Cover

Es war dein Entschluss

Noch nie hatte ich eine solche Leere und Traurigkeit in deinen Augen gesehen, als du sie nach drei Tagen endlich öffnest und mich ansiehst, als ob ich nicht einmal im Raum wäre. Du sahst durch mich hindurch als ich die Spitze meines Zeigefingers über deine Stirn zur Seite gleiten ließ und dich genau ansah.
„Was machst du nur für Sachen?“, flüsterte ich in den ruhigen Raum, und nun endlich schienst du mich wahrzunehmen und mich anzusehen, während ich meine Hand von deinem Gesicht entfernte. Für einen Moment schwand die Leere aus deinen Augen und machte Überraschung Platz, eine Überraschung, die ich in diesem Moment wirklich nicht verstehen konnte. Ich hatte dir geschworen, immer an deiner Seite zu sein und ich hatte nicht vor, dieses Versprechen in irgendeiner Art und Weise zu brechen. Aber anscheinend hattest du das Deine gebrochen, oder wolltest es brechen, denn sonst würdest du jetzt nicht hier liegen.
Du würdest nicht hier liegen und mich ansehen, während deine Augen langsam feucht wurden und du den Blick schließlich abwandtest. Du hast deine Augen geschlossen, um den Tränen, die sich langsam ihren Weg aus ihnen bahnen wollten, Einhalt zu gebieten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es keine Tränen wegen eines gebrochenen Versprechens waren, sondern Tränen, die über den unglücklichen Ausgang deiner Entscheidung entstanden. Ich wusste es einfach nicht, oder ich hatte es vielleicht gewusst, nur so schnell wie mir dieser Gedanke gekommen war, auch wieder in die hintersten Ecken meines verqueren Verstandes verbannt, weil ich es einfach nicht wahrhaben wollte.

„Warum?“ Wieder hatte ich nur geflüstert und im Grunde musste ich dir die Frage nicht einmal stellen um die Antwort bereits zu wissen, denn ich wusste, dass du mir keine geben würdest. Stattdessen hieltst du die Augen weiterhin geschlossen und hast tief durch die Nase, die mit Desinfektionsmitteln durchsetzte, Luft eingesogen.
Ich sah dich an und wusste, dass auch in meinen Augen die Traurigkeit stand, die ich in deinen vorher hatte lesen können. Verlieren wollte ich dich einfach nicht, dazu hatte ich dich viel zu gern, dazu liebte ich dich viel zu sehr, aber anscheinend spielte das bei deiner Entscheidung auch keine Rolle mehr. Vielleicht spielte es auch eine Rolle, aber du hast sie nicht an dich heran gelassen. Ich wusste es nicht und zu diesem Zeitpunkt konnte ich lediglich Vermutungen anstellen, weil du mich weder ansehen, noch mit mir reden wolltest.
Wieder berührte die Spitze meines Zeigefingers deine Stirn, um dich auf mich aufmerksam zu machen, doch deine Augen blieben geschlossen und ich fing an mich zu fragen, ob du vielleicht wieder eingeschlafen wärst. Aber dein unregelmäßiger Atem strafte mich das eine Lüge.

„Ich verurteile dich nicht.“, hatte ich gesagt und irgendwie damit bewerkstelligt, dass du die Augen wieder geöffnet hast und mich ansahst. Und wieder dachte ich, dass ich noch nie eine solche Traurigkeit in deinen Augen gesehen hatte. Vielleicht hatte ich sie gesehen, Tage bevor du dir das angetan hast, aber wie ich so war, hatte ich die Feststellung irgendwo tief in mir vergraben und wollte sie einfach nicht wahrhaben.
Ich wollte dich nicht traurig sehen, nicht nachdem ich es einmal geschafft hatte, diese Traurigkeit aus deinem Blick zu verbannen. Aber hätte ich es nicht gerade deswegen sehen müssen? Gerade ich, wo ich genau wusste, wie dieser Blick aussah? Ich konnte nicht anders, als mir genau jetzt, wo ich es am wenigsten gebrauchen konnte, Vorwürfe zu machen. Nun schloss ich selbst die Augen für einen Moment und atmete tief ein, nicht ohne dass mir dabei bei dem scharfen Geruch schlecht zu werden drohte. Schnell öffnete ich die Augen wieder und versuchte mich auf dich zu konzentrieren, aber du schienst mich wieder aus deinem Blick verloren zu haben und irgendwo in die Leere zu starren, die deine Augen auch ausstrahlten.
In welcher Welt zu wohl schweben magst, ging mir durch den Kopf. Wahrscheinlich warst du in Gedanken in der Welt, in der du deiner Meinung nach sein solltest, anstatt dort zu liegen und immer noch unter den Lebenden zu weilen. Wahrscheinlich warst du in Gedanken so weit weg von mir, wie ich es mir nicht einmal vorstellen konnte.

Ich seufzte und sah dich einfach weiter an, aber du hast mich nicht wahrgenommen. Auf eine Art und Weise hatte es einfach keinen Sinn hier zu sitzen und dir dabei zuzusehen, wie du immer weiter in deine Gedanken abgedriftet bist, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz dich alleine hier zu lassen, weil ich meinen Ängsten um dich nachgab. Die Angst dich wirklich zu verlieren, wenn ich auch nur einmal aus dem Zimmer ging, hatte sich so tief in meinen Geist gegraben, dass ich einfach nicht anders konnte, als neben dir sitzen zu bleiben und auf dich aufzupassen. Hätte ich das doch schon eher gemacht…


Am nächsten Tag saß ich immer noch dort und beobachtete dich im Schlaf. Mein Blick glitt auf die Uhr, die über der Tür hing und mir sagte, dass sie dich bald aus genau diesem Schlaf reißen würden. Die ganze Nacht hatte ich dort gesessen, auf diesem unbequemen Stuhl neben deinem Bett und war selbst hin und wieder eingenickt, nur um mit einem Zucken und so weit aufgerissenen Augen wieder hochzuschrecken und die Dunkelheit nach deiner Silhouette im Bett abzusuchen.
Ich war jedes Mal erleichtert, wenn ich durch meinen schweren Atem dein gleichmäßiges hörte und dich dort liegen sah. Du sahst aus, wie du des Nachts immer aussahst, bis auf den Unterschied, dass es nicht unser Bett war, in dem du da lagst. Dass es nicht unser Zimmer war, in dem du hier warst, in dem wir hier waren und diesen Umstand, so sagte ich mir selbst, hatten wir nur mir zu verdanken. Hätte ich doch einfach ein wenig mehr auf die Zeichen geachtet, die du die letzten Tage von dir gegeben hast. Hätte ich doch nur die Leere und Trauer in deinen Augen gesehen und mir mehr zu Herzen genommen, dass du nichts mehr zu dir genommen hast. Ich seufzte schwer und blickte über meine Schulter nach hinten aus dem Fenster, um zu sehen, dass der anbrechende Tag einen leichten hellen Schimmer in den dunklen Himmel zu werfen begann.
„Es tut mir so leid.“, hatte ich in die Stille geflüstert und als ich meinen Blick wieder auf dich richtete, sah ich genau in deine Augen, die mich in der Dunkelheit anstarrten. Du hast seit gestern kein Wort zu mir gesagt, egal wie sehr ich es auch versuchte und ich begann mich zu fragen, ob du den Schmerz, den ich darüber in meinem Herzen empfand, nicht vielleicht auch spüren konntest. Sicherlich hast du es getan, ich sah es dir an. Ich kannte dich besser als mich selbst und genau deswegen könnte ich mir in den Hintern treten, dass ich es nicht gesehen habe, dass ich es nicht habe kommen sehen.

Deine Augen schlossen sich für einen Moment und meine Hand zuckte, weil ich das plötzliche Bedürfnis hatte, dich berühren zu müssen, zu wissen, dass du wirklich dort warst und nicht nur eine Einbildung meines übernächtigten Verstandes. Aber ich hielt den Impuls zurück und sah, dass du mich noch immer so intensiv angestarrt hast, wie zuvor auch.
„Dir muss nichts leid tun.“ Deine Stimme war nicht lauter als mein Flüstern zuvor, rau von den vielen Tagen, in denen du nicht ein Wort von dir gegeben hattest und beinahe genauso kalt. Ich schluckte und hörte dich gleichzeitig seufzen, ein so schwerer Ton, dass er mir beinahe in den Ohren nachhallen wollte. Seit wann warst du so kalt zu mir, seit wann klangen deine Worte derart abweisend, dass es mir eiskalt den Rücken hinunter lief und sich eine Gänsehaut auf meinen Nacken und meine Arme legte. Die Zimmertemperatur schien sich schlagartig um 10 Grad zu verringern und du wandtest deinen Blick ab, um zur Decke hinauf zu schauen.
„Wenn jemandem etwas leid tun muss, dann vielleicht mir…“ Du hast eine Pause gemacht und innerlich bereitete ich mich während dieses Bruchteils einer Sekunde auf deine nächsten Worte vor, die ich doch eigentlich gar nicht hören wollte.
„…aber das tut es nicht.“ Wieder so kalt, so leer, so hohl. Ich wusste nicht welches dieser Worte am besten beschrieben hätte, wie sich alles in diesem Moment in meinem Inneren alles zusammen krampfte und mein Herz gleichzeitig einen Schlag auszusetzen drohte. Ich zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen und öffnete den Mund, aber ich wusste beim besten Willen nicht, was ich dir hätte an den Kopf schmeißen können, ohne die Worte eine Sekunde später wieder zu bereuen, weshalb ich die Lippen wieder schloss.

„Warum sagst du so was?“ Das war das Beste und das erste was mir eingefallen war, was weder ein Vorwurf oder sonstiges war, sondern einfach eine Frage, die wohl auch besten beschrieb, wie ich fühlte. Mir wurde kalt, ich hätte nicht gedacht, dass das je möglich gewesen wäre, aber ich hing wirklich sehr an dir und ich verstand nicht, wie du so reden konntest.
Deine leeren Augen bohrten sich wieder in meine und ich hätte jetzt wirklich alles dafür gegeben, dass du die Worte, die sich in deinem Verstand formten, niemals das Licht der Welt erblicken würden. Ich hätte jeden erdenklichen Schmerz, jedes Leid, jede Qual auf mich genommen, nur um zu wissen, dass es nicht das war, was du sagen würdest.
„Weil es die Wahrheit ist.“ Ich schüttelte den Kopf, nur ganz leicht weil ich zu mehr einfach nicht fähig war, während sich meine Augen mit Tränen füllten. Es waren die Tränen, die ich die ganzen letzten Tage eisern zurückgehalten hatte, weil ich stark sein wollte, aber jetzt ging es einfach nicht mehr. Vor meinem verschwommenen Blick, ich konnte deine Bewegung eigentlich nur noch erahnen, hast du deinen Arm gehoben und dir angesehen was sie gemacht hatten, was du gemacht hattest.
Im Grunde hattest du genau gewusst, was du tatest, denn du hast es nicht so getan, wie die meisten impulsiven Handlungen dieser Art aussahen. Nein, nicht von Links nach Rechts, du hast beinahe deinen gesamten Unterarm aufgeschnitten, nur um sicher zu gehen, dass du vielleicht dos Richtige erwischst. Aber ich hatte dich gefunden, notdürftig versorgt und hergebracht. Jetzt sah ich, wie du den Verband mit zusammen gezogenen Augenbrauen anstarrst, ein Blick, der plötzlich so voller Hass und Wut war, dass ich ihn an dir kaum wieder erkannte. Er passte nicht zu dir, nichts von alldem hier passte zu dir.

„Sag das nicht…“ Meine ersten Worte gingen in einem kleinen Schluchzen unter, ein Geräusch, das ich so lange nicht mehr von mir gegeben hatte und erst jetzt begriff ich selbst, wie viel mir die ganze Sache hier wirklich zusetzte. „…Wie kannst das wollen? Wie zum Teufel nimmst du dir das Recht einfach aus dieser beschissenen Welt verschwinden zu wollen, wo dich andere noch brauchen? Woher nimmst du dir das Recht, einfach zu gehen und mich dafür mit diesem Schmerz alleine zu lassen? Wieso fällt dir nichts anderes ein, als einfach verschwinden zu wollen, ohne mir wenigstens zu sagen, warum du das getan hast? Und warum siehst du nicht, dass ich dich liebe und du mich damit mehr verletzt, als dich selbst?...“
Anfangs hatte ich noch beinahe geschrieen und zum Schluss war ich immer leider geworden. Ich wusste nicht, dass sich ein Blick von völliger Wut und Trauer in Überraschung wandeln konnte. Eine Überraschung, die ich jetzt aus deinen dunklen Augen lesen konnte wie in einem Buch, und das trotz der Dunkelheit, die noch immer im Zimmer herrschte. Ich hatte dich nie so angeschrieen, dazu hatte ich nie einen Grund und genau in dem Moment, als mich dein Blick traf, holte ich tief Luft und all meine eigene Wut war plötzlich verraucht. Sie war einfach weg und ich hätte mir in den Arsch treten können. Hatte ich nicht gestern noch gesagt, dass ich dir keine Vorwürfe machen wollte, hatte ich nicht noch vorhin noch gedacht, dass es besser wäre nichts zu sagen, als dir Vorhaltungen zu machen?
Du wandtest den Blick ab, plötzlich so voller Traurigkeit, dass es mir schier das Herz zerreißen wollte. Ich sah die erste Träne von deiner Nase tropfen, während du stumm auf die Decke in deinem Schoss gesehen hattest und dachte, dass ich ersticken müsse, so sehr schnürte sich mir die Kehle zu. Nie wollte ich Schuld an deinen Tränen sein, nie wollte ich dich behandeln, wie du dein ganzes Leben lang behandelt worden warst. Also stand ich auf und hastete aus dem Zimmer, schlug die Tür hinter mir zu und wusste, dass du nicht einmal den Blick heben würdest, um mir nachzusehen.
„Es tut mir leid.“, flüsterte ich noch einmal, bevor ich mit schnellen Schritten das Gebäude verließ.


Ich weiß nicht, was du die ganze Zeit gemacht hattest, nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte. Im Grunde wollte es mir egal sein, aber ich konnte einfach nicht aufhören daran zu denken, welchen Fehler ich am vorherigen Tag begangen hatte. Eigentlich hatte ich nie vorgehabt dir Vorwürfe und Vorhaltungen zu machen, aber letztendlich hatte mich diese scheißegal-Haltung wirklich so wütend gemacht, dass mir dieser Vorsatz für einen Moment entglitten war.
Ich wollte doch nur wissen, wieso du das getan hast, ich wollte nur wissen, welche Gefühle dich eingenommen hatten, dass du keinen anderen Weg mehr gesehen hast als das. Das Schlimme an der ganzen Sache war, dass ich nicht wusste wieso und dass ich es hätte vorhersehen müssen. Jetzt saß ich alleine an einer Bushaltestelle und wartete; den Blick auf die beinahe leere und verschneite Straße gerichtet; auf den Bus, der mich wieder zu dir bringen sollte. In der Nacht hatte es angefangen zu schneien und auch wenn ich sonst bei dem Bild der weißen Pracht ein kleines Lächeln in meinem Gesicht trug, weil es mich freute es zu sehen und weil es so friedlich aussah, konnte ich dieses Mal nicht lächeln.
Nein, viel lieber hätte ich augenblicklich anfangen können zu weinen, aber ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte eisern die Tränen zurück zu halten. Ich vermisste dich jetzt schon so unendlich und anscheinend hattest du nicht einmal die geringste Ahnung davon wie sehr ich das tat, sonst hättest du dich nicht zu deinem Schritt entschieden. Ich vermisste dich, und dabei lagst du nur ein paar Kilometer von mir entfernt in einem Bett und hast wahrscheinlich genau zu dieser Zeit die Decke mit deinem leeren Blick angestarrt, in Gedanken an dem Ort, an dem du so gerne sein wolltest.

Ich atmete tief die kalte und nach Schnee riechende Luft ein, beobachtete die kleinen Flocken, die sich tanzend ihren Weg zum Boden suchten. Eigentlich ein sehr schöner Anblick, aber langsam begann die Kälte in meine Knochen zu kriechen und mir eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper zu verursachen, weil der Bus sich bereits um eine Viertelstunde verspätete. Kein Wunder, dachte ich und warf noch einen Blick auf die dicke Schneeschicht, die sich auf der Straße angesammelt hatte und die den Bus davon abhielt, seine Zeiten einzuhalten.
Ich wusste nicht, ob du es schon mitbekommen hattest. Aber langsam begann ich mich zu fragen, ob ich heute überhaupt noch zu dir kommen würde können. Meine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen und ich ließ den Blick die Straße hinauf und hinunter schweifen, nur um zu sehen, dass weit und breit kein Bus in Sicht war und nur einige vereinzelte Lebensmüde es gewagt hatten, sich in ihr Auto zu setzen und sich einer Rutschpartie auf schneeglatter Straße zu unterziehen. Ich seufzte laut und ließ es nun doch zu, dass sich eine kleine Träne aus meinem Augenwinkel löste und bis zur Hälfte meiner Wange nach unten lief, bevor ich sie mit einer wütenden Bewegung wieder weg wischte. Ich war nicht mehr wütend auf dich, ich war wütend auf mich.
„Denkst du vielleicht auch gerade an mich?“ Herrgott noch mal, ich führte mich auf, als ob du bereits ein Jahr von mir getrennt warst und ich in der Annahme stand, dich nie wieder zu sehen. Der erste Punkt mochte nicht stimmen, der zweite machte mir Angst und ließ meinen Puls sich etwas beschleunigen. Ich rieb meine Hände zusammen und atmete noch einmal tief durch. Wenn es so schnell über Nacht so viele Zentimeter Schnee gab, gab es in dieser Stadt nur noch ein einziges Chaos und ich konnte wohl getrost davon ausgehen, dass sich der Bus in den nächsten zwei Stunden nicht sehen lassen würde. Nicht bevor die Stadt es endlich geschafft hatte wenigstens ein paar der vielen Straßen vom größten Schnee zu befreien, so dass man wenigstens die wichtigsten Punkte ansteuern konnte. Das konnte noch dauern, ich wusste es aus Erfahrung und so stand ich schließlich auf und versuchte das schmerzhafte Ziehen in meinen Zehen zu ignorieren, weil diese genauso eingefroren waren, wie der Rest meines Körpers.

Ich klopfte mir den Schnee notdürftig von den Schultern und lief los. Der Schnee machte das Unterfangen, heute noch bei dir anzukommen, gleich zu Anfang zu einer Sache, die Schwerstarbeit glich. Entweder hob ich die Füße so hoch, dass die Schritte nicht ganz so anstrengend waren, oder ich ließ sie über den Boden schlurfen und spürte den Widerstand des weißen Pulvers auf den Wegen. Egal für welche Variante man sich entschied, als Kind war es deutlich schöner gewesen bei Schnee draußen zu sein, als als Erwachsener – oder jemand, der einen darstellen wollte, es aber noch lange nicht war.
Der Gedanke ließ mich kurz schmunzeln, welches aber genauso schnell verschwand wie es gekommen war. Wie waren beide noch nicht erwachsen, dass wusste ich. Wir hatten vielleicht das Alter um als solcher durchzugehen und wir hatten unsere eigene Wohnung, aber im Kopf waren wir es noch lange nicht. Manchmal waren wir so albern wie kleine Kinder und manchmal ließen wir uns von unseren Gefühlen derart einnehmen, wie ein Teenager es tat, der die Welt einfach nicht verstand.
Wir verstanden sie noch heute nicht und ich bezweifelte, dass ich das jemals wirklich tun würde. Wir waren hier und ich versuchte schon immer das Beste aus meinem Leben herauszuholen, auch wenn mich Schicksalsschläge und sonstige Sachen immer wieder versuchten nach hinten zu werfen. Ich gab nie auf – das war der Unterschied zwischen uns und auch die Sache, die uns schließlich zusammengeführt hatte. Ich brauchte dich, weil du mich oft an das erinnert hast, was ich war, weil ich dich liebte und weil ich wusste, dass du mich geliebt hast.
Du brauchtest mich, weil ich wahrscheinlich die einzige Konstante in deinem Leben darstellte. Ich kannte deine gesamte Geschichte, nachdem ich wochenlang die Geduld aufgebracht hatte dein Vertrauen zu gewinnen, nachdem ich dir immer wieder beweisen musste, dass ich es wert war. Damals hatte ich deinen misstrauischen Blick und die beständige Traurigkeit in deinen Augen einfach nicht ertragen können, aber ich schaffte es irgendwie, dich zu nichts zu drängen, sondern dich selbst entscheiden zu lassen, wann du dich öffnen wolltest.

Mitten in meinen Gedanken sah ich auf und merkte, dass ich bereits die Hälfte des Weges hinter mir hatte, bevor ich nach unten sah und spürte, dass meine Hose bis zur Hälfte der Waden nass war. Ich seufzte lautlos in mich hinein und lief einfach weiter. Für dich würde ich sogar durch einen Schneesturm laufen und dabei noch ein Lächeln im Gesicht tragen, wenn ich an die Aussicht, dein Gesicht am Ende zu sehen, dachte.
Aber heute machte es mich traurig. Es machte mich traurig dich dort besuchen zu müssen, nachdem ich am Tag zuvor noch übereilt und in Wut einfach gegangen war. Ich wusste nicht, wie du heute auf mich reagieren würdest und ich wollte es mir nicht einmal vorstellen. Wahrscheinlich warst du nicht gut auf mich zu sprechen, denn ich wusste, dass du ziemlich nachtragend sein konntest. Ich hatte es mehrmals am eigenen Leib spüren müssen, dass du mich tagelang ignoriert hast, nur weil ich ein falsches Wort zu dir gesagt hatte. Deine Blicke, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten, hätten mich zu dieser Zeit wahrscheinlich töten können. Der Hass, die Wut und die Verbitterung standen zu diesen Zeiten so sehr in dein Gesicht geschrieben, dass ich einfach nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte.

Genau wie ich jetzt nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Es war etwas anderes zu hören, was du bereits getan hattest als es selbst mitzuerleben. Mehr als einmal hattest du das getan und ich wusste, dass du mir keine Lüge aufgetischt hattest, als du mir die Beweise dafür gezeigt hast.
Als wir uns kennen lernten, warst du noch in Behandlung deswegen. Ich lächelte leicht bei dem Gedanken, dass du nur dorthin gegangen bist, weil du erstens nichts anderes zu tun hattest und zweitens keine Lust auf eine stationäre Behandlung hattest. Du hast diese Therapie so sehr verabscheut und den Therapeuten regelmäßig boykottiert, indem du kein Wort gesagt hast und doch hast du es irgendwie geschafft sie zu beenden und weiteren Maßnahmen aus dem Weg zu gehen. Es war dir nicht peinlich es getan zu haben und du hast es auch nie bereut, und auch jetzt hattest du wahrscheinlich wieder genau diesen Standpunkt eingenommen. Ich fragte mich nur wieso. Ich fragte mich, wieso du plötzlich wieder in dein altes Verhalten zurückgefallen warst, wo es doch so lange so gut gelaufen war.

Üb dich in Geduld, sagte ich mir, als ich erneut aufsah und bemerkte, dass ich angekommen war. Meine Füße fühlten sich an wie Eisklötze an meinen Beinen und meine Zehen schmerzten derart, dass ich dachte, sie würde beim nächsten Schritt einfach von meinen Füßen abbrechen und im Schuh liegen bleiben, wenn ich diese auszog. Dennoch gab ich mir einen Ruck und öffnete die Tür zu dem Gebäude, aus dem ich gestern beinahe hinaus gerannt war.
Die warme Luft schlug mir derart ins Gesicht, dass ich für einen Moment keine Luft bekam und spürte, wie augenblicklich meine Hände begannen zu kribbeln und zu schmerzen. Meine Füße würden etwas länger brauchen, aber auch dieser Schmerz war es mir wert, nur um dich zu sehen, auch wenn ich nicht wusste, ob du mich sehen wolltest.
Ich lächelte der Dame an der Anmeldung zu und machte mich auf den Weg nach oben, nahm die Treppe um noch etwas von der Kälte in meinem Körper loszuwerden. Bevor ich mich versah, stand ich vor deinem Zimmer und hielt die Türklinke in der Hand, seufzte und atmete tief durch, bevor ich sie nach unten drückte und eintrat.
Du hast am Tisch gesessen und kurz aufgesehen als ich das tat. Deine Augenbrauen zogen sich für einen Moment zusammen und ich wusste genau zu diesem Zeitpunkt, dass du mir noch nicht wegen meiner Worte verziehen hattest. Dann sahst du wieder auf die Tischplatte, bevor du aufgestanden warst und zum Balkon gingst. Mit einer Wut in deinen Bewegungen, wie ich sie lange nicht mehr gesehen hatte, hast du den Vorhang zur Seite gerissen und die Tür geöffnet, nur um dann in deinen dünnen Sachen auf den Gemeinschaftsbalkon zu stiefeln.
Ich fragte mich in dem Moment, wie man jemandem, der gerade versucht hatte sich das Leben zu nehmen, ein Zimmer geben konnte, das einen Balkon im vierten Stock hatte. Aber das lag nicht in meiner Entscheidung. Einen Moment sah ich dir traurig hinterher, bevor ich meine Sachen auf dein Bett legte und dir folgte, um genau neben dir stehen zu bleiben und in die Ferne zu sehen. Wenn man es so nennen konnte, denn genau diese Ferne vor von hohen Häusern durchsetzt. Ich seufzte und sah dich von der Seite an, bevor ich den Blick nach unten richtete. Es schneite noch immer, ich war bis auf die Knochen durchgeweicht und mir war immer noch kalt, aber das machte nichts, solange ich dich irgendwie dazu kriegen konnte, wenigstens mit mir zu reden, oder mich anzusehen. Du konntest so stur sein.
„Es tut mir leid.“, sagte ich, aber spürte, dass du mir einfach nicht glauben wolltest. Wenn du dir einmal in den Kopf gesetzt hattest, dass ich völlig ernst gemeint hatte, was ich sagte – was ich im Grunde ja auch hatte – dann konntest du richtig unangenehm werden. Unangenehm leise und stumm…


Ich trug meine Jacke noch und begann mich zu fragen, wie du mit dem Shirt, dass ich dir vor zwei Tagen ins Krankenhaus gebracht hatte und der dünnen Hose, so lange auf dem Balkon stehen konntest ohne anzufangen zu frieren. Ein kurzer Seitenblick sagte mir zumindest, dass du noch nicht einmal eine Gänsehaut auf den Armen hattest, während du noch immer stur in die Ferne geschaut hast, um mich möglichst lange zu ignorieren. Ich seufzte leise und war versucht noch eine Entschuldigung von mir zu geben, doch wusste ich schon in dem Moment, dass sie sowieso nicht zu dir durchdringen würde. Also musste ich wohl oder übel, ob es dir gefiel oder nicht, zu einem anderen Mittel greifen.
Schließlich drehte ich mich ganz zu dir herum und sah dich einige Sekunden einfach nur schweigend an, während dir unter meinem Blick wahrscheinlich unwohl wurde und du deine Augenbrauen leicht zusammen gezogen hattest und deine Position von einem Bein auf das Andere verändert hast. Beinahe hätte mich dieser Anblick zum Lächeln gebracht, doch wusste ich um die Ernsthaftigkeit dieser Situation nur zu genau.
Langsam streckte ich meine Hand aus und legte sie auf deinen Arm, nur um zu spüren, dass du wirklich so kalt warst, wie ich es angenommen hatte. Ich fragte mich nur wann du gelernt hattest, die offensichtlichen Zeichen deines Körpers zu verbergen. Wahrscheinlich hast du eisern die Zähne zusammen gebissen und all die Muskeln in deinem Körper angespannt, nur um nicht zugeben zu müssen, dass du gefroren hast.

“Sieh mich wenigstens an.“, hatte ich gesagt und versucht dich auch nur ein wenig zu mir zu drehen, aber du bliebst so stur, wie du die ganze Zeit schon gewesen warst. Manchmal verzweifelte ich regelrecht an deiner Sturheit und wusste einfach nicht mehr, was ich noch mit dir machen sollte. Also ließ ich meinen Arm wieder sinken, sah dich dennoch weiter an und sah auch aus dem Augenwinkel, dass die Schneeflocken noch immer vom Himmel tanzten.
„Na schön, wenn du nicht willst, dann eben nicht. Aber hör wenigstens zu, das ist alles, worum ich dich bitte.“ Ich machte eine kleine Pause, doch du gabst einfach keine Reaktion von dir, also redete ich einfach weiter. „Es tut mir wirklich leid, was ich gestern zu dir gesagt habe, oder sagen wir lieber, dass mir die Art leid tut, in der ich es gesagt habe. Aber denkst du nicht auch, dass ich das Recht dazu habe, denn immerhin musste ich beinahe dabei zusehen und mir tut es auch weh, dich so zu sehen. Nicht zu wissen, was dich dazu bewegt hat und dir nicht helfen zu können. Es schmerzt mich genauso zu sehen, was du mit dir machst und… ich will doch nur den Grund wissen.“
Wieder machte ich eine Pause, aber alles was du dazu zu sagen hattest, war ein kaltes Zucken deiner Schultern, bevor du dich wieder vom Geländer abgestoßen hast, um dich herumzudrehen und wieder in dein Zimmer zurück zu kehren. Beinahe verzweifelt sah ich auf den Boden, ich spürte und wusste, dass dich etwas tief in deiner Seele quälte, aber du warst einfach nicht bereit, dich ein weiteres Mal zu öffnen. Hatte ich dich die letzten Wochen und Monate so sehr vernachlässigt, dass dein Vertrauen zu mir so tief gesunken war?

Ich versuchte mich zu erinnern und zog nun meinerseits meine Augenbrauen tief ins Gesicht. Ja, vielleicht hatte ich das wirklich, ich hatte mich viel zu sehr in meine Arbeit gestürzt, weil ich dort vorankommen wollte und dich darunter oftmals einfach vergessen oder links liegen lassen. Ich hatte nicht auf die SMS reagiert, die du mir jeden Tag geschickt hattest und ich rief dich nicht an, auch wenn ich gerade an dich gedacht hatte.
Aber verstandest du es denn gar nicht? Ich denke nicht, aber die gesamte Schuld auf mich zu schieben, war auch nicht gerade die feine englische Art. Du hättest mich ansprechen können, wenn ich zu Hause war, du hättest mich so lange nerven können, bis ich unter all meiner Arbeit endlich ein Ohr für dich gehabt hätte, aber stattdessen hast du mich nur stumm angesehen und deinen Kummer in dich hinein gefressen. Ja, im Nachhinein trifft mich vielleicht der Großteil der Schuld, aber wenn ich diesen jetzt auf mich nehmen würde, würde es mir nicht viel besser gehen, als es dir ging und dann wäre ich nicht mehr in der Lage dir zu helfen. Und das wollte ich wirklich, ich wollte dir helfen, ich wollte dein Vertrauen und ich wollte deine Stimme hören, die mir endlich sagte, was dir auf dem Herzen lag, was dich wieder in den Strudel der Dunkelheit zurück riss und dich in das schwarze Loch stürzte, in dem du dich zu befinden schienst.
Ich mochte es nicht, wenn du alles für dich behieltst und in dich hineinfraßt. Dann hatte ich allerdings erst Recht keine Entschuldigung mehr dafür, dass ich es einfach nicht bemerkt hatte. Noch einmal seufzte ich innerlich und folgte dir schließlich ins Innere des Zimmers, um die Tür hinter mir zu schließen und die Kälte dort zu lassen, wo sie hingehörte – draußen. Langsam zog ich meine Jacke aus und hing sie über den Stuhl, auf dem du vorhin noch gesessen hattest, bevor ich dich wieder ansah und bemerkte, dass du den Blick auf den Boden gerichtet hattest. Entweder schien der Boden vor deinem Bett so unendlich interessant zu sein und etwas zu beinhalten, was ich nicht sehen konnte oder aber du vermiedst es mit allen Mitteln mir auch nur in die Augen sehen zu müssen. Schon damals hatte ich eher auf den zweiten Punkt getippt, denn was bitteschön sollte an diesem Boden auch interessant sein?

Ich setzte mich auf den Stuhl, nachdem ich ihn in der Stille des Raumes herumgedreht hatte, um dich ansehen zu können, aber noch immer hattest du dich nicht bewegt und einzig und allein das leichte Heben und Senken deiner Schultern zeugte davon, dass du noch keine Statue warst, sondern wirklich dort saßt, es nur vermieden hast eine Unterhaltung mit mir zu führen. Leicht rieb ich meine Hände aneinander, um ihnen etwas Wärme zu geben, während ich fieberhaft überlegte, was ich noch zu dir hätte sagen können, damit du mich wenigstens ansiehst.
Ich wusste ja, dass du verdammt stur und ruhig sein konntest, aber gerade nach dem, was ich erlebt hatte, war das in diesem Moment sehr viel anders und grausamer als sonst. Wenn es um Belanglosigkeiten ging, konntest du meinetwegen soviel schmollen wie du lustig warst, aber hier ging es um etwas Wichtiges, und damit konnte ich nicht wirklich umgehen. Ich war der Verzweiflung nahe und für einen Augenblick hätte ich am liebsten alles hingeschmissen, wie ein wütendens Kind auf den Boden gestampft und wäre wieder gegangen. Aber für was hatte ich dann den langen Fußmarsch auf mich genommen, um dich wenigstens zu sehen.
Also versuchte ich eine andere Taktik, von der ich nicht sicher war, ob sie funktionierte, weil ich sie noch nie versucht hatte und weil sie mir im Grunde auch nicht lag. Vielleicht würdest du die Masche schneller durchschauen, als ich den Plan an sich gefasst hatte, aber das war jetzt auch egal. Entweder du würdest irgendwann mit mir reden, oder aber du würdest mich weiterhin mit eisigem Schweigen strafen, für etwas, was doch nur der Wahrheit entsprach.

Ich lächelte leicht, lehnte mich nach hinten und verschränkte die Beine miteinander, während ich spürte, dass die Schmerzen in meinen Zehen langsam weniger zu werden schienen. Dann sah ich dich einfach nur noch an, ein bohrender, vielleicht schon stechender Blick, genau auf deine Gestalt auf dem Bett – aber ich versuchte nicht mehr mit irgendwelchen Entschuldigungen um die Ecke zu kommen, die du mir sowieso nicht glauben würdest. Nein, ich schwieg, genau wie du es auch getan hast.
Die Minuten zogen sich wie Kaugummi und letztlich wusste ich nicht einmal, wie lange wir dort schweigend gesessen hatten. Hin und wieder konnte man die Spülung einer Toilette hören, die Schritte, die auf dem Flur vor dem Zimmer auf und ab liefen und immer, wenn ich den nach Hinten aus dem Fenster richtete, sah ich, dass es noch immer schneite. Der Tag war trist und grau und einzig und allein das reine Weiß des Schnees machte ihn zu etwas Besonderem – nicht wie diese grauen Regentage, an denen jedes Licht durch dicke graue Wolken verschlungen wurde und einen depressiv machte. Der Schnee hatte etwas Beruhigendes für mich an sich, ich wusste nicht, wie du darüber gedacht hast. Sicherlich war er nicht mehr schön, sobald er einen Tag auf Erden weilte – er wurde grau und schmutzig, er wurde aufgelöst durch Salz und mit Dreck zusammen am Straßenrand gehäuft.
Es klopfte an der Tür und bevor auch nur einer von uns hätte darauf antworten können, öffnete sich auch schon die Tür um eine Schwester hinein zu lassen, die das Tablett mit dem Mittagessen in den Händen trug. Sie stellte es auf den Tisch, wünschte dir einen guten Appetit und in dem Augenblick, als der Geruch des Essens meine Nase erreichte, wurde ich daran erinnert, dass ich heute selbst noch nichts gegessen hatte. Mein Magen knurrte laut auf, was sich in der Stille des Raumes wie ein wütendes Grummeln eines Bären anhörte, aber ich ignorierte es, weil ich das leichte Lächeln sah, was sich daraufhin auf deinen Lippen bildete.

Vielleicht war es auch ein hämisches Grinsen, aber es war eine Reaktion. Vielleicht hatte sich die Zeit des Schweigens und Wartens ja doch gelohnt und du würdest irgendwann einfach aufsehen und so tun, als ob nie etwas gewesen war. So hast du es immer gemacht, nur hatte ich bis heute nicht begriffen, dass ich diese Reaktion durch mein ewiges hinter dir hinterher Gerenne nur noch weiter nach hinten verzögerte. Ich hätte dich immer nur alleine lassen müssen, dich abkühlen lassen und du wärst irgendwann von alleine wieder zu mir gekommen – erst jetzt begriff ich das und hätte mir eine Hand an die Stirn klatschen können, nur um mich mit einem Arschtritt gleich danach zum Mond zu befördern. Wie konnte ich nur so blind sein? Aber ich war kein Mensch der den Dingen harren konnte, ich wollte Gewissheit und ich brauchte sie, so schnell es möglich war.
Noch einmal knurrte mein Magen laut auf und endlich, nach so langen Minuten des Wartens hast du aufgesehen. Du hast aufgesehen und mich angesehen, mit diesem Blick, den ich in diesem Moment einfach nicht einordnen konnte. Es war eine Mischung aus dieser Traurigkeit, dieser fürchterlichen Leere, die deine Augen so dumpf wirken ließ und ein klein wenig Schuldbewusstsein – vielleicht auch Reue.
Kurz sahst du auf deinen Arm hinab und hast geseufzt. Als du mich wieder ansahst, muss in meinem Blick die Sorge gestanden haben, die ich die ganze Zeit verspürte. Du musst gesehen haben, dass ich der Verzweiflung nahe war und wahrscheinlich auch nicht mehr wusste, was ich noch tun sollte. Dass ich nicht wusste, wann alles in dieser Beziehung begonnen hatte auseinander zu laufen und wann du dein Vertrauen zu mir verloren hast.

Du bist aufgestanden, bliebst aber am Bett stehen, ohne dabei den Blick von mir zu nehmen.
“Tut mir leid.“, hattest du geflüstert und den Blick noch einmal kurz gesenkt, was mir sagte, dass du es wirklich ernst meintest. Normalerweise sagte man immer, wenn jemand den Blick bei einer Entschuldigung abwandte, dass er es nicht ernst meinte – bei dir wusste ich, dass es das Gegenteil bedeutete. Du gabst damit deinen Teil der Schuld Preis. Du konntest mir nicht in die Augen sehen, wenn du das tatest, aber das war auch gar nicht nötig.
Jetzt standest du so verloren dort inmitten des Zimmers und wusstest wahrscheinlich selbst nicht, was du mit dir anfangen solltest.
„Nun komm schon her und iss.“, hatte ich schließlich geantwortet, meine Stimme rau vom Schweigen und ich räusperte mich. Aber du hast nur wieder den Blick gehoben und den Kopf geschüttelt.
„Warum?“ Wieder musste die Sorge in meinem Gesicht gestanden haben, aber ich konnte sie nun mal nicht abstellen, ich liebte dich immerhin und was für eine Liebe wäre es gewesen, wenn ich mir keine Sorgen machen würde?
„Hab keinen Hunger.“ Deine Stimme klang dünn und schwach, während du die Schultern gezuckt hattest und dich wieder auf das Bett nieder ließt. Ich sah dich noch einmal genauer an, ohne die Position auf dem Stuhl auch nur einen Zentimeter zu ändern – und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann du das letzte Mal so ausgezehrt ausgesehen hast. Eigentlich war es doch noch gar nicht so lange her – die Zeit, als wir uns kennen gelernt hatten.

„Nur ein Bisschen?“, versuchte ich es weiter, aber erntete nur ein energisches Kopfschütteln. Passend dazu knurrte mein eigener Magen auf, aber ich ignorierte ihn.
„Vielleicht solltest du was essen?!“, kam es leise von dir, aber ich bewegte mich nicht.
„Wenn du mir sagst, wann du das letzte Mal etwas gegessen hast.“ Mein Blick bohrte sich in deine Augen, und ich wusste in dem Moment, als du geantwortet hast, dass du lügst.
„Heute Morgen. Falls du es vergessen hast, hier gibt es dreimal am Tag etwas.“ Ich sah es, es schimmerte in deinen Augen. Ich sah die Lüge und musste mich nicht einmal dafür anstrengen. Die Frage war nur, wieso du das getan hattest.


Es hatte keinen Sinn gehabt, jeder von uns beiden war zu stur um sich die Blöße zu geben, etwas zu tun, was wir nicht tun wollten. Und so hatte die Schwester, die zuvor das Tablett gebracht hatte, es auch wieder abgeholt, so voll wie es war. Sie hatte den Kuchen vor meinen Augen noch hinunter genommen und auf den Tisch vor mir gestellt, mich fragend angesehen, aber dieses Mal war ich es, der die Schultern zuckte. Ich konnte dich nicht zu etwas zwingen, was du nicht wolltest, und das wusste ich, also ließ ich sie schließlich mit dem Essen ziehen, auch wenn ich es lieber in deinem Magen gewusst hätte.
Wir hatten uns die ganze Zeit über nur angeschwiegen und das einzige Geräusch, das die Stille hin und wieder durchbrach, war ein Knurren meines Magens und ein gelegentliches Seufzen von uns beiden. Ich wusste nicht, wie ich auf diese offensichtliche Lüge deinerseits reagieren sollte und ich hatte auch nicht mehr die Kraft mir einen Weg dazu zu überlegen. Im Grunde war es ein stummes Kräftemessen zwischen uns, wer von uns es am längsten aushielt kein Wort zu sagen. Ich wusste, dass ich der Verlierer sein würde, das war ich immer, aber noch war ich nicht soweit, mir diese Niederlage auch wirklich einzugestehen.
Ich sah dich an, stumm und stechend, während du die ganze Zeit meinem Blick auszuweichen versuchtest. Du sahst auf den Boden, hast aus dem Fenster gestarrt und wahrscheinlich gehofft, dass ich endlich gehen würde, um dich mit deinem Kummer alleine zu lassen. Aber auch das tat ich nicht, heute würde mir nicht derselbe Fehler wie gestern unterlaufen, soviel war zumindest mir sicher. Heute würde ich mich nicht von meinen Gefühlen überrumpeln lassen und wie ein angestochener aus dem Haus rennen, um der Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Heute würde ich nicht gehen, bevor ich nicht zumindest eine Antwort erhalten hatte, die Frage war, wie ich diese aus dir herausbekommen sollte.

Ich seufzte und stand auf. Meine Knie knackten bei der ungewohnten Bewegung und durchschnitten die Stille, in der wir uns befunden hatten, während ich zum Fenster ging und in die weiße Landschaft hinausstarrte. Ich hatte keine Ahnung wie ich dich zum Reden bringen sollte, es war immer wieder ein Glücksspiel, bei dem ich Verlierer oder Gewinner sein konnte. Meist redete ich dann nicht, wartete so lange, bis du dir von selbst einen Ruck gegeben hattest, aber wahrscheinlich war diese Taktik dieses Mal zum scheitern verurteilt.
Irgendetwas in mir sagte mir, dass ich damit keinen Erfolg haben würde, aber da ich nichts anderes wusste, beließ ich es erst einmal damit. Ich hoffte dir mit meinen Blicken ein schlechtes Gewissen einreden zu können, aber auch über diesen Punkt warst du wahrscheinlich schon hinaus. Dich einfach anzusehen und damit zu durchbohren, würde nicht die geringste Regung bei dir hervorbringen, dass wusste ich seit ich aufgestanden war.
Der Himmel war grau, wie die Stimmung in diesem Zimmer. Man konnte die Luft zwischen uns förmlich schneiden, das hatte die Schwester vorhin wahrscheinlich selbst mitbekommen. Im Nachhinein kam mir ihr Blick ziemlich eindeutig vor, aber auch sie wusste wohl nicht, was man da machen konnte. Normalerweise gingen Selbstmordversuche nicht damit aus, dass derjenige der sterben wollte in einem Krankenhaus vor dem Tod gerettet wurde und die Schwestern und Ärzte hier wussten so genau wie ich, dass dies selten der erste und letzte Versuch gewesen war. Man musste mir das nicht erst erklären, ich wusste es aus einer Ahnung heraus, aus meinem Instinkt – woher genau, wusste ich nicht, ich wusste nur, dass es so war.

Noch einmal seufzte ich und drehte mich wieder zu dir herum, sah, dass du deinen Blick eine Sekunde zu spät von mir genommen und nach unten gerichtet hattest. Du hast mich beobachtet, wahrscheinlich wusstest du nur nicht, was du sagen solltest.
„Es liegt an uns.“, hast du schließlich in den Raum geflüstert, kaum laut genug, dass ich es noch verstehen konnte und es nicht von den Schritten im Flur übertönt wurde. Ich zog fragend eine Augenbraue nach oben, hielt es aber für sicherer den Mund zu halten und nichts zu fragen, bevor ich deine Entscheidung mit meinem unüberlegten Worten wieder zunichte machte. Dieses Mal schien ich nicht der Verlierer gewesen zu sein, dieses Mal schien es sich wirklich gelohnt zu haben die Klappe zu halten und mir den Arsch wund zu sitzen, nachdem ich mir die Füße genauso wund getreten hatte, auf dem Weg hierher. Das war es mir wert und ich würde mir verdammt noch mal auch die Haut von meinem Körper ziehen lassen, nur um die wahren Beweggründe deinerseits zu erfahren.

Die Kehle schnürte sich mir dennoch zu. Es sollte an uns liegen, das bedeutete in meinem Verstand nur eines, und das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich merkte erst, dass mein Herz einen Schlag ausgesetzt hatte, als es wie wild in meiner Brust wieder begann zu schlagen und ich plötzlich, als diese Erkenntnis mein Hirn erreichte, deine Worte gar nicht mehr hören wollte.
„Ich sagte nicht, dass es an dir liegt.“ Jetzt hast du mir das erste Mal heute wirklich in die Augen gesehen, wahrscheinlich hattest du an meinem Gesicht genauso gut ablesen können wie ich es bei deinem tat. Ich konnte nicht sagen, dass mir ein Stein vom Herzen fiel, es fühlte sich noch immer so an, als ob mein Herz mit eisigen Klauen umklammert wurde und langsam aber sicher zerquetscht wurde.
„Es ist egal, wo ich hingehe, jeder scheint zu wissen, was ich bin…“ Du sahst wieder auf den Boden, und ich musste zugeben, dass ich dich nicht verstand, dennoch sagte ich nichts. „Sie sehen mich an wie einen Aussätzigen, jemand, der es nicht wert ist auf der Straße zu laufen, auf der sie gehen. Jedes Mal, wenn ich in der Schule bin…“ Ich hatte ganz verdrängt, dass du noch eine Lehre gemacht hattest, ich hatte ganz verdrängt, dass Schüler, selbst in diesem Alter noch unglaublich gemein sein konnten.
„… ich bin Angriffspunkt all ihrer Launen…“ Deine Stimme wurde leiser, dünner und ich wusste, dass du gegen die Tränen angekämpft hattest, gegen die du schon die ganze Zeit gekämpft hast und noch einmal schnürte es mir selbst die Kehle zu. „… ob sie sich nun lustig machen wollen, ob sie jemanden suchen um ihre schlechte Laune an mir abzulassen, ob sie einfach nur jemanden brauchen, um ihre Langeweile zu überbrücken… immer bin ich es, der darunter leiden muss.“

„Wieso hast du mir nie etwas gesagt?“, fragte ich und wusste im selben Augenblick selbst die Antwort. Du sahst mich an und ich wusste sie – du warst nie jemand gewesen, der mit seinen Problemen zu anderen gerannt kam, wahrscheinlich warst du nicht einmal ein Kind, dass früher zu seinen Eltern gerannt war, als es auf der Straße von größeren Kindern angegriffen und verprügelt wurde. Du ertrugst alles stumm und hast nie den Mund aufgemacht, nicht einmal, als es schon zu spät war.
„Was soll das bringen?“ Plötzlich sprühten deine Augen vor Wut und ich wusste nicht, wie diese so schnell dorthin gekommen war. Deine Stimme hallte durch den Raum, deine Hände hatten sich zu Fäusten geballt und dein Atem drang schneller an mein Ohr, als ich geglaubt hatte, es je zu hören. Du hast mich angestarrt und für einen Augenblick hatte ich gedacht, dass du auf mich losgehen wolltest, dabei war es nur die Wut, die du für dich empfunden hast. Aber das wusste ich in diesem Moment noch nicht.
„Sag es mir! Was zum Teufel soll die Scheiße bringen? Was soll es bringen, wenn ich mich bei dir ausheule und es dadurch doch nicht besser wird?“ Mit jedem Wort schien deine Stimme lauter und erstickter zu werden und ich wusste einfach nicht mehr, was ich darauf antworten sollte. Du hattest ja Recht, aber ich hatte dich noch nie so gesehen. Tränen liefen dir über dein Gesicht und du hast sie mit einer wütenden Bewegung weggewischt, doch es hatte keinen Sinn, es kamen sofort neue.

Am liebsten wäre ich einfach auf dich zugekommen und hätte dich in den Arm genommen, aber ich wusste, dass du mich nur wegschlagen würdest und sofort damit aufhören würdest auch nur ein Wort zu sagen. Mitleid konntest du nicht ertragen, denn in deinen Augen war dieses Gefühl nichts als Heuchelei, selbst wenn es bei mir nicht der Fall gewesen war. Das war es nie und dennoch hast du nie einsehen können, dass zu Liebe auch Mitleid und Mitgefühl gehörte.
Ich konnte dich nur ansehen und beobachten, wie dir dieser Ausbruch deine letzten Kräfte zu rauben schien, denn die Flut an Tränen auf deinem Gesicht riss einfach nicht ab. Ich hatte dich immer für stark gehalten, auch wenn ich wusste, dass vieles deiner Stärke eine Maske war, eine Fassade, die du im Laufe deines Lebens um dich herum aufgebaut hast.
Tu was, sagte ich mir selbst, schrie ich mir in Gedanken beinahe zu, aber ich konnte nicht. Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte dich an, als ob ich plötzlich nicht mehr dazu fähig war zu reden. Im Nachhinein mochte es ein Fehler gewesen sein, aber das hätte alles andere auch sein können. Vielleicht war ich auch einfach nur zu feige zu sehen, wie schlecht es dir wirklich ging. Vielleicht wollte ich mir meinen eigenen Schmerz ersparen, dafür ließ ich dich leiden.

„Hast du jemals Blicke ertragen müssen, die vor Abscheu geradezu dein Herz rausreißen?“ Deine Stimme war wieder leise geworden und du liest dich kraftlos auf dein Bett fallen, um dein Gesicht in deinen Händen zu vergraben. „Hast du jemals gedacht keinen weiteren Tag ertragen zu können, weil du die Angriffe derer nicht mehr aushalten kannst?“ Ich verstand dich kaum noch und endlich, endlich machte ich einen Schritt auf dich zu, blieb jedoch wieder stehen.
„Ist dir jemals alles von früher und heute zuviel gewesen, und hast du je gedacht es einfach beenden zu wollen?“ Ich schluckte, konnte dir nicht antworten. Du wusstest so gut wie ich, dass mein Leben sehr viel besser verlaufen war als deines, dass ich nie mit solchen Problemen zu kämpfen hatte. Ich war wohl eine der wenigen Ausnahmen der Menschheit, denen es wirklich gut ging und die nicht nur so taten, als wäre dem so. Aber anders als eben jene Menschen, die von ihrem hohen Ross nicht herunterkamen und auf die Leidenden herabsahen, war ich genau das Gegenteil. Ich nutzte meine Eigenschaft in Menschen blicken zu können, bevor ich sie richtig kannte und versuchte zu helfen wo ich konnte, damit es ihnen auch besser erging. Aber anscheinend hatte ich bei dir etwas falsch gemacht, bei dem Menschen, der mir am meisten bedeutete.
„Du weist es nicht, also lass mich in Ruhe.“ Es kam mir vor, als ob die Temperatur im Zimmer schlagartig um 10 Grad gefallen war und ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich diese kalten Worte von dir hörte. Du hast dich bemüht so kalt zu klingen wie du konntest, aber ich hörte den Schmerz und die Leere hinter ihnen heraus, was mir meine Kehle nur noch mehr zuschnürte. Ich hörte diesen Schmerz in diesen leisen Worten und wusste in dem Moment, dass ich dabei war dich zu verlieren. Vielleicht nicht dich als Mensch, aber dich als Liebe und es war deine Entscheidung.

Jetzt traten mir selbst Tränen in die Augen. Ich blinzelte um meinen Blick wieder etwas zu schärfen, und als ich dich wieder erkennen konnte, hattest du dich mit dem Rücken zu mir auf dein Bett gelegt. Anscheinend hattest du deine Entscheidung wirklich getroffen und ich musste zusehen, wie ich damit klarkam, darüber hast du dir wahrscheinlich nicht einmal Gedanken gemacht. Doch – sicherlich hast du das, denn sonst hättest du dich nicht ganz abgewandt, um meinen eigenen Schmerz nicht auch noch in dir ertragen zu müssen.
Eine Weile hatte ich dich noch angesehen, hatte jede winzige Bewegung deiner Statur im Bett wahrgenommen, bevor ich wortlos meine Jacke vom Stuhl griff und das Zimmer verließ. Ich wusste damals nicht, welche Auswirkung deine Worte haben würden, aber ich sollte es noch erfahren…


Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, nachdem ich den Weg, den ich zuvor an diesem Tag schon einmal zu dir gegangen war, auch zurückgelaufen war. Eigentlich hätte ich so erschöpft sein müssen, dass ich mich in mein Bett gelegt und sofort geschlafen hätte, aber deine Wärme fehlte mir an diesem Tag mehr als jemals zuvor und so war ich schließlich wieder aufgestanden und hatte mich mit einer Tasse Tee ins Wohnzimmer gesetzt.
Gefühlt hatte ich mich als ob mir jemand meine sämtlichen Kräfte aus meinem Körper gelutscht hatte, als ob jemand mit einem Presslufthammer auf meinen Schädel einhämmerte und doch saß ich einfach nur da und versuchte den Schmerz zu unterdrücken, der sich in meinem Inneren gebildet hatte, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Aber es brachte nichts, sie kamen immer wieder und ließen mich jedes Mal ein wenig älter fühlen.
Ich wusste nicht was ich denken sollte und wie ich das Chaos in meinem Kopf daran hindern sollte, sich noch weiter auszubreiten. Der Tee stand mittlerweile kalt geworden vor mir und erinnerte mich daran, wie lange ich hier schon saß. Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir die Annahme, dass es bereits kurz vor drei am Morgen war.

Seufzend stand ich auf und legte mich zurück ins Bett.

Als ich am Morgen aufwachte, waren keine 5 Stunden vergangen und jeder Muskel in meinem Körper schien mir nicht verziehen zu haben, so lange dort gesessen zu haben. Sofort kündigte sich das Chaos in mir mit Kopfschmerzen an, aber ich ignorierte es, hatte schlimmere Sorgen als einen dröhnenden Schädel am frühen Morgen. Ich musste noch einmal zu dir, ich musste klarstellen was ich für dich empfand und ich musste vor allem versuchen, deine Entscheidung irgendwie in das Gegenteil umzukehren. Denn damit konnte ich am wenigsten leben.
Also machte ich mich fertig, schlüpfte in die noch nassen Schuhe von gestern, die in meinem Flur, unserem Flur eine Pfütze geschmolzenen Schnees hinterlassen hatten und verzog mein Gesicht. Dennoch machte ich mir nicht erst die Mühe andere Schuhe zu suchen, schnappte mir meine Jacke vom Haken und verließ die Wohnung, zog die Tür hinter mir zu und schloss ab. Ich wusste nicht, ob ich auch an diesem Tag überstürzt aus dem Krankenhaus laufen würde, ich wusste nicht, ob ich es überhaupt schaffen würde, noch einmal zu dir durchzudringen.
Manchmal glich es wirklich einem Glücksspiel sich mit dir zu unterhalten, manchmal reichte auch nur ein falsches Wort und wir redeten drei Tage lang nicht miteinander und seit neuestem schienst du sehr gut in der Lage zu sein, mich zur Flucht zu bewegen. Aber eine Flucht vor dir, deine Wahl und meinen Gefühlen war einfach nicht möglich, sie würden verfolgen, so wie sie es heute Nacht getan hatten.

Die Straßen waren geräumt worden, und ich nahm an, dass mich der Bus heute vielleicht sogar zu dir bringen würde, und doch entschloss ich mich dazu, wieder zu laufen. Ich musste einen Weg finden meine Gedanken zu ordnen und das funktionierte bei frischer Luft noch immer besser als alleine zu Hause. Wieso ich nicht eher auf den Gedanken gekommen war, wusste ich nicht, aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht sehr viel. Weder über dich, noch über mich.
Du warst mir so plötzlich ein so großes Rätsel geworden, dass ich dich nicht mehr entschlüsseln konnte und du hattest alles andere vor, als mir den Schlüssel für dich zu geben. Und selbst wenn du das machen würdest, war ich mir nicht sicher, ob ich dich dennoch entschlüsseln konnte. In den letzten Wochen hatten wir uns wieder derart voneinander entfernt, dass du um dich herum eine so große Mauer aufgebaut hattest, dass ich sie nicht erklimmen konnte. Das gestern war wohl lediglich ein Stein gewesen, den ich daraus gelöst hatte.
Ich seufzte und dachte weiter nach, während mich meine Schritte beständig zu dir trugen. Vielleicht erschien ich für dich genauso wie du für mich. Vielleicht war ich für dich durch meine viele Arbeit und wenige Zeit zu genau so einem Rätsel mutiert und du warst unter all deinen Sorgen einfach nicht fähig zu mir durchzudringen. Du musstest erst eine schwerwiegende Entscheidung treffen, dass ich dich wieder vollends wahrnahm und irgendein ungutes Gefühl in meinem Inneren, diese Art unruhige Stimmung die man hatte, wenn man unterbewusst wusste, dass etwas schlimmes passieren würde, hatte mich befallen. Ich konnte es nicht mehr abschütteln und zum ersten Mal an diesem Tag begriff ich erst, was es war.
Diese Vorahnung drehte sich nur um dich und unbewusst begann ich schneller zu laufen.

Es dauerte nicht so lange wie gestern, bis ich das Krankenhaus erreicht hatte und die Treppen nach oben rannte. Auf den Fahrstuhl zu warten, hätte wahrscheinlich länger gedauert und so ignorierte ich die irritierten Blicke der Anderen und zog einfach durch, wozu mich mein Verstand förmlich zwang – so schnell wie möglich zu dir zu kommen und zu wissen, dass meine Vorahnung falsch war.
Doch als ich völlig atemlos zu dir ins Zimmer gestürmt kam, war es leer. Ich atmete hastig die stickige und mit Desinfektionsmitteln durchsetzte Luft ein, um meine schreienden Lungen wieder etwas zu beruhigen, aber stattdessen atmete ich nur noch schwerer.
Meine Vorahnung – es war, als würde jemand von hinten seine kalten Hände um meinen Hals legen und erbarmungslos zudrücken, verhindern, dass der nötige Sauerstoff in meine Lungen kam und ich nicht umfiel. Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig, während das Zimmer für einen Moment unter meinem Blick verschwamm und in dem Moment wusste ich nicht, ob es Tränen der Verzweiflung waren oder einfach nur die Folge dieses Gefühls in mir. Es schnürte mir die Kehle zu, erschuf einen so großen Brocken in meinem Hals, den ich einfach nicht fähig war, hinunter zu schlucken.
„Wo bist du?“, fragte ich atemlos in die Stille hinein und wusste gleichzeitig wie blöd das war. Du warst nicht hier und du würdest mir bestimmt nicht antworten können. Oder wollen.
Fahrig, als ob ich plötzlich nicht mehr fähig mehr einen vernünftigen Schritt vor den anderen zu setzen, stelzte ich ins Zimmer hinein und schloss die Tür leise hinter mir. Es war, als ob es hier drin so dunkel wie in der Nacht war und ich sah mich um, versuchte mein rasendes Herz irgendwie wieder zu beruhigen und merkte genauso schnell, dass es keinen Sinn hatte. Ich wusste es, irgendwas passierte, ich wusste nur noch nicht, was genau es sein würde.

Ich sah von deinem Bett zum Fenster, und von dort aus zu dem kleinen Tisch und den zwei Stühlen, die dort standen und plötzlich setzte mein Herz für einen Schlag aus. Dort lag ein Zettel und ich wusste auf Anhieb, dass er für mich bestimmt war, ohne den Namen zu lesen, der auf dessen Seite stand und nur darauf wartete, gelesen zu werden. Er lag dort wie ein falsches Mahnmahl, er war wie ein Stein, der sich auf meine Seele legte und binnen eines Sekundenbruchteils in die Hölle zog.
Langsam ging ich darauf zu und starrte ihn an, als ob er ein totes Tier war, das bereits verwesend dort lag und stinkend vor sich hingammelte. Mir wurde schlecht, und ich unterdrückte ein Würgen, bevor ich langsam und mit zittrigen Händen danach griff. Ja, er war für mich, der Name darauf sagte alles aus und ich schluckte noch einmal schwer, bevor ich mich dazu zwingen musste, ihn auch aufzuklappen und zu lesen.

Lieber Sam…

Unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen und ich musste mich mit einer Hand am Tisch festhalten, um nicht auf dem Boden zu landen, während das Blatt in meiner anderen Hand so sehr zitterte, wie diese selbst.

… Ich halte das alles nicht mehr aus. Es tut mir leid, dich derart enttäuscht zu haben und glaube mir, meine eigene Enttäuschung über mich selbst, übertrifft die deine wahrscheinlich um Längen. Ich weiß, dass du nicht sauer bist, und ich weiß, dass du mir keine Vorwürfe machst, aber das tue ich selbst schon genug. Dafür weiß ich um deine Enttäuschung und wenn ich ehrlich bin, fühlt sich dieses Wissen noch schlimmer an als die Wut, die du mir entgegenbringen solltest…

Das Blatt verschwamm vor meinen Augen und ich wischte die Tränen weg, die sich den Weg aus mir gesucht hatten um zu zeigen, wie verzweifelt ich gerade wirklich war. Der Brief war das, was ich niemals lesen wollte – ein Abschied.

… Ich hatte vor einigen Tagen einen Entschluss gefasst und es tut mir leid, dass ich nicht schnell genug war und du mit ansehen musstest, was ich getan habe. Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe und der Schmerz darüber ist in meiner Brust so groß, dass ich einfach nicht damit leben kann. So vieles ist schief gelaufen, viel zu viel, als dass ich es ertragen könnte. Ich ertrage es schon lange nicht mehr, dieses Leid, dass ich über alle bringe, mit denen ich zu tun habe und das Leid, dass mir mein ganzes Leben zur Hölle gemacht hat.
Bitte – weine nicht um mich, ich bin es nicht wert.

Dieser letzte Satz verursachte ein Schluchzen, dass sich aus meiner Kehle rang und mit Tränen in den Augen sah ich aus dem Fenster, versuchte mir vorzustellen, dass es noch nicht zu spät war, versuchte meinen Körper in Bewegung zu setzen um dich zu finden, aber ich bewegte mich keinen Millimeter vom Fleck. Ich stand dort wie angewachsen und konnte mich einfach nicht rühren, während mein Verstand plötzlich so leer zu sein schien, wie noch niemals zuvor.
Ich sah dich. Ich sah dich für den Bruchteil einer Sekunde am Fenster vorbeifliegen und genau darauf folgte ein dumpfer Aufschlag. Ich blinzelte und meine Knie drohten nachzugeben und doch musste ich mir in diesem Moment einen Ruck geben, sammelte alle meine Kräfte und stürmte förmlich auf den Balkon, um nach unten zu sehen, nur damit dort meine Knie endgültig ihren Geist aufgeben konnten und ich im Schnee landete.
Du hast es wirklich getan, auf die erdenklich schrecklichste Weise, die ich mir vorstellen konnte. Vor meinen eigenen Augen hast du dich vom Dach dieses verdammten Gebäudes gestürzt und mich in dieser Welt alleine gelassen. In diesem Moment konnte ich dich nur hassen – ich hasste dich für deine Selbstsucht und ich hasste dich dafür, mich alleine gelassen zu haben. Ich sah nicht mehr nach unten, blieb einfach dort hocken, und wusste nicht, welchem Gefühl ich mich zuerst hingeben sollte. Ich schwankte zwischen endlosem Zittern, Schluchzen und mich zusammen krampfen, während die Erkenntnis dessen, was wirklich passiert ist, erst mit den Sirenen und lauten Stimmen im Hintergrund in mein Gehirn sickerte.


Heute stehe ich hier. Ich habe dir frische Blumen an dein Grab gebracht und schrieb diesen Brief, damit du dir dort oben ein Bild davon machen kannst, wie ich mich die ganze Zeit über gefühlt hatte. Vielleicht bekommst du so mehr Verständnis für mich, aber ich bitte dich nicht um Vergebung. Nein, die habe ich nicht verdient, ich bitte dich nur darum, mich nicht zu vergessen, so wie ich dich nicht vergessen werde können.
Jedes Mal, wenn ich hier sein werde, werden Tränen um dich zeigen, wie sehr ich dich geliebt habe und du sollst wissen, dass du mit deiner Tat mein Leben genauso in Leere und Dunkelheit gestürzt hast, wie das deine so lange aussah. Vielleicht werde ich dir folgen, aber noch hänge ich zu sehr an diesem Schmerz um dich, der mir zeigt, dass ich noch lebe.
Leb wohl.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /