Jetzt stehe ich hier.
Hoch oben, auf dem Rand einer Mauer, die man eigentlich nicht erklimmen sollte. Die dort steht, damit genau das, was ich vorhabe, nicht geschehen kann. Die schwarze Nacht umschließt mich mit ihrer eisigen Umarmung und ein kalter Wind streift über meine nackten Arme. Mir ist kalt, eine Gänsehaut hat sich meines gesamten Körpers bemächtigt und ich zittere, wie ein Kind, das Angst hat den ersten Schultag alleine zu bewältigen.
Aber es ist keine Angst.
Weit unter mir durchschneiden einzelne Lichtkegel aus beleuchteten Fenstern die Dunkelheit. Es ist still hier oben – eine einsame, beinahe beängstigende Stille und würde nicht hin und wieder das Geräusch eines fahrenden Autos, dessen Reifen auf dem nassen Asphalt summten, zu mir nach oben dringen, könnte ich glauben, dass ich der einzige Mensch in dieser Stadt wäre. Das bin ich natürlich nicht, aber der Gedanke bringt mich dennoch dazu leicht zu lächeln.
Wie schön diese Vorstellung doch ist.
Alleine in dieser Stadt. Niemand, der den Blick missbilligend heben könnte, niemand, der ohne einen Blick an einem vorbei ginge. Niemand, der die Einsamkeit stören könnte, die mit den Jahren mein bester Freund wurde. Ein Freund, den ich gleichermaßen liebte und hasste. Ein Freund, den ich verabscheute und doch so sehr brauchte.
Und niemand war hier um diesen stillen Moment zu stören.
Mein Blick wandert zum Himmel und ich stelle wieder einmal fest, dass keine Sterne zu sehen sind. Sterne stehen für Hoffnung und ich bin froh, sie nicht sehen zu müssen, denn ich habe keine Hoffnung mehr. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich sie jemals besaß.
Der Himmel ist dunkel, eine Mischung aus Grau und Schwarz, verursacht durch die vielen Irrlichter der Stadt. Richtig dunkel, schwarz, wie er in einer Nacht wie dieser sein sollte, ist der Himmel hier nie. Aber das spielt auch keine Rolle mehr.
Mir fröstelt es und ich richte den Blick wieder nach vorne.
Hat eigentlich schon jemand gemerkt, dass ich hier oben stehe? Fragt sich jemand genau in diesem Moment, welche Umstände mich hier hoch gebracht hatten, welche Verzweiflung einen jungen Menschen wie mich dazu trieb hier zu stehen? Mir den scharfen Wind um die Ohren wehen zu lassen und abzuwägen, wie lange der Fall nach unten dauern würde?
Alarmierte vielleicht gerade in diesem Moment, in dem ich mich fragte, ob es wirklich klappen könnte, jemand irgendeine Behörde, die mich davon abbringen sollte? Die auf mich einreden würde und mich dazu bringen wollte von der Mauer zu treten und nach Hause zu gehen? Mich in die Behandlung eines fähigen Psychologen, oder wie auch immer man sie nannte, zu begeben und eine andere Lösung zu finden?
Ich hoffe nicht.
Für diese Situation, für dieses Leben, dass sich mein Eigen schimpfte, gab es keinen anderen Ausweg. Ich hole tief Luft, lasse den Blick noch einmal zum grauen Himmel schweifen und rieche den Regen, der in der Luft hängt und unweigerlich irgendwann in dieser Nacht auf den Boden prasseln wird. Es ist mir egal – selbst wenn es jetzt bereits wie aus Eimern schütten würde, wäre es mir egal.
Und bevor ich es mir anders überlegen kann, bevor eine weitere Sekunde des Zögerns jede klare Entscheidung, die zuvor gefallen war, zunichte machen konnte, sprang ich…
… und die Bilder, die mich in diese Lage gebracht hatten, strömten auf mich ein, während der nasse und dunkle Asphalt näher kam und der Wind meine Tränen mit sich trug.
Vielleicht würde wenigstens jetzt – wo ich eine Entscheidung bis zum Schluss durchgeführt hatte – jemand auf mich stolz sein.
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2011
Alle Rechte vorbehalten