umschloss die beiden Griffe mit seinen Händen und nahm die spiralförmig angelegte Treppe in Angriff, ganz allein.
Bei jedem Schritt, den er machte, glaubte er vor seinen Füßen die schwarzen Boots zu sehen, ihn vor sich hergehen zu sehen, wie damals bei seiner Ankunft.
Robins hellbraunes Haar tanzte.
Er verließ das Internat.
Sie hatten die Leiche gefunden, beide Leichen, am Rande des Abgrunds.
Im Gegensatz zu seiner Violine.
Er hatte gehört, dass Anthony wohl völlig apathisch daneben gesessen hatte.
Sie hatten ihn gleich danach in eine ANSTALT eingewiesen, zum einen um seinen seelischen Zustand zu behandeln, zum anderen weil er trotz allem verdächtigt wurde,
die beiden Morde begangen zu haben!
Immerhin existierte immer noch die Nachricht von ihm auf Jessicas Handy.
Und Robin hatte nichts entkräftigt, nichts klargestellt, weder, dass er gewusst hatte, dass Jack Selbstmord begehen würde, noch dass dieser Jessica getötet hatte.
DIESES GEHEIMNIS WÜRDE ER MIT INS GRAB NEHMEN.
Den Schlamassel mit den beiden Toten hatten sie sich selbst zu verdanken.
Immerhin hatten sie es zugelassen, dass es soweit mit Jack gekommen war, nur wegen ihren konventionellen Ansichten,
ihre Kinder zu opfern.
Robin wollte nicht länger etwas mit solchen Leuten zu tun haben, weder mit der Kirche noch mit reichen Fanatikern.
Er würde wieder zu seiner Tante Evelin fahren, sie bitten, ihn zu endlich adoptieren.
Nachdem er das Schulgelände passiert hatte, stellte er dem Taxifahrer seine Koffer vor die Füße, damit dieser sie ins Auto laden konnte.
Dann stieg er in den Wagen, schnallte den Gurt und hielt plötzlich inne.
Nun fiel ihm ein, dass er noch einen wichtigen Zettel in seiner Jackentasche aufbewahrt hatte.
Er fasste hinein und zog das Blatt Papier, auf dem eine Adresse stand, hervor.
ES WAR PAULS ADRESSE.
Mit einem Lächeln schob er sie wieder zurück.
Der Taxifahrer war noch immer draußen, Robin lehnte sich gemütlich zurück.
Er starrte gedankenverloren ins Verdeck und sagte dann:
„Siehst du, dieses Mal hab ich’s allein geschafft!“
Im nächsten Augenblick drehte er sich zur anderen Seite des Sitzes.
Ein Junge mit schwarzer Sonnenbrille und langen dunkelbraunen Haaren saß in seinem coolen Mantel neben ihm.
Eine Kaugummiblase wuchs aus seinem Mund, wurde immer größer und größer, bis sie plötzlich platzte und ihm übers ganze Gesicht klebte.
Auch Robin hatte etwas abbekommen.
Doch anstatt sich zu beschweren, brach er plötzlich in herrliches GELÄCHTER aus.
Der Taxifahrer hatte den Kofferraum verschlossen und stutzte, als er den unscheinbar wirkenden Jungen plötzlich laut lachen hörte.
„Diese Jugend...“ , murmelte er und schüttelte grimmig den Kopf.
Dann nahm er auf dem Fahrersitz Platz und startete den Wagen.
Sie fuhren den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Doch dieses Mal würde Robin die Abzweigung in die richtige Richtung nehmen.
Denn auch er hatte sich entschieden, den WEG DER WAHRHEIT zu beschreiten.
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2011
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