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In dieser Nacht

Heute bin ich eine alte Frau. Kein Mensch glaubt mir mein Leben wirklich. Das erzähle ich und erzähle ich. Kein Mensch hört mir zu. Die Alte da. Brabbelt vor sich hin. Die alte Spinnerin. Eine vertrocknete Ritze mit hängenden Zitzen an schlaffen Hautsäcken. Ein geschlechtsloses Wesen. Aber gestern war ich noch. Nicht so genau, aber ich war doch gestern noch?

Gestern. Als ich mich im Spiegel drehte und wendete. So von der einen Seite. Dann wieder die andere Seite. Meinen kleinen Busen hin und her reckte. Mein schönes Gesicht ganz nahe am Spiegel betrachtete. Sehr schöne Augen blickten mich an. Ich ging noch näher ran. An meine Augen. Kornblumenblau. Noch nie hatte ich solch ein schönes Blau gesehen. Und eine Kornblume auch nicht. Mit etwas Lippenstift und Lidschatten machte ich mich noch schöner als schön. Noch etwas Rouge.


Ich tänzelte zurück. Um mich voll und ganz zu sehen. Meine schlanken Beine. Meine Taille. Meine Bewegungen. Dann wieder schnell zum Spiegel. Auge in Auge, so schön war ich. Mein Mund so voll und sinnlich. Ich liebte mich. Ich küsste mich.

Den Spiegel wischte ich schnell ab.


Ich wurde geboren um zu gefallen. War das so? Wirklich wahr und mit vielen Schmerzen habe ich zwei Kinder aus mir rausgepresst. Jedes Kind habe ich neun Monate in mir rumgetragen. Dann geliebt und gefüttert. Gestillt und geliebt. Tag und Nacht. Und weiter geliebt. Beschützt und behütet. In den Arm genommen und getröstet. Geweint und gelacht. Und geweint.

Meine zwei Kinder. Meine zwei Buben.

Für Fürsten und Könige? Für Halunken geboren? Heldenkinder für selbsternannte Herrscher? Die meine Jungs in den Tod schicken wollen. Um ihre Reichtümer zu erweitern? Eigenmächtige Könige und Fürsten?

Für ein Vaterland? Für ein Mutterland? Nicht ein König hat einen Acker umgepflügt. Kein Fürst einen Samen in die Furche geworfen. Keiner eine Ernte eingeholt. Nicht einer davon einen Schmiedehammer angehoben. Aber Kriege konnten die führen. Das konnten sie. Die feinen Herren. In ihren Burgen und ihren Schlössern. Millionen und Millionen von jungen Menschen in den Tod zu schicken. Für ihr eigenes kleines und parfümiertes Scheißhaus.


Dann die demokratischen Politiker. Kaum den Fürsten entronnen, erinnerte man sich der Griechen. Da halten sie fromme Reden und stehen still. Bedrückt in allen Medien anzusehen. Und sehr betroffen. Damals wie heute. Juristerei und Recht und Politik.

Ich sehe die Mutti der deutschen Nation. Im Fernsehen. Mutti möchte etwas sagen. Schon fuchtelt sie mit ihren Unterarmen los. Wie eine Puppe am Faden.

Es kotzt mich an, aber ich höre ihr zu. Diese Lügen von ihr. In Afghanistan verteidigen wir die Demokratie aller Menschen. Und so weiter und so fort plappert die Kanzlerin der deutschen und der demokratischen Republik ins Ohr. Mit offenen Ohren höre ich zu. Wie Mutti lügt. Wie Mutti lügen muss. Nur um ihre politische Position zu wahren.

Meine verdammte Güte! Hat die Frau eigentlich noch Zeit und Gedanken dafür übrig, dass da mit ihrem Einverständnis Menschen getötet werden. Menschen getötet werden. Kinder, Frauen, Männer. Blickt die überhaupt noch durch? Kinder, Frauen, Männer!
Menschen wie du und ich. Familien werden ausgerottet.

Sie weiß doch, als ehemalige DDR-Jungpolitikerin, was die damalige UDSSR in Afghanistan versucht hat. Zehn Jahre lang versucht hat: Mord und Folter und Totschlag. Und trotz ihres Wissens, schickt diese Frau meine Buben in diesen Krieg. Und hält dann noch Trauerreden. Wieviel Hohn und wieviel Lüge. "Wir (Mutti nicht!) sind in Afghanistan, um Deutschland zu beschützen …"


Na, das hört sich ja gut an. Ich breche in meines Nachbars Haus ein, um mich davor zu beschützen, dass er nicht in mein Haus einbricht.


Gestern früh drückte ein beamteter Daumen einen Plastikklingelknopf. Irgendwo im Schwäbischen.

"Ringringringschnarch." Noch ganz verschlafen die Frau. "Horsche moal."

Der alte Schnarcher dreht sich auf die andere Seite.

Die Mutter macht die Tür auf.

"Sind sie die Frau Vetterle?"

Die Mutter. Mit offenen Mund und alles wissend.

"Ja, das bin ich."

"Die Frau Franziska Vetterle?"

"Ja?"

Frisch und direkt aus Berlin wurde ihr dann berichtet, dass ihr Sohn für sein Vaterland gestorben ist. Einfach mal so. Erst gestolpert und dann gefallen in Afghanistan.

Fast 29 Jahre alt. Nun aber leider zerfetzt. Zerfetzt für Deutschland.

Zusammengebrochen wird die Frau ins nächste Krankenhaus gefahren. In Berlin schreibt einer eine Rede für die Bundeskanzlerin. Für eine Vorstellung in Washington.

"Wir bedauern das sehr und sind zutiefst betroffen."

Verlebt, verknittert und verfaltet bin ich jetzt. Noch nicht ganz eingetrocknet. Also noch gebrauchsfertig. Eine geöffnete Dose mit unleserlichem Haltbarkeitsdatum.

In dieser Nacht. Da bin ich aufgewacht.

Frisch und fröhlich. Ein schönes Kind. Der Vater ernst. Die Mutter sorgsam. Der Bruder sorglich. Ich ein Mädchen. Klein und doof. So träumte ich wach. Echt, ich dachte ich träumte ich wäre schon tot. Neben mir lag eine alte Leiche. Eine alte Leiche, die aussah wie ich. So wie ich mir vorstellen kann, als tote Frau neben mir zu liegen.

Und dieses laute Organ. Neben mir liegt dieser Mann und schnarrrrcht. Verdammt noch mal! Das bin ich höchstpersönlich. Ich bin Frau Vetterle.

Impressum

Texte: von mir aufgeschrieben
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2010

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