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Prolog




„Schließt die Augen, meine Kinder. Es ist Zeit zu gehen. Hier könnt ihr euer Schicksal nicht mehr erfüllen. Für diese Welt gibt es keine Rettung mehr, keine Hoffnung…
Euer Weg führt in eine andere Richtung, fort von den Kriegen und all der Angst.
Lasst euch von den Wellen aus Schatten tragen, lasst euch in eine andere Welt fallen. Ihr werdet die Freiheit kennen lernen, nicht mehr an Gesetze gebunden sein, die für euch den Tod bedeuten…
Weine nicht, meine Kleine…Alles wird gut werden, die Prophezeiungen werden sich erfüllen und irgendwann werden wir uns wieder sehen.
Aber jetzt schließt die Augen. Es ist Zeit zu gehen…Zeit zu sterben…“

Ihre Stimme wurde immer leiser und verklang schließlich, während sie ihrer Tochter sanft eine Träne von der Wange strich und die Hand ihres Sohnes festhielt. Obwohl die Angst sie gezeichnet hatte und sie die Schrecken des Krieges kannten, strahlten die Gesichter der Beiden tiefe Unschuld und ruhigen Frieden aus.
Die Gesichtszüge des Mädchens waren kindlich und doch klar. Ihr Auftreten und ihre Haltung vermittelten Sicherheit und Lebensfreude, während in ihren grünbraunen Augen stets ein neugieriges Glitzern gelegen hatte.
Das blonde, etwa schulterlange Haar umrahmte ihr Antlitz und ihre Haut schimmerte im fahlen Mondlicht, das spärlich zwischen den Blättern der Bäume hindurch auf ihr zartes Gesicht fiel.
Als sie noch ein letztes Mal blinzelte, war das Glitzern in ihren Augen verblasst. Dennoch lächelte sie ihrer Mutter zu, ehe sich ihr Brustkorb zum letzten Mal hob und wieder senkte. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, nur der Hauch eines Lächelns blieb auf ihren geschwungenen Lippen zurück.
Ihr Körper lag still da, noch immer warm und beinahe lebendig. In ihrem weißen Kleid auf das weiche Moos gebettet, wirkte sie zerbrechlich wie ein Engel. Dennoch hatte sie schon großen Kummer auf ihren Schultern getragen und ihre kleinen Hände hatten immer helfen wollen.
Feine dunkelviolette Linien spannen sich über den linken Handrücken und malten ein Symbol darauf, dass sie selbst und ihre Mutter nie ganz verstanden hatten. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Vogel, der seine Schwingen öffnete um geradewegs von ihrer Hand zu fliegen.
Sie hatte sich das gerne vorgestellt, sich in ihren Träumen verloren und dabei stundenlang an dem kleinen Fluss gesessen, die Füße ins kühle Wasser baumeln lassen. Sie hatte den von der Sonne angewärmten Felsen geliebt wie eine Katze im Winter den warmen Ofen.
Vielleicht hatte sie nur deshalb so einfach verkraften können, was um sie herum passierte. Sie hatten alles verloren, ihr Zuhause, Freunde und Verwandte und letztendlich hatte das Mädchen auch sein Leben geben müssen. Dennoch hatte es all die Freuden des Lebens bewahrt und tief in sich verankert, um sie niemals wieder zu vergessen.
„Ich wünsche mir, dass der Tod dir diese Erinnerungen gelassen hat…“, flüsterte ihre Mutter ihr leise zu und schloss einen Moment lang die Augen, senkte den Blick. Es war schwer sie gehen zu lassen, auch wenn es das Beste war und der einzige Weg, der die Kinder zu ihrer Bestimmung führen würde.
Sie hob den Kopf wieder, strich sich die Haare aus dem Gesicht und wandte den Blick zu ihrem Sohn.
Er war das genaue Gegenteil seiner Schwester, auch wenn er dieselbe Zeichnung auf seiner Hand trug. Allerdings waren die Linien heller, beinahe leuchtend weiß und wirkten auf den ersten Blick wie eine Narbe.
Seine Gesichtszüge waren schärfer als die des Mädchens und verrieten nichts über das, was er fühlte oder dachte. Er war ein Buch, das man erst zu lesen lernen musste.
Sein Haar war nachtschwarz und wurde von einzelnen, dunkelroten Strähnen durchzogen. Immer wieder rutschte es in sein blasses Gesicht und fiel es ihm über die dunklen Augen, die oft abweisend wirkten. Nur wer genauer hinschaute, konnte einen leichten violetten Schimmer in ihnen erkennen, der sie so tiefgründig und geheimnisvoll wie das Meer an der tiefsten Stelle wirken ließ.
In diesen Augen lag kaum mehr Lebensfreude. Durch die Geschehnisse der letzten Jahre war nichts davon übrig geblieben, als eine Fassade, eine Maske, hinter der er jedes Gefühl versteckte, das sein Herz doch eigentlich aussprechen wollte.
Er bewegte sich noch schwach und versuchte den Kopf zu heben. Sein Körper gehorchte ihm kaum noch und doch hatte er die Augen noch geöffnet und blickte seine Mutter wach und wissend an.
„Es musste sein?“
Seine Stimme war brüchig und nur noch ein heiseres Murmeln. Sie nickte und gab ein paar leise Worte zurück: „Pass auf sie auf, wohin auch immer der Weg des Schicksals euch bringen wird…“
Mit Tränen in den Augen lächelte sie ihn an, während er mit letzter Kraft eine Hand hob und ihr eine einzelne Träne von der Wange strich. Seine Finger waren kühl, sein Körper dem Tod näher als dem Leben.
„Weine nicht…Alles wird gut…“, flüsterte er mit versagender Stimme, ehe er von dem tödlichen Gift überwältigt wurde, die Augen schloss und seiner Schwester folgte. Seine Hand glitt von ihrer Wange, sein Kopf fiel zur Seite.
In den dunklen Kleidern wirkte er nur wie eine Erscheinung oder ein Schatten, den das Mondlicht auf den Boden unter den Bäumen malte.
Niemals wieder würde sie ihm ein Lächeln entlocken können, wie sie es getan hatte, wenn er eigentlich nicht hatte lachen wollen. Mit der Zeit war ihr das immer seltener gelungen und nun war es auch damit vorbei.
Sein Lebenslicht in dieser Welt war erloschen und würde in einer anderen weiter brennen, heller und stärker als jemals zuvor. So hoffte sie zumindest in den verzweifelten Stunden, in denen sie neben den Körpern ihrer Kinder kniete, ihre Hände noch ein letztes Mal ergriff und ihnen Worte zuflüsterte, die sie nicht mehr hören konnten.
Sie sollten den Krieg vergessen, der von Anfang an ihr Leben geprägt hatte und ihnen nach einer beständigen Flucht nicht nur Familie und Zuhause genommen hatte, sondern auch die Flamme ihres Lebens.
Es war der einzige Ausweg gewesen, denn schon nach wenigen Stunden wurden schwere Schritte laut, die auf die Stelle zukamen, an der noch immer die Mutter bei ihren Kindern kniete.
Erst, als ein schwer bewaffneter Soldat von hinten an sie herantrat und sie festhalten und wieder in Ketten legen wollte, fuhr sie herum und starrte ihn mit hasserfüllten Augen an. Diese hatten keine bestimmte Farbe und spiegelten alles wieder, was sie fühlte.
„Sie waren zu jung um zu sterben und das wisst ihr. Und dennoch tragt ihr die Schuld an ihrem Tod. Ihr habt sie gejagt, nur weil ihr ihre Fähigkeiten und ihre Macht nicht einschätzen konntet. Nur, weil sie eurem Krieg ein Ende hätten setzen können.“
Ihre Worte waren so ruhig in der kühlen Luft der Morgendämmerung und doch schärfer als jedes Schwert, geschliffener als jedes Messer, das von Menschenhand gemacht wurde. Sie würden dem Soldaten ewig in Erinnerung bleiben und ließen ihn zögern, ehe er sie doch wieder band und von den Leichen wegzerrte.
Ein Zweiter trat näher heran, betrachtete schnell die beiden Kinder, deren Gesichter wie in friedlichem Schlaf lagen. Es waren gewiss die Kinder der Frau, die sein Gefährte gerade fesselte.
Er selbst wusste nicht, warum sie ausgerechnet diese drei hatten erwischen müssen. Er ahnte nur, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Etwas Übernatürliches lag in der Luft und er hielt inne, nahm es auf, konnte es aber nicht deuten. Letztendlich wandte er sich von den Kindern wieder ab.
„Sie sind tot.“


Vergessene Vergangenheit





Nevan stand regungslos am Fenster und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen, die noch in tiefem Schlaf lag. Die Nacht wurde nur von wenigen Sternen erhellt und jeder Schatten, den die Häuser warfen, wirkte bedrohlich.
Nur der weiße Schnee, der auf den Dächern aus Ziegeln oder Stroh lag, machte den Anblick ein wenig freundlicher und drängte die undurchdringliche Dunkelheit in schmale Gassen und kleine Hinterhöfe zurück. Er war wie eine Decke, die alles in Frieden hüllte und jeder Gefahr einfach die Schärfe nahm.
Auf den Straßen selbst war allerdings nicht mehr viel des Schnees zu finden. Längst hatte er sich durch die eiligen Schritte der Menschen und die Hufe der Pferde in eine rutschige Schicht aus braun verfärbtem Matsch verwandelt.
Wer nun die Straßen entlang ging, musste seine Schritte äußerst bedacht machen, um nicht auszurutschen und in eben jenem Matsch zu landen. Ein Hindernis für Diebe, die sich erwischen ließen und wohl der Grund dafür, warum der höhere Adel zur Zeit de Winters nur vor die Tür trat, wenn es unbedingt nötig war oder um in eine Kutsche zu steigen und zum nächsten Empfang oder Ball zu gelangen.
Leise seufzend stellte Nevan mit einem Blick zum Horizont fest, dass bald die Sonne aufgehen und die Dächer und Mauern der Stadt in glühendes Rot tauchen würde. Die kleinen Häuser, die sich am Fuße des Hanges dicht an die innere Stadtmauer drängten, ebenso wie die prächtigeren Häuser und die zugehörige Festung, die weit über den kleinen Hütten standen.
Das Bild der Stadt, die dann wie in flüssigem Feuer dalag, war zwar atemberaubend, aber Nevan hätte dennoch nichts gegen einige weitere Stunden Nacht einzuwenden gehabt.
Die Dunkelheit gab ihm die Möglichkeit seinen Gedanken nachzuhängen und schaffte eine friedliche Atmosphäre, in der es keine Hektik und keine Aufregung gab. Die Nacht vermittelte ihm Sicherheit und das Gefühl doch irgendwie eine Heimat zu haben.
Im Gegensatz dazu machte ihn das Tageslicht schutzlos und gab ihm keine Ruhe. Zudem verlieh es dem Schnee ein unerträglich grelles Leuchten und die Wiesen und Felder vor der Stadt wirkten wie ein riesiges Nichts. Eine weiße Fläche, die nur von den Spuren der Wege durchzogen war, über die Teppich- und Tuchhändler ihre Waren transportieren ließen.
Nur der Wald, der in einiger Entfernung noch schemenhaft zu erkennen war, bot eine Abwechslung in diesem ewigen Weiß, auch wenn selbst die Bäume ein Kleid aus Schnee trugen und das dunkle Grün der Tannen, das schwere Braun ihrer Stämme nur noch matt schimmerte.
Teilweise lag der Wald im Schatten einer hohen Gebirgskette, an deren Fuß alten Erzählungen zu Folge fortwährend tiefste Nacht herrschte. Kobolde, Dämonen und Dunkelelfen sollten dort ihr Unwesen treiben und unschuldige Reisende in den Tod locken.
Was von diesen Geschichten nun wahr war und was nur ein Märchen, um die Kinder von den dunklen Teilen des Waldes fern zu halten, wusste niemand. Jedenfalls niemand, den Nevan danach gefragt hatte.
Obwohl der Schwarzhaarige in dieser Nacht kaum geschlafen hatte und die kalte Winterluft, die über seine blasse Haut strich, ihn frieren ließ, sein Atem weiße Schlieren in die Luft malte, blieb er weiterhin am Fenster stehen.
Zu viele Gedanken und Fragen schwirrten in seinem Kopf herum und kein lebendes Wesen konnte sie beantworten. Er selbst am aller Wenigsten.
Dennoch verscheuchte er die Gedanken schließlich mit einem leichten Kopfschütteln und nahm eine unscheinbare Kette vom Fensterbrett. Kurz strichen seine Finger über den kleinen Anhänger. Sie war das Geschenk einer Person gewesen, die er früher einmal sehr gut gekannt haben musste.
Leider war die Erinnerung daran so blass, dass er sie nicht festhalten konnte. Im Grunde wusste er nicht, was passiert war, bevor er in diese Stadt gekommen war. Sein vergangenes Leben war ein Traum, der in dichtem Nebel lag.
Er konnte lediglich sagen, dass sein früheres Leben ganz anders gewesen sein musste als Jenes, das er nun führte.
Es war nicht leicht gewesen sich die Stellung im Hause eines Adligen zu erkämpfen und es war kein geruhsames Leben, doch verdiente er ein wenig Geld und brauchte sich keine Sorgen um eine Unterkunft zu machen.
Als der erste Streifen Licht am Horizont sichtbar wurde, löste er sich vom Fenster und schloss es. Kurz schweifte sein Blick dabei durch den schlicht eingerichteten Raum, der trotz seiner Einfachheit ein recht gemütliches Quartier bot.
Zwar bestand der Boden aus einfachen Holzdielen, doch fand sich ein richtiges Bett und nicht einfach nur ein Lager aus Decken oder Stroh, wie es die Bediensteten in anderen Häusern hatten.
Auch ein einfacher Tisch stand im Raum, ein paar Bögen vergilbtes Papier und ein Stück Kohle lagen darauf, auch wenn Nevan nur selten Notiz von diesen Dingen nahm. Es gab schließlich niemanden, dem er hätte schreiben können. Zudem war sein Leben recht ereignislos und nicht dazu geeignet es auf Papier zu bannen – einzig und allein die Feste oder die ungewöhnlichen Botengänge für seinen Herrn waren ein wenig Abwechslung.
Im grauen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, schnürte Nevan seine Stiefel, die ihm wohl ebenso wie seine Kleider aus seinem alten Leben geblieben waren, und verließ den Raum.
Der schmale Flur war kaum beleuchtet, aber das Licht, das unter den Türen der anderen Räume hindurch fiel, spendete grade so viel Helligkeit, dass Nevan sich zurechtfinden konnte ohne über die Körbe und Kisten, die auf dem Flur herumstanden, zu stolpern.
Leise trat er schließlich auf eine andere Tür zu und schlüpfte in den Raum. Er war ähnlich eingerichtet wie seine Unterkunft, auch wenn es hier deutlich wärmer war und eine Kerze auf dem Tisch stand.
Arlett schlief noch und für einen Moment betrachtete Nevan das Mädchen einfach schweigend. Ihre Gesichtszüge waren entspannt und ihr Atem ging ruhig. Nur ab und zu bewegte sie sich leicht oder lächelte im Traum. Ein Bild des Friedens, obwohl sie ebenfalls keinerlei Erinnerungen an ihre Vergangenheit besaß.
Sie war gerade vierzehn Jahre alt und somit ungefähr drei Jahre jünger als er selbst, aber dennoch die einzige Person, die in sein tiefstes Inneres blicken konnte. Auch wenn er selbst vor seiner Schwester oft schweigsam blieb, so konnte sie längst einschätze und erahnen, was hinter seiner Maske vorging.
Warum Nevan noch in Erinnerung hatte, dass Arlett seine Schwester war und zu ihm gehörte, konnte er sich nicht erklären. Zwischen ihnen bestand ein Band, das sie fester aneinander fesselte als Blutsverwandtschaft es konnte. Er hatte mit ihr in der Vergangenheit wohl Vieles durchlebt und mit ihr an seiner Seite sein altes Leben verlassen.
Langsam löste er den Blick von der schlafenden Gestalt, trat zum Fenster und schob den dünnen Vorhang zur Seite, um ein wenig mehr Licht in das Zimmer einzulassen. Anschließend ging er zum Bett zurück und weckte Arlett mit einem Flüstern und einer sanften Berührung.
Es war fast grausam, sie aus dem tiefen Schlaf zu reißen, aber Nevan hatte keine andere Wahl. Wenn sie zu spät zur Arbeit erschienen, bedeutete das unweigerlich Ärger mit ihrem Herrn.
Müde blinzelte das blonde Mädchen ihn an wie eine Eule, die man am Tage weckt, und setzte sich langsam auf. Trotz ihres Alters musste sie hart arbeiten und stand stundenlang in der Küche, schleppte Wasser vom Brunnen herein oder übernahm andere Aufgaben, die im Haus anfielen.
Wäre es nach Nevan gegangen, so hätte er sie am Liebsten von all diesen Arbeiten befreit. Das würde allerdings erst möglich sein, wenn sie genug Geld beisammen hatten, um nicht mehr von der sicheren Unterkunft in einem Seitenflügel des Hauses abhängig zu sein.
Arlett stand schließlich ganz auf und warf ihrem Bruder ein Lächeln zu, während sie eine Jacke überstreifte, da das dünne weiße Kleid sie kaum vor der Kälte des Winters schützen konnte. In der Küche würde ein Feuer brennen, sodass sie wenigstens bei der Arbeit nicht zu frieren hatte.
Nevan wartete geduldig, bis seine Schwester ihr Haar ein wenig geordnet hatte und in ihre Schuhe geschlüpft war.
„Wir können los…“, meinte sie schließlich und trat zur Tür, nahm allerdings vorher die Kerze zur Hand und entzündete sie. Der Flur lag noch immer im Dunkeln, da er kein einziges Fenster besaß.
Erst, wenn man sich von den Zimmern entfernte und in die anderen schmalen Gänge trat, durch die Bedienstete sich bewegen konnten ohne den edlen Herrschaften in ihren breiten und geschmückten Gängen über den Weg zu laufen, würde es heller sein und auch ohne Hilfe einer Flamme genug Licht geben.
Nevan folgte Arlett schweigend, auch wenn er den Weg ohne die Hilfe einer Kerze gefunden hätte. Schon nach kurzer Zeit erreichten sie die Stelle, an der der Flur sich teilte und ihre Wege sich trennten.
Bevor Arlett auf den Gang schlüpfte, der zur Küche führte, hielt sie noch einmal inne und drehte sich zu ihrem Bruder um. „Nevan…?“, setzte sie dabei schon beinahe vorsichtig zu einer Frage an.
Der Schwarzhaarige erwiderte ihren Blick und hoffte, dass ihre Frage nichts mit der Vergangenheit zu tun hatte, von der er rein gar nichts berichten konnte.
„Gehen wir nachher auf den Markt? Bitte…“, fuhr sie schließlich fort und blickte ihn weiterhin abwartend an.
Sie wusste, dass Nevan bei Tageslicht nicht allzu gerne durch die Straßen und Gassen der Stadt streifte, doch diesen Wunsch konnte er ihr dennoch nicht abschlagen.
Immerhin rückte das Fest der Jahreswende immer näher und soweit er sich erinnern konnte, hatte Arlett Feierlichkeiten dieser Art immer gemocht. Sie liebte den Duft der unzähligen Kerzen, die für die Götter entzündet wurden, und streifte für ihr Leben gern zwischen den bunten Marktständen umher.
„Sicher, sobald alle Arbeiten erledigt sind, können wir losgehen.“, antwortete er ihr leicht lächelnd. Ihre Augen strahlten freudig und nun schon voller Elan, schlüpfte sie durch eine Tür auf den anderen Gang, während er selbst noch ein gutes Stück weiterging, um seine eigenen Aufgaben zu erfüllen.

„Jetzt komm schon!“
Lachend griff das blonde Mädchen nach Nevans Hand und zog ihn hinter sich her aus dem Haus. Natürlich nur durch den Dienstboteneingang, da die Vordertüre den wichtigen Gästen und dem Hausherrn selbst vorbehalten war.
Er folgte seiner Schwester, schloss die Augen einen Moment, als ihn der helle Schnee blendete, der im Hinterhof des Hauses lag, öffnete sie aber wieder, um Arlett folgen zu können.
Ihr blondes Haar leuchtete im Licht der Wintersonne des späten Nachmittags wie flüssiges Gold und in ihren Augen blitzte wie so oft die pure Lebensfreude. Ihr Kleid, das so weiß war wie der Schnee, ließ sie zerbrechlicher wirken, als sie eigentlich war und ihr Lachen war wie das eines Kindes, das soeben ein neues Spielzeug geschenkt bekommen hatte. Obwohl es kalt war, schien sie die Kälte nicht einmal wahr zu nehmen.
Nevan hatte nie verstehen können, wie seine Schwester so unbeschwert durchs Leben gehen konnte, obwohl sie keine Erinnerungen mehr an ihr früheres Dasein besaß und sie nicht einmal wusste, woher sie denn eigentlich stammte und wer sie war.
Oder sie konnte es eben deswegen, auch wenn diese Möglichkeit ihm doch eher unwahrscheinlich erschien, da er selbst doch lieber eine Vergangenheit hatte, selbst wenn sie schmerzhaft war.
„Nevan! Du denkst ja schon wieder nach anstatt zu laufen. So erreichen wir den Markt niemals.“, stellte Arlett noch immer lachend fest, blieb aber wartend neben ihm stehen, bis er sich von seinen Gedanken losgerissen hatte.
„Damit hast du wohl recht, also nichts wie los…“, gab er zurück und ließ sich ein wenig von ihrem Lachen anstecken. Für heute Nachmittag wollte er seine Gedanken ihr zuliebe vergessen und auch die schattenhafte Vergangenheit ruhen lassen.
Statt sich Sorgen zu machen, schloss er also seine Finger um ihre zierliche Hand und versuchte sich ihren eiligen Schritten und freudigen Hüpfern anzupassen. Im Gegensatz zu Nevan war sie im Herzen ein Kind geblieben und machte sich keine Gedanken über eventuelle Schwierigkeiten.
Sie verließen den Hinterhof, wobei Arlett kurz bei den Ställen stehen blieb und ihrem Liebling unter den Pferden über die Nase strich, als dieses den Kopf aus dem Stall streckte. Zu gern wäre sie einmal selbst geritten, aber dieser Wunsch war für sie als einfaches Dienstmädchen nicht erfüllbar.
Sie hatte es akzeptieren müssen, träumte aber noch immer davon endlich einmal auf dem Rücken eines dieser Tiere zu sitzen und die Freiheit zu spüren, wenn sie gemeinsam über die schneebedeckten Wiesen vor der Stadt galoppierten.
Nevan wartete allerdings nicht ewig und der Markt auch nicht, also riss sie sich schnell von diesem Traum und dem hübschen weißen Pferd los und folgte ihrem Bruder.
Dieser wählte ein paar abgelegene Gassen, die sie nicht durch die Menschenmenge und dennoch geradewegs zum Marktplatz der Stadt führten. Die Gassen waren noch immer rutschig und ein paar Mal musste er Arlett festhalten, damit sie nicht vor Freude noch immer hüpfend ausrutschte und auf dem Boden landete.
Er selbst setzte seine Schritte vorsichtiger, aber dennoch nicht langsamer als ein gewöhnlicher Mensch, auch wenn ihm das gar nicht so bewusst war.
Stimmen wurden lauter und schließlich trat Nevan mit Arlett aus einer schmalen Seitenstraße in das Gewimmel des Marktes. Die Stände waren rund um den großen Platz verteilt und wohin man auch blickte, überall wurde etwas anderes verkauft und alles schien auf den ersten Blick zauberhaft oder zumindest interessant.
Nevan wusste ja, wie es auf einem normalen Markt aussah, da er ab und zu Besorgungen hatte machen müssen und auch sonst von Zeit zu Zeit mit Arlett her gekommen war, aber der Markt zum Jahresende stellte alles in den Schatten.
Nicht nur die normalen Waren wie Lebensmittel oder Stoffe wurden verkauft. Auch fanden sich Strohsterne, die zu allen erdenklichen Formen geflochten waren, manche mit dem Schweif einer Sternschnuppe, andere hingen wie an einer langen Kette zusammen und jeder dieser Sterne schien seine eigene Geschichte zu erzählen.
An einem anderen Stand entdeckte Nevan Tannenzweige und geschnitzte Holzfiguren und Arlett hatte den Blick auf den Stand mit Äpfeln und Karamell gerichtet.
Eine ganze Weile standen die beiden einfach nur so da, verzaubert von den vielen Dingen, die es zu bestaunen gab und den Gerüchen, die über allem hingen. Nicht einmal die neugierigen Blicke, die vor allem an Nevan hängen blieben, an seinen eigenartig gefärbten Haaren, bemerkten die beiden dabei.
Tannenduft und Gebäck, der Geruch von Feuer und der der heißen Getränke überdeckten jede andere Empfindung. Alles zusammen mischte sich das zu einem einzigen Duft, der den Winter ausmachte und den Nevan noch kannte, auch wenn der Zusammenhang, woher er ihn kannte, noch immer in einem undurchdringlichen Nebel lag.
„Komm!“, meinte Arlett schließlich begeistert und zog Nevan wieder hinter sich her auf einen der Stände zu, auf dem wunderschön Figuren aus einem Stein der Marmor sehr ähnlich war, standen.
Die verschiedensten Tiere, von Pferden bis hin zu Falken, und Formen waren aus dem Stein gehauen und schimmerten in hellen silbernen und weißen Farbtönen. Selbst Nevan blieb deshalb mit dem Blick daran hängen, als seine Schwester vor dem mit einem Tuch überdachten Stand stehen blieb und mit großen Augen die Figuren betrachtete.
„Sie sind wunderschön…“ Arletts Stimme war nur noch ein Flüstern, das beinahe schon andächtig und ehrfurchtsvoll wie in einem Glaubenshaus klang und zeigte, dass sie wirklich fasziniert von der Kunst des Handwerkers war, der diese Figuren hergestellt hatte. Sie waren schon fast etwas Überirdisches, da es nicht in Arletts Vorstellungskraft lag, dass sich solche Figuren ohne Magie herstellen ließen.
Der schon etwas ältere Mann hinter dem Stand lächelte bei ihren Worten unter seinem Bart, der ihn noch gutmütiger erscheinen ließen, als es die blitzenden blauen Augen sowieso schon taten.
Er wirkte wie der Großvater, den jedes Kind gerne haben wollte und sein Lächeln war angefüllt mit Lebensfreude, während seine mit Wissen und Erfahrung angefüllten Augen sanft auf dem blonden Mädchen ruhten, das den Blick nicht mehr von den Figuren lösen konnte, die umrandet von Tannenzweigen und Nüssen auf dem Tisch lagen.
Nevan stand einem Wächter gleich einen Schritt hinter seiner Schwester, die dunklen Augen ebenfalls noch kurz auf die Figuren gerichtet, ehe er den Kopf hob und den Mann hinter dem Stand rasch musterte, versuchte ihn einzuschätzen.
„Darf ich…?“, fragte Arlett zögernd und wandte den Blick von den geschliffenen und bearbeiteten Steinen zu dem Mann, der ihr sofort Vertrauen einflößte und Sicherheit vermittelte.
„Natürlich…schau sie dir so genau an wie du möchtest.“, erwiderte er mit seiner tiefen und samtigen Stimme. Während Arlett die Figuren betrachtete, musterte der Händler sie und ihren Bruder ebenfalls genau.
Er tat es auf eine so verborgene Weise, dass nicht einmal Nevan seine Blicke auf sich spürte, obwohl er sonst derjenige war, der sehr schnell bemerkte, wenn ihm jemand folgte oder ihn allzu interessiert beobachtete.
Arlett strich inzwischen strahlend über den glatten Stein einer Figur. Das Licht, dass den Platz noch spärlich erhellte, schien sich in ihr zu bündeln und sie und ihren Umkreis etwas heller zu machen.
Das blonde Mädchen selbst bemerkte das nicht wirklich, so vertieft war sie in den Anblick der Figur, deren Form sie vorsichtig entlang strich. Ihre Finger spürten keine einzige noch so kleine Unebenheit und die Hebungen und Rundungen des kleinen Pferdes, über dessen Rücken sie den Finger wandern ließ, waren einfach nur perfekt gemacht.
Nevan hatte die Veränderung um seine Schwester herum wohl bemerkt und kurz mit einem Stirnrunzeln ihre Umgebung etwas genauer betrachtete. Letztendlich hatte er das blasse und doch so deutliche Strahlen aber nicht von dem Licht der schwachen Wintersonne unterscheiden können, die sich langsam dem Horizont näherte und bald hinter den Mauern der Stadt verschwinden würde. Er vermutete, dass die eigenartigen Lichtverhältnisse seine Augen täuschten.
Der Verkäufer hinter dem Stand hatte die Veränderung ebenfalls bemerkt und mit einem Lächeln zur Kenntnis genommen. Das Lächeln wirkte auf die beiden Geschwister vollkommen normal, aber es war dennoch auch das Lächeln eines Suchenden, der nach langer Zeit endlich sein Ziel erreicht hat.
„Könnten wir nicht…?“, setzte Arlett an und wandte sich mit einem bittenden Blick an ihren Bruder. Sie hätte zu gern eine dieser Figuren gehabt, auch wenn sie zugleich wusste, dass ihr Geld niemals dafür reichen würde.
Nevan hätte diesen Wunsch sofort gewährt, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte und mit seiner Arbeit nur etwas mehr für beide verdient hätte. „Tut mir Leid, Arlett, aber…“, erwiderte er, ließ das Ende des Satzes allerdings offen. Er ertrug den beinahe flehenden Blick seiner Schwester kaum.
Der alte Mann hatte das Gespräch der beiden schweigend verfolgt und sich letztendlich gebückt, um etwas herauszusuchen. Kurze Zeit später richtete er sich wieder auf, etwas in ein Tuch eingeschlagenes in der Hand. Der Blick des blonden Mädchens huschte neugierig zu dem weichen Stoff.
Der Mann sagte nichts dazu und auch Nevans Blick war relativ schnell auf das Tuch geheftet, als ihr Gegenüber es auf dem Tisch ablegte und sich mit einem schnellen Blick versicherte, dass niemand in der Nähe war, der sie hätte sehen oder hören können.
Mit bedachten Bewegungen faltete er das Tuch auseinander und enthüllte zwei fein gearbeitete Figuren. Sie waren kleiner und noch filigraner als alle, die sonst auf dem Tisch standen und Arlett hielt ohne es zu merken die Luft an, als könnten die Figuren zerbrechen, wenn sie atmete. Als könnten die sanft geschwungenen Flügel der beiden Vögel, die da lagen, einfach abbrechen.
Nevan hielt zwar nicht die Luft an, aber er wagte es nicht auch nur ein Wort zu sagen. Irgendetwas Magisches ging von den Vögeln aus und ihre Farben schimmerten als wären die Tiere lebendig.
Einer davon – Arlett klebte mit dem Blick förmlich daran – besaß ein leuchtend weißes Gefieder und schien aus purem Sonnenlicht zu bestehen.
Nevan betrachtete dagegen die zweite Figur, die scheinbar das Gegenstück zu dem weißen Vogel bildete und von nachtschwarzer Farbe war.
Bevor die Geschwister allerdings noch weiter im Anblick der beiden Vögel versinken konnten, näherten sich schwere Schritte dem Stand und der alte Mann schlug rasch und mit einem hektischen Blick nach allen Seiten das Tuch wieder über die beiden Figuren, kurz bevor eine Wache in voller Rüstung zu einem der benachbarten Stände trat und die ausgelegten Waren betrachtete.
Stadtwachen sah man in Kamai’a in letzter Zeit leider recht oft, da der herrschende Adel eine kleine Bande von Dieben suchen ließ, die seit geraumer Zeit ihr Unwesen in der Stadt trieben.
„Was hat das zu bedeuten?“, wandte sich der Dunkelhaarige flüsternd an den alten Mann hinter dem Stand, als dieser das Tuch wieder unter den Tisch schob. Nevan wusste einfach, dass diese beiden so eigenartig gefärbten Figuren irgendwie mit ihm und seiner Schwester zu tun hatten.
„Ich werde es euch irgendwann erklären, aber ich denke ihr geht jetzt besser.“, meinte der Verkäufer ebenso leise wie Nevan und schaute sich erneut auf dem Marktplatz um.
„Aber wie finden wir dich denn dann?“, mischte sich nun Arlett in das Gespräch. Ihre Stimme war zwar leise, aber aufgeregt. Sie hatte den Ernst der Lage begriffen und es erweckte ihre Neugier, was die beiden Steinvögel mit ihr, ihrem Bruder und dem alten Mann hinter dem Stand zu tun hatten.
„Ihr kennt doch sicher das Wirtshaus ‚zum Schwanen’. Dort werdet ihr mich finden, wenn ihr einfach nach dem fahrenden Händler Micesh fragt.“, antwortete ihr Gegenüber rasch und richtete den Blick auf Beide.
„Ihr habt ein großes Schicksal, aber mehr kann ich euch noch nicht sagen. Nicht hier…geht jetzt.“, setzte er noch hinzu und warf einen erneuten Blick zu der Wache, die noch immer in der Nähe stand und ein paar Worte mit der jungen Frau wechselte, die frisch gebackenes Brot verkaufte.
Arlett wollte noch mehr fragen und nicht gehen, aber Nevan nahm rasch ihre Hand und zog sie von dem Stand weg, als der Blick des Wächters beinahe schon drohend zu den Beiden glitt und an ihnen hängen blieb.
Zwar hatte Nevan nie gegen das Gesetz verstoßen oder sich zumindest nicht dabei erwischen lassen und hatte auch die Wächter der Stadt nicht zu fürchten, aber der Blick gab ihm das Gefühl, dass es sehr bald sehr gefährlich werden würde. Für ihn und für Arlett.
Vorerst kehrte er dem Markt eilig den Rücken zu und versuchte sich einen Reim auf die geheimnisvollen Worte des Händlers zu machen.
Das blonde Mädchen warf zwar noch einen Blick zurück, ging aber ansonsten einfach neben ihrem Bruder her. Sie machte sich nur halb so viele Gedanken über diese Bedeutung der eben gewechselten Worte.
Dazu war sie einfach zu neugierig, was noch auf sie zukommen würde und was Micesh ihnen hatte sagen wollen. Und natürlich auch, was es mit den Vögeln aus Stein auf sich hatte und weshalb der Händler ihre Unterhaltung in Gegenwart der Wache so schnell unterbrochen hatte.
Zudem begann sie langsam zu frieren und da es auch bald dunkel werden würde, fügte sie sich der Entscheidung ihres Bruders zurück zum Haus zugehen. Die Nacht streckte schon ihre Flügel aus und die Sonne machte sich dazu bereit glühend hinter dem Horizont zu verschwinden.

Letzte Vorbereitungen


So schnell es der Stapel Teller in seinen Händen zuließ, eilte Nevan einen der breiten Flure des Herrenhauses entlang.
Der Boden aus geschliffenem Stein ließ seine Schritte lauter klingen, als sie eigentlich waren und die helle Farbe reflektierte das Licht der brennenden Lampen, die an den Wänden zu beiden Seiten hingen.
Das Flackern der Flammen malte kleine Kunstwerke aus hellen Gelb- und Orangetönen an die Wände und auf den Fußboden. An einigen Stellen schien er nur aus Licht zu bestehen, während andere Bereiche vollkommen in Schatten gehüllt dalagen.
Nevan hatte keine Zeit, um auf diese Details zu achten und hastete mit einem kurzen Blick aus einem der hohen Fenster weiter auf die zur Hälfte offen stehende Flügeltür am Ende des Flurs zu.
Sie war aus dunklem Holz gefertigt und bildete den Gegensatz zu dem kalten, weißen Stein. Obwohl die Tür schon alt sein musste, waren auf ihrer reichlich verzierten Oberfläche nicht die geringsten Spuren der Zeit zu erkennen – kein einziger Kratzer, keine noch so kleine Scharte im Holz war sichtbar.
Nevan schenkte den Schnitzereien und Verzierungen keine Beachtung, als er durch die Tür schlüpfte, und sehnte sich das Ende des Tages herbei. Schon seit Sonnenaufgang wischte er Staub, polierte Kelche oder eilte auf der Suche nach den verschiedensten Dingen durch die unendlich langen Flure.
Dennoch waren die Vorbereitungen für die Festlichkeiten am Abend noch nicht einmal im Ansatz abgeschlossen und er würde noch unzählige Male von der Küche zum großen Saal und wieder zurück gescheucht werden, während selbst die einfachsten Menschen in Ruhe auf den Abend und die Feierlichkeiten zu Ehren eines Gottes warteten.
Nevan kannte nicht einmal den Namen dieser Gottheit und war kaum mit dem Glauben der Menschen vertraut. Den Tempel der Stadt hatte er nie betreten, hatte die Fassade des großen Gebäudes nur aus der Ferne betrachtet und sich gefragt, ob er jemals dazu in der Lage sein würde die tiefe Ehrfurcht der Menschen vor diesem Ort zu teilen oder zu verstehen.
Mit einem lautlosen Seufzen stellte Nevan die Teller auf der langen Tafel ab, die wenigstens schon zur Hälfte gedeckt war. Das frisch poliertes Besteck, die schimmernde Kelche und die mächtigen Kerzenhalter strahlten selbst im schwachen Licht eine kalte Erhabenheit aus.
Trotz fehlender Dekoration war die Tafel sicher eines Königs würdig und doch fragte Nevan sich, wie man in einer solch kühlen Umgebung einen Gott und dessen Schöpfungen feiern sollte. Sollte Freude nicht warm sein und die kalte Distanz zwischen den Menschen überbrücken?
„Du sollst die Tafel für den Abend vorbereiten und dich nicht umsehen, als wärest du zum ersten Mal hier.“, unterbrach eine unangenehm laute Stimme die Gedanken des Schwarzhaarigen.
Nevan drehte sich nicht zur Tür um. Er wusste ohne einen Blick, wer dort mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht stand.
Phil war nur wenige Jahre älter als er selbst, bekleidete aber einen eindeutig höheren Rang und war sich dessen nur allzu gut bewusst. Er erkannte grundsätzlich nur die Schwächen und Fehler eines Jeden und verstand sich sehr gut darauf, Anderen ganz deutlich zu zeigen, dass sie ein Nichts waren.
Schon des Öfteren war Nevan versucht gewesen, sich auf eine Auseinandersetzung mit Phil einzulassen, doch hatte der Gedanke an Arlett und ihre Sicherheit ihn stets von diesen Gedanken abgebracht und er hatte weiterhin schweigend seine Arbeit erledigt.
Auch jetzt begann er schweigend die Teller auf der Tafel zu platzieren und achtete nicht auf die zufriedenen Blicke von Phils Seite. Dieser fühlte sich mächtig, solange er die Befehlsgewalt über seine Mitmenschen in der Hand hielt. Nur vor dem Herrn des Hauses kroch er im Staub wie ein Schoßhündchen und bettelte durch seine Unterwürfigkeit um Aufmerksamkeit.
Phil blieb nicht lange an der Tür stehen, da er im Saal keine weiteren Mängel mehr finden konnte, und machte sich auf die Suche nach einem anderen Diener, den er zurechtweisen konnte.

„Endlich…“, murmelte Nevan mit einem leisen Seufzen und ließ sich auf einen Schemel in der Küche fallen. Die letzten Vorbereitungen für die Festlichkeiten waren abgeschlossen und bis die Gäste eintreffen würden, konnte er zum ersten Mal an diesem Tag eine kurze Pause einlegen.
Im Gegensatz zu den weiten Fluren des Hauses und dem großen Saal voller Silberglanz, wirkte die Küche beinahe schmuddelig und doch einladend und gemütlich.
Durch ein kleines Fenster fiel Licht auf die Arbeitsflächen aus dunklem Holz, die an einigen Stellen schon leicht verfärbt waren. Auf einer dieser Platten stand ein noch unbeachteter Wasserbottich, der später zum Abspülen der Teller genutzt werden würde – sie würden sicher mehr als nur einmal Wasser vom Brunnen im Hinterhof herein schleppen müssen.
In der gegenüberliegenden Feuerstelle wurde stets zumindest eine Glut am Brennen gehalten. Im Augenblick leckten allerdings richtige Flammen an einem schweren Kessel, der an einer Kette über der Feuerstelle aufgehängt war. Die Wand war an einigen Stellen vom Ruß geschwärzt und der Geruch des Feuers füllte den gesamten Raum an.
Einen Atemzug lang war Nevan versucht die Augen zu schließen und sich von der Wärme des Feuers, in dessen Nähe er saß, einhüllen zu lassen. Statt sich der Versuchung hinzugeben, beobachtete er nachdenklich die Köchin, die inzwischen vor dem Kessel stand und einige Zutaten hinzufügte.
Langsam wanderte sein Blick schließlich weiter zu den langen Tischen, die in der Mitte der Küche standen und ständig von den Küchenmädchen umringt wurden. Zwischen ihnen stand auch Arlett, die gerade mit geschickten Handbewegungen eine Karotte zerschnitt und die Stücke zwischen einigen Mangoldblättern auf einer silbernen Platte verteilte.
Obwohl sie keine Erfahrungen besaß und noch nicht allzu lange in der Küche aushalf, unterschied seine Schwester sich inzwischen kaum mehr von den anderen Mädchen – sie alle hatten kaum Geld und brauchten diese Arbeit, um sich selbst und ihre Familien am Leben zu halten.
Als sie den gedankenverlorenen Blick ihres Bruders spürte, drehte Arlett kurz den Kopf in seine Richtung und warf ihm ein Lächeln zu. Nevan erwiderte das Lächeln flüchtig und bemerkte die Blicke eines anderen Mädchens kaum, während er ihr weiter bei der Arbeit zusah.
Erst als seine Augen langsam weiter durch die Küche wanderten, spürte er den Blick der Fremden wie sanfte, vorsichtige Finger auf der Haut.
Sie war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Arlett und besaß matt glänzendes, rotes Haar. Dieses war verhältnismäßig kurz und reichte gerade einmal bis zu ihrem sanft geschwungenen Kinn, wobei eine breite Haarsträhne seitlich über ihre Stirn fiel und mit einer Klammer festgesteckt war.
Für gewöhnlich trugen die Frauen ihr Haar lang und bei der Arbeit hochgesteckt oder zu einem Zopf geflochten, sodass das Mädchen zwischen den anderen Bediensteten durchaus auffiel. Zugleich unterstrich ihre Frisur den Blick ihrer haselnussbraunen Augen aber so geschickt, dass ihre Mitmenschen gar nicht erst auf die Idee kamen, sich Gedanken über die ungewöhnliche Länge ihres Haars zu machen.
Zumindest erging es Nevan einen Atemzug lang so, als seine Augen die des fremden Mädchens trafen, und ein eigenartiges Gefühl machte sich in seinem Körper breit.
Doch verging der Moment zu schnell, um das Gefühl wirklich zu benennen, da das Mädchen rasch den Blick senkte und sich wieder ihrer Arbeit widmete, während Nevan ihre Kleider eingehend betrachtete.
Sie trug ein einfaches rotes Kleid, dessen weite Ärmel ihr immer wieder über die zierlichen Hände rutschten. Um ihre Taille war ein breites orangefarbenes Band geschlungen, das am Rücken eine große Schleife bildete und das Kleid zusammen hielt. Trotz der Schlichtheit ihrer Kleider strahlte sie Anmutigkeit aus und zog Nevan ohne eigenes Zutun in ihren Bann.
Dennoch riss er seinen Blick nach kurzer Zeit wieder von ihr los und versuchte sie nicht anzustarren. Dennoch spürte er ab und an ihre kurzen Blicke, die zu ihm huschten und sanft über seine Kleider, sein Gesicht und sein dunkles Haar glitten ohne seinen Blick erneut zu kreuzen.

„Die nächste Platte ist gleich so weit!“, rief Arlett Halblaut durch die Küche. Trotz der Hast klang ihre Stimme ruhig, während sie den zu servierenden Fisch noch vorsichtig mit Mangoldblättern umrandete und die letzten Kräuter auf dem Fleisch verteilte, bevor einer der Diener die silberne Platte mitnahm.
Obwohl die Festlichkeiten soeben erst wirklich begannen, gab es für die Dienerschaft keinen einzigen Augenblick der Ruhe mehr. Kaum war der Fisch fertig angerichtet, wartete auch schon der nächste Gang des Festmahls darauf, säuberlich auf einer Platte platziert zu werden.
So nahm Arlett erneut die Schale mit dem Mangold, der im flackernden Licht des offenen Feuers in allen nur erdenklichen Grüntönen schimmerte, zur Hand und begann ihn auf einer noch vollkommen leeren Platte zu verteilen.
Sie war so sehr darauf bedacht keines der makellosen Blätter zu knicken, dass sie das rothaarige Mädchen, das neben ihr an den Tisch trat, kaum bemerkte. Erst als das Mädchen begann Zwiebelscheiben zwischen den Mangoldblättern zu verteilen, blickte Arlett sie einen Moment lang an und lächelte ihr zu. Obwohl sie den Namen des Mädchens nicht kannte, da sie doch erst seit geraumer Zeit in der Küche aushalf, erschien es Arlett sympathisch.
„Ich heiße Arlett, und du?“, durchbrach sie die geschäftige Stille mit einem prüfenden Blick auf die halb dekorierte Platte und rückte einige der Blätter ein wenig zurecht, ehe sie dem anderen Mädchen noch einen weiteren Blick aus ihren glitzernden, grünen Augen zuwarf.
„Ich bin Fleur.“, erwiderte die Rothaarige nach einem kurzen Zögern und entspannte sich dabei sichtlich. Schon die ganze Zeit über hatte sie sich gefragt, wie sie Arlett ansprechen sollte und war recht glücklich damit, dass diese von sich aus einen Anfang gemacht hatte.
„Freut mich dich kennen zu lernen…“, fügte Fleur noch zu ihren vorherigen Worten hinzu und dachte gerade über ein mögliches Gesprächsthema nach, als die aus mitgenommenen Holzlatten bestehende Küchentür eilig geöffnet wurde und Nevan in den Raum stürmte.
„Die Herrschaften werden ungeduldig…“, wandte er sich an die Allgemeinheit und ließ seinen Blick so rasch über die mehr oder weniger ganz vorbereiteten Platten gleiten, dass Fleur sich nicht sicher war, ob er diese überhaupt wahrnahm.
„Der Fisch ist vorbereitet, aber der Hauptgang braucht noch ein wenig. Versuch sie irgendwie bei Laune zu halten.“, erwiderte Arlett auf die Bemerkung ihres Bruders und deutete auf zwei schon gefüllte Silberplatten.
Noch bevor sie ihren Satz ganz beendet hatte, griff Nevan schon nach den Speisen und machte beinahe ein wenig zu schwungvoll auf dem Absatz kehrt.
„Füllt noch ein paar Weinkrüge.“, rief er den Mädchen im Hinauseilen über die Schulter zu, ehe er die Platten mit dem Fisch durch die Tür balancierte und sich wieder auf den Weg zum großen Saal begab.
Fleur, die die Szene bisher bewegungslos verfolgt hatte, stellte rasch die Zwiebelschale beiseite und durchquerte die Küche, um den verlangten Wein zu holen.
Schließlich kehrte sie mit einigen Flaschen und einem großen Krug zu Arlett zurück und begann den roséfarbenen Wein – eine Delikatesse aus dem benachbarten Wüstenkönigreich Jalyx – umzufüllen.
„Er ist dein Bruder, oder?“, wandte Fleur sich dabei wieder an Arlett und deutete mit einer vagen Bewegung in Richtung der Küchentür an, auf wen sich ihre Frage eigentlich bezog.
Kurz nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, senkte sie rasch den Blick und verfluchte ihre Gedankenlosigkeit – die Frage hatte ihr so sehr auf der Zunge gebrannt, dass sie die unbedachten Worte ausgesprochen hatte ohne über den Sinn hinter ihnen nachzudenken.
„Ja, Nevan ist mein Bruder…“, bestätigte Arlett die Vermutung der Rothaarigen ohne den Blick noch einmal von den Mangoldblättern, den Zwiebeln und der Silberplatte zu lösen.
Erleichtert über die schlichte Antwort atmete Fleur auf und fuhr ebenfalls mit ihrer Arbeit fort, während sie in Gedanken immer wieder dem dunkelhaarigen, ein wenig eigenartigen Jungen hängen blieb.

Nevan währenddessen hatte die Platten mit dem Fisch die Flure entlang balanciert und schlüpfte gerade durch die große Flügeltür in den Saal. Der Tisch war voll besetzt und die Gäste, die aus den verschiedensten Städten des gesamten Reichs angereist waren, unterhielten sich angeregt über mindestens drei verschiedene Themen zugleich.
Nevan hielt den Kopf gesenkt und mied die Blicke der Anwesenden, wie es sich für einen Bediensteten im Hause des Stadtherren gehörte. Lautlos platzierte er die beiden Silberplatten in seinen Händen auf dem Tisch und zog mit angemessenen Schritten wieder zurück.
Der Hauch einer unguten Vorahnung füllte seine Gedanken an und obwohl er das Gefühl nicht eindeutig zuordnen konnte, machte es ihn nervös und weckte eine Art Fluchtreflex in ihm, den er nur schwer unterdrücken konnte.
Bevor Nevan den Saal allerdings verlassen konnte, winkte einer der Gäste ihn zu sich heran. Gehorsam wandte er sich dem hoch gewachsenen Mann zu. Seine Gesichtszüge waren streng, sein braunes Haar sorgfältig gepflegt und seine Kleider mussten ein halbes Vermögen gekostet haben.
Er mochte ein tugendhafter Ritter oder ein hochrangiger Adliger sein, doch in seinen kalten Augen lag etwas Hinterhältiges, das eher auf einen gefährlichen Krieger hindeutete.
In der Hoffnung sich bald wieder entfernen zu können, griff Nevan nach einem der Weinkrüge und schenkte dem Adligen mit der rechten Hand auf dem Rücken nach ohne auf dessen bohrende Blicke zu achten.
Ohne den schimmernden Wein zu verschütten, stellte er den Krug schließlich wieder auf dem Tisch ab. Als er jedoch die Hand zurückziehen und sich entfernen wollte, schloss sich ein fester Griff um sein Handgelenk und hinderte ihn daran die Bewegung zu Ende zu führen.
„Soso…“, murmelte der Mann kaum hörbar, während er das helle Mal auf dem Handrücken des Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete. Nach nur wenigen Momenten wich das erste Erstaunen vom Gesicht des Manns und ein Unheil verkündendes Grinsen schlich sich auf seine Züge.
„Sir Jalen, ist Euch die Tatsache bekannt, dass Ihr einen Dieb als Euren Diener beschäftigt?“, zerriss er die angespannte Stille, die sich plötzlich im ganzen Saal breit gemacht hatte. In seiner Stimme lag eine Eiseskälte, die Nevan einen Schauer über den Rücken jagte.
Sir Jalen, der Herr des Hauses und oberster Verwalter von Kamai’a, wandte sich bedacht dem Sprechenden zu und suchte dabei die auf seinen Gesichtszügen deutlich lesbare Überraschung zu verbergen.
Doch seine angestrengt an die Situation angepasste Maske aus unechten Gefühlen verrutschte sichtbar, als ihm die Tragweite der soeben gesprochenen Worte bewusst wurde. Blanker Zorn blitzte in seinen Augen auf.
Nevan stand wie versteinert am Tisch und beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie sich das Gesicht seines Herrn verfärbte. Die Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben wurden, waren völlig grundlos, aber gegen das Wort eines Adligen zählte das Wort eines Dieners kaum.
„Sire, bitte hört mich an. Ich habe nie…“, setzte Nevan unter Blicken voller Verachtung dennoch zu einem verzweifelten Versuch an. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und er konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Selbst Nevan vermochte es nicht im Angesicht einer Hinrichtung vollkommen ruhig zu bleiben.

„Schweig!“, unterbrach Sir Jalen den Jungen mit donnernder Stimme. „Wage es nicht, mir noch einmal ins Wort zu fallen oder dein Blut benetzt noch heute den Boden einer Richtstätte.“, fuhr er mit einem bedrohlichen Zischen fort und erhob sich langsam von seinem Platz am Kopfende der Tafel.
Während er auf Nevan zuging, platzierte er seine Hand auf dem Knauf seines Schwertes, als warte er nur auf neuerliche Worte aus dessen Mund.
„Glaubt mir, Sire, das Beste wäre ihn auf der Stelle zu töten. Er spielt nur allzu gerne Spielchen und ehe man sich versieht, ist er verschwunden wie ein schlechter Traum.“, wandte sich der Adlige, der Nevans Hand noch immer fest umschlossen hielt, kaum hörbar an Sir Jalen und versuchte dessen Zorn noch weiter zu schüren, ihn zu einer unbedachten Tat zu verleiten.
Für einen Moment herrschte wieder angespannte Stille, während Sir Jalen scheinbar über den Vorschlag nachdachte. Nevan hatte zwar keine wirkliche Vorstellung davon, wie er den beiden Männern entwischen sollte, entschied sich aber aus mangelnder Zeit für den erstbesten Gedanken, der ihm durch den Kopf schoss.
Mit einer ruckartigen Bewegung und einem Schritt nach hinten befreite er seine Hand. Der weite Ärmel seines dunklen Hemds zerriss und während der Adlige noch verwundert auf den in seiner Hand verbliebenen Stofffetzen blickte, begann Nevan zu rennen.
Doch noch bevor er die Hälfte der Strecke zur Tür zurückgelegt hatte, stürmte auch Sir Jalen los. Das Nevan beim Geräusch seiner lauten Schritte einen Blick hinter sich warf, wurde ihm zum Verhängnis.
Er rutschte auf dem glatten Boden aus und landete unsanft auf Knien und Händen. Ein Unheil verkündender Schatten fiel über ihn und er drehte sich mit weit offenen, Panik ausstrahlenden Augen um. Das Gesicht des Mannes über ihm war jetzt vollkommen rot angelaufen und in seinen Augen blitzte nicht nur Wut, sondern auch die unbändige Lust Nevan sofort umzubringen.
Eine Hand schloss sich fest um Nevans Hals und sein Herz schlug schmerzhaft schnell, als ihm die Luft abgedrückt wurde, während Sir Jalen ihn wieder auf die Füße riss.
„Mir scheint, du willst um jeden Preis dein Leben verlieren…“, stellte dieser noch immer mehr knurrend als sprechend fest, wobei ein hässliches Grinsen seine Züge verzerrte.
Schwarze Punkte tanzten vor Nevans Augen und seine Ruhe war nun endgültig dahin.
Er wusste nicht mehr, was er tat, als er mühsam ein Wort hervorstieß, das er niemals zuvor gehört hatte und das keine Bedeutung zu haben schien.
Doch auf dieses Wort hin passierte etwas, dass er nicht fassen konnte:
Ein Streifen aus Dunkelheit waberte wie aus dem Nichts erschienen um die Hand seines Herrn und dieser ließ mit einem Aufschrei von Nevan ab, als sich der Schatten fest um seine Hand schloss.
Unsanft landete der Junge wieder auf den Boden, rappelte sich aber sofort keuchend auf und rannte auf die rettende Tür zu. Seine Lungen brannten wie Feuer und er bekam kaum Luft, aber er schaffte es irgendwie, drückte die Tür mit einiger Anstrengung auf und hastete den langen Flur entlang.
Er musste Arlett finden und so schnell als irgendwie möglich von hier verschwinden.

Entkommen?




Fleur blieb beinahe ohne es zu merken stehen, als schnelle Schritte auf dem Gang laut wurden, den sie soeben entlang ging. Nur den Bruchteil einer Sekunde später übertönten schwerere Schritte die ersten, sehr viel weicher auf den Boden gesetzten Füße.
Für das rothaarige Mädchen klang es beinahe, als würde jemand verfolgt werden und einen Augenblick später bestätigte sich diese Ahnung, als Nevan um einen scharfen Knick des Ganges bog und dabei damit zu kämpfen hatte mit den Füßen nicht zur Seite abzurutschen.
Auf dem Gesicht des Jungen stand eindeutiger Schrecken geschrieben, was Fleur doch für einen winzigen Augenblick überraschte. Nevan hatte niemals irgendein Gefühl gezeigt, nicht in der Gegenwart anderer Menschen. Vielleicht lag das auch nur daran, dass Fleur ihn noch nicht besonders lange und nur vom Sehen kannte, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Nevan nur ungern Gefühle und Gedanken verriet, egal wem.
Sobald der Dunkelhaarige aber auf sie zu rannte und die Schritte hinter ihm immer näher kamen, verschwand dieser sinnlose Gedanke als hätte er nie existiert aus Fleurs Kopf und machte einem vollkommen anderen und viel wichtigeren Platz.
Ich muss ihm helfen, sonst ist er so gut wie tot…, schoss es ihr also durch den Kopf. Sie war sich nicht sicher, warum sie ihm helfen wollte. Eigentlich brachte sie sich selbst damit nur in Gefahr, aber ihr Herz schrie danach Nevan zu helfen, koste es, was es wolle.
Ohne weiter auf den Krug, gefüllt mit dunkelrotem Wein, zu achten, machte Fleur einige Schritte zurück, sodass sie wieder auf dem kleinen Nebenflur zur Küche stand und man sie vom großen Flur aus nicht sehen konnte. Zwar würde der rasch entworfene Plan nur funktionieren, wenn Nevan schneller als sein Verfolger war, aber darauf zählte das Mädchen vorerst einfach.
„Nevan…“, flüsterte sie nur, als er in ihrer Nähe war. Allerdings war Nevan so sehr auf das Rennen konzentriert, dass er sie nicht zu bemerken schien. Irgendwie war das ja verständlich, also nahm Fleur wirklich all ihren Mut zusammen, machte einen einzigen Schritt auf den breiten Flur, den Nevan entlang gerannt war und packte diesen am Arm, als er beinahe an ihr vorbei hastete.
Sein Blick flog förmlich zu ihr und nun konnte Fleur in seinen Augen bis ins kleinste Detail sehen, wie ernst die Lage war. Obgleich des tiefen Schreckens in ihnen, der seine Augen leicht violett leuchten ließ, und der immer näher kommenden Schritte auf dem Flur, musste Fleur aufpassen sich nicht in diesen Augen zu verlieren und einfach stehen zu bleiben.
„Wa…?“, setzte Nevan keuchend zu einer Frage an, als sich die Blicke der Beiden trafen, brachte diese aber niemals zu Ende, da ihn das Mädchen mit sich riss und den schmalen Flur entlang spurtete.
Nevan hätte ihr keine solche Schnelligkeit zugetraut, als er sie vorhin in der Küche für einen Augenblick beobachtet hatte, aber jetzt war er nur froh, dass sie ihn mit sich zog. Ansonsten wäre er wohl auf halber Strecke einfach stehen geblieben.
Er kam kaum noch zum Atmen, jeder Versuch wieder Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen, brannte wie Feuer, jeder Schritt machte das Gefühl allein vom Laufen zu ersticken schlimmer.

„Arlett!“, stürmte Fleur mit einem Ruf, der zwar leicht außer Atem klang, aber immerhin seinen Zweck erfüllte, in die Küche. Der Kopf des blonden Mädchens, das gerade vor einem der Tische stand, flog herum, als es seinen Namen vernahm.
Bei dem Anblick, der sich ihr bot, breitete sich leichtes Unverständnis gemischt mit demselben Schrecken, der auch in den Augen ihres Bruders lag, auf ihrem weichen Gesicht aus.
Fleur hielt Nevans Arm am Handgelenk noch immer fest, während dieser eher schlecht als recht hinter ihr herstolperte und nach Luft rang. Zeit für Erklärungen war nicht und Fleur wusste sowieso nicht, was genau passiert war. Nur eines war ihr bewusst, sie mussten weg.
„Komm mit. Ihr müsst weg von hier und zwar schnell.“, erklärte die Rothaarige so knapp wie möglich und warf nur einen kurzen Blick durch den Raum. Bis auf wenige Dienstmädchen war dieser leer. Immerhin würde sie so wohl niemand verraten, falls man ihnen hierher folgte. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass die Diener unter sich zusammen hielten.
Arlett folgte ihrem Bruder und Fleur, die zielstrebig auf die Tür zum Hinterhof zu rannte, die sich glücklicherweise in der Küche befand, damit die Mädchen schneller zum Brunnen gelangen und Wasser holen konnten. Das am Hinterhof auch die Stallungen lagen, war ihrem Herrn zwar egal, aber nur deshalb nahm der vage Plan in Fleurs Kopf weitere Formen an, als sie die Holztür aufstieß.
Durch den vielen Schwung knallte sie unsanft gegen die Hauswand, während Fleur schon dabei war mit großen Schritten über den dunklen Hof zu rennen. Nur das Hallen der Schritte auf dem Pflaster und das Keuchen Nevans durchbrachen dabei die Stille. Um sich über den Hof zu schleichen fehlte die Zeit und da Nevan sowieso aufgeflogen war, war es beinahe egal, wie laut sie waren, solange sie schnell genug waren um zu entkommen.
Das nur wenige Augenblicke später Rufe durch die Küche gebrüllt wurden und ein Chaos aus aufgebrachten Stimmen einsetzte, veranlasste die drei dazu nur noch schneller zu rennen, um nicht erwischt zu werden.
Wenige Sekunden später, die sich anfühlten wie eine halbe Ewigkeit, schob Fleur Nevan und Arlett in den Stall, der nur durch wenige, schwache Lampen erleuchtet wurde. Das ruhige Schnauben der Pferde und der Duft von Heu strahlten Ruhe aus, aber selbst jetzt war keine Zeit für eine Pause.
Dennoch blieben alle Drei für einen Moment stehen. Erst jetzt fiel Fleur wirklich auf, dass sie die Hand noch immer fest um Nevans gelegt hatte, was ihr das Blut in die Wangen trieb und sie dazu veranlasste den Jungen rasch loszulassen und den Blick zu senken. Nur gut, dass das Licht sowieso alles in einen orangen Schein hüllte und das leichte Glühen von Fleurs Wangen nicht weiter auffiel.
„Und jetzt?“, durchbrach Arletts leise Stimme die Ruhe und lenkte den Blick des rothaarigen Mädchens wieder nach oben und auf die beiden Geschwister. Arlett sah sie nur aus großen und fragenden Augen an, während Nevan versuchte wieder zu Atem zu kommen.
Das dunkle Haar fiel ihm durcheinander über die Augen, während er eine Hand an seine Seite gelegt hatte und leicht gebeugt dastand. Fleur wollte gar nicht so genau wissen, wie weit und schnell er gerannt war, bevor sie ihn abgefangen hatte.
„Wir warten, bis sie über den Hof sind. Dann können wir uns rausschleichen und wenn wir Glück haben, sind wir schneller als der Bote und erreichen das Stadttor, bevor sie es schließen und uns den Fluchtweg nehmen…“, gab Fleur dann Antwort auf die Frage der Blonden, wobei noch während sie sprach Stimmen näher kamen und durch die Nacht hallten.
Arlett trat zur Tür des Stalles und drückte das Gesicht so an das Holz, dass sie durch eine Lücke zwischen den Holzbrettern schielen konnte. Was sie sah, ließ sie zum einen vor Angst erstarren, obwohl sie gleichzeitig einfach wieder den Blick vom Hof lösen wollte.
Die Tür zur Küche stand noch immer sperrangelweit offen und zwei bewaffnete Männer zerrten eines der Küchenmädchen hindurch. Dieses wehrte sich nach Kräften, hatte aber keine Chance. Die beiden Männer hielten sie links und rechts an den Armen gepackt und schrieen auf sie ein, um die Richtung zu erfahren, in die der Dieb, wie sie Nevan nannten, davongelaufen war.
Eine dritte Gestalt huschte zur Tür hinaus, hielt sich aber nicht mit den Eindringlingen auf, sondern eilte los, um die Wachen am Stadttor zu benachrichtigen, dass sie eines der Mitglieder der gesuchten Diebesbande entlarvt hatten und sie die Stadt abriegeln sollten.
Ein leises Schluchzen war zwischen den Stimmen zu hören und Arlett sah die Tränen, die im Schein einer Fackel auf dem Gesicht des jungen Mädchens glitzerten. Sie musste noch jünger sein als Arlett selbst.
Ohne zu denken, was ihre Handlung bewirken konnte, war die Blonde drauf und dran die Tür aufzureißen und nach draußen zu stürmen. Bevor sie jedoch die Hand an das Holz legen konnte, spürte sie einen sanften, aber bestimmten Griff, der ihr Handgelenk umfing.
Als sie sich umdrehte und aufsah, blickte sie in die tiefen, dunkeln Augen ihres Bruders. Sein Atem ging immer noch schnell und flach, aber dennoch rang er sich ein trauriges Lächeln ab.
„Lass es. Du kannst nichts für sie tun und sie wird davonkommen. Heiler als du, wenn du da rausgehen würdest.“, flüsterte er so ruhig wie möglich. Der Gedanke daran, was seiner kleinen Schwester zustoßen konnte, jagte ihm Schauer über den Rücken. Er würde sie um jeden Preis beschützen.
Als Arlett langsam nickte und eine kaum verständliche Antwort flüsterte, löste er seinen Griff wieder, blieb aber in ihrer Nähe stehen und wartete schweigend mit den beiden Mädchen, bis der Lärm auf dem Hof verstummte und die Männer sich auf in die Stadt machten, da sie die Flüchtenden wohl dort vermuteten.
„Schnell…“, flüsterte Fleur, die inzwischen irgendwie die Führung übernommen hatte und die Stalltür aufdrückte, sobald wieder Stille herrschte. Nevan schob Arlett nach draußen und folgte ihr zusammen mit Fleur.
Auf dem Hof war es wieder vollkommen dunkel und die Tür zur Küche war wieder fest geschlossen. Das machte es einfacher, sich davon zu schleichen ohne entdeckt zu werden.
Dennoch waren die drei Jugendlichen vorsichtig und mieden die Lichtflecken, die durch die Fenster auf das Pflaster des Hinterhofs fielen. Am Brunnen hielten sie inne, ehe sie den Rest des Weges rannten und sich durch eine schmale Gasse in die Dunkelheit der Stadt schlugen.
Arlett empfand schon ihre Schritte in der Dunkelheit und Ruhe als verräterisch und laut und da es den beiden Älteren nicht anders ging, verlangsamten sie ihr Tempo wieder etwas, als sie ein wenig weiter vom Haus entfernt waren.
Dem Dunkelhaarigen war es nur recht, nicht schon wieder so rennen zu müssen. Immer wieder stolperte er oder hatte damit zu kämpfen auf dem rutschigen Boden nicht zu fallen. Die Flucht hatte ihn bisher mehr mitgenommen, als er eigentlich zugeben wollte.
Doch lange ließ Fleur die langsamere Geschwindigkeit nicht zu, sondern trieb die Geschwister wieder an, sobald sie alle etwas zu Atem gekommen waren.
„Los, wir müssen das Tor erreichen, bevor sie uns einsperren.“
Sie wusste, dass sie den nächsten Morgen nicht frei erleben würden, wenn sie nicht aus der Stadt kamen. Zwar war das rothaarige Mädchen nie selbst auf der Flucht gewesen, aber man hörte viel, wenn man in der Küche eines Adelshauses arbeitete und die Köchin eine wahrhaftige Tratschtante war.
Arlett folgte ihr einfach und versuchte die Angst zu unterdrücken, die immer weiter in sie vordrang. Die Nacht an sich war schon schauerlich genug, aber jetzt, da sie vor einer realen Gefahr wegliefen, war sie mehr als nur das.
„Komm“, hörte sie ein Murmeln neben sich und nur einen Moment später griff ihr Bruder nach der kleinen Hand und hielt sie mit kühlen Fingern fest umschlossen. Das Mädchen hatte gar nicht gemerkt, dass sie langsamer geworden war und Nevan sie nun wieder mitzog. Ihr Bruder gab ihr selbst in absoluter Finsternis und gespenstischer Stille Sicherheit.
Die nächste Zeit rannten sie einfach schweigend Seite an Seite. Fleur lenkte sie mit knappen Handzeichen in abgelegene Gassen, die selbst Nevan unbekannt waren. Weiterhin durchbrachen nur ihre Schritte und das leise Keuchen die Stille, bis sie dem Tor immer näher kamen und letztendlich am Ende einer Seitengasse stehen blieben. Diese führte auf die breite Straße, die durch das Tor führte.
Der Schein einer Fackel erhellte die Umgebung und die Flüchtenden drückten sich instinktiv an die Hauswand neben sich, als sie auf die Straße und das Tor spähten.
Gerade machten sich zwei genervt wirkende Stadtwachen, die wohl nicht verstehen konnten, wie jemand mitten in der Nacht noch solchen Ärger machen konnte, daran das Fallgitter herunter zu lassen und die schweren Holztore zu schließen. Wenig später war alles fest verriegelt und es bot sich kein Weg mehr aus der Stadt. Es gab nur ein einziges Tor.
„Zurück“, murmelte Fleur und wandte sich vom Stadttor ab. Arlett, die noch immer Nevans Hand hielt, zog ihren Bruder weg von der Hausecke. Aus seinem Blick war jede Hoffnung verschwunden und seine Augen wirkten noch dunkler, als sie es ohnehin schon waren.
Auch Arlett spürte, wie hoffnungslos die Situation war, aber sie ließ es nicht zu, dass das Gefühl sie einnahm und vollkommen lähmte. Solange sie nicht gefasst waren, gab es noch eine Chance zu entkommen und daran würde sie glauben, bis gar nichts mehr ging.
Fleur war unsicher, ließ es sicher aber nicht anmerken. Ebenso wenig die Angst, die an ihrem Herzen nagte und sie beinahe wieder anhalten ließ, als sie die Gasse möglichst leise zurück lief. Es gab keinen Ort, an dem man sich verstecken konnte und so blieb ihr nichts anderes übrig, als mit den Geschwistern ziellos durch die Straßen zu gehen und zu hoffen, dass niemand sie fand.
Ihre Hoffnung war vergebens. Schon nach wenigen Straßenzügen wurden wieder aufgebrachte Stimmen laut und Schritte steuerten genau auf die Drei zu. Nevans Blick flog über die Mauern, die sie umgaben. Zwischen den Häusern war keine noch so schmale Gasse und die Schritte waren schnell.
Nur wenige Momente später erhellte der fahle Schein einer Fackel die Straße und eine Gruppe von Menschen kam um die Ecke. Überrascht blieben sie stehen und für den Augenblick starrten sich beide Seiten ziemlich überrascht an. Es herrschte Totenstille.
„Das müssen sie sein! Los, schnappt sie euch, dann gehört die Belohnung uns!“, kreischte dann mit einem Mal eine etwas verdeckt stehende Frau, deren Kleider zerrissen waren. Ihre Stimme klang beinahe wie die einer habgierigen Elster, die etwas Funkelndes an sich reißen wollte.
Sobald die Worte gefallen waren, ging alles mehr als schnell. Nevan riss seine Schwester herum, griff nach Fleurs Hand und zerrte die beiden Mädchen hinter sich her, die wie erstarrt dagestanden hatten.
Er rannte blind durch Straßen und Gassen und versuchte irgendwie ihre Verfolger los zu werden. Obwohl seine Lungen schon nach kurzer Zeit wieder brannten, als würden sie in Flammen stehen und die eiskalte Luft den Effekt nur verstärkte, zog er Arlett und Fleur weiter.
Anfangs waren die Schritte noch aufdringlich laut hinter ihnen, doch durch rasche Richtungswechsel, denen ihre Verfolger kaum hinterher kamen, schüttelten sie diese langsam aber sicher ab. Hilfreich war auch, dass sie sich ohne Licht bewegten, was es noch schwerer machte ihnen zu folgen und sie in der Dunkelheit auszumachen.
Irgendwann waren die Schritte kaum mehr zu hören, auch wenn sie noch immer da waren und die Gruppe sicher nicht so schnell aufgeben würde, wenn eine Belohnung auf die drei Flüchtenden ausgesetzt war.
Eigentlich wollte Nevan immer weiter rennen und nie wieder stehen bleiben, bis sie einen Weg aus der Stadt gefunden hatten, aber jede Faser seiner Muskeln schmerzte und zwang ihn immer langsamer zu werden, bis er schließlich in ganz normalem Schritttempo ging.
Noch immer hielt er Fleurs Hand in seiner einen, Arletts Hand in seiner anderen. Die Blonde schnappte nach Luft, kam aber schnell wieder zur Ruhe, während die Rothaarige versuchte einfach so leise wie möglich zu bleiben und ihr Keuchen erstickte, indem sie einfach normal atmete.
Nevan versuchte es zwar auch, aber da er ein gutes Stück weiter gelaufen war als die anderen beiden, kam er einfach nicht mehr zur Ruhe. Sein Herz schlug schmerzhaft schnell gegen seine Rippen und das Brennen seiner Lungen hielt bei jedem Atemzug an. Obwohl er schnell atmete, hatte er das Gefühl gar keine Luft mehr zu bekommen.
Der Griff seiner inzwischen eiskalten Hände lockerte sich langsam, während er weiterhin versuchte einfach weiter zu gehen. Aber selbst das schien unmöglich und zu seinem Entsetzen verschwamm die dunkle Gasse vor ihm nach und nach.
Das wenige Licht mischte sich mit den Farben zu einem einzigen Chaos, das langsam zu einer einheitlichen Dunkelheit verlief, die Nevan umhüllte.
Die panischen Worte seiner Schwester nahm er kaum noch wahr, ebenso wenig Fleurs Versuch ihn abzufangen, als er fiel. Tief hinein in die schützende Dunkelheit, die sich um seine Gedanken legte und die Strapazen der Flucht vorerst fort nahm.

Einsam




Eine weite Lichtung erstreckte sich zwischen den vom Schnee bedeckten Bäumen. Große, im Sonnenlicht schillernde Eiszapfen fanden sich an vielen der Äste und gaben dem ganzen Bild etwas Friedliches und zugleich Magisches.
An den Spitzen der Eiszapfen schimmerten winzig kleine Wassertropfen, da die Sonnenstrahlen das Eis trotz der Kälte ein wenig tauen ließen. Dennoch würde der Schnee sicher noch Wochen liegen bleiben und die Eiszapfen würden noch weiter wachsen.
Das im Sommer hellgrün leuchtende Gras war wie die Bäume vollkommen unter einer dicken Schicht aus dem weißen Material verborgen und von den leuchtend bunten Blumen, die überall verstreut und wirklich in allen nur erdenklichen Farben wuchsen, war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal von den kleinen goldenen Blüten, die nur im Herbst auf der Wiese zu finden waren, war noch etwas zu erkennen.
Der Winter hatte sie ebenso hinfort genommen wie das warme, rötlich schimmernde Licht des Sommers oder das goldfarbene Licht des Herbstes. Erst der Frühling würde das kalte weiße Licht wieder gegen ein angenehmes, gelbes tauschen.
Rund um die in Schnee gehüllte Lichtung, die eine malerische Landschaft bot, standen kleine, aber stabil gebaute Hütten aus Holz. Ihre Eingänge waren mit dicken Fellen verhängt, um die Kälte und den Wind, der durch die Bäume am Rande der Lichtung fuhr und den Schnee von ihren Ästen rieseln ließen, draußen zu halten.
Auch an den Kanten der Dächer hingen ganze Ketten von Eiszapfen und es war beinahe ein Wunder, dass noch keines der einfachen Dächer unter der Last des Schnees nachgegeben hatte.
Ein leises Lachen durchdrang die Stille und eines der Felle vor der Tür einer Hütte wurde beiseite geschoben. Zwei Kinder – etwa zehn Jahre alt – stürmten auf die Lichtung. Nicht lange und ein Schneeball segelte durch die Luft, der auch die anderen, jüngeren Kinder nach draußen in den Schnee lockte.
Kleine Fußabdrücke durchzogen die weiße Fläche und es war abzusehen, dass bald eine Schneeballschlacht mit recht großen Ausmaßen in Gang kommen würde. Die Eltern der Kinder warfen ab und zu einen Blick nach draußen, was den Meisten ein breites Lächeln entlockte.
Nur wenn ihr Blick den Jungen streifte, der fernab von all der Fröhlichkeit unter einem der Bäume saß, verdüsterte sich etwas auf ihren Zügen. Er war allein schon von seinem Aussehen her einfach ganz anders als die meisten Kinder in dem kleinen Dorf.
Sein Haar war hell, beinahe so weiß wie der Schnee und auch seine Haut schien keinerlei Farbe zu besitzen. Nur seine Augen, die ohne großes Interesse auf die spielenden Kinder gerichtet waren, waren in eigenartigem blau gefärbt, dessen Schattierungen immer wieder wechselten.
Seine Kleider waren einfach und hielten die Kälte, die seine Lippen blau färbte, kaum von ihm ab. Die schwarze Jacke, deren Saum in Gold gehalten war, war zwar fest geschlossen und ein rotes Tuch lag um seinen Hals, aber dennoch war der Stoff dünn und ließ den Wind bis auf die Haut des Jungen durch.
Ebenso war es mit den weißen Hosen und den leichten Stiefeln, in denen seine Füße steckten. Nichts hielt die Kälte ab und doch blieb er regungslos, mit leerem Blick und frierend unter dem Baum sitzen.
Nur seine blassen, schmalen Finger spielten mit einem Stapel Karten, die er so gut wie immer dabei hatte. Sie waren abgenutzt und doch fehlte keine einzige aus dem Stapel. Sie wiesen lediglich die Spuren seiner Hände auf, die die Karten immer wieder genommen hatten.
Ein leises Seufzen kam über seine Lippen, während seine Gedanken langsam zurück wanderten. Als er das erste Mal hier gewesen war, hatte alles freundlich gewirkt. Die weite Lichtung, die jetzt vor ihm lag und von der fröhliches Kindergelächter herüberschallte, schien ein Ort zu sein, an dem er endlich Zuhause war.
Die kleinen, gemütlichen Holzhäuschen, die die Lichtung umrandeten, hatten einladend gewirkt. Einige standen noch im Schatten der hohen Bäume, andere im hellen Sonnenlicht, das das Braun des Holzes noch wärmer und weicher wirken ließ, als es sowieso schon war.
Aber jetzt?
Er war allein. Mal wieder.
Anfangs hatte er mit den anderen Kindern gespielt, auch wenn sie ein wenig jünger waren als er selbst. Er hatte ihnen das Kartenspiel beigebracht und alles war endlich wieder so gewesen, wie…ja, wie wann eigentlich?
Wieder entkam ihm ein Seufzen, während er immer weiter in den Erinnerungen an die wenigen glücklichen Wochen, die er hier verbracht hatte, versank.
Die Kinder hatten gern mit ihm gespielt, aber inzwischen hatten sie Angst vor ihm oder gingen ihm einfach aus dem Weg. Er wusste zwar warum, aber dennoch konnte er es nicht wirklich verstehen. Gab es so viele Unterschiede zwischen ihnen, die sich durch nichts überwinden lassen würden?
Wie lange er noch einfach so dasaß und die Dinge vor sich betrachtete, wusste er nicht mehr. Seine Gedanken schwiegen inzwischen und er fühlte nur noch die Rinde des Baumes in seinem Rücken, die eisige Kälte des Windes und die Feuchtigkeit, die der Schnee mit sich brachte.
Alles war vollkommen friedlich, so wie er es kennen gelernt hatte, aber nur den Bruchteil einer Sekunde später, kam ein – ihm relativ neues – Gefühl auf. Es lag nicht an seiner Umgebung, die weiterhin einfach eine Lichtung mit spielenden Kindern zeigte.
Es war etwas grundlegend anderes, das er bisher nie hatte fassen können. Doch immer lag Gefahr in dem, was er wahrnahm und eine leise Warnung klang mit. Er konnte nicht sagen, ob es nun ein fremder Gedanke war, der ihn streifte oder ob es sonst irgendeine Art von Magie war.
Nur eines war ihm vollkommen klar: es konnte keine Einbildung sein.
Drei Gestalten. Sie rennen scheinbar ziellos durch eine schmale Gasse, die in völliger Dunkelheit liegt. Auf ihren Gesichtern steht Angst, wobei der dunkelhaarige Junge versucht diese zu verbergen, während sie immer weiter hetzen und eines der Mädchen immer wieder einen furchtsamen Blick zurückwirft, obwohl keine Verfolger erkennbar sind.
Das Bild blitzte nur für die Dauer eines Wimpernschlags vor ihm auf und hinterließ nur das inzwischen sehr deutliche Gefühl von Gefahr und die Erkenntnis, dass die drei Personen auch irgendwie anders sein mussten alles jedes normale Wesen in dieser Welt.
Der Junge versuchte der Ursache für das Gefühl und dieses kurze Bild vor seinen Augen, das sich in sein Gedächtnis gebrannt hatte, wie es nur wichtige Dinge schafften, auf den Grund zu gehen ohne wirklich zu wissen, wie er das anstellen konnte.
Seine Finger spielten noch immer mit dem Stapel Karten, obwohl sie vor Kälte vollkommen gefühllos und so ungeschickt waren, dass er die Karten beinahe zu Boden fallen ließ.
Sein Blick blieb dabei noch immer auf die weiße Lichtung vor ihm gerichtet, auch wenn er sie nun wirklich nicht mehr sah und seine Augen eine leuchtend hellblaue Farbe annahmen, wie meistens dann, wenn er sich vollkommen auf eine Sache konzentrierte, aber zu keinem Schluss kommen konnte.
„Akito!“, erklang ein lauter Ruf, der über die ganze Lichtung hallte und die Kinder für einen kurzen Moment inne halten ließ.
Der Blick des hellhaarigen Jungen wanderte etwas irritiert über seine Umgebung, die er durch die Konzentration fast vollkommen ausgeblendet hatte, als sein Name gerufen wurde.
Eigentlich konnte es nur eine einzige Person sein, die nach ihm suchte, da alle anderen sowieso kein Wort mehr mit ihm wechselten und ihn meistens gar nicht erst beachteten.
„Herrje, Akito! Wie lange sitzt du denn jetzt schon wieder hier?“, folgte dem ersten Ruf ein weiterer, auch wenn dieser bedeutend leiser war und die Frau, die gesprochen hatte, zielsicher auf den Jungen zusteuerte, der noch immer etwas verwirrt zu ihr blickte.
Ihr dunkelbraunes Haar fiel in leichten Wellen auf ihre Schultern und ihre Augen strahlten in fröhlichem und zugleich selbstbewusstem Grün. Sie war recht schlank und schien eher durchschnittlich, aber Akito wusste inzwischen, dass sie sich trotzdem sehr gut zur Wehr setzen konnte und als Gegnerin im Kampf nicht zu verachten war.
Ihre Kleider waren in allen nur erdenklichen Schattierungen von Grün und Braun gehalten und waren ebenso einfach wie die Sachen, die Akito trug.
Und doch gab es einen sehr großen Unterschied zwischen ihr und dem Jungen, der noch immer bewegungslos dasaß, während sie weiter auf ihn zuging. Sie war unter den anderen Dorfbewohnern sehr angesehen und besaß ein enormes Wissen über alle Heilkräuter, die in dieser Gegend des Waldes wuchsen.
Zudem schien sie nach außen hin nicht besonders alt. In ihrem Gesicht waren nur kleine Lachfalten zu finden und sie bewegte sich wie eine junge Frau, aber ihr Blick verriet, dass sie eigentlich schon sehr viel älter sein musste als alle anderen hier.
Sie blieb vor Akito stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, auch wenn sie kaum verärgert war. Dennoch hieß sie es nicht gerade gut, dass der Junge vor ihr schon wieder so lange in der Kälte gesessen hatte, dass seine Hände taub sein mussten und seine Lippen so blau wie seine Augen waren.
„Ich komme gleich wieder rein, Elandra“, antwortete er mit einem leisen Murmeln auf ihre Frage. Akito spürte noch immer die Gefahr und das in einer Präsenz, die kaum einen anderen Gedanken als die Frage zuließ, woher dieses Gefühl stammte.
Deshalb blieb Akito auch weiterhin still sitzen, obwohl er laut seiner Antwort langsam hätte aufstehen und wieder zu den Hütten gehen sollen.
Elandra ließ ein leises Seufzen hören und wartete noch einen Moment, bevor sie weiterredete: „Nicht gleich, jetzt. Sonst erfrierst du hier doch noch.“ Ihre Stimme ließ dabei trotz des sanften Tones keinen Widerspruch zu und sie hielt ihm auffordernd eine Hand hin.
Akito ergriff diese nicht sofort, was Elandra für einen Moment die Stirn in Falten legen ließ und bewirkte, dass sie ihn genauer musterte. Zwar war er des Öfteren in Gedanken weit weg, aber dabei lag nicht dieser Ausdruck in seinen Augen, der ihr komplett neu war.
„Ist alles in Ordnung?“, fügte sie ihren Worten noch an, wobei ihr Blick weiterhin auf Akito ruhte und sich leichte Sorge in ihre Augen schlich. Irgendetwas war wirklich anders, aber sie konnte nicht bestimmen, was es genau war.
Er antwortete mit einem leichten Nicken und ergriff rasch ihre Hand, um ihre Zweifel an seiner Antwort wegzuwischen. Elandras Hand war wie immer angenehm warm, während Akito erst als sie ihn auf die Füße zog, klar wurde, wie kalt seine eigenen Finger waren.
Die Spielkarten schob er wieder zurück in den kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel, während Elandra sich in Bewegung setzte und auf eine der kleinen Hütten zusteuerte. Unter dem Vorsprung des Dachs hingen unzählige Bündel von Kräutern und auch drinnen würden über dem Feuer noch mehr Bündel der verschiedensten Kräuter hängen, deren Duft die gesamte Hütte erfüllte.
Doch obwohl Akito sich wieder auf die Lichtung konzentrierte und jetzt auch die Kinder, die noch immer im Schnee spielten, deutlicher wahrnahm, konnte er dieses Gefühl von unbestimmter Gefahr einfach nicht mehr aus seinem Kopf verbannen.
Bevor er aber weiterhin darüber nachsinnen konnte, was das sollte und noch bevor Akito und Elandra die Hälfte des Weges über die Lichtung zurückgelegt hatten, blieb Akito von einem Augenblick auf den Nächsten mitten im Schritt stehen.
Die junge Frau drehte sich überrascht zu ihm um und setzte schon dazu an noch etwas zu sagen, als ihre Augen die von Akito trafen. Die Konzentration war aus seinen Augen verschwunden und das intensive Hellblau färbte sich zunehmend zu einem stumpfen Grau, was seinen Blick eigenartig verschleiert wirken ließ.
Der Griff seiner Finger um die Hand der Brünetten lockerte sich merklich und sein an sich schon blasses Gesicht glich nun wirklich mehr dem Schnee als irgendetwas Anderem.
„Akito? Geht’s dir nicht gut?“ Schon wieder klang leichte Sorge in Elandras Worten mit, doch der Junge zeigte keine Reaktion mehr. Seine Augen schienen einen Punkt zu fixieren, der in weiter Ferne lag und für kurze Zeit wusste selbst Elandra als erfahrene Heilerin nicht, was sie tun sollte. Sie wartete beinahe erstarrt ab.
Akito wusste ebenfalls nicht, was in ihm vorging. Ohne Vorwarnung oder irgendeinen Grund, breitete sich in ihm ein glühender Schmerz aus, der keinen Ursprung hatte und der nicht einfach wieder verflog.
Sein Atem ging viel zu schnell und zu flach und seine Umgebung schien ihm nur noch wie ein verzerrtes Bild, das jemand ohne großes Interesse auf eine schiefe Leinwand gepinselt hatte.
Ein leises Stöhnen kam ihm über die Lippen, da jeder Versuch den Schmerzen zu entgehen sie nur noch aufdringlicher und grausamer machte. Zum einen fühlte es sich an, als würden sich tausende, kleine Nadeln in seinem Körper befinden, die man zuvor ins Feuer gehalten hatte, zum anderen aber machte sich in seinem Inneren eine Kälte breit, die selbst die des Schnees übertraf.
Elandra kam wieder in Bewegung, als Akito leicht schwankte und alle Mühe hatte auf den Füßen zu bleiben. Sie trat neben ihn, legte einen Arm um seine schmalen Schultern und hielt ihn so gut wie möglich fest.
„Hey…Akito?“, fragte sie erneut nach. Die Sorge in ihren grünen Augen konnte sie nun nicht mehr unterdrücken. So hatte er bisher auf nichts und niemanden reagiert, auch wenn er manchmal ziemlich neben der Spur war und auf sehr eigenwillige Gedanken kam. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Da er wieder nicht reagierte, schob sie ihn weiter auf die Hütte zu, machte jetzt aber langsam, da Akito lief als würde er Schlafwandeln oder in eine Art Trance gefallen sein. Zudem zeichnete irgendeine Art von Schmerz sein Gesicht, was auch nichts Gutes bedeuten konnte.
Elandra spürte die Blicke der anderen Leute, die sich auf der Lichtung bewegten. Zu den Kindern waren noch ein paar der Eltern hinzugekommen, auch wenn die Meisten nur Wasser am Brunnen in der Mitte der weiten Fläche holten.
Sie alle hatten etwas gegen den gerade einmal Fünfzehnjährigen, der erst seit geraumer Zeit bei ihnen lebte. Elandra erntete immer wieder Kopfschütteln und verächtliche Blicke, da sie sich als einzige um ihn kümmerte. Keiner wagte es jedoch das Thema offen anzusprechen. Die Position der Heilerin war unangefochten und so auch die derjenigen, die unter ihrem Schutz standen, sowie Akito es wohl tat.
Sobald sie mit Akito neben sich, den sie inzwischen wirklich festhalten musste, ihre Hütte erreichte, schob Elandra das dicke Fell beiseite, das vor dem Eingang hing und trat mit Akito hindurch.
Den Raum erhellte nur ein flackerndes Feuer, das in der Feuerstelle an einer der Wände brannte und dafür sorgte, dass es in der Hütte halbwegs warm war, auch wenn der Wind unerbittlich durch kleine Spalten zwischen dem Holz fuhr und die Winterkälte doch wieder hereinbrachte.
Die Heilerin steuerte auf das Lager aus weichen Fellen zu, die über ein Gestell aus Holz gebreitet waren und schaffte es trotz der vielen Dinge, die meist auf dem Boden verstreut waren, den Jungen davor zu bewahren allzu oft zu stolpern.
Akito bekam das alles nur am Rande mit und seine Gedanken lagen in einem klebrigen Nebel, der ihn unfähig machte zu handeln oder auf seine Schritte zu achten. Selbst das Elandra ihn letztendlich auf das Bett setzte und vor ihm stehen blieb, ihn wieder ansprach, ging vollkommen an ihm vorbei.
„Antonio wird sterben… Seine Zeit zerrinnt wie Sand, keiner kann den reißenden Fluss stoppen, der die Flamme seines Lebens auslöschen wird. Und nichts wird ihn retten können. Kein Heiler der Welt würde es können. Er ist verloren. Für immer verloren…“
Elandra fuhr zusammen, als der Junge, der noch immer wie in Trance dasaß, zu sprechen begann. Seine Stimme klang eigenartig kalt und die Heilerin hatte beim klang der Worte das Gefühl, als würde ein Windstoß durch den mit Fellen verhängten Eingang fahren.
Kein einziges Gefühl lag in seiner Stimme und Akitos Blick drückte eindeutig aus, wie unbeteiligt er obgleich der Grausamkeit der Worte war.
Für den Bruchteil einer Sekunde war es Elandra beinahe so, als sei der Junge vor ihr wirklich der Tod oder stünde mit diesem in einem Bunde. Seine Augen schimmerten nicht mehr in blau oder gar in grau, sondern nahmen langsam einen blutroten Farbton an.
„Noch bevor die Sonne wieder aufgeht, wird er tot sein.“
Die Brünette stolperte unwillkürlich einen Schritt zurück, als Akito einen so endgültigen Satz aussprach, der wirklich so klang, als hätte er sein Siegel unter Antonios Tod gesetzt.
Antonio war ein Junge aus dem Dorf. Er hatte wuscheliges, braunes Haar und bernsteinfarbene Augen und er war gerade mal sechs Jahre alt. Elandra war sich sicher, dass es eigentlich keinen Grund gab, warum der Junge sterben sollte.
Dennoch konnte sie die ausgesprochenen Worte nicht als Unsinn abtun. Akito schien zwar nicht zurechnungsfähig zu sein, aber seine Stimme klang zu klar und zu bestimmt, als dass es nur wirrer Unsinn sein konnte.
Elandra stand erstarrt da, während sich die Gedanken in ihrem Kopf nur so überschlugen und sich erst für einen kurzen Moment stoppen ließen, als Akito endgültig zur Seite kippte.
Elandra zwang sich wieder zu ihm zu treten und schob seine Füße ebenfalls auf das Bett und befreite sie rasch von den Stiefeln, ehe sie ein weiteres Fell über den Jungen zog und sich neben ihn setzte.
„Musst du denn wirklich so eigenartig sein, wie du wirkst?“, fragte sie ihn leise, wobei sie eine Hand kurz auf seine Stirn legte. Allerdings musste sie feststellen, dass sie vorerst nichts tun konnte.
So blieb Elandra bei ihm sitzen, bis sie sicher war, dass sein Atem ruhig ging und Akito vorerst einfach nur schlief. Ihre Gedanken kreisten dabei wieder und wieder um die Worte des Jungen und der Ausdruck in seinen Augen und auf seinen Gesichtszügen ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Phönixblut




Das Feuer im Kamin beleuchtete flackernd den kleinen Raum. Die Ecken lagen weiterhin im Schatten, da die Flammen nur noch träge am Holz leckten und in ein oder zwei Stunden sicher ganz verlöschen würden.
Fleur saß schweigend vor dem Kamin und versuchte die Ereignisse der Nacht zu verstehen, während ihr Blick auf das Feuer gerichtet war ohne dass sie es wirklich sah.
Als sie Nevan und Arlett aus dem Haus gebracht hatte, hatte sie gehandelt ohne nachzudenken. Es war keine Zeit geblieben um zu zögern, da sonst zumindest Nevan spätestens am Morgen hingerichtet worden wäre.
Und für seine Schwester wäre damit wohl eine ganze Welt zusammengebrochen. Dennoch wusste Fleur nicht, was sie selbst empfand und ob es für sie nicht auch ein schwerer Schlag gewesen wäre, wenn Nevan sein Leben verloren hätte.
Seit sie ihm das erste Mal begegnet war, konnte sie den Blick nicht mehr von ihm lassen. Der Dunkelhaarige faszinierte sie, hatte aber zugleich auch eine Ausstrahlung, die Fleur auf Abstand hielt.
Sie ging nicht besonders oft von sich selbst aus auf Menschen zu und bei Nevan hatte sie es bisher nie gewagt auch nur ein einziges Wort an ihn zu richten, selbst wenn es nur ein einfacher Gruß gewesen war.
Fleurs braune Augen wanderten bei den Gedanken an den Jungen zu dem schmalen Bett, das an einer Wand des Zimmers stand. Er war noch immer bewusstlos, aber er war in Sicherheit.
Nachdem er in der dunklen Gasse zu Boden gegangen war, hatte Fleur schon beinahe keinen Ausweg mehr gesehen und Arlett war trotz ihres fröhlichen Gemüts den Tränen nah gewesen.
Verzweifelt hatten die Beiden dennoch versucht Nevan weiter zu tragen, als Schritte durch die Gasse auf sie zukamen und sich schon nach wenigen Augenblicken eine dunkle Gestalt aus den Schatten löste.
Das blonde Mädchen hatte sich panisch an Fleur geklammert, die bewegungsunfähig dastand und auf die Gestalt starrte, die leicht gebeugt näher kam. Die Schritte waren viel leiser als die der schweren Stiefel einer Wache und als der Lichtschein einer mit einem Tuch verhängten Laterne das Gesicht des Fremden offenbarte, blinzelte Fleur verwirrt.
Arletts Griff lockerte sich und sie blickte ihr Gegenüber mit eindeutiger Überraschung auf dem Gesicht an, ehe sie leise einen Namen murmelte, sich ganz von Fleur löste und auf den Mann zustürmte.
„Mikesch…“ Die Blonde drückte sich an ihn und jetzt verstand Fleur wirklich gar nichts mehr, außer, dass Arlett den Fremden kannte und es vielleicht doch ein wenig Hoffnung auf eine Flucht vor den Wachen gab.
„Schon gut. Ich helfe euch, aber wir müssen uns beeilen.“, meinte er ruhig, aber dennoch drängend und löste Arlett sanft von sich.
Er hatte nichts weiter erklärt, aber er hatte ihnen geholfen Nevan hierher zu bringen, ehe er wieder verschwunden war. Zudem hatte er Arlett noch versprochen wieder zu kommen, sobald er konnte.
Fleur hatte schon beim ersten Schritt in das Zimmer geahnt, dass sie sich in einem Gasthaus befinden mussten. Besser gesagt in einem Hinterzimmer, welches zwei Türen besaß. Eine führte auf eine dunkle Gasse, die andere in den Schankraum des Gasthauses.
Inzwischen lag Arlett zusammengerollt neben ihrem Bruder. Ihr Atem ging ruhig und sie war schon seit einiger Zeit tief und fest eingeschlafen, wobei ihre Hand die ihres Bruders fest umklammerte, als würde sie befürchten, dass die Wachen ihn doch noch holten.
Die Stille hielt weiterhin an und Fleur versank für eine Weile ganz in ihren Gedanken, die sich nach und nach etwas sortieren ließen, auch wenn sich immer wieder ein Gedanke an Nevan zwischen all die anderen schlich und sie ablenkte.
Ihr Blick ruhte dabei noch immer auf dem Jungen, der weiterhin regungslos dalag.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit durchbrach ein leises Stöhnen die Stille und ließ Fleur zusammenzucken als würde der Raum von Soldaten gestürmt werden.
Allerdings kam der Laut von Nevan, der blinzelnd die Augen aufschlug und drauf und dran war sofort aufzuspringen. Er rechnete damit inzwischen in irgendeinem Kerker zu sitzen und auf den Tod zu warten.
Fleur sprang rasch auf und durchquerte den Raum mit wenigen Schritten, sodass sie neben dem Bett stand und den Jungen vorsichtig zwang liegen zu bleiben. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte sie, als sie ihn dabei berührte und seine dunklen Augen ihren Blick trafen.
„Hey…bleib ruhig. Wir…wir sind in Sicherheit.“, setzte sie stockend dazu an ihm die Situation zu erklären, fuhr aber nicht weiter fort. Es war als wäre ihr Gedächtnis für einen Augenblick einfach zu beschäftigt mit Nevans Blick, um die Geschichte knapp zu erklären.
Dieser lag inzwischen still und erst nach einigen Augenblicken bemerkte Fleur, dass ihre Hand noch immer auf seiner Brust lag und sie sich ohne groß nachzudenken auf die Bettkante gesetzt hatte.
Rasch zog sie den Arm zurück und brach den Bann, der sie in ihre Position gefesselt hatte, in dem sie den Blick rasch senkte. Ihre Wangen glühten dabei förmlich und sie wagte es nicht mehr aufzusehen, obwohl sie Nevans Blick noch immer spürte.
„Danke…“, murmelte er kaum hörbar. Seine Stimme klang noch leicht angeschlagen, weshalb er es wohl auch ließ noch viel mehr zu reden und seine Fragen vorerst schluckte.
„Du solltest nicht mir danken. Es war der alte Mann, der uns hierher gebracht hat und…“, redete die Rothaarige hektisch darauf los. Nevans Blick machte sie unsicher. Wie konnte er sie so lange Zeit einfach nur fixieren?
„Trotzdem muss ich dir danken. Schließlich hast du mich und Arlett aus dem Haus gebracht.“, unterbrach der Junge sie. Die Erwähnung Mikeschs schien ihn nicht weiter zu berühren. Vertraute er dem Fremden etwa, obwohl er sonst niemandem zu vertrauen schien?
Das Mädchen atmete beinahe auf, als der Dunkelhaarige den Blick endlich von ihr löste und ihn durch den Raum wandern ließ und ihn letztendlich auf seine Schwester richtete, die noch immer friedlich schlief.
Allerdings herrschte jetzt wieder Stille und diese verunsicherte Fleur beinahe so sehr wie Nevans Blick.
Zögernd hob sie den Kopf wieder und strich sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus der Haarspange gelöst hatte und ihr sofort wieder ins Gesicht rutschte.
Der Junge ließ ein leises Seufzen hören und schloss die dunklen Augen wieder. „Wie kann man nur so lange weg gewesen und trotzdem so müde sein?“, murmelte er. Er sprach Fleur damit nicht direkt an und erwartete keine Antwort.
„Schlaf ruhig weiter. Draußen ist es sowieso noch dunkel.“, meinte sie mit dem Ansatz eines Lächelns auf den Lippen. Nevan schlug noch einmal die Augen auf, murmelte noch etwas, das Fleur nicht verstand, ehe ihm die Augen zufielen.
Erst jetzt überkam auch sie langsam die Müdigkeit, die sie vorhin einfach durch ihre Gedanken verdrängt hatte. Trotzdem versuchte sie wach zu bleiben. Irgendjemand musste aufpassen, falls doch etwas passierte.
Lange kam sie nicht mehr gegen die bleierne Müdigkeit an und bald fielen auch ihr die Augen einfach zu und ihre Gedanken verstummten.

Das Geräusch der sich öffnenden Tür weckte Nevan erneut. Allerdings fuhr er dieses Mal nicht so hektisch hoch, wie er es getan hatte, als sich die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit endlich gelichtet hatte.
Auch Arlett, die bis vor einem Moment wohl noch immer neben ihm geschlafen hatte, rappelte sich langsam auf und fuhr sich kurz mit den Händen über die Augen, um den Schlaf ganz zu verscheuchen.
Der Blick ihres Bruders wanderte während er sich aufsetzte schon zu der unscheinbaren Tür, durch die sich der Händler herein schob, der den beiden Geschwistern auf dem Markt die Steinfiguren gezeigt hatte.
Nevan schien es, als wäre das bereits eine halbe Ewigkeit her, obwohl es noch nicht einmal einen Monat zurück liegen konnte.
Mikesch hatte sich kaum verändert, auch wenn die Sorge sein Gesicht faltiger machte und ihn etwas älter wirken ließ als bei ihrer ersten Begegnung, die so plötzlich von den aufkreuzenden Wachen unterbrochen worden war.
Der Händler grüßte die Geschwister mit einem Nicken und trat ans Feuer, wo er seinen Mantel ablegte und die Hände in Richtung der Flammen ausstreckte.
Arlett kletterte rasch aus dem Bett und ging zu ihm hinüber, um sich erst einmal schweigend neben ihn zu stellen. Sie ahnte, dass Mikesch irgendetwas Wichtiges zu sagen hatte, damit aber noch wartete, bis Nevan und sie dazu bereit waren ihm vollkommen zuzuhören.
Nevan stand ebenfalls auf, wobei er feststellen musste, dass ihm noch immer jede Bewegung schwer fiel. Es verwunderte ihn leicht, da er zwar viel gerannt war, das aber eigentlich nicht so heftige Auswirkungen haben konnte.
Bevor er diesen Gedanken ganz zu Ende verfolgte, blieb sein Blick leicht irritiert an Fleur hängen, die neben dem Bett lag. So wie es aussah war sie dort eingeschlafen ohne es wirklich zu wollen.
Ein leichtes Lächeln schlich sich bei dieser Erkenntnis auf seine Lippen und ließ für einen Augenblick den Charakter durchschimmern, der durch seine Erlebnisse immer mehr verschüttet worden war. Der des glücklicheren Nevans, der sich nicht darum kümmerte, was in ferner Zukunft liegen mochte.
Mit einem kurzen Blick zu Mikesch und Arlett am Kamin kniete Nevan sich langsam neben das schlafende rothaarige Mädchen und schob einen Arm hinter ihren Rücken, sodass er sie ohne weiteres festhalten konnte, während er den zweiten Arm unter ihre Knie schob.
Fleur murmelte etwas unverständliches, als Nevan sich mit ihr aufrichtete. Ihr Kopf ruhte dabei an seiner Schulter. Er hatte Arlett schon des Öfteren so getragen und ins Bett gebracht, aber dennoch war es bei Fleur ein anderes Gefühl, das dadurch ausgelöst wurde.
„Schlaf weiter“, flüsterte er dem Mädchen zu und legte es auf das Bett. Kurz blieb er noch neben ihr stehen, strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beobachtete dieses, das durch den Schlaf friedliche, fast kindliche Züge annahm.
Gerade als er sich zwang den Blick von ihr zu lösen spürte er ihre Hand, die nach seiner eigenen Griff und ihn festhielt. Wieder hielt Nevan inne und blickte noch einmal zu dem Mädchen.
Sie schlief noch immer und schien ihn unbewusst festzuhalten, wobei sie wieder etwas murmelte. „Bleib bei mir…“
Nevan wusste nicht so recht, was er jetzt tun sollte, aber er konnte sich ja schlecht einfach losreißen um zu Arlett und Mikesch hinüber zu gehen. Außerdem sprach sein Herz den leisen Wunsch aus einfach bei Fleur zu bleiben, selbst wenn weg gehen nur bedeutete, dass er den halben Raum durchquerte.
„Ich bin gleich wieder da und ich bleibe im Raum.“, flüsterte er und rang sich zu der Entscheidung durch doch zu den Beiden am Kamin zu treten.
Sanft löste er Fleurs Griff, strich noch einmal über die weiche Haut und legte ihre Hand neben sie. Rasch zog er noch die dünne Decke am Fuße des Bettes über Fleur, bevor er sich wirklich von ihr losriss und in Gedanken noch immer bei ihr zu Mikesch und seiner Schwester trat.

„Ihr habt großes Glück gehabt, dass ihr einem Mann wie Jalen entkommen seid.“, fing Mikesch an und wandte sich vom Feuer zu den beiden Geschwistern. Er ließ sich auf dem alten Stuhl nieder, der davor stand und bedeutete den Beiden sich ebenfalls hinzusetzen, ehe er fortfuhr.
„Aber das tut nichts zu dem zur Sache, was ich euch sagen will. Ich bin euch noch immer die Erklärung zu den Vögeln schuldig und die sollt ihr nun endlich erhalten. Sie bestimmen euer Schicksal.“
Nevan zweifelte keine einzige Sekunde lang an der Wahrheit, die hinter den Worten steckte. Mikesch Augen strahlten einen ungeheuren Willen aus, ein Feuer, das ihm unglaubliche Stärke verlieh und das nur von der Ehrlichkeit am Brennen gehalten wurde.
„Und somit auch das Schicksal dieser Welt. Ihr seid die Einzigen, die es wenden können. Ihr seid die Letzten, in deren Adern noch das Blut eines reinen Phönix fließt.“
Arlett entkam ein überraschtes Keuchen und Nevan schwirrten tausende Gedanken durch den Kopf.
Soweit er wusste, war ein Phönix ein Vogel, ein Geschöpf der Magie und des Feuers. Wie konnten also er und Arlett das Blut einer solchen Wesenheit in sich tragen? Er erinnerte sich ja nicht einmal an ihre Vergangenheit.
„Aber…“, setzte er an um zu widersprechen, doch Mikesch brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Ich kann euch nicht erklären, wie das funktioniert und ich kann euch ebenso wenig sagen, wie euer Schicksal genau aussieht. Ich werde euch dabei helfen euch selbst und euren Weg zu finden.“, erklärte er ruhig.
Arlett hing förmlich an seinen Lippen. Der Tagtraum, den sie vor Ewigkeiten gesponnen hatte, schien gerade nach und nach wahr zu werden. Tief in ihrem Inneren hatte sie gewusst, dass es mit den Vögeln etwas Magisches auf sich haben musste.
„Jeder von euch vereint zwei der Elemente, die sich durch Magie beherrschen lassen. Zudem besitzt jeder ein Element, das kein Mensch, der in Zauberkünste eingeweiht ist, jemals verwenden könnte. Sie können euch als unglaublich starke Waffe dienen, aber ihr müsst vorsichtig sein. Es sind gegenteilige Elemente. Ein falscher Schritt und sie würden euch trotz eurer Macht umbringen.“
Ein Schauer lief Nevan über den Rücken. Er hatte im Moment das Gefühl, dass er diese Macht eigentlich gar nicht haben wollte. Wie sollte er gemeinsam mit Arlett überhaupt irgendein Schicksal beeinflussen?
Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es möglich war. Er und Arlett waren jung und konnten sich kaum vorstellen, was es hieß wirklich zu leben. Sie kannten nur diese eine Stadt und davor lag noch immer der dichte Nebel.
„Das kann nicht sein. Wir sind die Falschen, keiner von uns beherrscht auch nur Bruchtücke der Magie. Wir sind einfach Diener, Mikesch.“, wandte er sich gegen den alten Mann, dessen Augen darauf hin nur noch mehr funkelten.
„Ach? Und wie bist du dann deinem Herren entkommen? Ich habe Gerüchte gehört, in denen von Schatten die Rede war, die dich von seinem Griff befreiten.“, gab er schmunzelnd zurück.
Arlett blickte ihren Bruder aus großen, leuchtenden Augen an. Sie hatte nicht verstanden, warum er widersprach und hatte sich beinahe einmischen wollen, was sie aber durch die Tatsache, dass Nevan laut Mikesch schon Magie angewendet hatte, schon wieder vergessen.
Nevans Gedanken wanderten währenddessen wieder zu der Situation im Saal, als Sir Jalen die Hand um seine Kehle geschlossen hatte. Nevan hatte etwas ausgesprochen, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war.
Aber es waren eindeutig Schatten gewesen, die sich um Jalens Hand wickelten und…Nevan blieb der Mund offen stehen und Mikesch grinste ihn nur weiter vergnügt an.
„Na also. Damit hast du dir schon selbst bewiesen, dass ich richtig liege. Hättest du den Schatten nicht eingesetzt, dann wärst du jetzt wohl kaum so müde.
Außerdem ist eure Aura zu stark als dass sie einfach nur zu einem Menschen gehören könnte. Ihr seid Phönixe, selbst wenn ihr keine Flügel habt.“, fuhr er schließlich fort und durchsuchte dabei seinen Mantel.
Nach ein paar Augenblicken zog er das Stoffbündel hervor, das Nevan und Arlett schon kannten. Es enthielt die beiden Vögel, die er ihnen auf dem Markt gezeigt hatte.
Fast feierlich und mit vor Aufregung zitternden Händen löste Mikesch die Schnur, die das Bündel zusammenhielt und faltete das weiche Tuch auseinander, sodass die Vögel im Feuerschein dalagen.
„Arlett…komm zu mir.“, forderte er das blonde Mädchen auf. Sie erhob sich rasch und trat zu dem Händler, der den Blick ihrer grünen Augen erwiderte. Die flammende Stärke, die trotz ihres jungen Alters schon in ihnen brannte, war nur noch intensiver als sonst.
„Du erhältst die Gabe das Licht zu beherrschen. Es wird dich stets geleiten und in deinem Herzen strahlen. Es bewacht und eint die Elemente Luft und Erde, die einander ohne das Licht auslöschen würden. Verwahre den Vogel gut. Er entstammt dem reinen Licht und wird dir Kraft geben, wenn alles verloren scheint.“, nannte Mikesch dem Mädchen die Gaben, über die es verfügte und blickte ihr dabei die ganze Zeit in die Augen.
Ohne weitere Worte legte er den weißen Vogel in Arletts Hände. Sie schloss die Finger darum und eine angenehme Wärme durchflutete ihren Körper. Etwas, das ihr gefehlt hatte, ohne dass sie es wusste, schien zu ihr zurückgekehrt zu sein.
Die Wärme wurde von einem leichten Aufglühen des Mals auf ihrem linken Handrücken begeleitet. Ihr wurde klar, dass sie sich nicht immer nur vorgestellt hatte, dass es die Form eines Vogels hatte, sondern dass es wirklich so war.
Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen trat sie zurück und setzte sich wieder hin. Mikesch lächelte ebenfalls und hielt noch eine kurze Zeit lang einfach inne, um den Moment genau so, wie er war, in Erinnerung zu behalten.
„Nevan…nun tritt du vor.“, fuhr er ruhig fort. Nevan erhob sich zögernder als seine Schwester. In seinen Augen lag kein Feuer. Sie strahlten die Tiefe Ruhe aus, die ihn meist zu den richtigen Entscheidungen führte und die ihn sensibel für die Empfindungen und Gedanken anderer machte, wenn er ihnen sein Vertrauen schenkte.
„Du wirst die Dunkelheit beherrschen. Sie wird dich stets umgeben und dir Zuflucht bieten, wenn du Schutz brauchst. Sie bewacht und eint die Elemente Feuer und Wasser, die einander vernichten würden, wenn die Dunkelheit nicht wäre. Bewahre deinen Vogel gut. Er stammt aus der tiefsten Dunkelheit und wird dir Kraft geben, wenn alles verloren scheint.“
Mikesch blickte auch Nevan unverwandt an und langsam erkannte der Junge, wie wichtig es war, dass er sein Schicksal akzeptierte. Er trug das Zeichen eines Phönix, hatte dessen Gaben und das Blut des mächtigen Vogels floss durch seine Adern.
Er öffnete die Hände und der alte Mann legte mit einem Lächeln den schwarzen Vogel hinein.
Auch das Mal auf Nevans Hand glühte auf, während Ruhe ihn durchströmte und die Wogen in seinen Gedanken glättete. Er wusste nichts über seine Fähigkeiten, aber er hatte diese und sein Schicksal akzeptiert und so die Möglichkeit klar zu denken, obwohl es viele Fragen in seinen Gedanken gab.
Langsam kehrte Nevan zu seinem Platz zurück und wartete ab, bis Mikesch einmal mehr die Stimme hob.
„Von nun an sollt ihr die Mächte der Elemente einen und euer Vermächtnis mit erhobenen Häuptern tragen, wie schwer es auch sein mag. Ich weiß, ihr werdet es schaffen.“
Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen verstummte Mikesch wieder und betrachtete die beiden Kinder vor sich noch einmal eingehend. Jedes wies mit bestimmten Merkmalen schon auf die Elemente hin, die es beherrschte.
Arletts grünbraune Augen standen für die Erde, ihr helles Haar für das Licht und ihr freier Geist für die Luft.
Nevans dunkle, leicht violette Augen standen für das Tiefe des Wassers, die roten Strähnen in seinem Haar für das Feuer und die Tiefe seines Charakters für die Dunkelheit.
Nach einiger Zeit erhob sich der Händler und durchbrach die angenehme Stille, die nach der Zeremonie eingekehrt war, nur noch mit einem Flüstern.
„Ich muss los. Heute Abend bin ich zurück. Sobald es dunkel wird, müsst ihr Kamai’a verlassen. Ich werde euch helfen die Stadtmauern zu überwinden. Ruht aus, bis es Zeit ist, aber haltet euch bereit aufzubrechen, sobald die Sonne untergegangen ist.“, gab er ihnen Weisung und öffnete die Tür, die zum Schankraum führte.
Mit einem leisen Klappern fiel sie hinter ihm wieder ins Schloss und sperrte die Stimmen von draußen wieder aus.
Nevan wandte den Blick zu seiner Schwester, die die weiße Figur in ihren Händen noch immer betrachtete und vollkommen darin versank. Nur kurz hob sie den Blick, um ihrem Bruder zuzulächeln und ihn aus glänzenden Augen anzublicken.
Er erwiderte ihr Lächeln, ehe er wieder aufstand und die schwarze Figur einsteckte, sodass er sie sicher nicht verlieren konnte.
Seine dunklen Augen blieben wieder an Fleur hängen, die noch immer schlief und der er versprochen hatte gleich wieder da zu sein. Allein bei ihrem Anblick setzte sein Herz für einen Schlag lang aus.
Der Dunkelhaarige setzte sich auf die Bettkante, wie Fleur es vorhin getan hatte und nahm vorsichtig ihre Hand wieder in seine eigene.

Tod & Ungewissheit




Elandra saß schweigend in dem schwach beleuchteten Raum und behielt den kleinen Jungen im Blick, der regungslos und mit geschlossenen Augen dalag. Die Heilerin wusste nicht, was ihm fehlte und konnte ihm im Moment nicht helfen.
Es gab keine sichtbare Ursache dafür, dass Antonio so schwach war und am vorherigen Abend hatte er noch munter mit den anderen Kindern im Schnee gespielt.
Inzwischen war es weit nach Mitternacht und Elandra saß schon mehrere Stunden neben dem Bett des Sechsjährigen.
Seine Eltern, die sie mitten in der Nacht geholt hatten, hatte sie aus dem Raum geschickt, um Ruhe zu haben. Doch egal wie still es im Zimmer war oder was Elandra versucht hatte, bisher hatte sie nichts für Antonio tun können.
Sie hatte alle noch so unbekannten Kräuter ausprobiert und das in jeder nur erdenklichen Kombination.
Ab und an hatte er die bernsteinfarbenen Augen kurz geöffnet, war aber kurze Zeit darauf schon nicht mehr in der Lage dazu sie offen zu halten.
Seit ungefähr einer Stunde versuchte er es gar nicht mehr und die Heilerin glaubte auch nicht wirklich daran, dass Antonio die Augen noch einmal öffnen würde.
Den ganzen Tag lang waren ihr die Worte Akitos durch den Kopf gegangen, die sie auch noch lange wach gehalten hatten. Trotzdem hatte sie nicht daran geglaubt, dass es die Wahrheit war und darauf vertraut, dass Akito nur wirres Zeug redete.
Inzwischen hatte sich ihre Meinung dazu grundlegend geändert. Der Junge vor ihr war dem Tod näher als dem Leben.
Und genau das hatte Akito vorausgesagt. Antonio würde tot sein noch bevor die Sonne aufging.
Leise stand Elandra auf und trat an das kleine Fenster. Sie schob das Tuch davor beiseite und ließ ihren Blick ruhig über den Nachthimmel wandern, bis sie ungefähr wusste, wie spät es sein musste.
Antonio hatte noch ungefähr zwei, vielleicht sogar drei Stunden, bevor sich das erste Tageslicht zeigen würde.
„Noch habe ich Zeit. Wir werden ja sehen…“, murmelte sie zu sich selbst, löste sich vom Fenster und ging wieder durch den Raum. Allerdings nicht zurück zum Bett, sondern auf den kleinen Tisch zu, der in eine Ecke gequetscht und von Schälchen und Kräuterbündeln bedeckt war.
So leicht würde sich die junge Heilerin nicht geschlagen geben. Solange sie die Möglichkeit hatte noch etwas auszurichten, würde sie nicht aufgeben und den Jungen einfach so seinem Schicksal überlassen.
Wieder griff sie nach den Kräutern, zerkleinerte und mischte sie zusammen. Tief in ihrem Inneren wusste sie aber dennoch, dass sie nichts tun konnte.
Akito hatte Recht. Allein sein Blick hatte Bände gesprochen und so viel mehr ausgesagt als die Worte allein es je gekonnt hätten.

„Es tut mir Leid. Ich kann nichts mehr für ihn tun…“, durchbrach Elandra die eisige Stille, die sich im ganzen Haus ausgebreitet hatte, als sie etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang die Eltern des Jungen wieder in den kleinen Raum gerufen hatte.
Sie hatte ihnen so ruhig wie es ihr möglich war erklärt, dass sie nichts tun konnte und das sie nur hoffen konnten, dass noch ein kleines Wunder geschah.
Ihre eigenen Empfindungen hatte die Heilerin dabei außer Acht gelassen. Die Verzweiflung nagte an ihr. Bisher war es ihr immer gelungen noch einen Ausweg zu finden und Leben zu retten.
Das sie nun mit leeren Händen dagestanden hatte war etwas Neues und beinahe Unheimliches. Erst recht, wenn man Akitos Worte kannte. Die Brünette war augenblicklich nur froh, dass niemand die Ereignisse in ihrer Hütte mitbekommen hatte. Es würde Gefahr für Akito bedeuten.
„Aber…“, erklang eine erstickte Stimme vom Bett her, von dem sich Elandra entfernt hatte. Ihr Blick wanderte zu der Frau, die neben ihrem Kind saß und seine Hand umklammert hielt, als könnte sie Antonio so wieder lebendig machen und im Leben halten.
Tränen hinterließen helle Spuren auf ihrem Gesicht, das ab sofort von Trauer geprägt sein würde, und ihre Stimme klang so verloren wie ihre Haltung war, dass Elandra gerne gesagt hätte, dass es noch einen letzten Ausweg für Antonio gab.
„Es tut mir Leid…“, wiederholte sie sich mit belegter Stimme, verdrängte aber ihre eigenen Tränen. Es war schwer ein Leben nicht retten zu können, aber das schlimmste war wohl ein Kind ohne jeden ersichtlichen Grund zu verlieren – selbst dann, wenn man es kaum kannte.
Die Mutter senkte den Kopf und verbarg ihr Gesicht unter einem Schleier aus dunklen, leicht gelockten Haaren. Sie sagte nichts mehr und schien stumm zu weinen.
Ihr Mann stand bewegungslos neben ihr und hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Auf seinem Gesicht stand vor allem Fassungslosigkeit und Schock. Er konnte nicht begreifen, dass sein Sohn tot war, und würde Zeit brauchen um sich damit abzufinden.
Elandra trat noch einmal zögernd auf das Bett zu und blickte ein letztes Mal auf die kleine Gestalt, die noch immer wie schlafend darin lag. Dunkelbraune Locken umrahmten das im Tod bleiche Gesicht. Seine Lippen waren blass, aber seine Züge waren entspannt und nichts deutete auf einen schmerzhaften Tod hin. Er hatte einfach aufgehört zu atmen, als sein Körper zu schwach geworden war um diese lebenswichtige Funktion weiter von sich aus zu führen.
„Ich werde euch nicht länger stören. Lasst mich wissen, wenn ihr noch irgendetwas benötigt. Ich werde tun, was ich kann.“, meinte sie letztendlich mit einem leisen Seufzen und trat zurück.
Die andere Frau reagierte kaum und auch der Vater des Kindes nickte ihr nur kurz zu, ehe sie beinahe übereilt ihre Tasche ergriff, den Raum und das Haus der Familie verließ.
Elandra hatte das Gefühl gehabt langsam von der Trauer und dem vorherrschenden Tod in der Hütte erdrückt zu werden. Ihre eigenen Gefühle ließen sich nur schwer verdrängen und so war es wohl besser, dass sie nun wieder im beinahe knietiefen Schnee stand.
Langsam, aber von der Kälte und Feuchtigkeit des Schnees beinahe unberührt, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Hütte. Gedanklich war sie dabei weiterhin bei Antonio und seinem rätselhaften Tod.

Akito hatte nichts von den Dingen mitbekommen. Elandra hatte ihn nicht geweckt, als sie gegangen war. Sie hatte es für besser befunden ihn nach seiner eigenartigen Vision – oder wie man das nennen konnte – und dem Zusammenbruch einfach schlafen zu lassen.
Als er die Augen, die inzwischen nicht einmal mehr den kleinsten Hauch der roten Farbe aufwiesen, wieder öffnete, war es draußen noch immer dunkel und auch der Innenraum der Hütte lag fast vollkommen im Schwarzen.
Akito blickte noch eine Weile einfach nach oben und blieb auf dem Rücken liegen, obwohl er durch die Dunkelheit nicht einmal die Decke des Raumes sah. Erst dann setzte er sich langsam auf, wobei sein Blick zur Feuerstelle wanderte.
Das Holz war beinahe herunter gebrannt und nur die müde Glut machte es möglich noch schemenhaft die Umrisse der Dinge in der Hütte zu erkennen. So wie es aussah war es tatsächlich sehr früh, da das Feuer über Nacht meist herunter brannte. Außer wenn Elandra wieder Stunden an einer Mixtur herumrührte oder sich in eines ihrer wenigen Bücher vertiefte.
Ab und zu leistete Akito ihr dann Gesellschaft, aber es passierte auch ebenso oft, dass er irgendwann einschlief, wenn die Heilerin noch putzmunter in dem Kessel über dem Feuer herumrührte.
Während er versuchte sich daran zu erinnern, was gestern passiert war, nachdem Elandra ihn sanft gezwungen hatte wieder mit ihr Hütte zu gehen, schob er das weiche Fell beiseite, obwohl die Luft im Raum kaum mehr wärmer war als draußen.
Rasch streifte er die Stiefel über, nachdem er sie nach einigem hin und her tasten gefunden hatte, band sie allerdings nicht zu, sondern stand einfach auf.
Er zwang sich die Augen offen zu lassen, obwohl ein leichtes Schwindelgefühl ihn ergriff, und verdrängte ebenso das Verlangen sich einfach wieder hinzulegen. Stattdessen steuerte er auf die Feuerstelle zu, um Holz nachzulegen. Elandra schien gerade nicht da zu sein oder sich in einem der beiden anderen Räume aufzuhalten. Ersteres war allerdings wahrscheinlicher, da kein Lichtschimmer unter einer der dünnen Türen hindurch fiel.
Akito machte sich nicht allzu viele Gedanken darüber. Es passierte immer wieder, dass Elandra früh am Morgen durch den Wald ging oder zu einem Notfall gerufen wurde.
„Ver…“, murmelte er, schaffte es aber nicht seinen leisen Fluch ganz auszusprechen, da seine Stimme versagte und ihm nur die Möglichkeit ließ lautlos fluchend zu versuchen das Gleichgewicht wieder zu finden und den pochenden Schmerz zu ignorieren.
Er war über irgendeinen Gegenstand gestolpert, der auf dem Boden lag und das natürlich mitten im Raum. Eigentlich störte es ihn ja kaum, dass es manchmal recht chaotisch war, aber im Dunkeln war diese Unordnung wirklich nicht von Vorteil.
Irgendwie erreichte Akito aber ohne weiteres Stolpern die Feuerstelle und den kleinen Holzstapel daneben. Wahrscheinlich war es bald wieder Zeit neues Holz zu hacken, bevor sie zum einen im Dunkeln und zum anderen auch noch in der Kälte saßen.
Diesen Gedanken verschob er einfach auf später und legte ein paar Scheite ins Feuer. Es würde ein wenig dauern bis es wieder richtig brannte und es im Raum wieder wärmer werden würde.
Akito blieb nicht lange am Feuer stehen, sondern kehrte recht rasch zurück zu dem Bett, wo er sich wieder hinsetzte. Je länger er stand, desto schwerer wurde es nicht darauf zu achten, dass der Raum zu schwanken schien.
Noch immer versuchte er herauszufinden, was passiert war, aber die letzte Erinnerung, die er nur noch undeutlich hatte, bestand nur aus dem plötzlich aufflammenden Schmerz. Danach wusste er nichts mehr.
Akito schlüpfte wieder aus den Stiefeln, rutschte ein Stück weiter auf das Bett, sodass er den Rücken an die Wand lehnen konnte, und zog die Füße ebenfalls wieder auf das Bett.
Nachdenklich legte er dabei das Kinn auf die Knie und richtete die inzwischen matt rauchblauen Augen unbewusst auf den Eingang der Hütte. Was los gewesen war musste er wohl Elandra fragen, aber er wusste, dass es dauern konnte, bis sie zurückkam.
Bis dahin würde er wohl warten müssen, auch wenn er die Stille, die nur ab und zu durch den Ruf eines Käuzchens in den nahen Bäumen unterbrochen wurde, nicht mochte. Sie erinnerte ihn viel zu sehr daran, wie alleine er auch hier – mitten unter Menschen – war.

Das leise Geräusch des Fells vor der Tür, das beiseite geschoben wurde, ließ den Hellhaarigen verwirrt blinzeln. Er hatte seine Umgebung wieder einmal einfach vergessen. Es konnte allerdings auch gut sein, dass er noch einmal eingenickt war.
Durch den Eingang schob sich Elandra herein und der kurze Blick nach draußen verriet Akito, dass die Sonne ihre ersten Strahlen auf den Wald und die Lichtung warf.
„Na, auch wieder wach?“, fragte sie mit dem Anflug eines traurigen Lächelns, als sie den Jungen bemerkte, der sie noch leicht verschlafen anschaute. Nichts an ihm erinnerte mehr daran, was gestern passiert war.
Seine Augen waren wieder normal. Höchstens seine helle Hautfarbe und die Tatsache, dass er doch noch mitgenommen aussah, ließen keinen Zweifel daran, dass es wirklich ein und derselbe Junge war, der auf dem Bett saß.
Dieser beantwortete ihre Frage mit einem Nicken, auch wenn ihr Lächeln ihn zunehmend verwirrte und sein Gesichtsausdruck einige Fragen wieder spiegelte, die er noch nicht gestellt hatte und vorerst auch noch für sich behielt.
Elandra stellte ihre Tasche beiseite, warf noch eines der Holzscheite in das Feuer, das inzwischen wieder den Raum erhellte und dafür sorgte, dass es wieder etwas wärmer war.
„Ist…was passiert?“, rang sich Akito schließlich dazu durch die Frage, die ihm schon seit der Rückkehr der Heilerin auf der Zunge lag, leise zu stellen, auch wenn seine Stimme selbst dabei beinahe wieder kippte. Sie blickte ihn einen Moment lang einfach nur an, bevor sie einen Schemel frei räumte und sich auf diesem nieder ließ.
„Es ist genau das passiert, was du gesagt hast.“, gab Elandra leicht gedankenlos zurück und blickte ihn weiter unverwandt aus ihren grünen Augen an, die etwas ihres Elans eingebüßt hatten, aber dennoch noch leuchteten.
Der Junge blickte sie nur noch irritierter an und in seinen Augen lag ehrliches Unverständnis. Elandra wurde erst jetzt klar, das es sein konnte, dass Akito sich nicht mehr daran erinnern konnte, was er gesagt oder getan hatte. Schließlich hatte er, als er gesprochen hatte, vollkommen abwesend gewirkt.
Sie zögerte und sprach nicht weiter, obwohl sein Blick leicht fordernd wirkte. Die Heilerin war sich nicht sicher, ob es gut war ihm davon zu erzählen. Er würde sich die Schuld am Tod des Kindes geben und wenn sie beide nicht aufpassten, dann würden andere im Dorf darauf aufmerksam werden und es würde Schwierigkeiten geben.
„Elandra? Was…was hab ich gesagt?“, fragte er weiter. Er versuchte die Angst zu verstecken, die in seiner Stimme lag, aber ganz gelang es ihm nicht. Allein Elandras Ankunft verriet doch schon, dass das, was geschehen war, einfach nicht gut sein konnte.
Die Brünette zögerte noch immer. Ihr blieb kaum eine Wahl, da sie Akito nur ungern so unwissend stehen ließ. Aber sie hatte auch Angst davor ihm die Wahrheit zu sagen und ihm damit noch mehr schlaflose Nächte zu bereiten.
Nein, sogar noch schlimmer. Er würde sich vor sich selbst fürchten und gar kein Vertrauen mehr zu Anderen aufbauen können.
„Versprich mir, dass du nichts von dem, was ich dir sage, mit einer Bedeutung versiehst, die nur aus Vermutungen und Zufällen besteht und gar keinen Hintergrund hat, Akito.“, verlangte sie nach einem kurzen inneren Kampf von ihm. Vielleicht würde es wenigstens einschränken, was sie befürchtete.
„Warum?“, antwortete er noch immer leise mit einer Gegenfrage. Akito verstand einfach nicht, was das sollte und verfiel wieder in sein altes Misstrauen, das er Elandra gegenüber eigentlich abgelegt hatte. Zudem schwirrten ihm zu viele Gedanken durch den Kopf und das Schwindelgefühl war selbst im Sitzen kaum noch zu ignorieren.
„Bitte, Akito, tu es einfach.“ Die schlanke Frau stand wieder auf, nahm den Schemel und setzte sich näher zu dem Jungen, der sie immer noch leicht unsicher anblickte. „Ich will dich nur schützen. Versprich es mir, solange es keine Beweise gibt.“, setzte sie hinzu.
Es blieb still. Erst als einige Minuten verstrichen waren, gab Akito mit einem leichten Nicken sein Einverständnis und fügte hinzu: „Ich verspreche es.“
Natürlich wusste er nicht, ob er dieses Versprechen würde einhalten können, aber der Wille allein war schon einmal ein Anfang und besser als gar nichts – auch wenn dieser nicht unbedingt genügen würde.
„Danke…“, gab die Heilerin mit einem Lächeln zurück. Sie sammelte ihre Gedanken und wieder entstand eine Pause, die dieses Mal mehr angespannter als zögerlicher Natur war.
Sie strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie dem Jungen, der einfach nur schweigend zuhörte und sie kein einziges Mal unterbrach, alles erzählte. Kein Detail ließ sie aus und selbst seine Worte wiederholte sie haargenau.
Akito hörte gebannt zu, aber jedes einzelne Wort zeichnete einen tiefen Schrecken auf sein Gesicht, den er nicht einmal zu verbergen versuchte, da es sowieso keinen Sinn gehabt hätte, es zu tun.
„Antonio…hat die Nacht nicht überlebt.“, endete Elandra schließlich und widerstand dem Drang zu Boden zu sehen. Sie fixierte Akito um seine Reaktion zu erfassen und um ihn möglicherweise vor irgendwelchen Kurzschlussreaktionen oder Dummheiten zu bewahren.
„Das…“, setzte er an und schloss dabei die Hände um die Bettkante. Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte und jetzt stand wirklich sehr deutlich die Angst auf seinem Gesicht. Nicht die Angst vor der Reaktion anderer oder vor dem Tod, nein, es war die Angst vor sich selbst und vor dem, zu dem er fähig war.
Akito wusste einfach, dass es kein Zufall gewesen war und er es niemals als solchen abtun würde. Er hatte eine Macht mit der er über jeden richten konnte und obwohl er sie nicht wollte, wusste er durch Elandras Erzählung, dass er nichts daran ändern konnte.
Er schloss die Augen, um sich wieder zu fassen, seine Gedanken zum Schweigen zu bringen und seine Umgebung auszublenden.
Die Heilerin beobachtete ihn weiter und wieder einmal lag deutlich die Sorge in ihren Augen. Akito sah noch immer aus wie ein Gespenst und dunkle Schatten zeichneten sich unter seinen Augen ab.
„Leg dich wieder hin und versuch zu schlafen. Später können wir weiter reden…“, meinte sie letztendlich und duldete dabei keinen Widerspruch mehr. Sanft, aber sehr bestimmt zwang sie den Jungen sich hinzulegen.
Beide hatten nicht wirklich über Sicherheitsvorkehrungen nachgedacht, da hier keiner den Anderen belauschte. Die Bewohner des Dorfes hielten zusammen – für gewöhnlich. Doch Akito bildete da eine große Ausnahme.
Die Gestalt, die in der Absicht Elandra aufzusuchen, vor dem Eingang ihrer Hütte noch einmal inne gehalten hatte, hatte zu Anfang unfreiwillig zugehört, aber mit jedem weiteren Wort interessierter gelauscht.
Anstatt einzutreten, als das Gespräch beendet war, machte diese rasch kehrt und beeilte sich davon zu kommen, bevor jemand sie bemerkte.

Tödlicher Wachwechsel




Die Dunkelheit senkte sich nach und nach immer weiter über die Stadt und je dunkler es wurde, desto weniger Ruhe fand Nevan. Die beiden Mädchen saßen schweigend am Feuer, während er seine Runden durch den Raum zog. Die Stille wurde nur durch das Geräusch seiner Schuhe durchbrochen und die Atmosphäre, die über dem Hinterzimmer des Gasthauses lag, war beinahe gespenstisch.
Sie waren schon seit der Dämmerung bereit zum Aufbruch, doch bisher war Mikesch nicht wieder aufgetaucht.
Während Arlett fest davon überzeugt war, dass der Händler wieder kommen und sie sicher aus der Stadt bringen würde, machten sich Zweifel in ihrem Bruder breit. Er hatte nichts von dem alten Mann – nur einen schwarzen Vogel aus Stein und dessen Worte. Worte, die von Magie sprachen, die mächtiger war als jede Waffe. Worte, die so unglaublich klangen, dass sie fast wieder wahr sein mussten.
Dennoch schwankte der Glaube des Schwarzhaarigen. Vor ein paar Stunden war er noch völlig überzeugt gewesen, dass in seinen Adern das Blut eines kraftvollen Vogels floss, aber je länger Mikesch auf sich warten ließ, desto mehr rückte wieder das Misstrauen in den Vordergrund, das Nevan immer begleitete.
Vor der Tür, die auf die schmale Gasse und in die Nacht hinaus führte, blieb er stehen und legte eine Hand an das Holz, als könnte ihm diese Berührung verraten, ob der Händler sie wirklich befreien würde oder ob sie schon am Morgen am Galgen baumeln würden.
Denn ewig würden sie sich hier nicht verstecken können. Die Wachen stellten schon die ganze Stadt auf den Kopf und hatten sicher eine Beschreibung von Nevan. Ihm würde niemand Gehör schenken, wenn sie ihn erst einmal hatten und als Dieb aufhängen ließen.
Langsam strich er über die raue Oberfläche des Holzbalkens, ehe er einen sanften Druck auf diesen ausübte und die Tür einen kleinen Spaltbreit aufschob.
Kühle, klare Luft strich über seine blasse Haut, während seine dunklen Augen die Gasse nach einer Gestalt absuchten. Die Hoffnung jemanden zu entdecken war natürlich vergebens, da Schritte eine näher kommende Person längst verraten hätten.
Resignierend ließ Nevan die Tür wieder los und trat ein Stück zurück, als sie mit einem leisen Klappern wieder zu fiel.
Seufzend strich er eine dunkelrote Haarsträhne beiseite und ging wieder los, um seine endlosen Runden durch den Raum zu ziehen.
Die Zeit verstrich weiter. Während Arlett und Fleur schweigend ins Feuer starrten und sich um ihre eigenen Gedanken kümmerten, trat Nevan immer wieder zur Tür und warf einen Blick hinaus. Bis auf eine streunende Katze, fand sein Blick dabei keine einzige Bewegung in der Dunkelheit.
„Er kommt nicht. Er hat uns verraten und seine Geschichte besteht aus nichts als Lügen, um uns aufzuhalten. Er hofft auf die Belohnung, wenn er uns verrät.“, durchbrach der Junge die Stille, als die Nacht immer weiter fort schritt. Er fühlte sich eingesperrt, obwohl sie noch frei waren und eigentlich gehen konnten. Und er wollte diesen Zustand auf keinen Fall beibehalten.
Seine Schwester drehte sich zu ihm um und erwiderte seinen Blick. In ihren Augen stand tiefes Entsetzen, über Nevans Stimmungswechsel. Sie hatte geglaubt, dass er einmal sein ewiges Misstrauen beiseite ließ und nur auf sein Herz hörte.
„Arlett, glaubst du wirklich er riskiert seinen Kopf, um uns hier raus zu bringen, wenn er ganz einfach zu Geld kommen kann, indem er uns ausliefert?“, fuhr der Schwarzhaarige fort.
Seine Stimme gewann immer mehr an Intensität und nahm den ganzen Raum ein. Sie trug ein Feuer in sich, das Arlett bei ihrem Bruder nie zuvor gehört hatte. Er sprach das aus, was er fürchtete – Verrat.
„Und diese Geschichte…hast du jemals von einem Phönix gehört? Hast du je einen Beweis für Magie erhalten? Er kann alles nur erfunden haben und...“
Das blonde Mädchen unterbrach ihn, indem es aufstand und langsam auf ihn zutrat. Sie sagte kein Wort und auch Fleur schwieg gebannt und verfolgte die Handlungen der Geschwister.
„Er hat unseren Tod wahrscheinlich längst besiegelt. Wir können ihm nicht vertrauen. Er gibt uns keinen Grund dazu. Wir dürfen ihm nicht unseren Glauben schenken. Er beweist uns nicht, dass seine Erzählung wahr ist.“
Etwas in Nevans Augen flackerte bedrohlich und Arlett hielt zögernd inne. Ihr Blick wanderte zum Kamin, in dem das eben noch friedliche brennende Feuer Funken schlug und nach oben züngelte wie eine Schlange, die bereit war zuzubeißen.
Sie zwang sich den Blick wieder auf ihren Bruder zu richten und trat immer näher zu ihm, obwohl er ihr mit seinen Worten Angst machte. Sie wollte nicht, dass er so sprach, denn Arlett wusste, dass sie ihren Bruder verlieren würde, wenn er nur auf seinen Verstand und nicht auf sein Herz hörte. Und hatte sie ihn erst einmal verloren, so gab es für sie keinen Halt mehr.
„Nevan…hör auf damit.“, setzte sie so ruhig wie es ihr möglich war an und trat ganz vor ihn. Sie zeigte ihre Angst nicht, sondern nahm die Schultern zurück und stand aufrecht vor ihm. Ihr Blick fixierte nur seine Augen.
„Du weißt, dass es nicht so ist. Hör auf dein Herz und vergiss deinen Verstand. Dein Herz hat längst begriffen, dass es Magie gibt und dass du ein Schicksal hast. Hör auf dich gegen dich selbst zu stellen oder es bringt dich um.“
Die Worte kamen ihr über die Lippen, obwohl Arlett kurz zuvor noch ganz andere Worte im Sinn gehabt hatte und keine Ahnung hatte, woher sie das Wissen nahm, das in ihrer Rede lag.
Sie hob die linke Hand und legte sie sanft auf die Brust ihres Bruders. Sein Herzschlag war deutlich unter ihren Fingern zu spüren. Dazu mischte sich die Kraft des Elements, das Nevan viel zu sehr einnahm und leicht das Gleichgewicht zwischen Feuer und Wasser kippen konnte.
Beinahe hätte diese Kraft sie dazu bewegt ihre Hand weg zu ziehen. Ihre Elemente standen im genauen Gegensatz zu denen Nevans. Und doch hielt Arlett stand. Das Mal auf ihrer Hand begann sanft zu glühen.
Sie versuchte ihrem Bruder zu vermitteln, dass er keinen Verrat zu fürchten hatte und dass er hier keines Falls so eingesperrt war, wie er sich fühlte oder wie sein Verstand es ihm vorgaukelte.
Sein Herzschlag beruhigte sich nach und nach wieder und das Flackern verschwand aus seinen Augen, die wieder ihre von Ruhe erfüllte Farbe annahmen. Das Feuer im Kamin sank wieder in sich zusammen und leckte nur noch träge an den Holzscheiten.
Nevan spürte, wie wichtig die Lektion war, die seine Schwester ihn gerade lehrte. Wenn er kein Vertrauen in sein Herz hatte, so würde ihn das irgendwann umbringen, da sein Verstand nach den Elementen griff und diese unkontrollierbar beeinflusste - ebenso wie seine Gefühle.
„Danke“, flüsterte er kaum hörbar und legte seine Hand auf die Arletts, deren Mal langsam wieder die dunkelrote Farbe annahm und sein Leuchten wieder verlor. Eine ganze Weile standen die Beiden so bewegungslos da. Fleur drehte sich ohne ein Wort und nur mit einem stillen Lächeln wieder zum Kamin.
Weshalb sie lächelte? Sie wusste es nicht so genau, aber die Atmosphäre verlor an Anspannung und das ließ auch sie aufatmen. Außerdem war sie froh darüber, dass Nevan wieder zu seiner Ruhe zurückgefunden hatte.

Schnelle Schritte auf dem Pflaster vor der Tür und ein unterdrücktes Keuchen ließen Nevan zusammenfahren. Er löste seine Hand von der des blonden Mädchens und trat einen Schritt auf die Tür zu, nur um wieder inne zu halten und sie angespannt anzustarren.
Es klang nicht nach einer Wache in voller Rüstung, aber das konnte auch nur eine Täuschung sein, um sie in die Falle zu locken. Der Junge versuchte heraus zu finden, was sein Herz ihm sagte, doch die Furcht vor einer Gefangenschaft überdeckte alle anderen Gefühle.
Die Tür wurde hastig aufgestoßen und ein sehr wirr aussehender Mikesch stürmte in den Raum. Der Saum seines Umhangs war zerrissen und an manchen Stellen leicht verkohlt. Arlett glaubte sogar ein kleines Rauchwölkchen zu erkennen, das emporstieg.
In dem Gesicht des Händlers stand etwas geschrieben, das eindeutig zur Eile anhielt. Sein Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen ab, als wäre er durch die halbe Stadt gerannt.
„Kommt rasch. Man hat mich aufgehalten und…uns läuft die Zeit davon. Wir müssen vor dem Wachwechsel am Tor sein, sonst sind wir alle verloren.“, informierte er sehr knapp und so leise, dass die drei Jugendlichen ihn kaum verstanden.
Kaum hatte Mikesch seinen Satz beendet, drehte er sich auch schon um und eilte weiter. Nevan nahm ohne nachzudenken Arletts Hand, um sie nicht zu verlieren, und zog sie mit sich nach draußen. Fleur folgte den Beiden zögernd.
Sie wusste, dass man sie auch bestrafen würde, da sie den Geschwistern zur Flucht verholfen hatte, aber die Stadt zu verlassen machte ihr ebenso viel Angst, wie eingesperrt zu werden.
Sie war nie weiter weg gegangen als bis zu den Feldern der Bauern vor der Stadt und jetzt war sie wohl gezwungen weiter zu gehen, als sie es jemals gewollt hatte. Sie war hier aufgewachsen und obwohl es eine schwierige Zeit gewesen war, war die Stadt ihr Zuhause geworden.
„Fleur, komm.“, riss ein Flüstern sie aus ihren Gedanken und eine sanfte Hand schloss sich um ihre Finger. Ihre braunen Augen trafen die des Schwarzhaarigen, die ihr Freiheit und Sicherheit und ein neues Zuhause versprachen, obwohl Nevan selbst nicht wusste, wohin ihr Weg sie führen würde.
Fleur beschleunigte ihre Schritte und folgte dem Jungen, der ihre Hand auch dann nicht los ließ, als sie endlich alle wirren Straßenzüge hinter sich gelassen hatten und beinahe direkt vor dem Stadttor zum Stehen kamen.
Es war fest verschlossen, sodass niemand die Stadt im Schutze der Dunkelheit verlassen konnte. So lange, bis die Diebe gefasst waren, würde das Tor geschlossen bleiben.
Mikesch gab ihnen ein Zeichen im Schatten einer Mauer stehen zu bleiben und zu warten und trat auf die breite Straße hinaus und selbstsicher auf das Tor zu.
Die drei Jugendlichen hielten die Luft an, als der Wachposten dem Händler mit einem raschen Schritt den Weg verstellte und ihm die Spitze einer Lanze vor die Brust hielt.
Mikesch redete sehr schnell auf die Wache ein, die die Lanze allerdings nicht sinken ließ und keine Reaktion auf die Worte zeigte, was allerdings auch daran liegen konnte, dass die Drei im Schatten der Mauer seine Gesichtszüge kaum erkennen konnten. Zudem verbarg eine dunkle Kapuze beinahe sein ganzes Gesicht.
Erst als Nevan langsam nervös wurde, ließ der Wächter die Waffe sinken und bedeutete Mikesch ihm zu folgen. Der Händler wiederum machte seinen Schützlingen ein Zeichen, die sich fast überstürzt aus dem Schatten lösten und den beiden Gestalten hinterher eilten. Sie liefen so leise wie möglich an dem Stadttor vorbei und folgten dem Wachposten durch eine unauffällige Holztür, die in den Innenraum des Torhauses führte.
Die Wachstube war kein besonders großer oder gemütlicher Raum. In einem kleinen Kamin brannte ein Feuer und die Einrichtung bestand aus einem einzigen Tisch, auf dem ein paar Würfel lagen, zwei Bänken und einer Holztruhe.
Angespannt wartend blieben Nevan, Arlett und Fleur nahe der Tür stehen, während der Wächter seine Lanze beinahe achtlos an die Wand lehnte und noch ein paar leise Worte mit Mikesch wechselte. Obwohl sie noch immer nicht verstanden, was gesprochen wurde, so erkannten sie doch, wie unwillig die Stimme des Wächters klang.
Mit einem letzten Kopfschütteln wandte er sich von dem alten Händler ab, der seiner Ansicht nach beinahe das Unmögliche forderte, und trat auf die drei an der Tür Stehenden zu. Im Gehen schob er die Kapuze nach hinten.
Er war kaum älter als Nevan oder Fleur und hatte beinahe ebenso helles Haar wie Arlett. Doch war es nicht ausschließlich blond, sondern noch von leicht zu übersehenden, silbernen Strähnen durchzogen. Diese verdeckten seine Augen, die den Jungen und die beiden Mädchen mit kalter Härte musterten. Ihre Farbe war schwer zu erfassen. Zum einen ebenfalls Silber, aber gemischt mit blau und grau, was einen sehr wirren Farbton ergab.
„Ihr seid also der Grund, weshalb ich mir die gesamte letzte Nacht um die Ohren schlagen durfte.“, stellte er mit fast bedrohlich klingenden Worten fest und fixierte einen nach dem anderen. Nur Nevan erwiderte diesen Blick, während Arlett und Fleur unwillkürlich einen Schritt hinter den Schwarzhaarigen traten.
„Und jetzt soll ich auch noch mein Leben für Euch riskieren und Euch noch vor dem Wachwechsel hier raus bringen. Stattdessen könnte ich ebenso gut warten und Euch in den Kerker stecken lassen. Ihr drei Vögelchen bringt bestimmt einiges an Geld ein, auch wenn Ihr nicht die richtigen Diebe seid…“, fuhr er mit einem leichten Grinsen fort und umrundete sie langsam wie ein Raubtier, das nur darauf wartete, zuschlagen zu können. Sein Zeigefinger streifte dabei langsam ein Stück unterhalb von Nevans Kehle entlang. Der Schwarzhaarige blieb dennoch stehen und versuchte sich nicht allzu sehr verunsichern zu lassen.
In den Augen des Wächters blitzte für einen kurzen Moment etwas Dämonisches auf, als er Nevans Unsicherheit spürte. Sein Blick war kalt, aber zugleich heißer als jedes Feuer und jedem der drei Flüchtlinge wurde nur allzu deutlich klar, dass ihr Gegenüber ohne mit der Wimper zu zucken töten konnte.
Arletts Blick wanderte Hilfe suchend zu ihrem Bruder und Fleur, dann aber zu Mikesch, der einen beunruhigten Blick durch ein Fenster warf und sich dann den vier Anderen im Raum zuwandte.
„Jinnai!“, fuhr er den Wächter mit einer Bestimmtheit an, die diesen inne halten ließ. Verwirrt blinzelnd und komplett aus dem Konzept gebracht, hob er den Kopf und sah zu dem Händler.
„Lass das. Du müsstest am Besten wissen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben und du weißt, dass du mir diesen Gefallen schuldig bist.“, brummte Mikesch zunehmend ungeduldig.
Jinnai seufzte leise und gab sich vorerst geschlagen, da er wusste, was er dem Händler schuldig war. Er hielt Versprechen, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht unbedingt glauben würde, und in seinen Adern schien das Blut eines Edelmannes zu fließen.
„Also gut…kommt mit.“, lenkte der Wächter letztendlich ein und durchquerte den kleinen Raum. Er nahm die Lanze wieder zur Hand, auch wenn seine Handlungen nicht sehr sinnvoll erschienen. Die Spitze der Waffe schob er in einen Spalt zwischen zwei Balken der Decke. Nevan betrachtete kritisch, was er tat, folgte ihm aber mit etwas Abstand und den Mädchen im Schlepptau.
Jinnai gab der Lanze einen letzten Ruck und mit einem leisen Knirschen wurde eine Öffnung in der Decke sichtbar, durch die sich eine Person gerade so hindurch zwängen konnte.
Ehe er die Lanze wieder sinken ließ, schob er deren Spitze in die schmale Schlaufe eines Seiles. Nur wenige Sekunden später baumelte eine Strickleiter herunter, die ihnen die Flucht aus der Stadt ermöglichen sollte.
„Ich denke es ist besser, wenn Ihr nun geht, Mikesch. Wenn meine Ablösung euch vorfindet, könnte es Schwierigkeiten geben. Ich bringe sie hier raus…“, versicherte der Blonde dem Händler, der sich mit einem Nicken verabschiedete und aus der Tür trat, um seine eigenen Wege zu gehen.
Jinnai wandte sich ohne weiter auf die Anderen zu achten der Holztruhe zu. Es dauerte nicht lange, bis er ein leeres Stück Papier und eine Feder zu Tage förderte. Beides legte er auf den Tisch und winkte die drei Flüchtlinge zu sich. Kaum hatten sie sich zu ihm gestellt, tauchte er die Feder in ein Tintenfass und begann zu zeichnen.
„Sobald ihr draußen seid, folgt ihr dem Flusslauf nach Süden, bis ihr das Dorf erreicht. Es sollten zu Fuß nicht mehr als vier Tagesreisen sein, wahrscheinlich sind es weniger.“, erklärte er dabei und zog einen Kreis um eine freie Fläche, die scheinbar eine Lichtung im Wald darstellte.
„Soweit ich weiß kennen sich dort ein paar Personen besser mit der Magie und euren Elementen aus. Sie können euch helfen und vorerst verstecken.
Passt auf, dass ihr euch in den Wäldern nicht verlauft und sagt niemandem, wohin euch euer Weg führt. Ihr müsst euer Ziel erreichen, sonst seid ihr verloren und mit euch auch unser Königreich.“, fuhr er fort und blickte jeden Einzelnen eindringlich an, ehe er die Karte vom Tisch nahm und begann sie aufzurollen.
Kurz hielt er in seinen Bewegungen inne, als er bemerkte, dass er zwei übereinander liegende Papierbögen in den Händen hielt. Die Tinte hatte auf beiden Blättern deutliche Linien hinterlassen und jeder, der die Karte in die Hände bekam, würde wissen, wohin die drei Jugendlichen geflohen waren.
Allerdings besann er sich auch wieder auf die zerrinnende Zeit und reichte Nevan einen der Papierbögen, während er den zweiten auf dem Tisch ablegte. Er würde sich später um die Karte kümmern und sie verbrennen.
„Klettert jetzt hinauf und folgt dem Gang. Er endet am Ufer des Flusses im Westen der Stadt. Beeilt euch, aber seid leise. Sonst hält man euch womöglich noch für Gespenster, die hier ihr Unwesen treiben.“
Den letzten Satz begleitete ein flüchtiges Grinsen, das Jinnai rasch wieder gegen die Miene eintauchte, die er vorhin aufgesetzt hatte. Er wollte den Abstand zu den Dreien wahren wie zu jedem anderen Menschen. Bisher hatte nicht eine einzige Person es geschafft ihn kennen zu lernen und das sollte auch so bleiben.
„Nun denn…lebt wohl und erfüllt euer Schicksal.“, fügte er abschließend noch hinzu und hielt die Strickleiter fest, sodass sie nicht zu sehr schwankte, als Arlett sie vorsichtig hinauf kletterte.
Das Mädchen hatte kaum ein Problem damit sich durch die Öffnung zu schieben und Nevan folgte ihr rasch nach oben, da Jinnai immer mehr zur Eile drängte.
Gerade als der Dunkelhaarige sich durch den Spalt gequetscht hatte, klopfte es durchdringend an die Tür.
Fleur erstarrte und auch Jinnai bewegte sich kaum, bis er mit einem leisen Fluch die Strickleiter losließ und nach der Lanze griff, die hinter ihm an der Wand lehnte.
„Herr Gott noch mal, bist du wieder eingeschlafen oder warum antwortest du nicht, Jinnai?“ Mit einem missmutigen Schnauben stieß ein älterer Mann die Tür auf und trat mit schweren Schritten in den Raum.
Seine Rüstung sah nicht mehr besonders neu aus und der dichte und wirre Bart verlieh ihm irgendwie eine gefährliche Ausstrahlung, die Fleur zurück weichen ließ.
Sie stieß mit einem überraschten Aufschrei gegen den jüngeren Wächter, der ihr ohne lange zu Fackeln die Lanzenspitze unter das Kinn schob.
„Entschuldigt, aber ich musste diese kleine Verräterin davon abhalten zu fliehen.“, gab er betont ruhig zurück und hielt das rothaarige Mädchen vor sich fest, indem er den freien Arm um sie legte und ihr so keine Chance mehr gab zu entkommen.
Doch obwohl Fleur vor Angst gelähmt war und Jinnai jedes Wort glaubte, sagte die Berührung von ihm das genaue Gegenteil von den verräterischen Sätzen aus. Es war mehr eine Umarmung, mit der er sie schützen wollte, als der Griff eines Wächters, der seine Gefangene von der Flucht abhalten wollte.
Bleib ganz ruhig und lauf, sobald ich dir die Möglichkeit verschafft habe.


Fleur fuhr zusammen, als dieser fremde Gedanke sich in ihrem Kopf breit machte. Ihre Augen weiteten sich und hätte sie gekonnt, so hätte sie sich zu Jinnai umgedreht und ihn ungläubig angestarrt. Weshalb beherrschte er die Kunst in die Gedanken eines Anderen einzudringen? War das Magie?
Jinnai selbst wusste allerdings nicht einmal, dass er in Gedanken zu dem Mädchen gesprochen hatte. Er wusste nichts von seiner Fähigkeit und das er sie einsetzte war nur Zufall.
Fleur fand keine Antwort und der zweite Wächter, der mit einem Stirnrunzeln auf sie zutrat, und sie musterte, bevor er ebenfalls wieder sprach, lenkte sie von Jinnai ab. Seine Stimme war rau und noch immer missmutig.
„Ach, das ist doch die Kleine, die dem Dieb zur Flucht verholfen hat, oder?“ Die Wachen hatten also auch eine Beschreibung von ihr erhalten und selbst Fleur war nicht mehr sicher.
Zitternd holte die Rothaarige Luft und hoffte, dass ihre Beine sie noch tragen würden, wenn Jinnai sie losließ und sie laufen sollte.
Dieser schob sie vorsichtig ein paar Schritte nach vorne und folgte ihr. Die Spitze der Lanze lag noch immer an ihrem Hals und doch wusste das Mädchen, dass der Junge hinter ihr nichts tun würde, was sie verletzen könnte.
„Ganz recht. Vielleicht kann sie uns ja verraten, wo er sich versteckt. Vorausgesetzt…“, erwiderte der Blonde langsam und lockerte seinen Griff zusehends, was Fleur als Zeichen genügte. Sie spannte jeden Muskel an und machte sich dazu bereit loszustürmen, sobald er seinen Griff ganz löste.
„…Ihr fangt sie wieder ein.“, stieß Jinnai mit einem Knurren hervor, ließ Fleur los und brachte sich zwischen das Mädchen und den Soldaten, der ihn perplex anstarrte, ehe er sein Schwert blank zog und versuchte die Waffe seines Gegenübers abzuwehren, die er nun auf sich selbst gerichtet fand.
Lauf, lauf…na los. Verschwinde, bevor er uns Beide umbringt.


Ein flüchtiger und gehetzter Gedanken veranlasste Fleur dazu zur Tür zu rennen, während Jinnai das Schwert des Anderen abfing und ihn mit einer raschen Drehung der Lanze entwaffnete. Allerdings ging die Lanze dabei auch zu Bruch und der Blonde hielt lediglich noch die Bruchstücke in der Hand.
Der Soldat zog ein Messer aus dem Gürtel.
Jinnai ließ das Ende der kaputten Lanze fallen und richtete die Spitze gegen den Wächter.
Fleur stand wie festgewachsen an der Tür und beobachtete die Beiden. Wenn der Soldat schneller sein würde als Jinnai, so hatten sie verloren und er würde sterben.
Der Blonde stürzte mit einem Ausfallschritt nach vorne und stieß dem Soldaten die Spitze des Speeres vor die Brust.
Scharrend rutschte diese am Panzer des Wächters ab, was diesem ein Lachen entlockte, während Jinnai leise fluchend zurückwich und dabei gegen einen herumstehenden Krug am Boden trat.
Den Augenblick, in dem sein Gegner das Gleichgewicht kurz verlor, nutzend, warf der ältere Mann das Messer ohne zu Zögern in Jinnais Richtung. Fleurs Aufschrei vermischte sich mit dem des Blonden, als das Messer sein Ziel fand.
Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um den Türpfosten und ihre Augen klebten förmlich an dem dunklen Fleck, der sich rasch auf dem Stoff ausbreitete. Sie war verloren.
Jinnai stolperte keuchend zurück, aber er blieb auf den Beinen. Der Schmerz machte ihn beinahe blind, aber er hatte eine Lektion, die man ihm vor langer Zeit beibrachte, klar vor Augen: Gib nicht auf, solange du noch nicht tot bist. Es gibt immer einen Weg, wenn du den Willen dazu hast.
Er stolperte auf seinen überraschten Gegner zu und, wie von einer fremden Hand gelenkt, stieß Jinnai die Speerspitze so unter den Brustpanzer seines Gegners, dass auch er sein Ziel fand.
Röchelnd ging der Soldat zu Boden, während der Blonde gegen die Wand sank. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und jeder Atemzug verursachte weitere Schmerzen. Das Messer steckte beinahe bis zum Heft in seiner Seite.
Fleur löste ihre Finger vom Türpfosten und stürmte auf den Jungen zu, als dessen Knie einknickten. Sie dachte nicht mehr daran zu fliehen und ließ sich neben Jinnai auf die Knie fallen.
Der Blutfleck breitete sich weiter aus und sein Blick flackerte bedrohlich schwach zu Fleur, die vorsichtig eine Hand an das Messer legte, es aber dann doch nicht heraus zog. Sie brauchte Hilfe, nur konnte sie niemandem vertrauen und würde wohl nicht schnell genug sein, um Jinnai zu retten.
„Bitte, bleib wach. Mach die Augen nicht zu und sieh mich an.“, flehte sie, als der Junge versucht war sich der Dunkelheit hinzugeben, die nach ihm griff.
Die Tür flog auf und vier Wachen in voller Rüstung stürmten in den Raum. Der Lärm des Kampfes hatte sie hergerufen und was sie hier vorfanden, bestätigte ihre Ahnungen nur.
Das Mädchen fuhr herum und versuchte stotternd hervor zu bringen, was hier passiert war, verstummte aber ohne ein sinnvolles Wort wieder, als ihr klar wurde, wie das hier aussah.
Einer der Soldaten war tot und Jinnai schwer verwundet. Und an Fleurs Händen klebte Blut. Ein sehr eindeutiges Bild für diejenigen, die nicht hier gewesen waren, als der Kampf statt gefunden hatte.
„Fesselt sie und schafft sie in den Kerker. Und schickt nach einem Arzt.“, bellte einer der drei Soldaten, woraufhin ein Zweiter wieder aus dem Raum eilte und die beiden Anderen Fleur von Jinnai wegzerrten, obwohl sie um sich schlug und versuchte sich ihren Händen zu entwinden.
Tränen strömten über ihr Gesicht, als man ihr die Hände auf den Rücken band und sie zur Tür schleifte.
Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich befreien. Ganz egal, was passieren mag. Ich komme und bringe dich hier weg…
Die Rothaarige warf einen letzten Blick zurück. Jinnais Gedanke war schwach gewesen und sie zweifelte daran, dass er jemals wieder in der Lage sein würde, sie zu retten.
„Beweg dich, Mörderin.“, zischte einer der Soldaten und gab ihr einen Stoß, sodass sie hinaus in die Nacht stolperte. Die Tür fiel zu und Dunkelheit umgab sie. Für Fleur gab es keine Hoffnung mehr. Widerstandslos ließ sie sich durch die Straßen zerren, während Tränen über ihre Wangen liefen und auf das Pflaster tropften.

Weg nach Süden




Nevan wollte zurück und die Strickleiter wieder hinunter, als ein durchdringendes Klopfen und der unverständlicher Ruf einer fremden Stimme zu ihm und seiner Schwester drangen, die bewegungslos auf einem schmalen, dunklen Gang verharrten.
Ihre einzige Lichtquelle war der Spalt, durch den sie sich eben noch gezwängt hatten und durch den ein schwacher Lichtschein bis vor die Füße der Geschwister fiel. Hinter ihnen herrschte tiefste Dunkelheit, die schwärzer war als es selbst eine von Wolken verhangene Nacht sein konnte.
Auch Arlett wollte im ersten Augenblick zurück zu der Strickleiter stürzen und wieder hinunter klettern, besann sich aber im Gegensatz zu ihrem Bruder auf die lauernde Gefahr, die ihnen drohte. Sie hatten keine Waffen, um sich zu wehren und selbst in der Überzahl war es unmöglich einen voll bewaffneten und gut ausgebildeten Mann außer Gefecht zu setzen.
Bevor ihr Bruder auch nur zwei Schritte tun konnte, hielt sie ihn am Ärmel seines Hemdes fest und stellte sich gegen ihr eigenes Verlangen Jinnai und Fleur zur Hilfe zu kommen.
Wahrscheinlich würden die Beiden sowieso keine Schwierigkeiten bekommen, wenn Nevan und Arlett nicht dabei waren. Schließlich suchte niemand nach dem rothaarigen Mädchen und Jinnai tat nur seine Arbeit, wenn er sich in der Wachstube aufhielt.
„Tu das nicht, Nevan.“, begann sie beruhigend auf ihn einzureden. Sie spürte die aufgewühlten Gefühle des Schwarzhaarigen förmlich. Sie füllten ihre Umgebung und setzten seinen Verstand ausnahmsweise einmal außer Kraft. Das passierte auch nur dann, wenn ihn wirklich tiefe Gefühle berührten und voll in ihren Bann zogen.
„Jinnai wird auf Fleur aufpassen. Wahrscheinlich wird ihnen nichts geschehen. Man sucht Fleur nicht…Jinnai gehört hierher. Was sollte den Beiden schon passieren?“, fuhr sie fort. Es kam kaum ein Ton über ihre Lippen und nur Nevan konnte die Worte verstehen. Unten im Raum hätte sie niemand gehört, selbst wenn es vollkommen still gewesen wäre.
Langsam legte sich das Gefühlschaos in Nevan wieder und er kam etwas zur Ruhe, sodass er nicht mehr überstürzt handeln würde. Er wandte sich zu seiner Schwester um und blickte ihr für einen Moment schweigend in die braungrünen Augen.
Sie erwiderte den Blick und die Zeit schien stehen zu bleiben. Eine angenehme Spannung baute sich zwischen den Geschwistern auf und etwas Magisches flirrte durch die Luft.
Doch hatten sie keine Zeit diesen Augenblick länger andauern zu lassen. Hastig löste Arlett ihre Finger vom Hemd ihres Bruders und löste den Blickkontakt. Mit einem Schlag riss die Stille ab und die Stimmen von unten drangen wieder zu ihnen herauf. Es war höchste Zeit zu gehen.
Die Blonde schlüpfte schnell an ihrem Bruder vorbei und trat auf die Öffnung im Boden zu. Mit wenigen Handgriffen zog sie die Strickleiter zu sich nach oben. Sie war ein zu offensichtlicher Hinweis auf ihren Fluchtweg und wenn jemand sie entdeckt hätte, dann hätte man sie wohl schon am Ende des Ganges erwartet, um im Handumdrehen festgenommen und erst zur Hinrichtung wieder aus einem kalten, feuchten Kerker geholt zu werden.
Doch die Worte, die von dieser Position aus etwas deutlicher zu verstehen waren, ließen auch Arlett zögern, als sie sich wieder aufrichtete. Sie blieb noch einen Atemzug lang stehen und ließ sich von dem Gespräch fesseln.
„Er ist ein Verräter“, knurrte sie unvorsichtig laut, als ihr bewusst wurde, was Jinnai da eben ausgesprochen hatte. „Ganz recht. Vielleicht kann sie uns ja verraten, wo er sich versteckt.“
Bei einem solchen Verrat verlor selbst Arlett ihre Sanftmütigkeit. Sie würde ihn umbringen, wenn sie ihn das nächste Mal in die Finger bekam. Egal wie sie es anstellte oder mit welcher Waffe. Irgendeine Möglichkeit würde sich da schon finden.
Sie wirbelte mit blitzenden Augen zu ihrem Bruder herum, der regungslos dastand und sie aus ruhigen, schwarzen Augen anblickte.
Selbst seine gefasste Ausstrahlung konnte ihre Wut für den Moment kaum versiegen lassen und dämpfte sie nur ein wenig, sodass die Blonde nicht dem nächst besten Opfern an die Kehle springen würde.
Nevan hatte seine Gefühle schon längst wieder zurück gedrängt und ließ sich nicht mehr auf die Gedanken an Fleur ein. Nevan hasste es sich von Gefühlen übermannen zu lassen und wenn es doch einmal passierte, dann hielt er sie danach nur umso fester in seinem Herzen eingesperrt.
Dennoch schlug eben jenes Herz schmerzhaft schnell – ob aus Angst selbst entdeckt zu werden oder aus Angst um das Mädchen, das sich allein vor zwei Wachen retten musste, wusste er nicht.
Er wollte sie nicht zurück lassen, aber er musste es tun. Auch dann, wenn er sich den Rest seines Lebens über Vorwürfe machte. Er konnte einfach nicht zulassen, dass Arlett etwas passierte, wenn er die Wahl zwischen Tod und Flucht hatte.
Er entschied sich für die Sicherheit und seine Schwester teilte diese Entscheidung. Sie würde sich später rächen, wenn es nötig sein würde.
Schweigend hielt er ihr eine Hand entgegen und sobald Arlett die ihre hinein gelegt hatte, zog er sie mit sich in die vollkommene Dunkelheit des Ganges. Sein Herz schien bei diesem Schritt zu stolpern und Nevan schrie innerlich leise auf. Doch verstummte der Schrei wieder, als er sich darauf konzentrierte Arlett sicher durch die Finsternis zu führen.
Er hinterließ lediglich einen feinen Riss in seinem Herzen, durch den die Gefühle heraus sickerten und ihn nach und nach durchtränkten. Gefühle, die allesamt Fleur galten.

Die Geschwister hatten bald jedes Gefühl für die Zeit verloren. Sie stolperten unentwegt durch die Finsternis und selbst Nevan, dessen Schritte sonst auch in der Finsternis sehr sicher waren, rutschte mehr als einmal auf dem feuchten Boden aus.
Einerseits lag das an der Geschwindigkeit, mit der sie den Gang entlang stürmten, andererseits war er in Gedanken noch immer bei Fleur. Jedes Mal, wenn er sich vorstellte, dass sie sich inzwischen schon in irgendeinem Kerker befinden konnte, durchzog ein stechender Schmerz seine Brust.
Arlett, die nicht wusste, was sie noch denken oder fühlen sollte, schlitterte hinter ihrem Bruder her. Er hielt ihre Hand fest in seiner, was wohl der einzige Grund war, warum das Mädchen noch nicht stehen geblieben war.
Alles, was sie wollte, war ein bisschen Ruhe, ein wenig Frieden und wieder Licht. Die Dunkelheit lag wie ein schwerer Schatten auf ihrer Seele und ließ ihr kaum noch Luft zum Atmen.
Selbst ihre Wut war verblichen, erstickt durch die Last auf ihren Gedanken, als hätte sie nie existiert. Als hätte Jinnai sie nicht verraten.
Zu Beginn führte der Weg noch sanft bergab, wurde aber immer weniger abschüssig, obwohl er uneben und glitschig blieb. Ebenso hielt die Dunkelheit an. Arlett hatte es längst aufgegeben ihre Umgebung wirklich wahr zu nehmen.
Sie versuchte ruhig weiter zu atmen, obwohl die Luft feucht und stickig war und nach vermoderten Pflanzenresten roch.
Nevan blieb von einem Augenblick auf den Anderen unvermittelt stehen, sodass seine Schwester beinahe in ihn hinein stolperte. Sie blinzelte verwirrt, erkannte aber dennoch gar nichts und blieb so nahe wie möglich bei ihrem Bruder stehen. Kaum merklich hielt sie sich dabei an ihm fest.
Der Dunkelhaarige währenddessen ließ seine Finger suchend über die kalte und feuchte Mauer vor ihm wandern. Beinahe wäre er gegen den massiven Stein gelaufen, der urplötzlich den Weg versperrte.
Er spürte die Fugen zwischen den einzelnen Steinen und an einigen Stellen fand er überraschenderweise weiches Moos, das an der rauen Oberfläche halt gefunden hatte.
Aber seine Finger fanden nichts, was andeutete, dass es hier einen Ausgang gab oder der Gang weiter ging.
Weder einen Spalt zwischen den Seinen, durch den Licht herein fiel, noch irgendein anderer Mechanismus, mit dessen Hilfe man die Steine beiseite hätte schieben können.
Nevan sah seine Befürchtungen, dass Jinnai sie in eine Sackgasse gelockt hatte, damit sie wie Mäuse in der Falle saßen, schon bestätigt, als seine Finger gegen einen kleinen Vorsprung stießen.
Mit einem Stirnrunzeln versuchte er das Material zu erkennen, musste aber sehr schnell feststellen, dass es nur ein etwas unförmiger Stein war.
Enttäuscht ließ er die Hände sinken. Ohne Licht waren sie verloren und würden niemals herausfinden, ob die Wand nicht doch der Ausgang war.
„Wir…“, erhob er zögernd die Stimme. Er wollte weder umkehren noch hier stehen bleiben. Es war unmöglich eine Entscheidung zu treffen. Nevan kam allerdings nicht einmal dazu seine Erklärung zu beenden.
Von hinten umstrahlte ihn jäh ein goldener Lichtschein. In der ersten Überraschung schloss er nur die Augen, um nicht geblendet zu werden, und fragte sich verwirrt, woher dieser Lichtschein kam.
Als er die Augen wieder öffnete und sich halb zu Arlett umdrehte, bekam er seine Antwort.
Seine Schwester stand mit geschlossenen Augen da bewegungslos da. Nur ihre Lippen bewegten sich stumm und ab und an flatterten ihre Augenlider wie in einem unruhigen Traum.
Sie hielt die Hände vor dem Körper ineinander gelegt und in der Schale, die ihre verschlungenen Finger bildeten, schwebte eine Kugel aus Licht, die den Tunnel um sie herum mit ihrem goldenen, warmen Glühen füllte.
Wortlos staunend betrachtete Nevan seine Schwester noch einen Atemzug lang, bevor er sich schnell wieder zu der Wand umdrehte. Wie lange Arlett das Licht am Brennen halten konnte, wusste er nicht, aber es kostete sie Konzentration und sicher auch einiges an Energie.
Es dauerte nicht lange und Nevan fand, wonach er suchte. An einer Seite der Steinmauer befand sich ein schmaler Spalt, in den seine Hand gerade so hinein passte.
Als er einen leichten Druck auf einen scheinbar losen Stein in der Lücke ausübte, glitt dieser knirschend zwischen zwei andere Steinblöcke.
Dem Knirschen folgte eine Art dumpfes Klappern und Nevan machte vorsichtshalber einen Schritt zurück, wobei er Arlett, deren Lichtkugel langsam schwächer wurde und flackerte, hinter sich schob. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem verschieben des Vorsprungs ausgelöst hatte und wenn es wirklich eine Falle war, so erwartete sie sicher nichts Gutes.
Das Klappern verstummte wieder und kurze Zeit passierte gar nichts, ehe die Steinwand beinahe lautlos zur Seite glitt und helles Mondlicht, das vom Schnee reflektiert wurde, sie in seinen silbernen Schein hüllte. In demselben Moment erlosch die Kugel zwischen Arletts Händen.
Nevan trat langsam aus dem Gang und atmete erleichtert die kalte Winterluft ein.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie muffig und alt die Luft im Gang gewesen war und wie angenehm frisch sie hier draußen schmeckte.
Arlett trat mit unsicheren Schritten neben ihren Bruder und die beiden Geschwister standen eine ganze Weile schweigend einfach nur da. Lediglich das leise plätschern, des schnell fließenden Flusses durchbrach die Stille.
Die Erleichterung, dass sie entkommen waren, erfüllte sie jedoch nicht allzu lange.
Die Sorge um die zurückgelassene Fleur wurde ihnen jetzt, da sie ihre Freiheit spürten und der sanfte Wind über ihre Haut strich, noch deutlicher bewusst und ließ ihre Gedanken kaum noch los.
Trotz all den Befürchtungen zwang Nevan sich dazu nachzudenken. Sie konnten nicht hier blieben. Die Stadtmauer ragte noch immer bedrohlich hinter ihnen empor. Aber wohin sie sonst gehen sollten, wusste er auch nicht.
Nachdenklich fuhr Nevan sich mit einer Hand durch das zweifarbige Haar. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Ein leises Knistern von Papier erinnerte ihn an die Karte, die Jinnai ihm gegeben hatte und die er achtlos in den Ärmel seines Hemdes geschoben hatte.
Jetzt zog er sie unter dem Stoff hervor und entrollte das zerknitterte Papier. Da Nevan keine Übung darin hatte, Karten zu lesen, betrachtete er diese eine mehrere Augenblicke lang etwas ratlos, bis er einige Anhaltspunkte gefunden hatte.
Der Fluss war als schmale Linie eingezeichnet, die sich an der Stadt vorbei schlängelte und auch die große Fläche durchschnitt, die wohl den Wald darstellte.
Laut Jinnai brauchten sie dem Fluss nur nach Süden zu folgen, bis sie ein Dorf mit Wald erreichten. Dieses war nur mit einem kleinen Kreuz eingezeichnet, neben das in kleiner Schrift ein Name gekritzelt worden war.
Nevan brauchte einige Zeit, um die Buchstaben zu entziffern.
Chiteiu…
Es klang seltsam, aber um den Namen brauchte er sich vorerst hoffentlich nicht zu kümmern.
Der Schwarzhaarige vergewisserte sich noch einmal, dass der Fluss sie direkt zu dem Dorf bringen würde, ehe er die Karte wieder sorgsam zusammenrollte und vorsichtig unter sein Hemd schob, sodass sie nicht verloren gehen konnte.
Anschließend wanderte sein Blick nach oben zu den Sternen, damit sie nicht versehentlich Richtung Norden losgingen. Viele Kenntnisse der Orientierung am Sternenhimmel besaß Nevan zwar nicht, aber für die Himmelsrichtung genügten sie zum Glück.
Erst dann drehte er sich zu Arlett um, die er für einen Augenblick fast vergessen hatte, da sie kein Wort gesagt hatte, während er ganz in die Karte vertieft gewesen war.
Das blonde Mädchen stand nicht mehr neben ihm, sondern hatte sich in den Schnee fallen lassen, obwohl dieser kalt und feucht war und ihr Kleid im Nu durchnässt sein würde, wenn sie noch lange hier saß.
Arlett wollte nicht mehr weiter und es war ihr inzwischen egal, dass sie frierend im Schnee saß. Sie konnte sich zu keinem einzigen Schritt mehr zwingen. Denn obwohl sie glücklich entkommen waren, war einfach zu viel passierte, das sie noch immer nicht ganz verarbeitet hatte. Außerdem machte sich langsam eine bleierne Müdigkeit in ihr breit. Der Zauber, mit dem sie die Lichtkugel geschaffen hatte, zehrte an ihren Kräften.
Nevan trat einen Schritt näher zu seiner Schwester und ging neben ihr in die Hocke, um sie rasch und leicht besorgt etwas genauer zu mustern, nachdem er sie ohne viel auf sie zu achten einfach durch den Gang gezogen hatte.
Er konnte allerdings keine Verletzungen erkennen und atmete kaum hörbar auf, auch wenn er nicht wusste, was in Arlett vorging.
„Arlett…wir müssen weiter…“, murmelte er und wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht ab. Sie reagierte kaum und schob erst nach einem Moment ihre Hand in die des Dunkelhaarigen.
Dieser richtete sich langsam auf und zog Arlett ebenfalls auf die Füße. Sie blieb zwar stehen, aber Nevan wusste, dass sie es nicht weit schaffen würden, solange die Blonde so durcheinander war und kaum einen Fuß vor den Anderen gesetzt bekam.
Mit einem leisen Seufzen nahm Nevan seine Schwester kurzer Hand auf den Rücken.
„Ruh dich aus. Ich bringe uns hier weg.“, flüsterte er ihr noch zu und ging mit vorsichtigen Schritten los, um auf Schnee, Eis und unebenem Boden nicht auszurutschen.




Akito saß im Schneidersitz neben der Feuerstelle der kleinen Hütte. Er hatte den Blick gesenkt, wobei ihm einzelne Haarsträhnen immer wieder ins Gesicht fielen und seine Sicht leicht einschränkten.
In seinen Händen lagen einige frische Kräuterblätter, die er vorsichtig sortierte und anschließend zu einem Bündel zusammenband, sodass man sie zum Trocknen aufhängen konnte.
Während er schweigend arbeitete, hing Akito seinen Gedanken nach, um sich irgendwie zu beschäftigen.
Manchmal fragte er sich, wo die Heilerin selbst im Winter so viele verschiedene Blätter fand. Zwar kannte Akito längst nicht alle Kräuter, die er schon in den Händen gehalten hatte, aber sein Wissen reichte doch, um sagen zu können, dass sicher nicht jede dieser Pflanzen im Winter wuchs.
Mit einem leichten Kopfschütteln verscheuchte der Junge den Gedanken daran wieder. Wenn er Elandra fragte, dann bekam er sowieso nur eine schleierhafte Antwort. In solchen Dingen sprach die Heilerin nur allzu gern in Rätseln und hinter die Bedeutung ihrer Worte zu kommen, war einfach nicht möglich.
Dennoch hob er kurz den Blick von den Blättern in seinen Händen und richtete die Augen auf die Brünette.
Diese saß ebenfalls vor dem Feuer auf einem Schemel und beschäftigte sich gerade mit dem Kessel, der über den Flammen hing und in dem es eigenartig schäumte. Sie schien nur auf die brodelnde Flüssigkeit fixiert, doch zugleich wirkte ihr Blick seltsam abwesend.
In ihren Augen fehlte das freudige Funkeln, das sie sonst immer angefüllt hatte. Es war, als würde ein Teil von Elandra selbst fehlen. Als hätte sie sich irgendwann im Laufe der Nacht verloren.
Denn schon seit die Heilerin am frühen Morgen zurückgekehrt war, war sie schweigsamer und zugleich rastlos. Beinahe als würde sie vor irgendetwas davon laufen.
Langsam senkte Akito den Blick wieder und zupfte nachdenklich an den dunkelgrünen Blättern herum. Seine Gedanken wanderten dabei unaufhörlich weiter und drehten sich immer wieder um Elandra.
Vielleicht läuft sie vor dir weg? Immerhin hast du den Tod dieses Jungen vorher gesagt. Ja, vielleicht hast du ihn auch selbst herauf beschworen, hast dem Tod den Namen des Kindes zugeflüstert, damit er es sich holen kann. Oder…
„Nein!“, entfuhr es Akito leise, bei dem Versuch die Stimme in seinen Gedanken zum Schweigen zu bringen. Er wollte nicht über das nachdenken, was passiert war. Nein, er durfte es nicht. Allein wegen seines Versprechens Elandra gegenüber.
Wenn sie erfuhr, dass er sich doch die Schuld an den Vorfällen gab, dann würde sie sich nur noch mehr Sorgen machen. Und da sie gerade schon besorgt genug aussah, wollte Akito ihr das um jeden Preis ersparen.
Du bist doch Schuld an ihren gesamten Sorgen. Der Tod des Kindes…merkst du denn nicht, dass sie vor dir davon läuft?
Seine Hände schlossen sich krampfhaft um die Kräuter, als sich dieser Gedanken in ihm festsetzte. Es gab genug Anzeichen dafür, dass es stimmte, was ihm durch den Kopf schwirrte.
Elandra war am Vormittag schon nach einem kurzen Frühstück wieder aufgebrochen, um im Wald die Kräuter zu sammeln, die Akito gerade langsam zwischen seinen Fingern zerdrückte. Als sie gegangen war, hatte sie den Jungen lediglich dazu angewiesen drinnen zu bleiben und es langsam angehen zu lassen.
Die Heilerin hielt Abstand zu ihm.
Was würde passieren, wenn sie dieselbe Abneigung, wie alle anderen hier, gegen Akito entwickelte?
Hatte sie Angst vor ihm?
Seine Gedanken überschlugen sich förmlich und wie schon am Morgen krallte sich die eiskalte Angst in sein Herz. Es war nicht nur die Angst davor wieder allein zu sein oder das Dorf zu verlassen.
Ihm wurde immer deutlicher bewusst, dass er eine Fähigkeit besaß, die für Andere tödlich sein konnte. Schlimmer noch: er konnte sie nicht kontrollieren. Nach und nach würde er möglicherweise das ganze Dorf auslöschen.
Er würde, ganz egal wohin er ging, eine Spur des Todes hinter sich herziehen.
Der dunkelgrüne Saft der Blätter rann wie Blut über seine Finger und hinterließ eine klebrige Spur.
Die blaugrauen Augen des Jungen folgten einem der Tropfen des Saftes und doch nahm er ihn gar nicht wahr, während die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Er verlor sich im Chaos seiner Gedanken.
Es gab keinen Ausweg mehr für ihn.
Ruhige, warme Finger berührten Akitos verkrampfte Hände und lösten seinen Griff sanft. Die zerdrückten Blätter fielen lautlos in den Schoß des Jungen, während Elandra eine seiner Hände so beruhigend wie sie nur konnte in die ihre nahm.
Ihre andere Hand schob sie unter das Kinn des Fünfzehnjährigen und zwang ihn noch immer sanft den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu sehen.
Tränen der Verzweiflung schimmerten in seinen Augen, Angst flackerte in seinem Blick und er schien sie kaum zu bemerken. Seine Gedanken nahmen ihn gefangen und sperrten ihn mehr ein, als jede verschlossene Tür es konnte.
„Akito…du bist nicht Schuld an Antonios Tod. Du hast nichts getan, was ihn hätte umbringen können. Er starb, weil seine Zeit gekommen war. Manche Wege sind für uns undurchsichtig…sie führen fort vom Leben und wann die Zeit gekommen ist, um diese Wege zu beschreiten, weiß niemand.“, sprach sie leise auf ihn ein und legte all ihren Glauben, all ihr Vertrauen in Akito, in ihre Worte.
„Aber…“, versuchte dieser mit erstickter Stimme zu widersprechen, während er mit den Tränen rang.
„…ich habe ihn auf diesen Weg geschickt, Elandra. Ich habe ihm nicht einmal die Wahl gelassen hier zu bleiben, sondern mein Siegel unter seinen Tod gedrückt.“
Seine Stimme überschlug sich, als die Tränen sich ihren Weg über sein Gesicht bahnten.
Die Heilerin blieb stumm. Statt weitere, sinnlose Worte zu verlieren, setzte sie sich neben Akito und zog ihn sanft zu sich heran. Während er sein Gesicht im dunklen Stoff ihrer Kleider verbarg, schloss sie die Arme um ihn.
Sie würde warten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Tränen konnten zwar keine Wunden heilen, aber sie konnten den Schmerz dämpfen und ihn von der Seele fort spülen.

Akito warf keinen Blick zurück, als er sich langsam von der kleinen Hütte entfernte und sich von der Kälte des Winters einhüllen ließ. Der Schnee unter seinen Schuhen dämpfte seine Schritte und machte alles ein bisschen friedlicher, als es eigentlich war.
Dennoch spürte er noch immer die salzigen Spuren, die die Tränen auf seinem Gesicht hinterlassen hatten. Er schmeckte ihre Bitterkeit auf seinen Lippen und wünschte sich niemals über seine neue Fähigkeit gestolpert zu sein.
Seine Gedanken waren noch immer ein einziges Chaos, auch wenn Elandra es geschafft hatte die Angst zu zähmen, die in seinem Herzen saß und nur darauf wartete ihn wieder zu übermannen.
Akito hoffte, dass er hier draußen, während er zwischen den Bäumen umherstreifte, ein wenig Ordnung schaffen konnte. Er hoffte, dass er allein mit seinen Gefühlen fertig werden konnte.
Sein Blick wanderte langsam über die dunklen Stämme der schneebedeckten Bäume, verfolgte ein paar Schneeflocken, während sie zu Boden schwebten. Für einen kurzen Moment widmete er sich nicht der Fülle seiner Gedanken, sondern der schweigsamen Schönheit seiner Umgebung.
Vielleicht war es besser sie zu verdrängen, anstatt zu versuchen sie zu verstehen?
Aber Akito wollte nicht schon wieder fliehen. Er war trotz seiner Jugend schon zu viel gerannt. Zu viele Jäger hatten ihn verfolgt. Er war es Leid jetzt auch noch vor seinen eigenen Gedanken davon zu laufen.
„Du hast gewonnen. Wer auch immer du sein magst, der mich, mein Schicksal und meine Fähigkeit lenkt.“
Ein resignierendes Seufzen kam über seine Lippen, ehe er fort fuhr: „Ich habe mein Siegel unter den Tod des Jungen gesetzt. Ich allein trage die Schuld daran, dass er sein Leben verloren hat.“
Akitos Blick wanderte zum Himmel, während er die Worte aussprach. Seine Stimme klang überraschend fest und sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, durchflutete ihn ein einziges Gefühl, das jede Frage aus seinen Gedanken verbannte.
Es war Akzeptanz – nicht das erwartete Anhalten der Resignation.
Er fragte nicht länger nach dem wie oder weshalb, sondern beschränkte sich darauf die Gabe über Leben und Tod zu entscheiden hin zu nehmen, wie sie eben war. Die Gefahr blieb zwar, aber die Angst packte Akito nicht mehr ganz so fest und ließ ihm wieder ein bisschen Luft zum Atmen.
Die Fragen würden sich nach und nach beantworten. Vielleicht gab es sogar einen Weg die Fähigkeit zu beeinflussen und sie zu nutzen.
Ein leises Geräusch ließ den Jungen herum fahren. In der Ruhe des Winters klang es so laut wie der Schlag einer mächtigen Glocke.
Misstrauisch wanderten seine blauen Augen über die Baumstämme, die ihn umgaben. Er versuchte auf weitere Geräusche zu lauschen, doch sein Herzschlag übertönte jeden Laut in seiner Umgebung.
Gerade als er die Sache mit einem Kopfschütteln abtun wollte – seine Nerven lagen einfach blank – traten vier Gestalten hinter den dunklen Baumstämmen hervor.
Sie hatten sich so geschickt platziert, dass Akito in ihrer Mitte stand.
Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit.
Mit jedem Schritt zogen sie ihren Kreis enger um ihn und versperrten jeden Fluchtweg. Er konnte nicht einmal zurückweichen.
Der Blick des Fünfzehnjährigen wanderte über die vier Gesichter. Kalte Augen erwiderten seinen Blick und kein Gefühl spiegelte sich auf ihren Mienen wieder. Weder Hass noch Wut.
Sie waren alle älter als Akito und obwohl sie ihm bekannt vorkamen, kannte er nicht Einen von ihnen mit Namen. Für gewöhnlich redete sowieso nur Elandra mit Akito und so hatte er es nicht für nötig gehalten sich die Namen derer einzuprägen, die ihn gerne wieder losgeworden wären.
„Danke für dein Geständnis.“
Einer der Vier trat noch ein paar Schritte näher und blieb direkt vor Akito stehen. Sein Haar hatte eine nussbraune Farbe und lockte sich trotz seiner geringen Länge ein wenig. Wäre da nicht der unheilvolle Glanz in seinen Augen gewesen, hätte Akito ihn wohl einfach für einen ganz netten jungen Mann gehalten.
Der Junge trat einen Schritt zurück und stieß unsanft gegen einen der Begleiter des Brünetten. Ehe er sich versah fand er sich hilflos in dessen festem Griff wieder.
Alles Zappeln und sogar der Versuch in die Finger seines Gefängnisses zu beißen, hatten keinen Sinn.
„Es freut mich, wie schnell du zugegeben hast am Tod meines kleinen Bruders schuld zu sein. Ich hatte schon befürchtet dir erst zu ein paar blauen Flecken verhelfen zu müssen, bevor du mir Elandras Geschichte bestätigst.“
Die Worte trafen Akito heftiger als eine Ohrfeige.
Cornell - Antonios Bruder - würde ihn umbringen.
Diese Tatsache stand einfach fest und innerhalb eines Atemzuges gab er jeglichen Widerstand auf und hing schlaff im Griff seines Hintermannes.
Akito sah keinen Sinn darin sich zu wehren. Die Situation hatte er sich selbst zuzuschreiben und da er die Schuld am Tod des Jungen akzeptiert hatte, konnte er auch seine Strafe für dieses Verbrechen annehmen.
Sein Herzschlag beruhigte sich. Schweigend und gefasst wartete er darauf, dass sich scharfes, kaltes Metall in seine Brust bohrte. Er wartete auf den Schmerz und dann auf die unendliche Kälte, wenn alles vorbei war.
Akito hatte keine Angst mehr vor dem Tod oder vor dem, was danach kommen würde.
Irgendjemand hatte seine Furcht einfach fort gewischt.
Das erwartete Metall bohrte sich allerdings nicht in sein Herz oder schlitzte ihm die Kehle auf. Cornell griff nicht einmal zu einem Messer – wie sollte er auch, wenn im Dorf das ungeschriebene Verbot von Waffen vorherrschte?
Stattdessen traf seine Faust sehr zielsicher Akitos Wangenknochen und riss seinen Kopf zur Seite.
Er spürte den Schlag kaum, hörte keinen der begeisterten Rufe der andere Drei und blickte sein Gegenüber leicht benommen, aber noch immer ruhig an. Für die Dauer eines Blinzelns schien diese Ruhe Antonios Bruder aus dem Konzept zu bringen.
Dann allerdings fuhr er fort und ließ seine zu Fäusten geballten Hände erbarmungslos auf den Jungen niederprasseln, bis dieser beinahe bewusstlos im Griff von Cornells Freund hing.
Er hatte nicht ein Mal geschrieen oder versucht sich zu befreien.
Akito schmeckte Blut. Es rann über seine Lippen, zog eine feine Spur von seinem Mundwinkel bis zum Kinn und tropfte anschließend zu Boden, um den Schnee mit seiner roten Farbe zu durchtränken.
Er starrte den dunklen Fleck geistesabwesend an, ehe er sich zwang den Kopf wieder zu heben.
Dunkelrote Augen fixierten Antonios Bruder.
„Na los. Beende es. Bring mich um.“
Der Brünette stolperte einen Schritt zurück. Seine Kumpane, die Akitos Worte nicht gehört hatten, verstummten verwirrt und blickten ihren Anführer fragend an. Dieser erwiderte jedoch nur schreckensbleich den Blick des Jungen.
„Bring zu Ende, was du angefangen hast. Töte mich!“
Noch immer standen sie regungslos da und starrten auf den kleinen Teufel in ihrer Mitte.
„Du bist doch nicht wirklich zu feige, um mir ein Stück Metall ins Herz zu rammen, oder?“
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wut und Entschlossenheit vertrieben den Schrecken vom Gesicht Cornells und er trat wieder einen Schritt nach vorn.
In seinem Blick lag mehr denn je die Bereitwilligkeit zu töten.
Er schien nicht begriffen zu haben, dass Akito sich nicht vor dem Tod fürchtete. Er kam nicht einmal auf die Idee, dass es weitaus schlimmere Dinge gab, die er dem Jungen antun konnte.
„Ein solch schneller Tod ist noch zu gut für dich.“, gab er zurück, während seine Hand in die Tasche seiner Jacke wanderte. Seine Stimme klang nicht ganz so sicher wie sein Blick und er zögerte ein wenig.
„Du solltest noch viel länger auf den Tod warten. Qualvolle Stunden verbringen, so wie sie Antonio durchleiden musste. Zu schade, dass ich nicht die Möglichkeit habe mich so lange mit dir zu beschäftigen.“
Er zog die Hand wieder aus der Tasche.
Eine längliche Tonscherbe lag in seiner Hand. Ihre milchig weiße Farbe glitzerte im schwachen Licht. Es war nur das Bruchstück irgendeines Werkes, aber es war scharf genug, um tiefe Schnitte zu hinterlassen.
Langsam, als suche er nach der richtigen Stelle, strich Cornell mit der Spitze der Scherbe über den dünnen Stoff von Akitos Hemd. Er machte sich nicht die Mühe es zu zerschneiden. Die Scherbe würde ihr Ziel auch so finden.
Obwohl Akitos Herz hätte stolpern müssen, als Antonios Bruder die Scherbe genau an der Stelle platzierte, an der es schlug, schlug es gleichmütig weiter. Der Tod war nicht sein Feind.
Viel mehr sein Verbündeter.
Bevor Cornell ihm aber die scharfe Spitze ins Herz trieb, packte er Akitos Kopf mit seiner freien Hand und zwang den Jungen seinen Blick nach rechts zu richten, sodass Cornell die linke Wange zugewandt war.
Schmerz durchzuckte Akito, als das Tonstück über seine Haut gezogen wurde. Noch mehr Blut rann über sein Gesicht und färbte den Schnee an weiteren Stellen dunkel.
Cornell ließ sich Zeit, um das Symbol wenig kunstfertig in seine Haut zu ritzen.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit trat er wieder zurück und betrachtete sein Werk kurz kritisch.
„So wird wenigstens jeder erfahren, dass du ein Teufel bist…oh, entschuldige…warst.“, meinte er mit einem düsteren Grinsen und legte die Scherbe erneut an seine Brust.
Akito schloss die Augen und wartete darauf, dass Cornell seinem Leben endlich ein Ende setzte.




Die Kerker von Kamai’a lagen fast komplett unterirdisch und in einem Viertel der Stadt, das der Adel sowie die einfachen Bürger geflissentlich mieden. Nur Soldaten, Henker und Folterknechte näherten sich dem Gebäudekomplex mit den dicken Mauern ohne Scheu.
Sie kamen Tag für Tag hierher und sie wussten, dass die sichtbaren Teile des Gebäudes kaum Schrecken verbargen.
Erst, wer weiter hinunter stieg, spürte die Kälte und die Verzweiflung. Hörte die Schreie und das Weinen der Gefangenen. Das Flehen um Gnade oder das Betteln nach dem erlösenden Tod.
Dennoch hatten die Kerker einen Furcht einflößenden Ruf und eine finstere Atomsphäre, die man als freier Mensch einfach nicht ertragen konnte.
Nur, wer ein ebenso dunkles Gemüt hatte und ein eiskaltes, unempfindsames Herz besaß, traute sich in die Nähe des Gebäudes. Manch zwielichtige Gestalt fühlte sich sogar davon angezogen.
Tief unten in einer der fensterlosen Zellen drückte sich eine zitternde Gestalt nah an die kalten, feuchten Steine der Mauer.
Haselnussfarbene Augen waren angstvoll auf die schwere, eisenbeschlagene Tür gerichtet und sie wartete nur darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Sie wartete darauf, dass man sie holen kam, um sie für ihre nicht begangenen Taten zur Rechenschaft zu ziehen.
An ihren Händen klebte noch immer das rostrote Blut. Es war inzwischen getrocknet und sie war sich sicher, dass derjenige, dessen Blut es war, inzwischen in ein Leichentuch gehüllt dalag.
Ihr keuchender Atem war das einzige Geräusch, das die Stille unterbrach. Nur ab und zu zeugte ein Rascheln in dem schmutzigen Stroh auf dem Boden davon, dass hier unten noch irgendetwas außer ihr existierte.
Der Gedanke an Ratten war zwar erschreckend, aber lange nicht so beängstigend wie der Gedanke an das, was ihr bei Sonnenaufgang noch bevorstand.
Obwohl es doch eigentlich nicht so schlimm sein konnte, wenn man hingerichtet wurde. Oder?
Ein Streich einer scharfen Klinge und es war vorbei. Vorausgesetzt natürlich, dass man sie nicht aufhängte oder einfach ertränkte.
Sie wusste nicht so genau, welche Todesstrafe auf das Töten zweier Stadtwachen stand. Sie wusste nur, dass sie niemals mit ihrem Leben davon kommen würde.
Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie an den blonden jungen Mann dachte. Er hatte ihr helfen wollen und hatte teuer dafür bezahlt.
Das Messer zwischen seinen Rippen…überall Blut…
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, obwohl sie ihn kaum gekannt hatte – nicht einmal eine halbe Stunde. Aber er hatte ihren Geist mit dem seinen berührt. Irgendwie verband sie das mehr als jedes freundschaftliche Wort.
Aber jetzt war er tot.
Und sie selbst würde es auch bald sein, wenn nicht noch ein Wunder geschah und die massive Tür – sowie alle anderen Türen des Kerkers – sich einfach so vor ihr öffnete.
Sie versuchte die Tränen von ihrem Gesicht zu wischen und verschmierte dabei lediglich die Spuren, die sie auf ihrem Gesicht hinterließen. Sie ließ die Hand wieder sinken und starrte weiter die Tür an. Ihr Aussehen war sowieso vollkommen egal. Es interessierte keinen mehr.

Das knirschende Geräusch eines Schlüssel, der in ein Schloss geschoben wird, zerriss die Stille mit einer unnatürlichen Lautstärke.
Fleur, deren Tränen inzwischen versiegt waren, fuhr zusammen und presste sich noch enger an die großen Steinblöcke der Mauer. Beinahe so, als könnte der Henker sie dann einfach übersehen.
Ganz kurz war sie versucht an dieser gedanklichen Illusion festzuhalten.
Dann würde der Schlüssel im Schloss gedreht und Jemand schob die schwere Tür mit einem unterdrückten Ächzen auf.
Es klang irgendwie nicht gerade nach einem besonders gefährlichen Mann. Nicht nach einem Henker, der sie gleich nach draußen zerren und hinrichten würde.
Die Schritte, mit denen er eintrat, waren so leise wie das Huschen einer Maus und der lange Umhang mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze verwirrten Fleur.
So hatte sie sich das nun wirklich nicht vorgestellt. Sie hatte mit einem grobschlächtigen Riesen gerechnet, der sein Henkersbeil schon hinter sich her schleifte und sie mit einem grausamen Grinsen bedachte.
Stattdessen trug er eine abgedeckte Laterne in der Hand, warf einen schnellen Blick hinter sich und trat dann nur langsam auf sie zu. Ihr kam es sogar so vor, als wären seine Schritte ein wenig unsicher.
„Na endlich. Ich dachte ich finde dich nie.“, murmelte er ein wenig verdrießlich. Beim Klang der Stimme stockte Fleur der Atem und sie fragte sich, ob sie eingeschlafen war und irgendeinen Unsinn träumte – oder möglicherweise schon Trugbilder sah.
Dann aber schob er das Tuch über der Laterne so beiseite, dass sie sein Gesicht beleuchtete und gab sich zu erkennen, indem er die Kapuze abstreifte.
Er war bleich wie der Tod selbst und sein Haar fiel ihm wirr ins Gesicht. In ein Gesicht, von dem das Mädchen gedacht hatte, sie würde es niemals wieder sehen.
Ungläubig starrte sie den Blonden an wie ein verschrecktes Reh.
Das Weiße ihrer Augen leuchtete ihm entgegen und sie blickte ihn eine Zeit lang nur mit abwesenden Augen an.
Es schien ihr alles so unwirklich, aber zugleich greifbar, dass sie eine ganze Weile brauchte, um die Situation zu verstehen.
Dann sprang sie mit einem wenig gedämpften Jubelschrei auf die Füße, stolperte auf ihn zu und schlang ihre Arme – obwohl es gar nicht ihre Art war – fest um ihn.
Schon wieder hatte sie Tränen in den Augen. Jetzt aber Tränen der Erleichterung und der Freude.
Jinnai fuhr bei ihrem Schrei ein wenig zusammen und setzte zu der Bitte an, dass sie ein wenig leiser sein sollte, als sie schon auf ihn zugestürmt war.
Schmerz durchzuckte ihn wie ein weiß glühender Blitz, als sie die frische Wunde berührte und er hatte alle Mühe ein Stöhnen zu unterdrücken.
Rasch drehte er den Kopf zur Seite, sodass sein Gesicht im Schatten lag und Fleur den schmerzlichen Ausdruck darauf nicht erkennen konnte. Er wollte sie nicht noch mehr verängstigen.
Fleur allerdings hatte für einen kurzen Moment all ihre Angst vergessen und schwamm auf einer Welle aus Glück. Es war berauschend im letzten Augenblick doch noch ein bisschen neue Hoffnung zu finden.
Ohne nachzudenken, einfach mitgerissen von ihren Gefühlen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihrem Retter einen Kuss auf die Wange zu drücken. Irgendwie musste sie die ganze Erleichterung zum Ausdruck bringen und da er sein Gesicht abgewandt hatte, bot sich ein kleiner Kuss an.
Nur hatte das Mädchen nicht damit gerechnet, dass Jinnai ihr den Kopf wieder zuwenden würde.
Vor Überraschung und Entsetzen blieb ihr die Luft weg, als sie statt seiner Wange seine warmen, weichen Lippen küsste.
Sie spürte Jinnais verwirrte Anspannung und wollte sich eigentlich so schnell wie möglich wieder von ihm lösen, aber ihr Körper gehorchte nicht. Und langsam löste sich das Entsetzen mehr und mehr auf.
Fleur musste feststellen, dass es sich gut anfühlte seine Lippen auf ihren zu spüren.
So ungewollt und doch irgendwie sanft mit einem Geschmack, den sie nicht benennen konnte.
Ein Rascheln riss sie aus den umwölkten Gedanken zurück in den kalten Kerker. Hastig tat sie einen Schritt zurück und senkte den Blick. Zum Glück würde er im flackernden Schein der Laterne nicht erkennen, dass ihre Wangen glühten.
Jinnai hatte den Blick ebenfalls gesenkt und versuchte zu verstehen, was eben passiert war und – noch viel wichtiger – was der Kuss für ihn bedeutete.
War es denn überhaupt ein Kuss gewesen?
Beide vergasen für eine Weile, dass sie eigentlich langsam aus dem Kerker verschwinden sollten. Die Berührung ihrer Lippen hatte alles durcheinander gebracht.
„Wie…geht es dir eigentlich?“, durchbrach Fleur das Schweigen schließlich mit einem möglichst unverfänglichen Thema und verdrängte den Geschmack seiner Lippen.
„Es sah schlimmer aus, als es ist.“, antwortete er und war dankbar für die Ablenkung. Dennoch waren seine Worte eine einzige Lüge.
Das Messer hatte eine tiefe Wunde hinterlassen und der Arzt war sich nicht sicher, ob Jinnai überlebte. Doch die Zeit würde ausreichen, um Fleur zu befreien.
Jede Bewegung schmerzte und er brauchte einen eisernen Willen, um noch auf den Beinen zu bleiben und der Verletzung nicht zu gestatten die Überhand zu gewinnen.
„Also…besteht keine Gefahr mehr?“, hakte die Rothaarige unsicher nach. Der Kuss hatte sie ganz aus der Bahn geworfen und ihre Erleichterung in Verlegenheit verwandelt. Zudem kam wieder die Angst um Jinnai.
Sie musterte ihn genauer, doch die Dunkelheit und der lange Umhang gaben wenig zu erkennen. Lediglich sein Gesicht hatte klare Umrisse und das Silberblau seiner Augen, das helle rot seiner Lippen waren die einzigen Farben, die sie erkannte.
„Nein.“, erwiderte er bestimmt. „Wir sollten los. Wenn sie uns erwischen, dann ist es um uns Beide geschehen.“
Er zögerte noch kurz, dann hielt er ihr auffordernd seine freie Hand entgegen. Er wollte sie in der Finsternis der vielen Gänge auf keinen Fall verlieren. Nicht jetzt, wo er es schon bis nach hier unten geschafft hatte.
Fleur legte ihre zarte Hand vorsichtig in die Seine. Sie hatte die starke, raue Hand eines Kriegers erwartet und stellte verwundert fest, dass Jinnais Hand sich eher wie die eines Schreibers anfühlte, der nur Federn und keine Schwerter benutzte. Und sein Griff war vorsichtig und zugleich sicher.
Er schob sie durch die Tür hinaus auf den schwarzen Gang und schlüpfte rasch hinter ihr her. Kurz löste er seinen Griff noch einmal und zog die schwere Tür mit zusammen gebissenen Zähnen wieder zu.
Der Schlüssel wanderte wieder unter seinen Umhang, ehe er sich wieder die Hand des Mädchens griff und sie so rasch es der aufbegehrende Schmerz zuließ, durch die vielen kalten Gänge führte.
Sie verlor schon nach wenigen Minuten die Orientierung. Es gab hier unten so unglaublich viele Abzweigungen, so viele verschlossene Türen und die schwankende Laterne beleuchtete alles nur spärlich.
Doch Fleur bezweifelte, dass sie sich mit mehr Licht zu Recht gefunden hätte.
Im Gegensatz dazu schien sich ihr Retter hier unten auszukennen. Er ging den Weg mit Routine, als würde er jeden Tag einen Spaziergang durch die Gewölbe machen.
Erst bei diesem Gedanken wurde ihr bewusst, dass Jinnai wahrscheinlich sehr wohl des Öfteren durch diese Gänge ging.
Er war schließlich ein Wächter der Stadt und würde seinen Dienst nicht nur damit leisten das er am Stadttor herum stand und Jeden aufhielt, der sich heimlich in der Nacht davon machen wollte.
Sie spann diesen Gedanken schaudernd noch ein Stück weiter und war froh, dass Jinnai auf ihrer Seite stand. Er konnte gefährlich werden, wenn er es nur wollte und sie hoffte, dass er die Seiten nicht wechseln würde.
Nach zig weiteren Abzweigungen und einer schlüpfrigen Treppe, verlangsamte Jinnai seine Schritte und lauschte aufmerksam. Seine Augen konnten die Schwärze nicht durchdringen und er konnte unmöglich sehen, ob Jemand auf sie zukam.
Ein leises Geräusch strich an ihnen vorbei wie ein Windhauch.
Alarmiert blieb er ganz stehen und warf Fleur einen kurzen Blick zu.
Wieder drang das Geräusch zu ihnen durch. Es kam näher und Jinnai erkannte schnell die Regelmäßigkeit, mit der es durch die Gänge hallte. Es waren eindeutig Schritte.
„Schnell.“, zischte er und rannte beinahe los. Den beißenden Schmerz in seiner Seite zwang er nieder und blendete die Anstrengung aus, die jeder Atemzug mit sich brachte.
Sie mussten es einfach schaffen.
Er lenkte Fleur in einen abzweigenden, schmalen Gang und hielt ein paar Schritte weiter wieder an. Mit fliegenden Fingern öffnete er die Laterne und einen Augenblick später verschluckte die Dunkelheit sie.
„Ganz ruhig. Solange wir nichts sehen, sieht uns auch niemand.“, drang Jinnais seltsam erstickte Stimme an Fleurs Ohren.
Während er sprach, legte er von hinten einen Arm um sie und berührte ihre Lippen sanft mit einem Finger.
Die Wärme seines Körpers umfing sie und hielt die Kälte des Kerkers für einen Moment auf Abstand. Seine Gegenwart war beruhigend und übertrug sich zumindest zu einem kleinen Teil auf Fleur.
Die sich nähernden Schritte waren dennoch bedrohlich und sie schob sie kaum merklich noch näher an Jinnai heran. Er rettete ihr Leben schon zum zweiten Mal und erschien ihr wie ein Schutzschild gegen jede noch so große Bedrohung. Er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und holte sie aus dem Kerker, obwohl er erst wenige Stunden zuvor verwundet worden war.
Dennoch hielt sie die Luft an, als die Schritte auf der Höhe ihres Verstecks angelangten.
Ein Lichtschimmer huschte über die Steine, erreichte Fleur und Jinnai aber nicht. Sie standen Beide reglos in der sicheren Dunkelheit. Sein Finger lag noch immer auf ihren Lippen, doch kroch die bedrohliche Kälte zwischen ihre Körper.
Jinnai biss sich auf die Lippen, um sich nicht von Schmerz und Erschöpfung einholen zu lassen.
Solange er in Bewegung war, konnte er sich auf seine Schritte konzentrieren, aber sobald er stehen blieb und keine Ablenkung mehr hatte, fühlte es sich an, als würde er gegen eine Wand laufen.
Obwohl er ruhig atmete, hatte er das Gefühl Jemand würde die Luft aus seinen Lungen pressen, sodass er früher oder später erstickte.
Die Schritte verklangen nach und nach und der Lichtschimmer huschte wieder davon. Ganz verstummt waren die Schritte allerdings noch nicht, als Jinnai den Finger wieder von Fleurs Lippen nahm und einen Schritt zurück trat.
In der Dunkelheit erkannte er ihr Gesicht nur schemenhaft, konnte unmöglich davon ablesen, was gerade in ihr vorging.
Nun gut, er konnte sich denken, dass sie Angst hatte und unsicher war. Vielleicht hing sie aber in Gedanken auch noch an dem unbeabsichtigten Kuss – wenn er wirklich unbeabsichtigt gewesen war.
Jinnai gestattete sich nur einen Atemzug lang daran zu denken. Das Gefühl, das die Berührung ihrer Lippen in ihm ausgelöst hatte, war ihm unverständlich. Hoffnung hatte sich mit Angst und Unwissenheit gemischt. Aber für einen kurzen Moment war dadurch der Schmerz verschwunden, als hätte ihn das Messer niemals getroffen.
„Wir sollten weiter, bevor sich noch Jemand hier herunter verirrt.“, murmelte er kaum hörbar und suchte ihre Hand, um sie in der Dunkelheit nicht zu verlieren.
Die Zeit, um die Kerze in der Laterne wieder anzuzünden, nahm er sich nicht. Je länger sie brauchten, desto weniger Kraft hatte Jinnai übrig und desto mehr Anstrengung kostete es ihn wirklich wachsam zu bleiben.
Nichts zu sehen war also das kleinere Übel.
Sobald er Fleurs Hand gefunden hatte, eilte er zurück auf den breiteren Gang und rief sich den Aufbau des Kerkers so genau in Erinnerung, wie es ihm nur irgendwie möglich war.
So verschaffte er sich wenigstens so viel Orientierung, dass er wusste, in welche Richtung sie sich wenden mussten, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Das einzige Hindernis waren dann nur noch die Wachposten, die am Ausgang des Gebäudekomplexes standen.
Diese würden sich aber mit ein wenig Schauspielerei täuschen lassen.
Während sie schweigend dahin hasteten und versuchten nicht über jeden losen Stein zu stolpern, setzte Jinnai seinen überstürzten Plan – bevor er sich auf den Weg gemacht hatte, um Fleur zu retten, war einfach nicht viel Zeit gewesen - mehr und mehr zusammen, sodass jetzt wirklich keine Lücken mehr blieben.
„Vorsicht, Stufe!“, warnte er rasch, als sie den Fuß der letzten Treppe erreichten. Doch obwohl er beinahe selbst über die erste Stufe gestolpert wäre, verlangsamte er seine Schritte nicht, bis sie den oberen Absatz erreicht hatten und vor einem schmiedeeisernen Tor standen.
Dahinter lag eine hohe, aber wenig beleuchtete Halle.
Das Flackern der wenigen Fackeln an der Wand ließ gespenstische Schatten über die Wände huschen und Jeder hätte mit einem Blick erkannt, dass diese Halle zu den Kerkern gehörte.
„Spiel einfach mit.“, gab Jinnai eine knappe Anweisung, schob einen Schlüssel in das Schloss des Tors und lehnte sich dagegen, um es aufzuschieben. Ein gequältes Quietschen der Angeln hallte durch den großen Raum, doch bevor Fleur zögern konnte, hatte Jinnai sie schon vor sich und in die Halle geschoben.
Seine Finger schlossen sich fest um ihr Handgelenk und er zog sie, während er mit festen, lauten Schritten durch die Halle eilte, unsanft hinter sich hier.
Der Blonde mochte es zwar nicht das Mädchen so zu behandeln, aber wenn sie den Kerker lebendig verlassen wollte ohne aufzufallen, musste das jetzt einfach sein. Eigentlich war er ja noch relativ sanft, wenn er bedachte, wie andere Gefangene in Ketten einfach über den Boden geschleift wurden.
Mit einer gebieterischen Handbewegung – bei der er alle Mühe hatte vor Schmerz nicht aufzuschreien – stieß er einen der schweren Türflügel auf, die den Weg nach draußen noch versperrten.
Augenblicklich fuhren die beiden Wachposten herum und hielten ihm ihre Waffen unter die Nase, sodass er gezwungen war stehen zu bleiben.
Seit die Diebe in der Stadt ihr Unwesen trieben und niemand genau wusste, was sie erreichen wollten, waren sowohl Stadtwachen als auch Bürger sehr viel misstrauischer geworden.
„Waffen runter!“, fuhr Jinnai sie an und verfluchte dabei das Schwanken seiner Stimme, die noch immer erstickt klang. Lange würde es nicht mehr dauern, bis sie ihm den Dienst versagte.
Verdutzt blickten ihn zwei Augenpaare an, doch wurden die Waffen nicht gesenkt.
„Wird’s bald? Ich stehe unter dem direkten Befehl von Sir Aréstic und ich glaube nicht, dass er es gern hört, wenn ich wegen zwei Wachen meine Befehle nicht rechtzeitig ausführen kann.“
Obgleich er die Worte nur leise über die Lippen brachte, verloren sie nichts an Schärfe und verunsicherten die Wachen zusehends. Jinnais sicherer Befehlston tat sein Übriges.
Sie senkten ihre Waffen und traten mit dem Blick zum Boden einen Schritt zurück. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass Sir Aréstic einer der einflussreichsten Männer der Stadt war und es durchaus gefährlich werden konnte, sich ihm zu widersetzen.
Innerlich atmete der Blonde auf, als er zwischen ihnen hindurch schritt und Fleur noch immer hinter sich her zog.
Seine Füße wollten ihn kaum mehr tragen und doch ging er weiter, bis die Dunkelheit sie umhüllte und sie vor den Blicken der Wachen geschützt waren.
Er wusste, dass sie nicht viel Zeit für eine Pause hatten, aber er konnte die aufflammenden Schmerzen nicht mehr zähmen. Schon jetzt fragte er sich, wie er es überhaupt bis in die Tiefen des Kerkers geschafft hatte.
Jinnai stand leicht vornüber gebeugt, während seine linke Hand unter dem Umhang auf den Bandagen über der Wunde lag. Sein Atem ging langsam und schwerfällig.
„Gib mir einen Moment, Fleur…“, murmelte er kaum hörbar und möglichst ruhig. Sie hatte schon genug Schwierigkeiten, brauchte sicher nicht auch noch von der wirklichen Schwere seiner Verletzungen zu wissen.
Doch selbst durch die Schwärze der Nacht spürte Jinnai den Blick des Mädchens auf sich.
Er setzte zu weiteren Worten an, um seine Schwäche noch ein wenig mehr zu kaschieren.
Anstelle von Worten allerdings, kam ihm nur ein Husten über die Lippen, das die schützende Stille der Nacht vertrieb und das Gefühl immerhin für kurze Zeit in Sicherheit zu sein hinfort wischte.
In der Hoffnung die Laute zu ersticken oder wenigstens zu dämpfen, presste er sich den dicken Stoff des Umhangs vor Mund und Nase. Stechender Schmerz, als würde das Messer erneut zwischen seine Rippen gebohrt, riss ihn beinahe von den Füßen.
„Jinnai!“
Zaghaft wurde eine Hand auf seinen Oberarm gelegt, während Fleurs leicht panisches und vor allem besorgtes Flüstern über den Platz geisterte, auf dem sie standen.
Der Klang ihrer Stimme hielt ihn in der Wirklichkeit, obwohl der Husten ihm Tränen in die Augen trieb und er keuchend versuchte Luft zu holen.
„Hör auf dich dagegen zu wehren. Wenn du es unterdrückst, dann wird es nur noch schlimmer.“, flüsterte sie weiter und nahm die Situation viel gelassener hin, als Jinnai es von ihr erwartet hatte.
Beruhigend strichen ihre Finger über seinen Arm, seine Schulter. Die Berührungen drängten den Schmerz zurück und hinterließen ähnliche Gefühle wie die Berührung ihrer Lippen zuvor.
Nur der Geschmack auf seinen Lippen war ein anderer. Nicht sanft und sommerlich, sondern hart und metallisch.
Unter Fleurs Berührung gelang es ihm zum größten Teil ihrem Ratschlag zu folgen und abzuwarten, bis sein Körper wieder dazu bereit war, das auszuführen, was sein Geist ihm befahl.
Kaum konnte er wieder halbwegs ruhig Luft holen, verbannte er die Erschöpfung aus seinen Gedanken und verbiss sich noch mehr als zuvor in seinen Plan. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis die Sonne aufging.
Bevor ihre ersten Strahlen die Stadt berührten, mussten sie auf dem Weg fort von hier sein.
„Kannst du noch weiter? Und…wohin wollen wir eigentlich?“, murmelte Fleur neben ihm und betrachtete den Blonden von der Seite. Erst jetzt fiel ihr wirklich auf, wie mitgenommen er aussah.
Im Kerker war es zu dunkel gewesen, um viel zu erkennen und bis eben hatten seine Worte über die Anstrengung hinweggetäuscht, die in seinem Gesicht stand.
„Mach dir keine Sorgen. Ich schaffe es schon noch. Wir müssen nur noch die Stallungen erreichen, dann haben wir die größten Probleme überwunden.“, gab er zurück, nahm während er sprach ihre Hand und setzte den Weg fort als wäre Nichts geschehen.
Kaum hundert Schritte weiter fanden sie sich vor der hölzernen Tür eines Stalles. Jinnai brauchte nur zwei Handgriffe, um den Riegel zu lösen und schob Fleur rasch vor sich her, bis sie beide auf einer breiten Stallgasse standen und die Tür sich hinter ihnen schloss.
Eine einzelne Laterne baumelte von der Decke, damit die Pferde in völliger Dunkelheit nicht in Panik gerieten. Der Duft von Stroh und würzigem Heu lag in der Luft.
Nur das leise Schnauben der Pferde und ab und an das Scharren von Hufen schwebten in der friedlichen, fast schläfrigen Atmosphäre des Stalles. Er lud zum Bleiben und Ausruhen ein, aber dazu war keine Zeit.
Fleur ließ sich so sehr von ihrer Umgebung einnehmen, dass sie kaum bemerkte, wie ihr Retter seine Hand von der ihren löste und die Stallgasse entlang ging, froh darüber nicht mehr viel tun zu müssen.
Sein matter Blick streifte die Pferde in ihren Boxen nur flüchtig, bevor er in eine Kammer am Ende der Gasse einbog.
Der Geruch von gefettetem Leder traf ihn zwar hart, aber nicht unerwartet. Er brauchte sowieso nur einen Atemzug, um ein Zaumzeug aus schwarzem Leder von seinem Haken zu nehmen.
Den ebenso dunklen Sattel samt blutroter Decke ließ er allerdings links liegen. Um aufzusatteln blieb keine Zeit und obgleich der Sattel leicht gearbeitet war, hätte Jinnai alle Mühe gehabt dessen Gewicht zu tragen.
Er kehrte auf die Stallgasse zurück und warf Fleur einen Blick zu. Sie stand noch immer dort, wo er sie stehen gelassen hatte und schien nicht so recht zu wissen, was sie tun sollte.
„Wir können gleich weiter. Warte noch einen kurzen Augenblick.“, richtete er einige Worte an sie, während er eine der Boxen öffnete, hinein schlüpfte und begann auf das herumtänzelnde Pferd einzureden.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen ein anderes Tier zu wählen. Eines, das ruhiger war und besser auf seinen Reiter hörte als der Rapphengst, der Jinnai inzwischen seine samtige Nase entgegenstreckte.
Geschickt streifte der Blonde dem Pferd, ehe es den Kopf wegziehen konnte, den Zaum über und schloss die Schnallen. Die Zügel schob er über den Kopf des Hengstes, ehe er es auf die Stallgasse führte.
Fleur betrachtete den Rappen mit großen Augen, blickte anschließend fragend zu Jinnai.
„Keine Angst. Ich kann reiten und ich kenne Altair besser als jedes andere Pferd hier im Stall. Er wird keine Schwierigkeiten machen.“, meinte er mit einem Lächeln, obwohl er zugleich die Zügel kürzer fassen musste, um den Rappen neben sich zu halten.
Er verschwieg absichtlich, dass er seit seiner Ausbildung nur selten auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte und das eigentlich auch nur mit Sattel.
Fleur erwiderte sein Lächeln unsicher, während er Altair an ihr vorbei und vor den Stall führte.
Sein Hufschlag auf dem Pflaster klang verräterisch laut und Jinnai brachte ihn schnell zum Stehen, wobei er das Mädchen mit einer Handbewegung zu sich winkte.
„Leg die Hände auf seinen Rücken und gib mir deinen Fuß…“, gab er ihr leise Anweisung und ehe sich Fleur versah, fand sie sich auf dem glatten Rücken des Pferdes wieder.
Ihre Hände schob sie wie von selbst in die weiche Mähne, um den Halt nicht zu verlieren. Sie saß zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben auf einem Pferd und es war zugleich erschreckend und wunderschön.
Jinnai zog sich hinter ihr auf Altair und legte seine Arme so um sie, dass er die Zügel halten konnte und Fleur zugleich vor dem Fallen bewahrte.
Schnaubend trat der Hengst auf ein sachtes Zeichen hin an und es dauerte nicht lange, bis Ross und Reiter vollkommen von der Nacht verschluckt wurden.




Es tat nicht weh.
Es war nur ein seltsam unwirkliches Gefühl, als die Tonscherbe sich splitternd in seine Brust bohrte. Beinahe war es Akito als würde er nach Hause gerufen, als das Blut langsam sein Hemd durchtränkte.
Er hatte keine Angst davor dem Ruf zu folgen. Er hatte sich nie in seinem Leben vor dem Tod gefürchtet und hatte keinen Grund damit zu beginnen, nun, da er ihm bald gegenübertreten würde.
„Grüß mir den Tod, wenn du ihn überlebst.“, wisperte eine Stimme neben Akitos Ohr und veranlasste ihn dazu die Augen noch einmal zu öffnen und einen letzten Blick auf das Gesicht seines Mörders zu werfen.
Kaum waren die Worte verklungen, entfernte sich dieser und der Griff seiner Gefährten, der Akito aufrecht gehalten hatte, löste sich. Ungewollt fiel er nach vorne auf die Knie und wartete eigentlich nur darauf, dass die Scherbe endlich ihren Zweck erfüllte und ihn aus dem Leben riss.
Sein Blickfeld verschwamm, als ein heftiger Schmerzimpuls durch seinen gesamten Körper jagte. Die Farben der Bäume und des Schnees verloren ihre Leuchtkraft und vermischten sich nach und nach zu einem Grauton, der sich von Augenblick zu Augenblick verdunkelte.
Akitos Körper unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, um dem Tod doch noch zu entrinnen. Seine Muskeln verkrampften sich und ein leises Keuchen entwich seinen Lippen.
Dann ebbte der Schmerz allmählich ab und während sich das Grau vor seinen Augen langsam in ein tiefes Schwarz verwandelte, sank Akito in sich zusammen und blieb regungslos im eisigen Schnee liegen.

Elandra stand am Rande des kleinen Dorfes und blickte sich unruhig um. Es wurde bereits dunkel und zwischen den Bäumen machten sich schemenhafte Schatten breit.
Je tiefer die Sonne sank, desto größer wurde Elandras Sorge. Akito musste noch irgendwo im Wald unterwegs sein. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem er am Nachmittag die Hütte verlassen hatte, um für eine Weile allein zu sein.
Nervös trat die Heilerin von einem Bein auf das Andere und versuchte sich nicht die schlimmsten Situationen auszumalen. Zugleich konnte sie das Gefühl, dass Akito irgendetwas zugestoßen war, nicht abschütteln.
Im verschneiten Wald reichte ein falscher Schritt, um zu stürzen oder auf die spröde Eisfläche eines Sees zu geraten. Außerdem hatte der Junge sich noch lange nicht vom vorherigen Tag und der Erkenntnis über das ganze Ausmaß seiner Vorhersage erholt.
Neben all den Gefahren des Waldes und des Schnees lauerten auch noch Akitos Schuldgefühle und seine Angst. Er konnte nur allzu leicht auf dumme Gedanken kommen und im schlimmsten Fall bedeutete dies seinen eigenen Tod.
Elandra bereute ihren Entschluss ihm ein wenig Zeit für sich zu geben.
Natürlich war es auch möglich, dass Akito sich bewusst vom Dorf fernhielt. Sie konnte verstehen, wenn er Angst davor hatte, noch weitere Todesvorhersagen zu machen, oder einfach nicht mit ansehen wollte, wie Antonio zu Grabe getragen wurde.
Zögernd löste Elandra bei diesem Gedanken ihren Blick von den Bäumen und drehte sich zu der Lichtung um. In deren Mitte versammelten sich nach und nach die Bewohner des Dorfes, um Antonio auf seinem letzten Weg zu begleiten. Auch für Elandra wurde es langsam Zeit sich dorthin zu begeben.
Mit einem letzten Blick zurück auf den dunklen Wald schob sie ihre Sorgen beiseite und ging auf die kleine Versammlung der Dorfbewohner zu. Jetzt konnte sie sich sowieso nicht auf die Suche nach Akito machen, so gern sie es auch wollte.
Schweigend nahm Elandra die brennende Fackel entgegen, die man ihr reichte, und blieb neben der mit Fell gepolsterten Trage stehen, die am Beginn eines schmalen Weges stand, den man vom Schnee befreit hatte.
Einen Atemzug lang betrachtete sie ein letztes Mal das friedliche Gesicht des Jungen, der auf die Trage gebettet worden war. Noch immer fühlte sie die unendliche Machtlosigkeit, die sie auch zum Zeitpunkt seines Todes gespürt hatte. Bis zum heutigen Tag hatte Elandra geglaubt, dass es gegen jede Krankheit ein Heilmittel gab und sie es finden konnte.
„Gute Reise, Antonio.“, murmelte sie beinahe lautlos, ehe sie einen kurzen Blick zu den Eltern und dem Bruder des Jungen warf und auf deren Nicken hin an der Trage vorbei trat.
Bedächtig begann sie dem schneefreien Pfad zu folgen und entzündete dabei nach und nach die Fackeln, die zu beiden Seiten des Weges im Boden steckten. Vier der Dorfbewohner nahmen die Trage auf und folgten Elandra. Der Rest der der kleinen Gruppe tat es ihnen nach.
Die flackernden Flammen malten geisterhafte Schatten auf den Boden vor den Füßen der jungen Heilerin, während zwischen den Bäumen am Rande des schmalen Flammenpfades noch immer tiefste Finsternis herrschte.
Es war kein weiter Weg, doch kam es Elandra vor, als würde sie Stunden allein mit ihren Gedanken und der Fackel in der zitternden Hand durch die Nacht wandern. All die Trauer, die sie den Tag über von sich geschoben hatte, holte sie nun wieder ein. Sie konnte Antonios blasses Gesicht und ihre Machtlosigkeit gegenüber dem Tod nicht mehr vergessen.
Obwohl Elandra in den Augen der Anderen stets stark und selbst im Angesicht des Todes voller Hoffnung gewesen war, rannen ihr nun Tränen über die Wangen, während sie die letzte Fackel am Rande des Pfades entzündete und auf eine kleine Lichtung hinaustrat.
Für einen Moment blieb sie in der Dunkelheit stehen und tat einen tiefen Atemzug, um sich wieder zu fassen. Dann schritt sie bedächtig weiter und entzündete auch die Fackeln, die rund auch rund um den kleinen Platz in den Boden gesteckt worden waren.
Unterdessen wurde die Trage Antonios in der Mitte der Lichtung auf das frisch geschichtete Holz gelegt und seine Mutter trat noch ein letztes Mal heran, um ihrem Kind über das Haar zu streichen und die Felle, auf denen sein Körper ruhte, noch einmal glatt zu streichen. Schließlich trat sie wehmütig zurück in den Kreis, den die Dorfbewohner schweigend gebildet hatten.
Elandra hatte ihre Runde inzwischen beendet und trat in den Kreis hinein. Noch immer zitterten ihre Hände, doch ihre Stimme klang ruhig und füllte die Lichtung mit den letzten Worten, die sie Antonio mit auf seinen Weg geben würden.
„Möge das Feuer deine Asche tragen und möge der Wind sich deiner Seele annehmen und sie auf unsichtbaren Schwingen in die Welt hinaustragen. Mögest du die ganze Welt bereisen, ehe du dich in des Todes Arme begibst und in Frieden deine Ruhe findest.“
Während ihre Worte verklangen, trat Elandra noch einen Schritt weiter in den Kreis hinein und schob die Fackel zwischen das aufgeschichtete Holz. Die Flammen leckten zuerst nur träge am Holz, doch nach und nach begannen sie es gierig zu verschlingen und hüllten Antonios Körper in ein Flammenmeer.

Die Nacht war schon weit voran geschritten, als Elandra zu ihrer Hütte zurückkehrte und leise eintrat. Während sie die Tür aufschob, keimte in ihr die naive Hoffnung auf, dass Akito inzwischen zurückgekehrt war.
Als der Blick ihrer grünen Augen allerdings durch den dunklen Raum wanderte, fiel ihre Hoffnung wie ein baufälliges Gebäude in sich zusammen. Das Feuer war weit heruntergebrannt und lediglich die gewöhnliche Unordnung begrüßte Elandra.
Seufzend legte sie ihren Mantel ab, ließ sich auf einen Schemel vor der Feuerstelle nieder und legte einige Holzscheite nach.
Während sie in die Flammen starrte und ihre Trauer um Antonio langsam abschüttelte, kehrten die Sorgen um Akito zurück und füllten ihre Gedanken an. Die Unwissenheit, wo der Junge steckte und ob ihm etwas zugestoßen war, machte es ihr unmöglich, still zu sitzen.
Was, wenn er auf dem See eingebrochen ist? Oder wenn er über eine Felskante gestürzt ist? Oder…
Fast ein wenig hektisch sprang Elandra von ihrem Sitzplatz auf und begann nervös auf und ab zu gehen. Ihre Füße stolperten dabei immer wieder über die verschiedensten Dinge, die auf dem Boden herumlagen oder –standen.
Während sie versuchte das Gefühl der Machtlosigkeit zurück zu drängen, begann sie die Sachen aufzuheben und in die an den Wänden angebrachten Regale zu räumen.
Sie wischte den Staub von aufgeschlagenen Büchern und kleinen Gefäßen, stapelte verirrte Holzscheite neben die Feuerstelle und sammelte Kräuterbündel an den undenkbarsten Stellen ein.
Das Aufräumen lenkte sie von ihren Gedanken ab und da an Schlaf ohnehin nicht zu denken war, verlor sie sich ganz darin ihre Hütte ausnahmsweise einmal in einen ordentlichen Zustand zu versetzen.

Anmerkungen




Nachdem ich mir mein Werk noch einmal angeschaut habe und endlich zumindest ein wenig Ordnung in die Kapitel bringen konnte, werde ich noch einmal mit dem Rotstift über meine Texte gehen - es gibt einige Änderungen und Verbesserungen, die ich noch vornehmen muss.
Der Prolog ist bereits überarbeitet, alle weiteren Kapitel folgen nach und nach. Es sollte keine gravierenden Unterschiede geben, auch wenn ich das christliche Weihnachtsfest wohl durch einen anderen Glauben ersetzen werde und dem Cover noch der letzte Schliff fehlt.
Viel Spaß beim Lesen wünsche ich Euch natürlich dennoch (:

Edit:
Prolog - Überarbeitet
Kapitel 1 - Überarbeitet
Kapitel 2 - Überarbeitet

Impressum

Texte: Titel: bibbilotta | Text: Scarlett
Bildmaterialien: © by Scarlett
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Bibs, Yazz und Mira, meine drei Engel <3 Euch geb ich nie wieder her, was auch immer passiert...

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