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Band 4

 

 

 

 

 

 

 

 

WARNUNG!

 

 Manche Türen sollten lieber verschlossen bleiben!

Kapitel 1

 


»Mir ist so warm. Das ist echt ätzend, dass die Klimaanlage hier fast nie richtig funktioniert«, maulte Joe, während er mit Hannah und Holden an der Supermarktkasse stand.

Seit Tagen staute sich die Hitze gepaart mit sehr hoher Luftfeuchtigkeit. So musste es sich wohl in den Tropen anfühlen. Hannahs Haut kribbelte, als liefen unzählige Ameisen an ihr rauf und runter. Aber wenn sie das Joe erzählen würde, hätte der nur wieder einen neuen Ansatz, mit dem er allen auf die Nerven gehen konnte. Also behielt sie das für sich und versuchte, seine Maulerei ein wenig zu dämpfen. »Jetzt übertreibst du aber. Hinten an der Kühltheke war es sehr angenehm«, widersprach sie.

»Ja, hinten. Aber hier vorne nicht. Und die Leute stehen hier Schlange, nicht hinten.«

Holden sprang auf den Jammerzug auf. »Also mein Eis ist auch schon weich.«

»Jungs, habt ihr im Weichspüler gebadet? Was ist denn nur los mit euch?« Sie fragte sich, ob es daran lag, dass Joe mal wieder seine Motzphase hatte, als plötzlich ein Schrei ertönte. Blitzartig war es totenstill geworden. Wie viele andere Kunden auch traten sie zurück und suchten nach dem Verursacher. Hannah rasterte die beiden Gänge zwischen den Regalen, die sie von ihrer Position aus überblicken konnte. Doch alles, was sie sah, waren die wie zu Eis erstarrten Kunden, die nur träge auftauten und sich fragend umblickten. Nur langsam rollte ein leises Raunen an.

»Das kam von der Kasse«, meinte Holden, den Blick zu dem Platz der Kassiererin gerichtet.

Hannah trat einen Schritt zur Seite, um sich einen Gesamtüberblick zwischen den wartenden Kunden verschaffen zu können. Doch der Platz an der Kasse war leer und das seltsame Bild des sich drehenden Kassenstuhls verwirrte sie. Die feinen Härchen an ihrem Nacken stellten sich wie Antennen auf. Eine dunkle Welle erfasste Hannah und ließ ihre Seele erbeben. Intuitiv schob sie die Hand in die Hosentasche und umschloss den Schneeflocken-Obsidian, den sie von Emely zum Schutz vor dem Bösen erhalten hatte.

»Eben war sie noch da. Und von jetzt auf gleich war sie weg«, stammelte eine Kundin, der sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Leichenblass blickte sie in die Mienen der Leute, die in der Reihe hinter ihr standen.

Jason Mandel kam heran. Seit ein paar Monaten war er hier der Filialleiter. Sonst entgingen ihm weder ein Langfinger noch ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum. Doch in diesem Augenblick stand er einfach nur ratlos da, rieb sich den Nacken und zuckte die Achseln.

Von sich in Luft auflösenden Menschen hatte Hannah noch nie etwas gehört. Sie beschlich ein ähnliches Gefühl wie damals, als die Leute reihenweise einfach ihre Sinne verloren und in ein unerklärliches Koma gefallen waren, oder als sie sich beinahe in einen Baum verwandelt hatte. Das hier war anders und doch besaß es starke Ähnlichkeit mit den Fällen, mit denen sich die Bewohner Alicetowns sonst so herumplagen mussten.

Mr. Mandel schüttelte den Kopf und zog den Stuhl aus der Kassiererkabine. »Das ist nicht möglich«, schlussfolgerte er und entfernte sich schnellen Schrittes von der Kasse. Während er ging, sah Hannah, dass er in sein Funkgerät murmelte.

»Das ist der Teufel. Der Teufel hat sich Lydia geholt«, schrie eine ältere Dame, die Hannah nur vom gelegentlichen Sehen her kannte.

»Mrs. Griffin, beruhigen Sie sich. Den Teufel gibt es gar nicht«, behauptete eine andere Kundin und schob ihren Arm unter dem von Mrs. Griffin hindurch, um sie so aus der Schlange zu befördern.

»Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu«, säuselte Holden in seinen Kragen.

Es war leise, aber Hannah verstand trotzdem jedes Wort. Sie sah auch, dass ihn seine Erkenntnis die Gesichtszüge kostete, denn diese entglitten ihm zusehends zu einem Grinsen. Sie stieß den Ellenbogen in die Seite ihres Bruders. »Hier ist eben ein Mensch verschwunden«, rief sie ihm ins Gedächtnis.

»Ja, und was sagt uns das?«, zischelte er.

Joe schüttelte den Kopf, während er tief ein- und scharf wieder ausatmete. »Dass du etwas mehr Respekt zeigen solltest, Kleiner!«

Hannah wusste, dass dieses Wort ihren Bruder triggerte. In seinem Gesicht zuckte jeder Muskel nacheinander und sie sah, dass er die Fäuste zu harten Steinschlagkanonen ballte.

»Wir sollten gehen«, schlug sie vor, ehe das hier an Ort und Stelle noch zwischen den beiden Jungs ausarten würde.

»Aber das Eis!«, widersprach Holden.

»Das ist jetzt egal. Ich spendiere dir eins in der Eisdiele. Leg das weg und raus hier!« Sie wollte einfach keine Sekunde länger an dem Ort verweilen, an dem sich Menschen in ihre Atome zersetzten. »Los jetzt!«, drängte sie und nahm Holden das Eis aus der Hand, legte es in die kleinere Eistruhe, die sich in Kassennähe befand und schob ihn aus dem Supermarkt auf den Parkplatz.

Erst draußen wagte Hannah, durchzuatmen.

»Was zum Teufel war das gerade?«, fragte Joe und raufte sich die Haare. »Es geht wieder los, hab ich recht?«

»Ich fürchte, ja. Auch, wenn ich keine Ahnung habe, wie ein Mensch einfach so vor den Augen anderer verschwinden kann.«

In Holdens Gesicht wurde das Grinsen immer breiter. Seine Augen leuchteten. Einen Wimpernschlag darauf konnte er seine Vorfreude nicht mehr bändigen und sie brach ungezügelt aus ihm heraus. »Yes! Ein neuer Fall!«

Hannah setzte gerade an, ihn zu rügen, als hinter ihnen die Kunden aus dem Laden stürmten und sich wie verschüttete Perlen über den Parkplatz verteilten. Jeder eilte zu seinem Auto, stieg ein und fuhr weg. Wer zu Fuß unterwegs war, legte mit jedem Schritt einen Zahn zu und verschwand rasch aus der Nähe.

»Was haben die denn alle?«

»Rennt weg. Es sind Aliens – es müssen Aliens sein!«, rief Jason Mandel mit den Armen fuchtelnd. »Weg hier!« Er steckte noch in seinem weißen Arbeitskittel, als er in ein Auto stieg.

Erst konnte sich Hannah keinen Reim drauf machen, aber dann sah sie mit eigenen Augen, was er gemeint haben musste. Jason Mandels Auto verschwand wie mit einem Schnipsen, als hätte es nie auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt gestanden. Und das Kurioseste daran war: Jason hatte sich darin befunden.

Hannah blieb das Herz vor Schreck stehen. »Rennt!« Das war alles, was ihrem Unterbewusstsein dazu einfiel. Die Beine übernahmen den Rest und trugen sie die Straße hinauf – immer weiter, bis der Supermarkt nicht mehr zu sehen war.

Vollkommen außer Atem blieb sie stehen und stützte sich auf die Knie. Mit aller Macht bemühte sich Hannah, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Von ihrem Verstand ganz zu schweigen. Der hatte sich nämlich vollkommen abgeschaltet, wie ein Computer, der aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers neu startete.

»Alter ... Das ist krass. Was ist da gerade passiert?« Joe stammelte genauso wild, wie sich Hannahs Kopfdurcheinander zeigte. Keinen einzigen klaren Gedanken konnte sie fassen. Er hätte auch genauso gut Chinesisch mit ihr reden können.

Ganz egal, was Joe wissen wollte. Hannah wusste nur, wo sie jetzt am liebsten wäre. »Ich bin nicht sicher, ob das was für uns ist. Kann sein, dass Mr. Mandel recht hat. Vielleicht sind das Aliens, die die Menschen entführen. Dann muss uns die Regierung helfen. Aber eins weiß ich – ich will zu Emely. Vielleicht hat sie Antworten für uns.«

Kapitel 2



Emely empfing die drei mit einer frisch aufgeschnittenen Melone und kalter Limonade.

Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch, faltete die Hände und atmete tief durch. »Ich habe eben mit Mrs. Kellerhorn gesprochen. Die arme Frau war ganz durcheinander und hat andauernd von Aliens geredet. Sie sagte, die Menschen seien aus dem Supermarkt entführt worden und berief sich auf einige Sci-Fi-Filme.«

»Im Normalfall würde ich sie für verrückt erklären«, warf Joe ein und schüttelte den Kopf. »Aber wir waren da. Wir können das bezeugen.«

Hannah kaute auf dem Melonenbissen herum und schluckte ihn eilig hinunter. »Aliens – genau das hat auch Jason Mandel behauptet, bevor er einfach verpufft ist.«

»So wie die Kassiererin. Ihr Stuhl ist dageblieben. Das Auto von Mr. Mandel aber nicht«, erklärte Holden.

Emely lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Aha – das ist ein wichtiger Punkt, denke ich.«

»Und? Ist es ein Dämon? Oder ein Riss in der Welt? Mom, was ist es denn nun?« Joes Ungeduld strahlte wie ein radioaktiver Kern.

»Jetzt mal langsam«, erwiderte sie und stand auf. »Habt ihr Sheriff Harrison schon gesprochen?« Während sie redete, nahm sie eine Tasse aus dem Schrank. »Er könnte bereits Erkenntnisse gewonnen haben.« Sie bereitete sich in aller Ruhe einen Tee zu.

»Warum sollte er weiter sein als wir? Mom, es ist doch ein Dämon? Was soll es denn sonst sein? Aliens? Ganz bestimmt nicht.«

»Warum denn nicht?«, fragte Holden. »Du bist echt schräg. Glaubst an Dämonen, aber nicht an Aliens?«

Darauf ging Joe verbal nicht ein, wohl aber mit seiner Mimik. Er schoss spitze Giftpfeile aus seinen Augen, die allesamt Holden verfehlten. Wahrscheinlich, so dachte Hannah, war er Joes Attacken so langsam leid und fand sie gar nicht mehr derart verletzend.

»Mom, nun raus mit der Sprache. Wie schützen wir uns davor, uns aufzulösen?«

»Ganz egal, wie oft du mich noch fragst: Ich habe keine Antworten darauf«, gab Emely zu. »Gebt mir etwas Zeit zur Recherche.«

Ein heftiges Donnergrollen unterstrich Emelys Bitte. Es hörte sich an, als führten die Götter Krieg miteinander. Hannah zuckte zusammen. Ein ohrenbetäubender Knall begleitete einen gleißenden Blitz direkt über ihnen. Ganz in ihrer Nähe musste er eingeschlagen sein. Der Himmel hatte sich schlagartig zugezogen und versteckte sich nun hinter dunkelgrauen Wolken, die auf die Erde zu stürzen drohten.

»Na, das wurde aber auch Zeit«, meinte Emely.

»Hoffentlich geht das schnell weg«, entgegnete Joe, der seine Furcht vor Gewittern noch immer nicht ganz überwunden hatte.


Es regnete den ganzen Mittag, den Nachmittag und auch am Abend hörte es nicht auf. Hannah fragte sich, wie viel Wasser diese Wolken wohl gespeichert hatten. Zwischendurch donnerte und blitzte es immer mal wieder, sodass Joe wie ein gespanntes Gummiseil dasaß und bei der kleinsten Ankündigung eines Grollens zuckte, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Bei all der willkommenen Abkühlung schob sich ein Gedanke in Hannahs Bewusstsein, den sie unmöglich ignorieren konnte. Und da war es nur eine Frage der Zeit, dass die Angelegenheit aus ihr herausdrängte. »Emely, wie tief ist das Tchabrak in der Erde?«

Sie hob den Blick aus dem alten Buch empor. »Tief. Warum fragst du?«

Bei all den Wassermassen, die da gerade herunterkamen, war sich Hannah nicht sicher, ob tief auch wirklich tief genug war. »Was, wenn das Erdreich so durchweicht wäre, dass es die Kiste hochdrückt?«

»Hm«, war alles, was von Emely kam. Sie stand auf, setzte ihre Brille ab und warf einen prüfenden Blick durch das Fenster in den Garten. Dann raunte sie etwas, das Hannah nicht verstand, weil es eben so unverständlich war. Offenbar huschten einfach ein paar Gedanken über Emelys Lippen, deren Bestimmung nicht darin lag, von anderen gehört zu werden.

Das beruhigte Hannah aber nicht. Nie wieder wollte sie dem, dessen Namen man nicht aussprechen durfte, begegnen. Solange er in seiner Kiste schlummerte, fühlte sie sich relativ sicher.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com, Shutterstock 2025647777: Fotokita
Cover: Dana Müller
Lektorat: Berliner Autorenzirkel
Korrektorat: Berliner Autorenzirkel
Satz: Dana Müller
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4372-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichte basiert auf der Fantasie der Autorin und ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt.

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