H. ist sich sicher: Sein bisheriges Leben und speziell seine Karriere liegen außerhalb der selbst gesetzten Norm. Er ahnt, er muss noch einige hartnäckige Lebenslügen zerschlagen. Doch ist er dabei nicht bereit, ein Lebensergebnis zu akzeptieren, das ihn daran hindere, den Olymp zu erobern. H. schließt die Augen und nimmt sich wahr als hoch gerüstetes Mitglied eines kleinen Ritterhaufens, im schwankenden Boot den Rhein überqueren. Er steht unbeweglich am Bug, fliegende Fische weisen silberglänzend den Weg; H. fixiert das gegenüberliegende Ufer. Etzel erwartet ihn. Dem germanischen Schicksalsglauben erteilt er jedoch eine spöttische Absage.
Langsam zerreißt die unbeugsame Gegenwart den seidenen Schleier des Fieberwahns. Unzufriedenheit nagt an ihm. Doch er wirkt gelassen und manchmal sogar steigt eine unerklärliche Fröhlichkeit in ihm empor. In diesen Momenten ist er glücklich und dann zitiert H. flüsternd mit leicht bebender Stimme Epikurs mahnende Worte: Leben willst du – weißt du überhaupt, was Leben ist? Im Laufe der Jahrzehnte hat er um diese Sentenz ein Ritual entwickelt. H. geht mit sich dabei ins Gericht – erbarmungslos. Aber das sind auch jene Augenblicke, vor denen er sich fürchtet. Und sein irres Vorhaben, die Vergangenheit zu seinen Gunsten zu korrigieren und mithilfe der Gegenwart die Zukunft in gewünschte Bahnen lenken – das ist sein aus übersteigertem Machtwillen heraus geborener Plan. Er beabsichtigt, jene Orte aufzusuchen und die Personen zu befragen, von denen er annimmt, dass sie eine gewisse Mitschuld an seinem heutigen Sosein tragen. Und diese Vermutung, so glaubt er, habe seine tragische Fortwirkung im trägen Zeitenstrom, der weder Vergangenheit noch Zukunft erkennen lässt. Aber was ist stattdessen?
H. spürt, seine Seele wehrt sich, indem sie ihn zurückhält, ihn fehlleitet, ihn nach vorne stößt und ihn nach hinten reißt. Als gäbe es etwas, was schwärzer als das Universum, heißer als tausend Sonnen auf ihm lasteten. H. lenkt das Steuer abrupt zur Seite. Ein schwerer Sturm bricht in den umgebenen Wald ein und hinterlässt ein tiefes, dunkles Raunen. Der Himmel glüht, die Atmosphäre brennt. Das ungeschliffene Schicksal stürmt in seine Heimatseele zurück. Die Fragen an sein wildes Leben, seine Verantwortlichkeiten werden drängender – sie schreien nach Klärung. Sie werden ihm keine Ruhe lassen - über den Tod hinaus. Mit der Autobahnauffahrt Richtung Norden hält das Schicksal wieder das Steuer in der Hand und legt die Koordinaten fest. Das Ende des Weges wird nicht mehr dem des Aufbruchs gleichen.
H. wird zum Gefangenen seiner Hybris. Ihm wird es nicht erlaubt sein, in irgendeiner Weise korrigierend einzugreifen. Seine ihn blendende Machtfülle hängt sich quälend an jeden seiner Gedanken. Die weißen Begrenzungspfeiler am Straßengraben schießen aus dem Augenwinkel in sein ermattendes Gehirn.
Die Ärzte umgehen mit leiser Ironie seine Fragen; aber er benötigt keine Antwort mehr. Er hat sie sich selbst gegeben. Noch unmerklich zittern seine Hände, der Gang wird unsicherer. Ein Steinchen bringt einen Hünen zu Fall. Die Seele aber zieht Vergleiche. Und sie wünscht ein Gleichgewicht zwischen dem Guten und seinem Gegenteil. Die brennende Frage ist nicht mehr, das Schlechte in seinem Charakter nachträglich zu eliminieren, sondern das Ergebnis von Jahrzehnten als göttlich beeinflusst zu akzeptieren.
H.s Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist stark eingeschränkt. Er fühlt sich beobachtet, als erwarteten die Umherstehenden einen Beweis seines Siechtums. Er spürt einen Rollstuhl an sich, die Hände beben und ein leiser Fluch reißt ihn aus der Ohnmacht. Sein Pkw läuft leise auf einen Parkplatz zu. Sein linkes Bein versagt ihm die korrekte Bewegung. Seine Augen umhüllt ein warmer, schwacher Schleier.
H. fällt wieder in eine tiefe Abwesenheit; sein rebellischer Geist wütet unbarmherzig in ihm. Das ist die Phase des Kräftesammelns. Die stillschweigende Vereinbarung mit dem Schicksal ist außer Kraft gesetzt: Es gilt nicht mehr die Vorbereitung und die Einordnung in das Unabwendbare; es erfasst ihn der unbeugsame Geist des Widerstandes. H. ist wieder der Freiheitsfanatiker, der mitreißen kann – alles geschieht, ohne ausdrücklich von ihm gefordert zu sein – Capriccio! Ein Böckchen springt mal hier-, mal dorthin, unkoordiniert. Die Captatio bene volentiae ist außer Kontrolle geraten; der Bitte zuzuhören, folgt rigide Unterwerfung durch die Macht eines glänzenden Charismas.
H. entscheidet sich früh. Sein Eintritt in das bewusste Leben ist stets begleitet von wilder Freiheitsbesessenheit - lässt in ihm eine natürliche Führungseigenschaft erwachsen – eine Motivation, die falsch beurteilt, das eigene Schicksal ins Trudeln bringen kann. Nach Stunden feurigen Suchens kehrt im Zwielicht des Morgens der helle Geist zurück. Das Schicksal des Sisyphos’ werde er nicht erdulden. Unbeugsam bis zum Bersten stürmt er in die Arme der Ungewissheit.
Der sich langsam regenden Würgeschlange des nahenden Todes tritt er mit herkulischer Entschlossenheit entgegen. Noch hält sich Charon bedeckt, sein Nachen schaukelt friedlich plätschernd in ewiger Dämmerung. H. tritt leise an die Seite des Fährmanns. Beide verhandeln schließlich über nichts Weniger als ein paar Tage verlängerten Lebens. H. gibt Charon zu bedenken, es sei doch auch für ihn erfreulicher, glückliche Menschen über den Acheron zu staken. Vielleicht könne er, Charon, dabei wieder sein Lächeln gewinnen. Ja, antwortet er, es sei auch für ihn unbefriedigend, jeden Tag die immergleiche Zeremonie der Münzgabe über sich ergehen zu lassen. Eine Lohnerhöhung habe es lange nicht mehr gegeben.
Und überhaupt, was mache der Chef denn, wenn er, der einzige Fährmann, in den Streik treten sollte? Marathon, Salamis und die vielen antiken Schlachten seien nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen sollte. Poseidon wird seine Meere nicht mehr zähmen können – die Helden wollen nicht mehr weichen. Zum letzten Male bauen sie mit ihren Körpern eine undurchdringliche Wasserwand. Ein kurzer dumpfer Schlag; Charons Nachen setzt auf. H. nutzt die Unruhe an Bord und springt an Land. Der Fährmann ist entsetzt, H. triumphierend: Hey, Charon, gräme dich nicht. Wir beide wissen, ich habe nur eine geliehene Zeit, ich komme nicht an dir vorbei. Aber bis dahin werde ich die Gelegenheit nutzen, Xerxes nach seinen Plänen zu seinem Kanal auf der Chalkidiki zu befragen. Er reißt das Steuer herum – auf die Autobahn Richtung Süden. H. hat noch etwas zu erledigen.
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2012
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