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„Nun komm schon, der Zug wartet nicht ewig auf uns!“, hallte die Stimme Davids durch das Haus. Seine Ungeduld war deutlich zu spüren und zu hören, als er den Blick von der Treppe abwandte, an deren oberen Ende seine Freundin die Ungeduld in seinem Inneren nur noch weiter schürte.
Stattdessen wanderte sein Blick zu dem Bild, das er seit einiger Zeit in den Händen hielt. Es war ein altes Foto aus seinen Kindertagen und er hatte lange gebraucht um seine Freundin zu überzeugen noch einmal mit ihm dort hinzufahren. Wenn er sich das Bild ansah, sah er das Panorama vor sich, als ob es gestern gewesen war, als er dort war.

Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er das Bild herumdrehte und das Datum auf der Rückseite betrachtete. Es zeigte den Januar 1994, da war er gerade acht Jahre alt gewesen und sein Vater hatte dieses wunderbare Bild gemacht, damit er sich für immer an diesen Ausflug erinnern konnte. Das tat er wirklich, bis heute hatte er ihn nicht vergessen und immer wieder den Wunsch gehegt noch einmal dorthin zurückkehren zu können. Heute sollte es endlich soweit sein, wenn seine Freundin doch endlich den Weg aus dem Bad schaffen und herunterkommen würde.

„Nika!“ Seine Ungeduld nahm neue und ungeahnte Spitzen an, während er das Bild auf die Kommode legte, die neben der Eingangstür stand und auf der sich alle anderen kleinen Dinge sammelten, die nirgends einen wirklichen Platz hatten.
„Ich bin doch hier. Stress nicht so rum, wir haben noch genug Zeit. Herrgott, man könnte denken, dass du 10 bist und einfach nicht erwarten kannst endlich mit einem Zug zu fahren.“ Sie sah ihn kurz mit übertrieben zusammengezogenen Augenbrauen an, bevor sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete und sie in ihrem eleganten Gang die Treppe nach unten gelaufen kam.

Er grinste sie an, gab ihr einen kleinen Kuss auf die Lippen, um ihr zu zeigen wie wichtig ihm die ganze Sache hier war, wie wichtig es ihm war, noch einmal an den Ort zurückzukehren. Sein Vater war ein Jahr nach diesem Ausflug gestorben und es war ihm mehr als wichtig diese Erinnerung ein wenig aufleben zu lassen, vielleicht sogar noch einmal mit seinem Geist in die alten Tage einzutauchen und sich genauso unbeschwert und frei zu fühlen wie damals. Sicherlich war es eine schöne Erinnerung, doch hingen damit auch andere Sachen in Verbindung. Er hatte nie wirklich mit dem Ableben seines Vaters abschließen können, hier und heute würde sich die Chance ergeben genau dies zu tun. Hier würden sich gute sowie schlechte Erinnerungen miteinander vereinen…

Die Hupe eines Autos riss ihn schließlich aus seinen Gedanken und bevor er selbst verstand was er jetzt zu tun hatte, trugen ihn seine Beine wie von alleine an die Tür, schnappte er sich die Reisetasche und die Tasche mit der Ausrüstung und war nach draußen verschwunden. Nika konnte ihm nur etwas perplex hinterher sehen, bevor sie sich ebenso in Bewegung setzte, die Haustür hinter sich schloss und auch abschloss. Sie würden ein paar Tage nicht hier sein und auch wenn sie nicht wirklich Lust auf diesen Ausflug hatte, so hatte sie ihrem David versprochen wenigstens so zu tun.

Sie stieg zu ihm in das Taxi, das er vor einer guten Stunde bestellt hatte und lächelte ihn von der Seite her an. Sie wusste nicht, wieso die Sache für ihn so wichtig war, er sprach nicht wirklich darüber, es sei denn, es ging darum sie irgendwie zu überreden dorthin zu fahren. Innerlich seufzte sie in sich hinein, fragte sich zum wiederholten Male an diesem Tag, wieso sie die ganze Sache nicht einfach abgeblasen hatte und jetzt hier in einem Taxi auf dem Weg zum Zug saß, der sie in eine Welt bringen würde, mit der sie nichts zu tun hatte.

Nein, sie war nicht jemand der sich nicht mit der Natur auseinander setzte aber sie war auch niemand der Mitte Januar unbedingt in eine menschenleere Gegend fahren wollte, in der es nichts weiter als die blanke Natur um sie herum gab. Sie brauchte das bisschen Luxus, das sie sich aufgebaut hatten und sie wollte nicht darauf verzichten, dennoch hatte sie zugesagt ein paar Tage in der völligen Wildnis zu verbringen – abgeschlossen von jeglicher Zivilisation, von Strom und fließend Wasser. Noch einmal seufzte sie, diesmal leise hörbar in die Stille des Taxis hinein.

David jedoch war zu sehr damit beschäftig aus dem Fenster zu sehen und in sich hinein zu lächeln, als dass er diesen Seufzer mitbekommen hätte. Er freute sich auf die Tage und fragte sich gleichzeitig ob es noch einmal so schön werden würde wie damals. Ja sicherlich, er stritt nicht ab, dass es riskant war. Es war kalt draußen, weit unter null Grad, doch hatte er aus einem guten Grund dieses Datum gewählt. Es sollte alles so nahe an der Wahrheit und der Vergangenheit liegen wie ihm möglich war und das ging nur, wenn sie nicht im Sommer fahren würden, wenn das einzigartige Panorama von seinem Bild verschwunden sein würde und Platz für Mücken und all das andere Getier gemacht hatte, das dort draußen rumkroch.

Die Fahrt dauerte nicht lange und das Taxi kam mit leicht quietschenden Reifen genau vor dem Bahnhof zum stehen. David wurde erneut aus seinen Gedanken gerissen, als er die vielen Gleise und Züge sah, die ihn in eine andere Welt bringen konnten. Auf seinen Lippen schien sich das Lächeln ein neues zu Hause gesucht zu haben, während er den Fahrer des Taxis bezahlte und schließlich ausstieg um das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Es war nicht viel und es würde reichen, das wusste er. Damals hatten er und sein Vater sogar noch weniger mitgenommen, aber wie die Zeit sich veränderte und unaufhörlich voranschritt, so mussten sich auch die Menschen dieser Zeit anpassen. Er sah es als notwendiges Übel, es musste irgendwie gehen.

„Dafür, dass du mich vorhin so gedrängt hast, lässt du dir ganz schön Zeit.“ David hatte gar nicht gemerkt, dass er erneut in der alten Erinnerung versunken war und dadurch die Tätigkeit des Kofferraum ausräumens etwas langsamer als gedacht von statten ging. Er blinzelte und war versucht den Kopf zu schütteln, doch unterließ er es und beschränkte sich einfach darauf Nika etwas verlegen lächelnd anzuschauen und die letzte Tasche aus dem Kofferraum zu nehmen, bevor er ihr doch noch einen kleinen Kuss auf die Lippen gab. Er war heute einfach nur glücklich, verstand aber selbst nicht wieso er ständig in irgendwelchen Gedanken versank.

„Auf welches Gleis müssen wir?“ Nika hatte die Karten zwar in ihrer Tasche, doch wusste sie, dass David sich die Dinger um die zehntausend Mal angesehen hatte und mit Sicherheit auch ohne sie wusste, wohin sie genau mussten. Außerdem hatte sie keine Lust sie erst herauskramen zu müssen.
„7.“ Er schulterte eine der Taschen und nahm die andere in eine Hand, während er auch schon auf halbem Weg in den Bahnhof war. Wieder schüttelte sie mit dem Kopf und folgte ihm, fragte sich immer wieder warum er deswegen so enthusiastisch und voller Energie war. Sie hatte keine Lust in der Kälte zu schlafen.

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„Erzählst du mir endlich was es mit diesem Trip überhaupt auf sich hat?“ Sie saßen auf ihren Plätzen in einem abgeteilten Abteil und waren zum Glück noch alleine. Sie mochte Zug fahren nicht, es kam ihr irgendwie immer so vor, als ob die Wagen und alles was sich in ihnen befand vor Keimen anderer Leute nur so strotzen würde. Heute, wenn es draußen kalt war und sich das Kondenswasser an den Scheiben sammelte kam ihr diese Vermutung nur noch bekräftigender vor. Es war einfach nur widerlich, es roch komisch hier drin und die Luft stand wie in einer riesigen Dunstglocke, während sie das Gefühl hatte mit jedem Atemzug immer mehr dieser Bakterien einzuatmen. Der Gedanke ließ sie sich leicht schütteln und wünschen, dass die doch bitte nicht mehr atmen musste.

David sah aus dem Fenster und versuchte über die an der Scheibe gesammelten Wasserperlen die Gegend zu erkennen, doch musste er erkennen, dass dies eine beinahe unmögliche Sache war. Innerlich seufzte er und sah auf die Frage seiner Freundin hin, diese wieder an. Einige Sekunden herrschte einfach nur Stille im Abteil, ausgenommen des dumpfen Donnerns der Räder, die über die Schienen glitten.
„Ich war als Kind schon einmal dort.“ Irgendwie wollte er es ihr nicht erzählen, auch wenn er wusste, dass es schön wäre diese Erinnerung mit ihr zu teilen. Dennoch sträubte sich etwas in seinem Inneren, weil er genau wusste, dass sie diese Reise nicht mit dergleichen Freude angetreten hatte wie er selbst.

„Ja und. Deshalb müssen wir dort im Januar hinfahren und uns dem Hintern abfrieren?“ Fragend sah sie ihn an und er hatte beinahe das Gefühl von ihrem intensiven Blick durchbohrt zu werden, seufzte noch einmal innerlich. Es würde wohl keinen Sinn haben noch länger damit hinterm Busch zu bleiben, das würde diesen ganzen Ausflug nicht leichter sondern immer schwerer werden lassen, und eigentlich sollte er doch eine Art Befreiung für seine Seele werden…

„Ich war vor fast genau 13 Jahren dort, mit meinem Vater. Es war kalt und es war Winter, was ja eigentlich logisch ist. Mein Vater meinte, dass es zu dieser Jahreszeit der schönste Ort sei und er hatte Recht behalten. Ich wäre gerne jedes Jahr mit ihm dorthin gefahren, doch dazu kamen wir nicht mehr, weil er ein Jahr später gestorben ist.“ Er spürte, wie sich in seinem Hals ein Klos zu bilden begann und seine Stimme drohte zu versagen, doch das war erst der erste Teil der Geschichte, er musste weiter erzählen, wie sehr es ihm auch weh tat. „Meine Mutter hielt nichts von diesem Ort, also ist er nach ein paar Jahren in Vergessenheit geraten, bis ich das Foto, das mein Vater damals aufgenommen hatte, wieder gefunden habe.“

Er machte eine kleine Pause und ließ seine Augen von ihrem Gesicht erneut zu der Fensterscheibe wandern. „Ich will einfach wissen ob es dort noch immer so aussieht wie früher und ich will mich richtig von ihm verabschieden, verstehst du?“ Er spürte wie erste kleine Tränen in seine Augen steigen wollten, doch blinzelte er sie mit Mühe wieder weg und versuchte den Aufruhr in seinem Inneren irgendwie niederzukämpfen. „Ich will, dass alles ist wie früher und ich will ihn an diesem Ort Lebewohl sagen, weil ich nie die Gelegenheit dazu hatte.“

Die Beerdigung war zu viel gewesen für ihn, und er hatte sich vorzeitig von dort wegbringen lassen, weil er den Gedanken einfach nicht ertragen konnte, dass sein Vater nie wieder kommen würde. Heute war er älter und vielleicht auch ein wenig schlauer, er würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und er würde ihm Lebewohl sagen, egal wie sehr die alten Wunden dabei zu schmerzen beginnen würden. Er hatte ihn einfach alleine gelassen, aber das bedeutete nicht, dass er diesen Ort nicht ohne ihn aufsuchen und seine Schönheit mit jemandem teilen konnte, den er genauso gerne hatte wie seinen Vater damals.

Nika sagte nichts mehr dazu, sie spürte, dass es schwer genug für ihn gewesen sein musste diese Worte überhaupt zu sagen und sie war sehr stolz auf ihren David. Irgendwie brachte das ein ganz anderes Licht auf diese Reise, auf die sie eigentlich gar keine Lust hatte.
Vielleicht sollte sie nur einmal in ihrem Leben ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und sich freuen ein unberührtes Stück Natur kennenzulernen, vielleicht sollte sie ihrem Freund einfach unter die Arme greifen und ihn ziehen lassen, ihn dabei unterstützen und für ihn da sein. Ein leichtes Lächeln erschien auf ihren Lippen, während auch sie den Blick von ihm anwandte und der verschwommenen Gegend, die sich vor dem Fenster an ihnen vorbeiziehen ließ, zu beobachten.

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Mit einem Lächeln im Gesicht betrachtete der Braunhaarige seine Freundin. Sie war eingeschlafen und hing nun mehr schlecht als recht in ihrem Sitz, während er sich gemütlich zurückgelehnt hatte, die Arme vor seiner Brust verschränkte und sie einfach nur ansah. Sie war wunderschön, selbst wenn ihre Silhouette von diesem hässlichen Grün der Sitze umgeben war. Ihr blondes Haar umrahmte ihr hübsches Gesicht und ihre zierliche Figur schmiegte sich in den Sitz, während es ihr wohl einfach nur zu langweilig geworden war aus dem Fenster zu stieren oder die am Abteil vorbeigehenden Leute zu beobachten.

David atmete tief ein und sah auf die Uhr. Er hätte die Zeit besser planen sollen, denn wenn sie da sein würden, würde es bereits dunkel sein. Vielleicht hätten sie eher losfahren sollen, doch im Grunde war es egal ob es nun hell oder dunkel war.
„Nächster Halt, Wellen, wir wünschen allen Fahrgästen, die hier diesen Zug verlassen, eine gute Weiterreise.“ Er sah auf und sprang keine Sekunde später von seinem Sitz auf, um seiner Freundin an der Schulter zu rütteln. Sie schlug verschlafen und müde die Augen auf um ihn anzusehen und sich zu fragen, was diese unsanfte Weckmethode zu bedeuten hatte.

„Steh auf, wir müssen hier raus.“ Er griff sich bereits die Taschen und ihre Frage, zu der sie nicht einmal gekommen war sie zu stellen, war damit auch beantwortet. Der Zug wurde bereits langsamer und sie richtete ihren Blick aus dem Fenster, nur um mit einer verschneiten Helligkeit begrüßt zu werden, die ihr in den Augen wehtat. Dennoch atmete sie einmal tief ein, versuchte die Müdigkeit aus ihren Knochen zu bekommen und stand ebenfalls auf, um ihrem ungeduldig wartenden Freund zu folgen.
Als sie aus dem Zug stieg umfing sie eine Kälte, die sie dazu brachte den Reißverschluss ihrer Jacke etwas weiter nach oben zu ziehen. Es war nicht die Art von Kälte, die sie zu Hause hatten und die einfach nur in der Nase und der Lunge schmerzte, es war eine Kälte, die einfach irgendwie berauschend war.  Die Luft war durchsetzt von dem Geruch von Schnee und sie war so klar und herrlich einzuatmen, dass sie genau das erst einmal tun musste.

Sie folgte David über den kleinen Bahnsteig und die Bahnhofshalle nach draußen und ließ erst einmal ihren Blick schweifen. Es sah einfach nur wunderschön aus, umrahmt von Schnee lagen die Berge etwas weiter hinten und boten einen mehr als ansehnlichen Ausblick, die Straßen und die Wiesen in diesem kleinen Ort waren gesäumt mit Schnee und die Luft war immer noch so herrlich einzuatmen, wie am Anfang. Während David ein Taxi rief und dieses mit ihrem Gepäck belug, sah sie sich noch einmal um und konnte es nicht verhindern, dass bei diesem Anblick alte Erinnerungen wieder in ihrem Verstand auftauchten, die sie zum Lächeln brachten. Alte Erinnerungen daran, wie es war als Kind in meterhohem Schnee zu toben und als wahrer Schneemann wieder nach Hause zurückzukehren. Dann steig sie in das Taxi…

Diese Fahrt dauerte nicht mehr lange und während die Sonne hinter den Bergen im Hintergrund langsam verschwand und das Land in wunderschöne Farben tauchte, kamen sie ihrem Ziel immer näher.
Das Taxi hielt inmitten der freien Natur an einem kleinen Waldgebiet und Nika zog fragend eine Augenbraue nach oben, während sie ihren Freund ansah.
„Hab ich vergessen dir zu sagen, dass wir noch ein kleines Stück laufen müssen?“ Er lächelte verlegen und bezahlte den Fahrer, nur um sofort danach aus dem Auto zu steigen und die Taschen aus dem Kofferraum zu holen. Nika beschloss  in genau diesem Moment, dass so schön diese Natur auch sein mochte, das aber doch zuviel war.

„Können wir nicht in ein Hotel fahren und das morgen erledigen?“ Sie hatte keine Lust in der Kälte irgendwo in der Abgeschiedenheit herumzulaufen und womöglich noch von irgendwelchen wilden Tieren angegriffen zu werden, die sie für ein schönes Abendessen hielten. Doch sie bekam nur ein Kopfschütteln als Antwort. Eigentlich hätte sie David besser kennen müssen und wissen müssen, dass er sich durch nichts von etwas abhalten ließ, das er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Innerlich seufzte sie schwer und sah dem Taxi sehnsüchtig hinterher, als dieses die schmale Straße weiterfuhr und sie hier einfach zurückließ.

„Wenn du nicht bald kommst, wirst du nie im Zelt sitzen können.“ Ihr Kopf ruckte herum und mit Schrecken musste sie feststellen, dass David bereits innerhalb der Bäume verschwunden war. Schnell setzte auch sie sich in Bewegung und folgte ihm. Zum Glück stand der Mond heute hoch genug und schien so hell, dass sie für den Weg nicht einmal eine Lampe brauchten.

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Sie fror. Sie fror einfach nur entsetzlich und ihre Zähne klapperten in einem unregelmäßigen Rhythmus aufeinander, während ein Seitenblick auf David ihr sagte, dass dieser immer noch dieses untypische und breite Lächeln im Gesicht hatte und das, obwohl er all die Zeit die Taschen mit sich herumschleppte.
„W-wie l-lange m-müssen w-wir d-denn n-noch l-laufen?“ Innerlich schüttelte sie den Kopf und wünschte sich in ein warmes Bett in dem sie sich jetzt in die Decke einrollen könnte. Ihre Frage klang als ob sie seit Neuestem stottern würde und ihre Zehen waren dabei ihren Geist aufzugeben und einfach nur einzufrieren.

„Nur noch ein paar Meter.“ Das Lächeln auf Davids Lippen wurde noch einmal breiter als sich vor ihnen inmitten der Bäume eine riesige Lichtung aufbaute. Sie traten noch ein paar Schritte weiter, während der Schnee unter ihren Schuhen knirschte und der Wald den Blick auf etwas einfach nur Wundervolles preisgab. Nika stockte der Atem…

Vor ihnen lag eine Bergkette, deren Spitzen vom Schnee gesäumt waren, eine Lichtung, die durch einen kleinen Bach durchzogen war und dessen Rand genauso vom Schnee gesäumt wie alles andere hier. Die Bäume waren Weiß, während hier und da das satte grün der Tannen hindurchschimmerte und alles glitzerte im Schein des Mondes, der mittlerweile hinter ihnen war.

David ließ die Taschen auf den Boden neben sich fallen und besah sich das, was in seiner Erinnerung noch so lebendig war. In echt sah es doch noch tausendmal besser aus und unweigerlich fragte er sich, wie dieses Bild im Schein der Aufgehenden Sonne aussehen würde. Es war immer noch so unberührt und schön wie damals, nichts schien sich verändert zu haben und glücklich, sowie erschöpft ließ David sich in den Schnee fallen. Er war endlich angekommen, es hatte ihm soviel Zeit und Mühe gekostet, doch nun war er endlich an dem Ort angekommen, an den er schon so lange denken musste.

„Könntest du endlich das Zelt aufbauen?“ Und schon war der Moment zerstört worden. Innerlich seufzend erhob er sich wieder und fummelte mit kalten Fingern das Zelt aus seiner Verpackung. Es war 13 Jahre her, seitdem er eines aufgebaut hatte und dennoch stand es innerhalb weniger Minuten auf seinem Grund, fest verankert. David lächelte und hielt den Eingang des Zwei-Mann Zeltes für seine Freundin auf, welche anscheinend nicht den geringsten Sinn für Romantik und die Schönheit der Natur hatte. Sie schoss ihm einen genauso eisigen Blick zu, wie es hier kalt war und verschwand im Inneren, während er sich noch aufrecht hinstellte und in den Himmel sah. Erste kleine Wolkenfetzen begannen den Mond zu verdecken und nahmen der schimmernden Pracht die Helligkeit, doch dies tat seiner Freude einfach keinen Abbruch.

Noch einmal atmete er die frische Luft ein, dann verschwand auch er im Zelt.

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Fest in den Schlafsack gewickelt lag er dort in der Dunkelheit und hörte dem leisen Atem seiner Freundin zu. Wind war aufgekommen und schüttelte hin und wieder die Planen des Zeltes durch, während wohl neuer Schnee auf es fiel. Er konnte es hören, das leise Geräusch der kleinen und größeren Flocken, die auf die Planen fielen. Es war einfach unmissverständlich und zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. In Gedanken stellte er sich bereits vor wie diese Gegend morgen früh aussehen würde und genau das war der Grund zu seiner Freude.

Nika würde es nie verstehen. Sie hatte keinen Sinn dafür, auch wenn er wusste, dass sie auch einmal ein Kind gewesen war. Manche Menschen legten die Eigenschaft sich über die kleinen Dinge zu freuen jedoch mit wachsendem Alter ab und Nika gehörte wohl zu einen von ihnen. Vielleicht verstand sie warum er unbedingt hier hin wollte, aber sie verstand nicht wieso es ausgerechnet im Winter sein musste, wo das Wetter unberechenbar war, wo es einfach nur kalt war. Er seufzte leise und öffnete schließlich seinen Schlafsack und krabbelte aus dem Zelt.

Eisiger Wind kam ihm entgegen, brachte einzelne Schneeflocken mit sich welche in seinem Gesicht landeten. Langsam stellte er sich aufrecht hin und zog sich seine Jacke über, während er den Blick über das Bild schweifen ließ, das ihn so lange in Gedanken begleitet hatte. Unweit von ihm hörte er den kleinen Bach rauschen, welcher sich seit Jahrhunderten hier hindurch schlängelte und zu seinem Erstaunen noch nicht zugefroren war.
David liebte den Schnee und noch mehr liebte er diese Gegend, dieses kleine Fleckchen Erde, das so wundervoll aussah. Er hatte nie verstanden wieso die Menschen den Schnee verabscheuten umso älter sie wurden. Er war ihnen im Weg, weil sie nicht zur Arbeit kamen und er nervte sie wenn er langsam zu tauen begann und die Straßen in ein matschiges Etwas verwandelte. Aber seltsamerweise hatte ihn das nie gestört.

Schnee war wunderschön. Er war rein und weiß und es machte selbst als Erwachsener Spaß noch in ihm zu spielen. Sicherlich, wenn er durch all den Verkehr und den Dreck in der Stadt unansehnlich wurde konnte man darauf verzichten, aber das würde hier nie der Fall sein. Hier war der Schnee so weiß wie er vom Himmel gefallen war und er blieb auch genauso weiß, bis die Sonne sich entschied an Kraft zuzulegen und ihn ein für allemal aus dem Leben zu wischen. Doch hier wurde er nicht schmutzig, er schmolz einfach nur und war dann für die Spanne des Sommers verschwunden, nur um im Herbst wiederkehren zu können.

David schloss die Augen und atmete die frische und klare Luft tief ein, bevor er sie wieder öffnete und das Lächeln auf seine Lippen zurückkehrte. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke noch etwas höher und ließ die Hände in den Jackentaschen verschwinden um sie vor der völligen Auskühlung zu schützen. Dann setzte er sich in Bewegung, stapfte durch den, unter seinen Schuhen knirschenden, Schnee bis hin zu dem kleinen Bach und sah auf das fließende Wasser. Ein Seufzen fuhr über seine Lippen und er schwor sich, dass wenn er eines Tages Kinder haben würde, ihnen diese Pracht hier zeigen würde, so wie es sein Vater mit ihm getan hatte.

„Ich vermisse dich…“, flüsterte er in die Dunkelheit, gerade laut genug um es über dem Heulen des Windes, der durch die Bäume fegte, noch zu verstehen. „Ich bin dir dankbar für jede Sekunde, die du mit mir verbrachst hast und hiermit möchte ich mich endgültig von dir lösen und mich von dir verabschieden.“ Tränen stiegen in seinem Inneren auf, als die Bilder von vor so vielen Jahren in seinem Verstand auftauchten.
Sein Vater, wie er ihm sagte, dass er eine Überraschung für ihn hätte.
Sein Vater, ihn anlächelnd im Zug.
Sein Vater, inmitten von Schnee und umgeben von Bäumen und den Bergen im Hintergrund.
Sein Vater, tollend im Schnee, mit einem lachenden Jungen neben sich…

Es waren wunderschöne Erinnerungen und doch trieben sie ihm die Tränen in die Augen, so sehr, dass die erste von ihnen aus seinem Augenwinkel lief und seine Wange hinunter rollte. Er schniefte und starrte weiter auf das Wasser des kleinen Baches, das so gemächlich inmitten des leichten Sturmes, der seine Haare von einer Seite auf die andere wehte, vor sich hin floss.
„Machs gut Vater, wir werden uns sicherlich eines Tages wieder sehen, aber bis dahin werde ich mein Leben leben und meinen Kindern zeigen, was du mir gezeigt hast. Die Einfachheit und Schönheit der Natur, inmitten der Wildnis und nur einen Grund hier zu sein – zusammen zu sein.“ Das steckte dahinter, all die Jahre hatte er es nicht erkennen können und jetzt wo es so lange her war wusste er, dass es nur darum ging das Band zwischen ihnen ein wenig zu stärken und gemeinsam etwas zu erleben, dass sie zusammen schweißen würde. Das hatte es auch… damals.

Zarte Arme legten sich von hinten um ihn und drückten ihn somit an einen genauso zarten Körper. Zuerst war David versucht gewesen erschrocken zusammen zu zucken, doch er wusste, dass es nur eine Person sein konnte. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde eine Spur breiter und er lehnte seinen Kopf ein wenig nach hinten um ihr noch näher zu sein.
„Das hast du wunderschön gesagt, David.“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie wusste nicht wie lange sie bereits hier stand und seinen Worten lauschte und auch wenn irgendetwas in ihr, ihr sagte, dass es nicht richtig war ihn zu belauschen, so hatte sie auch nicht gehen können. Der Moment hatte sie eingenommen, er hatte sie ergriffen und nicht mehr loslassen wollen.

Nika hatte die Worte gehört, die so traurig klangen und doch so optimistisch in die Zukunft geblickt hatten, dass sie einfach nicht anders konnte als ihre Arme um ihn zu legen und ihm zu sagen, wie schön sie diese Worte gefunden hatte. Jetzt wusste sie, was David mit diesem Ausflug bezweckt hatte und jetzt ließ sie selbst noch einmal ihren Blick über das Bild schweifen, das sich ihr in der Dunkelheit bot.
Bäume, belegt mit Schnee und Schneeflocken, die durch die Luft zu tanzen schienen. Der kleine Bach und das leise beruhigende Plätschern des Wassers, welches sich perfekt in die Gegend einzufügen schien. Die Berge im Hintergrund, umgeben mit Schnee und die frische Luft, welche den ganzen Trip in die Wildnis erst lohnenswert machte. Es war stimmig in sich und sie beschloss, jedes Jahr hierher in die eisige Welt zu kommen…

„Warum hast du mir nicht eher von diesem Ort erzählt?“ David atmete einmal tief ein und ließ die Luft seinen Lungen entweichen, um eine kleine Kondenswolke vor seinem Gesicht entstehen zu lassen, während das Lächeln auf seinen Lippen immer noch bestehen blieb.
„Ich hatte ihn vergessen…“ Noch einmal atmete er tief ein.
„Ich habe das Foto von diesem Ort entdeckt als ich etwas gesucht habe und ich konnte nicht anders als die Chance zu nutzen und noch einmal hierher zu kommen. Mein Vater hat das Bild aufgenommen als wir hier waren und sein Tod hat uns die Chance genommen, ihn noch einmal zu besuchen. Ich war damals erst acht Jahre alt, aber es kommt mir vor als wäre es gestern gewesen. Es hat sich nichts verändert…“

Seine Stimme war leise und nachdenklich und doch bildete sich auch auf Nikas Lippen ein Lächeln.
Weitere Worte waren einfach nicht mehr nötig, sie würden diesen Augenblick zerstören, in der der Wind ihre Haare nur noch weiter herumwirbelte und weitere Schneeflocken auf der unberührten Natur landeten. Stattdessen zog sie ihre Arme nur noch etwas fester um ihn und zog ihn somit an ihren Körper, wollte seine Nähe spüren und das tun, was er hiermit bezweckte… zusammen sein.

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Tag der Veröffentlichung: 22.06.2011

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