Folgende Geschichte ist eine Zumutung: für den, der nicht glaubt; für den, der glauben will; für den, der nicht glauben kann und schließlich für den, der zwar glaubt, was er sieht, das Gesehene aber unkritisch in sich aufnimmt und verschließt. Darum zunächst ein öffnender Blick durch einen imaginären Spalt der Geschichte auf das, was der unaufgeregte Beobachter als Entwicklung, Bewegung, Veränderung und Starre in der Zeit und im Raum wahrnimmt. Was sieht der Mensch überhaupt und wie kann er das Gesehene kommunizieren und mithilfe welcher Instrumente? Das Dilemma, ob und inwieweit die Sprache dabei zur Wahrheitsfindung geeignet ist, wird letztlich zur Überlebensfrage des Menschseins –. Alles Handeln, Erdulden und Streben läuft auf diese eine erlösende Beantwortung hinaus. Ist die Antwort denn überhaupt ohne Entzauberung alles Mystischen möglich? Oder ist es gerade diese Sehnsucht nach der Verbindung zum Göttlichen, die den Menschen freier atmen lässt.
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Die beiden Protagonisten dieser Geschichte sind überzeugt, im scheinbar unerklärlichen Verhalten des Menschen, in seinen Reaktionen auf Liebe, Hass und Tod Bruchstücke von Bemühungen über Wahrheit zu erkennen. Diese Erkenntnisse müssen nur richtig gedeutet werden. Und sollten sie dann mit der Seelentiefe des Individuums empfangen werden, sind sie dann überhaupt an Außenstehende übermittlungsfähig? Beide Männer verfügen über diese seltene Fähigkeit der emphatischen Analyse, eine Art Seelenentkleidung. Geboren nach dem letzten großen Weltkrieg, aufgewachsen in materieller Armut, aber auch im trotzigen kollektiven Überlebenswillen; der Hunger nach Bildung und Wissen füllt die Jugendjahre. Beide schaffen sich eine theoretische Werte- und Weltordnung, die keine Geduld gegenüber Aggression und Ignoranz akzeptiert. Es gilt u. a., an den Staatsgrenzen unangemessenes Verhalten auszuloten: Wo liegen die Ursachen von Schikane und Hilfsbereitschaft? Wieso treten sie häufig massiv an Grenzen zutage? Handelt es sich nur um Machtspiele einiger weniger Staatsvertreter? Eine Reise über den Balkan in unruhiger Zeit zur Chalkidiki ins nordgriechische Makedonien zum letzten Symposion soll Klärung bringen. Auf Charons Liste sind beide Reisende bereits in greifbare Nähe nach oben platziert. Die Zeit zur Analyse ist knapp; des Fährmanns Lohn lange vorzuenthalten, gelingt nur in ganz seltenen Fällen. Die Götter haben ihre Hände im Spiel. Es ist die gleiche Gesellschaft, die vor Troja mit den Helden um Sieg oder Niederlage kämpft.
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Seit Tagen sind sie nun unterwegs. Die beiden Reisenden dürfen nach zwölf Stunden Grenzaufenthaltes endlich von Ungarn nach Rumänien einreisen; unerklärlich, was diesen langen Aufenthalt verursacht. Aber es gibt auch Gelegenheiten, mit Menschen verschiedener Nationalitäten zu diskutieren. Im modernen Wohnmobil wird es bedrückend eng und der Himmel über die älteren Herrn weitet sich – Teilausschnitte eines gemeinsamen Lebens auf Zeit. Sie gewöhnen sich an die Geräusche der Karosserie, an die der Reifen auf dem unebenen, aufgeschlagenen Straßenbelag, an das Ächzen der Blattfedern; an das bange Gefühl, dass hinter jeden Kurve ein unangenehmes Ereignis über sie käme. Manches Mal zweifeln sie bereits an ihrer abnormen Neugierde. Die Liebe zu Griechenland: Kultur, tausend Inseln, helles, blendendes Blau am Himmel und auf blinkende Meereswogen, die Griechen und deren Lebenspläne - alles eine fixe Idee? Sie machen sich auf den Weg, die Wahrheit mit Erklärungen zu finden: Wo treffen sie auf Herkules, wo auf Odysseus? Die Anreise nach Hellas über den kollabierenden Balkan als Kontrastprogramm? Sie sind sich sicher, gut vorbereitet zu sein, auch wenn sich manches Mal eine klamme Unsicherheit einschleicht. Informative Gespräche am Straßenrand mit Einheimischen setzen sich als Vertrauensvorschuss in die Tiefe ihrer Seele ab und das besonders, wenn auf Deutsch kommuniziert wird – Sprache als sicherer Ankerplatz.
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Wohlmeinende Leute in Deutschland schütteln den Kopf: Über den Balkan nach Griechenland? – derzeit ein Husarenritt mit unkalkulierbarem Risiko. Warnungen, Mahnungen interpretieren die Reisenden als eine gut meinende Sorge. Jedoch, sie sind gut vorbereitet: Seit Jahren bereits ist ein rumänischer Ingenieur in einer saarländischen Kleinstadt ihre geduldigste Quelle und ein profunder Kenner des Balkans. Sie hören interessiert seine Schilderungen zu den evangelischen Wehrkirchen und den orthodoxen Gotteshäusern, vielfach in altslawischer Schrift ausgestattet. Auch die derzeitige Auswanderungswelle der Siebenbürger Schwaben nach Deutschland wird problematisiert. Die Menschen im äußersten Osten des untergehenden Tito-Reiches sind noch vom Krieg verschont, es tobt das Morden in nur wenigen Kilometern Entfernung entlang der rumänisch-serbischen Grenze. Der Landkarte werden neue
politische Grenzen diktiert. Tagsüber hängt ein grimmiges Donnern gleich eines starken Gewittersturmes über ihnen. Flinke Pferdegespanne überholen und die Bauern winken freundlich herüber.
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Dann, um Mitternacht: Unten im schwarz-dunklen Balkanwald scheint das Unfassbare, bisher für sie nur als abstraktes Ereignis erlebbar, als sehr real in ihre Richtung zu entwickeln. Vor ihnen liegt eine in absoluter Finsternis schweigende, unheimliche, steinern-hölzerne Stadt. Die Lichter sind abgedunkelt, meistens erloschen. Zwischen den Wohnreihen ahnen sie das Leben. Knackende Geräusche und Gemurmel stellen die Begleitsinfonien dieser nicht enden wollenden Nacht. Wie warnen die Kenner: um Gotteswillen nicht bei Nacht fahren im Lande des Grafen Dracula. Die verscheuchten oder niedergehaltenen Bedenken springen urplötzlich deus ex machina in ihr waches Bewusstsein zurück. Wenige Meter vor ihrem Fahrzeug zappelt eine menschliche Gestalt im Scheinwerferkegel, gestikuliert und schreit anscheinend zu ihnen herüber. Dann sehen sie die auf sich gerichtete Maschinenpistole. Noch relativ uneingeschüchtert lassen sie eine Suada fremdsprachiger Sätze über sich ergehen. Nur jetzt keinen Fehler machen! Im Umkreis weniger Meter wird es unruhig. Die Kommunikation der Schattenmenschen wird im Kasernenjargon hinaus in die Nacht gebrüllt. Die Maschinenpistole kommt näher und ihr Träger wird schließlich von ihnen als ein Mitglied der Securitate erkannt – obwohl sie doch längst aufgelöst sein sollte! Die brutalen Fernsehbilder aus Temeswar drängen sich vor die aktuelle Wahrnehmung. Was ist zu tun? Unsicherheit ist auf beiden Seiten zu spüren. Der martialisch gestikulierende Uniformierte tastet nervös am Abzug. Was um Himmels willen soll dieser Einschüchterungsversuch? Doch bevor eine weitere Eskalation eine nicht mehr beherrschbare Situation herbeiführt, entspannt die erlösende Begrüßung Bonsoir, que desirez-vous? augenblicklich die knisternde Atmosphäre und die Vorbereitungen zu diesem Reise-Unternehmen bringen erste Früchte. Ja, in Rumänien ist es vorteilhaft, etwas Französisch zu beherrschen. - Und einige Packungen Zigaretten mitzuführen, lang und weiß, geben aggressiven Gebärden eine versöhnliche Wendung. Die Kommandosprache weicht einem säuselnden Interesse: wohin die Reise gehe, welche Erfahrungen mit den Rumänen und ihrer Kultur beeindruckten den Transitreisenden im Besonderen etc., etc.
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Die Nacht verläuft friedlich. Die anwesenden Rumänen bilden mit ihren Fahrzeugen einen Sicherungsring um ihr Wohnmobil, als trauten sie ihren eigenen Landsleuten nicht. Dabei sind die verzweifelten Versuche, ihre Fahrräder vom Autoständer zu lösen, als eine unbedeutende Bagatelle einzustufen. Gegen 7.00 Uhr treten sie vorsichtig auf die Straße hinaus – mit einem unangenehmen Gefühl in den Organen. Dann Entwarnung: Keine Menschenseele ist zu sehen. Ein Zettel an der Windschutzscheibe erregt ihre Aufmerksamkeit: In einem diffusen Balkansprachengemisch werden sie darauf hingewiesen, rechtzeitig eine Tankstelle anzufahren. Es herrsche Dieselmangel. Jeder sei auf der Jagd nach Treibstoff – und das nicht nur legal. Die Ahnung schlägt in Gewissheit um: Unser Kraftstoff ist während der Tiefschlafphase in andere Tanks umgefüllt. Sie fragen sich durch. Nein, Diesel hätten sie nicht. Ihnen wird klar: Die Warnung hat einen sehr realen Hintergrund. Ein Deutsch sprechender junger Mann kommt interessiert auf sie zu: Woher sie kämen, wohin sie führen. Sie lassen sich in einem Restaurant nieder, das Fahrzeug immer in sicherem Abstand.
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Mit Sorge betrachten sie den Menschenauflauf um ihr Wohnmobil. – Es wird Zeit zum Aufbruch. Der junge Rumäne schlägt ihnen noch vor, größere Baustellen anzufahren, um dort mit den Arbeitern zu verhandeln – in DM natürlich. Der letzte Treibstoffvorrat geht zur Neige und sie durchfahren ein dichtes Waldgelände - keine Baustelle. Ein gewaltiger schwarzer Sattelschlepper setzt hinter ihnen zum Überholen an. Sie fahren wie elektrisiert hoch – er führt ein deutsches Kennzeichen. Der Himmel über Regensburg sei gesegnet! Doch er rast an ihnen vorbei, als sei er vor irgendetwas auf der Flucht. Unbehagen beschleicht sie; die Tankanzeige pendelt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Obwohl erst Mittagszeit, scheint sich ein dunkler Teppich über sie zu senken. Die ersten vagen Vermutungen zur nervlichen Überlastungen werden problematisiert. Was tun? Anhalten und auf irgendeine Hilfe zu warten oder das Risiko eines Zwangsaufenthaltes einzugehen?
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Wie schon so oft auf dieser Reise, führt ein guter Geist Regie. Vor ihnen wird es hell, heiß und der Horizont weitet sich – wie ein Trichter. Der Wald weicht und in ihr Blickfeld verhakt sich eine Tankstelle. Diesel! Ein mürrischer Greis thront auf seinem Kraftstoff, als gedenke er, sich keinesfalls von ihm trennen zu wollen. Wir ahnen: Die Reise wird hier vorläufig zu Ende sein; an einer befüllten Tankstelle – kurios. Doch ihre Geheimwaffe: Zigaretten, weiß und lang, öffnet die Zapfsäule, begleitet von einem göttliches Rauschen. Der Alte grinst – und verrechnet sich zu seinen Gunsten. Obwohl sie diese Dreistigkeit beobachten, halten sie sich aus nahe liegenden Gründen ruhig, springen in ihr Fahrzeug und wissen: Hinter den nächsten Kurven wird wieder ihre volle Aufmerksamkeit gefordert. Noch hundert Berge bis Kavala, noch einige wache Nächte bis Sokrates. Durch das enge Netz der unerbittlichen Vorsicht sucht die Vernunft nach Freiheit und Erklärung. Nur durch diesen Akt entwickelt sich ein Gefühl von Geborgenheit – aber auch das von schleichender Nachlässigkeit. Es beunruhigt: In einiger Entfernung verfolgt sie der Sattelschlepper aus Regensburg. Nach Stunden über gequälten Asphalt und grabentiefen Schlaglöchern nähern sie sich der Brücke über die Donau nach Bulgarien. Der einzige Übergang weit und breit. Der nächste befindet sich bei Calafat – eine Fähre. Plötzlich springt ein Polizist auf die Fahrbahn und hält seine Maschinenpistole drohend über dem Kopf. Der Sattelschlepper fährt mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, braune Staubfahnen hinter sich herziehend. Die Staatsmacht fordert zum wiederholten Male Erklärung und Gehorsam von seinen Transitreisenden – laut und aggressiv. Der Gendarm reißt den Hörer von der Gabel, gibt sich leise und devot. Die Reisenden entdecken die fehlende Telefonleitung, woraufhin der Polizist seine Dienstmütze mit seinen Füßen traktiert, die Pässe auffällig in seiner Jacke verschwinden lässt, als gelte es, ein Zauberstück zu zelebrieren. Die beiden Männer durchschauen das Possenspiel und fordern energisch die Pässe zurück. Die Staatsmacht tobt und wirft die Pässe auf die Tischplatte und weist drohend noch auf die kleine unsaubere Zelle. Vor der Tür des Postens zeigt der Gendarm aufgeregt in Richtung Bulgarien und vollzieht mit der Handkante an der Kehle eine eindeutige Bewegung: In Bulgaria Hals ab!
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Beide Reisende sehen sich sprachlos an und denken: Noch etwa hundert Berge bis Griechenland. Nach kurzer Absprache, die Brücke zum Grenzübergang zu meiden, fahren sie in westlicher Richtung auf die Fähre in Calafat zu – immer parallel zur Donau. Die Müdigkeit erzwingt schließlich, eine Zwangspause einzulegen. Erleichtert stellen sie fest, dass wenige Meter vor ihnen die Einfahrt zum sogenannten TIR- Gelände erreicht wird. Ein Kuriosum auf den Balkan, vor allem bei Nacht angesteuert. Die Lastkraftwagen nehmen dabei die Personenfahrzeuge unter ihre eisernen Fittiche. Gedacht als Zollerleichterung im Ausland mit verplombten Wagenflächen, entwickelt sich im Laufe der Zeit eine kollektive Schutzmaßnahme für Transitreisende. Der Parkplatz ist durch einen meterhohen Drahtzaun gesichert. Wachpersonal ist allgegenwärtig, die Restaurants sauber und gepflegt. Ein Vergleich mit den amerikanischen Wagenburgen ist angebracht – Ein Mini-Kosmos im Kosmos. Alle Reisenden, die diesen Service in Anspruch nehmen, sind begeistert. Manche richten ihre Route an dieser Einrichtung aus. Trotz aller positiven Beurteilung dieser Parkplätze für Fahrzeuge der Transports Internationaux Routiers ist zu wünschen, dass diese Schutzmaßnahmen bald nicht mehr nötig sein werden.
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Die Nacht schlafen die Gäste hinter Maschendraht wie in Abrahams Schoß. Kaum, dass die beiden Griechenlandfahrer auf die Hauptstraße einschwenken, überholt der Lkw aus Regensburg in bemerkenswertem Tempo. Das südliche Rumänien ist Bauernland. Viele kleine geduckte Häuser säumen die Hauptstraßen – rechts und links der geteerten Fahrbahnen allerdings nur notdürftig gepflastert. Die Reisenden machen einen Zwischenstopp und beobachten fasziniert eine Kuhherde, die sich nach und nach selbst auflöst – jede Kuh findet ohne Hilfe ihren eigenen Stall. Junge Leute steigen von ihrem Panjewagen und kommen neugierig auf das Wohnmobil zu. Es kreist der Selbstgebrannte, die Kommunikation wird ernst, aber sachlich: Banater Schwaben und deren massenhafte Auswanderung; die Kirchen leeren sich; Umzug auch der Älteren nach Deutschland zu Verwandten, aber auch Rückkehr; Tod der Ceaucescus; Probleme mit der Securitate; die aktuellen ökonomischen Schwierigkeiten …So vergehen die Stunden und später stößt jede Seite auf einen hohen Informationsgewinn. Bis zur Fähre wird es noch einige Zeit dauern; wenn möglich, wollen die beiden Freunde heute nach Bulgarien übersetzen.
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Die Landschaft weitet sich, der Himmel ist klar, eine unheimliche Stille lastet auf Mensch und Natur. Plötzlich kommt ein leichter Wind auf und wirft rasselnde Geräusche in den Äther. Kommandofetzen wirbeln herüber. Schwarzbraune Wolken tauchen Nähe und Ferne in ein seichtes Licht, die Sonne brennt in den letzten Stunden vor ihrem Untergang erbarmungslos. Wenige Meter vor ihnen, auf abgemähten Feldern, laufen Gestalten mit waffenähnlichen Instrumenten aufeinander zu, verkeilen sich, fallen zu Boden, stehen wieder auf – andere fallen schreiend auf das Feld. Aus allen Richtungen laufen Menschen auf ein imaginäres Zentrum zu. Später erfahren die Reisenden von einem Aufstand der Erntehelfer, es geht um Macht und Geld. Das helle Rasseln und die Kommandos kommen unerbittlich näher. In einer engen Straßenkurve sind beide Männer augenblicklich massiv von jungen Männern bedrängt, schwere Eisenketten an den Unterschenkeln. Die mit schweren Waffen ausgestatteten Aufseher stürmen auf das Wohnmobil zu, richten die Maschinenpistolen auf die Reisenden und die Sträflinge. Drohend werden die beiden Männer aufgefordert, unverzüglich weiterzufahren. Die Situation um das Fahrzeug eskaliert und wird schließlich nicht mehr steuerbar. Ein Gespräch auf friedlicher Basis ist irreal. Da stürmt hinter ihnen der LKW aus Regensburg über den müden Asphalt. Die Sträflingsgruppe springt in den Graben, löst sich auf.
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Mehrere Kilometer vom Unruheherd entfernt, erreichen die Protagonisten die Hauptstraße zur Fähre. Es ist eine ruhige Phase. Rumänen geben unterwegs Tipps zur Donauüberquerung und zur Weiterfahrt durch Bulgarien. Die Donau schimmert grünlich von fern und robbt sich zäh durch das Flusstal. Die Reisenden fahren am Zollhaus vorbei auf einen Parkplatz in Flussnähe. Keine hundert Berge mehr bis Griechenland. 18.00 Uhr soll die Fähre nach Bulgarien übersetzen, so die Information – aber von wem kommt sie? Dann eine ergänzende Nachricht: Heute Abend fahre der Kapitän etwas später, er sehe sich ein Fußballspiel an: Europa-Meisterschaft. Zöllner laufen gelassen auf dem Parkplatz auf und ab. Ihre Gesichter reflektieren Langeweile. Fragen nach der Abfahrt quittieren sie mit einem Achselzucken. Allmählich füllt sich das Gelände. Menschen aus halb Europa versammeln sich an diesem kleinen Grenzübergang – und warten, und fluchen, und beschäftigen sich mit irgendetwas wie die Polen nebenan: Sie bauen ihren Campingtisch auf, stellen ihn zu mit Flaschen und Melonen. Dann bauen sie ihn wieder ab, verpacken ihn wieder im Kofferraum ihres Autos, und entfernen sich für ein paar Minuten, kommen fluchend wieder zurück, bauen den Campingtisch abermals auf, stellen ihn zu mit Melonen und Flaschen. Und so werden die Umherstehenden Zeugen eines interessanten Wiederholungsspiels. Mittlerweile hat der rumänische Kioskbesitzer Mitleid mit den Wartenden und lädt ein zu einem gemeinsamen Fernsehabend, wie gesagt: Europameisterschaft im Fußball. So scharen sich Menschen aus aller Herren Länder um einen kleinen Fernseher, verstehen die Reportagen nicht und können nur ahnen, wer welchen Farben nachläuft. Ist überhaupt ein Ball im Spiel? Rätselhaft, wie sich langsam eine Diskussion entwickelt – wahrscheinlich über das Fußballspiel. Aber letztlich ist das Thema nachrangig, wichtig erweist sich nur die Akzeptanz des anderssprachigen Gegenübers. Eine Kombination mehrerer europäischer Sprachen findet auf der Metaebene einen Zugang zu allen Diskutanten und filtert somit konfliktproduzierende Missverständnisse aus. Spontane Vorlesungen am Donauufer.
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23.00 Uhr: Die Fähre rührt sich immer noch nicht. Die Donau trägt ihre dunkle Fracht gemächlich gen Schwarzes Meer. Plötzlich steht ein LKW neben dem Wohnmobil, nicht aus Regensburg. Die beiden Griechenlandfahrer kommen mit dem Fahrer ins Gespräch. Er berichtet von Behinderungen seines Fahrzeuges, die Plombe sei beschädigt. Die Fracht indessen ist, so erfahren die beiden, für einen Sattelschlepper dieser Größe eher lächerlich: eine Palette Bier aus dem Hessenland für die amerikanischen Soldaten in Nahost! 24.00 Uhr: der Parkplatz lebt, es wird nervös mit dem Gaspedal gespielt, Kommandos gehen unter – aber irgendwie und irgendwann stehen alle geordnet auf dem Deck. Die Überfahrt verläuft ruhig. Zur Rekapitulation bleibt in dieser Nacht keine Möglichkeit. Allein die Hinweise einiger Rumänen verhaken sich in die Gedankengräben. Ein knirschendes Rucken, dann setzt die Fähre am Ufer auf. Bevor der Zollbeamte seine üblichen Fragen stellen kann, geben beide Griechenlandfahrer an, man werde die bulgarische Schwarzmeerküste ansteuern und dort einen mehrwöchigen Urlaub verbringen – wie viele Jahre zuvor. Und plötzlich geht alles sehr schnell, die Formalitäten werden auf ein Mindestmaß beschränkt; die Zöllner winken die beiden aus der Wagenkolonne. In diesem Moment klopft eine junge Frau an die Scheibe und fordert auf, bei der nächsten Kontrolle nicht anzuhalten. Die Pässe würden nur gegen einen hohen Betrag wieder zurückgegeben – es seien falsche Polizisten. Die Mahnung kommt rechtzeitig: Ihnen wird gedroht zu halten. Sie aber fahren unbeirrt weiter, sehen sich kritisch um, ob nicht doch die Maschinenpistolen in Anschlag gebracht werden.
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Die tiefe Verankerung der Analyse vieler Reisen entfaltet eine schützende Tarnkappe über sie. Es stellt sich eine tiefe Zufriedenheit ein. Etwa drei Uhr ruht der Mensch und die Maschine – inmitten zahlreicher Sattelschlepper. Gegen 6.00 Uhr löst sich wie von Geisterhand die Wagenburg auf. Wenige Minuten später ist kein LKW mehr zu sehen. Die Straße steigt langsam an zu einer flachen Hochebene. Kasernen, Soldaten, Zollbeamte – und das unüberschaubar –. Der Reisende wird es wohl nicht als eine gelungene Einladung akzeptieren. Die Griechenlandreisenden werden in eine Straßenecke gelenkt. Ein Zöller steigt grußlos in das Wohnmobil und fordert, ihm die Carta auszuhändigen. Nachdem diese nicht sofort gefunden wird, verlässt der Beamte das Fahrzeug, stattdessen rast ein Jeep heran, besetzt mit mehreren bewaffneten Soldaten. Die Drohung ist unmissverständlich. Erste Entspannungsanzeichen jedoch lassen die Reisenden hoffen, bald die Grenze zur Türkei passieren zu können. Die Carta, ein Statistikformular, verliert plötzlich seine Wichtigkeit.
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Es ist schwül. Diese Temperatur hängt über den Wartenden. Beobachtet vom überdimensionalen Atatürk im Goldrahmen. Unterdrücktes Murmeln, niemand will hier unangenehm auffallen – Unbehagen, Hitze treiben die Schweißperlen auf die Stirn. Die Bearbeitung der Reisenden beginnt. Die beiden Griechenlandreisenden werden angewiesen, nach hinten zu treten und zu erklären, wer von beiden das Fahrzeug fahre und warum dies nicht beurkundet sei. Wem gehöre das Wohnmobil? Unvorsichtigerweise fällt im Verlaufe des Gespräches das Ziel Griechenland. Warum dorthin, bei uns in der Türkei sei es schöner – man möge vor der Tür warten. Und beide warten, warten. Zig Reisende gehen an ihnen vorbei, mitleidig lächelnd. Ein deutscher Tourist beugt sich vorsichtig zu ihnen hinunter, beschwört beide, den Beamten alles devot zu beantworten und keine Fragen zu stellen. Die Bedeutung dieses Hinweises wird beiden bald bestätigt. Nach Stunden des Wartens werden sie in ein großräumiges Büro geladen. Dort empfängt sie ein schweigender, hoch dekorierter, untersetzter Beamter. Das Schweigen setzt sich fort, der Zöllner blättert gewichtig in irgendwelchen Papieren herum – und schweigt. Bis er plötzlich seine bunte Schirmmütze vom glänzenden Kopf reißt, darauf herumspringt, ein beliebtes Einschüchterungstheater. Dann greift er zu den Pässen, schleudert sie auf den Tisch, stürmt aus dem Büro und hinterlässt zwei Ratlose, die nicht wissen, ob sie nun gehen dürfen – nichts wie weg! Ungewissheit, bis der letzte Posten die letzte Schranke öffnet.
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Nur noch wenige Berge bis Griechenland! Die europäische Türkei ist nass, es regnet seit Stunden. Die Straßen sind unbelebt – dann, wie ein zur Seite gerissener Schleier: Yanunistan! Bald schon die ersten Lichter der letzten Zollstation; Übergang nach Alexandroupolis. Den türkischen Zoll passieren die Griechenlandfahrer ohne jegliche Kontrolle. Wenige Meter weiter sitzt ein griechischer Soldat auf dem Asphalt, an eine Mauer gelehnt, ein Gewehr achtlos zwischen den Beinen. Und ruft zum Wohnmobil den erlösenden Satz herüber: Willkommen zuhaus – Rehakles ist auch schon hier!
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Die letzte Etappe ist beendet, die Zeit der Aufarbeitung wird noch einmal alles fordern. Ein Schatten löst sich von einem im dunklen Hintergrund stehenden Sattelschlepper und geht auf die beiden Griechenlandfahrer zu. Er stellt sich vor als der gute Geist der Reisenden auf den Straßen der Welt und sitze unerkannt im Symposion der Wahrheit Suchenden. Er halte sich stets in der Nähe der von Intrigen und Ungerechtigkeiten bedrohten Menschen auf. Das Jahr 2012 als Jahr des Drachen sei günstig zur Abwicklung schwieriger Vorhaben. Es ist ein Glücksjahr, so der LKW-Fahrer. Jede Philosophie der Wahrheitssuche basiere auf der unerschütterlichen Hoffnung des Menschen auf Streben nach Harmonie.
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Die Teilnehmer am letzten Symposion kommen aus allen Weltgegenden, Vertreter aller Weisen breiten ihr Wissen aus, legen es zur Beurteilung vor. Kein geringerer als Aristoteles, so der Volksmund, leite diese Symposien. Abwechselnd mit Platon und Sokrates. Man sieht sie noch gemeinsam den Olymp besteigen – dann verliert sich ihre Spur.
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2012
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