Manche Türen sollten lieber verschlossen bleiben!
Eigentlich wollte sich Hannah aus fremden Angelegenheiten heraushalten. Aber wenn sich etwas direkt vor ihrer Nase abspielte, konnte sie einfach nicht wegsehen.
Ihr Dad hatte eine kleine Minigolfanlage geplant und baute gerade an dem Grundgerüst im Garten, als Hannah auffiel, dass die Nachbarin schluchzend den Müll hinausbrachte. Das kleine gelbe Haus hinter der Central-Road war vom Garten der Goodmans aus gut einzusehen, zumindest der vordere Bereich.
Dort wohnte Marge Hanson mit ihrer Tochter Vanessa. Hannah machte nach Möglichkeit einen Bogen um das Mädchen. Vanessa suhlte sich in Eitelkeit, die einzig von ihrer Arroganz übertroffen wurde. Die kleine Miss Hanson, wie sie von den älteren Bewohnern Alicetowns genannt wurde, war zwei Jahre älter als Hannah und eine geborene Wortkriegerin. Wenn man außer Acht ließe, dass es ihre Intention zu sein schien, Speerspitzen aus Silben zu formen, mit denen sie ihr Gegenüber in den meisten Fällen dort traf, wo es wirklich wehtat, hätte man sie für eine begnadete Rednerin gehalten. Hanna war sich gar nicht sicher, ob es Vanessa tatsächlich so egal war, dass ihre Worte sehr tiefe Wunden hinterlassen konnten. Vielleicht hatte sie größeren Gefallen an dem durch sie verursachten Leid, als sie zugeben wollte. Solange sich Vanessa auf Kosten anderer amüsieren konnte, schien die Welt für sie in Ordnung zu sein.
Und nun heulte ihre Mutter wie ein Schlosshund und es lag nahe, dass Vanessa an diesem Zustand nicht ganz unschuldig war.
»Hannah, sei doch so lieb und hol mir mal den kleinen Hammer. Mit dem großen Teil komme ich hier nicht weiter«, rissen sie die Worte ihres Dads aus der Beobachtung.
»Klar, gleich. Hast du eine Ahnung, was mit Mrs. Hanson los ist?«
Er stützte die Hände in die Hüften und sah zum gelben Haus hinüber. Mrs. Hanson war gerade dabei, die Haustür abzuschließen. Sie war mit ihrem marineblauen Kostüm und dem weißen Halstuch ziemlich schick gekleidet, was nicht zu ihrem derzeitigen seelischen Zustand passte, wie Hannah fand.
»Die arme Mrs. Hanson«, sagte er und schüttelte den Kopf voller Mitleid. »Ihre Tochter liegt im Krankenhaus.«
»Vanessa ist im Krankenhaus? Warum, was ist denn passiert?«
Er schluckte und fuhr sich über den Bart, dann kratzte er sich am Kopf. »So genau weiß ich das auch nicht. Ich habe gehört, dass sie am Donnerstag spät abends nach Hause kam, wortlos an ihrer Mutter vorbeiging und sich auf ihr Bett setzte. Mrs. Hanson dachte, sie hätte schlechte Laune und beließ es wohl bei einem vorsichtigen Versuch, sie an dem Abend anzusprechen. Angeblich blieb sie die ganze Nacht so sitzen. Sie war überhaupt nicht bei sich. Am nächsten Morgen hat die arme Frau wohl alles versucht, um sie aus diesem Zustand zu holen. Als du gestern in der Schule warst, hat sie schließlich den Notruf gewählt.«
»Krass, woher weißt du das alles?«
»Mrs. Brown, du weißt schon, die von der Burger-Bude meinte, dass Vanessas Mutter vermutete, ihre Tochter hätte Drogen genommen. Das Mädchen saß in seinen Fäkalien, als es abgeholt wurde.«
»Wie abgeholt? Von wem denn?«
»Die Polizei holte den Krankenwagen dazu und sie wurde abtransportiert. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Das ist echt krass«, erwiderte Hanna. Sie kannte sich mit Rauschmitteln nicht aus, fragte sich deshalb, ob Drogen so etwas anrichten könnten. Alleine die Vorstellung, in den eigenen Fäkalien zu sitzen, ließ sie erschaudern. Sie konnte sich gut vorstellen, wie das gestunken haben musste. Außerdem wäre es für Hannah so demütigend, dass sie sich nie wieder aus dem Haus trauen würde. Vielleicht war es einfach Karma.
»Der Hammer?«, drängte ihr Vater.
Ohne ihn anzusehen, fragte sie: »Wo liegt er denn?«, und beobachtete Mrs. Hanson dabei, wie sie in ihren Wagen stieg, sich im Rückspiegel betrachtete und offenbar Tränen mit einem Taschentuch abtupfte.
»Ich glaube, auf dem Küchentisch«, erwiderte er.
Doch sie vernahm seine Aussage nur am Rande, denn ihr Interesse galt noch immer Vanessas Mom. Erst, als sie wegfuhr, machte sich Hannah auf den Weg ins Haus.
Ihr wollte einfach nicht aus dem Kopf gehen, was mit der rebellischen Prinzessin auf der Erbse geschehen war. Möglicherweise, so dachte sie, hatte sie jemanden so sehr verletzt, dass dies nun die Rache dafür sein sollte. Es war ja nicht von der Hand zu weisen, dass sie sich mehr Feinde als Freunde gemacht hatte. Und jetzt lag sie im Krankenhaus.
Das Werkzeug befand sich ausgebreitet auf dem Küchentisch, was Hannah die Suche erleichterte. Der kleine Hammer lag gleich neben dem Schraubenkasten. Sie griff danach und eilte mit dem Fund hinaus. Daniel studierte gerade den Bauplan, den er selbst angefertigt hatte, und fuhr sich gedankenverloren über den Bart.
»Hey, schwer am Arbeiten?«, ertönte Joes Stimme. »Was ist los, ihr guckt so komisch.«
Er blickte kurz hinter den Bauplänen auf und kratzte sich am Kopf. »Hallo, Junge.« Gefesselt von der Zeichnung versank er gleich wieder darin.
Hannah hingegen war gesprächiger. Sie nahm Joe zur Seite und fragte ihn direkt nach den Hansons. »Vanessa kennst du, oder?«
Er nickte. »Die lebt doch mit ihrer Mutter in dem gelben Haus da«, meinte er sofort.
»Genau. Und weißt du auch, was passiert ist?« Hannah legte eine kurze Pause ein, gab ihm so Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Aber er schwieg und wartete offensichtlich darauf, dass sie ihn aufklärte. Also fuhr sie fort. »Vanessa liegt im Krankenhaus.«
»Und warum?«, wollte er wissen.
»Tja, so genau sind meine Informationen jetzt nicht. Aber sie stand irgendwie total neben sich. Ganz so als wäre sie in einem Schock gefangen. Vielleicht ist sie auch besessen. Sie hat sich auf ihr Bett gesetzt und ist dortgeblieben. Selbst, als sie auf Toilette musste, ist sie nicht weggegangen. Du kannst dir also vorstellen …«, sie wurde von Joe erst mit einer abwehrenden Geste, dann verbal unterbrochen.
»Igitt! Das ist ja widerlich. Es reicht, ich will nichts weiter hören«, warf er ein und hinterfragte nach einigen Sekunden doch. »Die hat sich doch nicht in die Hose gemacht?«
»Doch! Und das Schlimme ist: Sie saß die ganze Nacht da, und als ihre Mutter am nächsten Morgen kam, war sie nicht ansprechbar. Joe, ich will ja nicht voreilige Schlüsse daraus ziehen, aber das klingt doch nach einem Fall für uns, oder?«
»Nee! Jetzt mach mal halblang. Ich habe mich von dem letzten Ding noch nicht erholt und du witterst schon wieder den nächsten Fall? Falls du dich dran erinnerst, hat man dich beinahe in einen Baum verwandelt und mich fast totgeschlagen. Sei mir nicht böse, aber ich habe keinen Bock darauf, mich mit irgendwelchen Dämonen oder Geistern oder sonst irgendwas rumzuplagen. Ich brauch eine Pause von alledem.«
»Ja, verstehe ich ja«, Hannah tat zumindest so. Aber diese Sache mit Vanessa ging ihr ziemlich nah. Sie konnte doch nicht einfach die Augen davor verschließen und so tun, als hätte sie nichts mitbekommen, wo doch die Situation nach ihrer Hilfe schrie. Und genau deswegen musste sie Joe erst mal besänftigen. Er würde noch zu sich kommen und ihr zur Seite stehen, wenn es darauf ankäme. Das wusste sie ganz genau, auf ihn konnte sie zählen. »Na los, lass uns ein Eis essen gehen«, schlug sie deshalb vor.
»Eis essen? Und du bist dir sicher, dass du nicht versuchen willst, mich zu überreden, meine Seele zu verkaufen?«
Erwischt! Aber so einfach gab sie nicht auf. Es war offenbar der falsche Zeitpunkt, also entschied Hannah, noch ein wenig zu warten, bis sich ein besserer ergab.
Seit ein Fluch ausgerechnet hier ihr Geschmacksempfinden gestört hatte, fühlte sie sich im Eiscafé unwohl. Außerdem wurde sie von der Besitzerin und ihrer Angestellten seit ihrem kuriosen Ausbruch damals mit Argusaugen beobachtet. Eigentlich konnte sie froh sein, kein Hausverbot bekommen zu haben. Es war Emelys Engelszungen zu verdanken, dass Hannah dieses Eiscafé überhaupt noch betreten durfte.
»Okay«, sagte Joe. »Ich nehme den Zauberkessel mit Sahne und Streuseln – und du?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Hannah und studierte die Eiskarte. »Ich glaube«, fuhr sie fort und tippelte nervös mit dem Zeigefinger auf ihrer Nasenspitze herum. »Ich nehme den großen Eiskaffee«, entschied sie sich schließlich und legte die Karte beiseite.
In diesem Café war das ein Zeichen dafür, dass der Kunde gewählt hatte und die Kellnerin die Bestellung aufnehmen konnte. Doch diese machte gar keine Anstalten, an ihren Tisch zu kommen.
»Boah«, entfuhr es Hannah. »Die ist bestimmt immer noch wegen meines Ausfalls sauer. Dabei kann ich doch nichts dafür.«
»Ja, siehst du! Der bescheuerte Okkultismus bringt immer nur Ärger. Du und deine Geister, du und deine … Mann.« Joe machte sich Luft, was Hannah in ihrem Stuhl versinken ließ.
Er hatte ja nicht ganz unrecht, aber es war nun mal ihre Berufung, und eine Berufung ist wie ein Beruf, und jeder Beruf bringt auch Schattenseiten mit sich. Dass sie in Gefahr gerieten oder in seltsame Situationen, die für andere verrückt wirkten, gehörte einfach dazu.
»Du hast ja recht. Trotzdem! Wir haben Evangeline geholfen, das darfst du nicht vergessen. Ihre Seele hat Frieden gefunden und Nancy hat ihre Strafe bekommen. Empfindest du denn gar keinen Stolz, dass wir das waren?« Hannah betrachtete Joe eingehend.
Er vermied jegliche Regung im Gesicht. Seine Miene wirkte genauso versteift, wie seine Einstellung zu dem Thema, mit dem er sogar aufgewachsen war. Emely, seine Mom, hatte nach eigenen Aussagen im frühen Kindesalter versucht, ihn aus ihrer Berufung herauszuhalten. Doch als kleiner Steppke ließ sich Joe wohl nicht davon abhalten, Wahrsager zu spielen. So war er andauernd in ihr Arbeitszimmer geschlichen, um sich all die Sachen, die seine Mutter mit den Jahren angesammelt hatte, anzusehen.
»Ich verstehe gar nicht, warum du so dagegen bist«, warf Hannah hinterher.
»Verdammt Hannah, ich brauche den Scheiß nicht. Ich habe es dir vorhin schon erklärt: Ich wäre fast draufgegangen – wir wären fast draufgegangen.«
»Ja«, antwortete sie, senkte den Blick schuldbewusst und hob ihn sofort wieder. »Sind wir aber nicht.«
Joe stand auf, stemmte die Hände auf den Tisch und sah Hannah vernichtend an.
Sie schaute verstohlen zum Personal, denn ihr Streitgespräch war nicht unbemerkt geblieben. Die Frauen tuschelten miteinander, während ihre Blicke immer wieder zu Joe und Hannah huschten.
»Joe«, flüsterte sie. »Setz dich bitte wieder hin.« Hannah legte so viel Nachdruck in ihre Stimme, wie sie im Flüsterton aufbringen konnte.
»Warum respektierst du nicht einfach, dass ich da nicht mehr mitmachen will?«, regte er sich auf.
Vorsichtig berührte sie seine Hand. Er zog sie zumindest nicht zurück.
Eine Weile sah sie ihn entschuldigend an und lächelte anschließend. »Ich wusste nicht, wie ernst es dir damit ist.«
»Todernst«, erwiderte er mit versteinertem Gesichtsausdruck – einem waschechten Pokerface.
Sie wusste ganz genau, dass hinter der harten Fassade – die er offenbar kaum länger aufrechterhalten konnte, als er in der Lage war, den Atem anzuhalten, ein tiefsitzender Zweifel lauerte. Joe war nicht der Typ Mensch, der einfach aufgab, wenn es kompliziert wurde. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr in der Schlacht gegen Shahur zur Seite gestanden hatte. Er wollte sich nicht aus dem Kampf gegen das Böse zurückziehen – er musste nur einmal durchatmen. Da war sie sich ganz sicher. Also spielte sie sein Pausenspiel mit. »Okay, dann lass uns was anderes zusammen machen.«
Der Blick, mit dem er sie daraufhin bedachte, war mit so viel Misstrauen an ihren Worten erfüllt, dass Hannah schlucken musste. Dennoch setzte er sich langsam wieder auf seinen Stuhl und winkte die Kellnerin herbei.
Als wären Hannah und Joe ein Steinchen in ihrem Schuh, kam sie mit offenkundigem Missmut an den Tisch der beiden, zückte ihren Notizblock und zog den kurz angespitzten Bleistift aus dessen Versteck hinter dem Ohr hervor. »Was kann ich euch bringen?«
»Einen Eiskaffee für meine Freundin und einen Zauberkessel für mich, den bitte mit Streuseln und Sahne, danke«, bestellte Joe und wandte sich Hannah zu: »Sag mal, dieses Schulprojekt. Welchen Beruf willst du denn durchleuchten?«
»War’s das?« Die Kellnerin hörte sich an wie eine rostige Säge.
Joe antwortete mit einem mürrischen Blick, der die Bedienung dazu veranlasste, auf dem Absatz umzudrehen und zu gehen.
Hannah überlegte kurz, bevor sie antwortete. Sie witterte die Gelegenheit, Joe doch noch ins Krankenhaus zu locken, um sich von Vanessas Zustand ein eigenes Bild zu machen. Nur wollte sie nicht alleine gehen. Allerdings konnte sie ihn nicht einfach fragen – nicht jetzt, da er ihr gerade eröffnet hatte, nicht weiter im See all der Magie und Mysterien schwimmen zu wollen. Sie waren hier, um das Schulprojekt anzutreiben, also musste sie es so verpacken, als wäre sie an einem Beruf interessiert, der mit dem Krankenhaus zusammenhing.
»Statten wir doch dem Tattoo-Studio einen Besuch ab«, schlug er vor.
Hannah schüttelte vehement den Kopf. Entgeistert fragte sie ihn: »Du willst dem Tätowierer Beruf auf den Grund gehen? Ich glaube, du hast vergessen, dass wir soziale Berufe unter die Lupe nehmen sollen.«
Joe zuckte die Achseln. »Was denn? Tätowierer sind total sozial.«
»Du spinnst ja«, erwiderte Hanna. »Soziale Berufe sind so was wie Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Kindergärtner … soll ich noch mehr aufzählen?«
Er kratzte sich am Kopf und blickte auf seine Hände. Just in dem Moment, als er dazu ansetzte, etwas zu sagen, erschien die Kellnerin mit ihrer Bestellung.
»So, bitte sehr, die Herrschaften. Einen Zauberkessel für den Herrn und einen Eiskaffee für die Dame. Soll ich einen Spucknapf bringen?« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Hannah schüttelte den Kopf und verdrehte demonstrativ die Augen. Hätte es ein zweites Eiscafé in Alicetown gegeben, dann wäre sie hier nie wieder aufgetaucht. Aber in so einem winzigen Ort gab es keine Konkurrenz.
»Hey, das ist nicht witzig«, verteidigte Joe seine Freundin und vertrieb damit die Kellnerin. Sie ging ohne ein weiteres Wort, dafür mit einer gehörigen Portion Genugtuung im Gesicht. Joe kümmerte sich nicht weiter um sie, kostete von seinem Eisbecher, schloss die Augen und stöhnte zufrieden.
»Zurück zu unserem Projekt«, unterbrach Hannah ihn. »Was ist dir lieber? Arzt, Kindergärtner oder Altenpfleger?«
»Such dir was aus«, antwortete er. »Mir ist das total egal.«
Joe hatte im Bruchteil einer Sekunde Hannah das Zepter überlassen. Somit hatte sie leichtes Spiel, in dazu zu bringen, mit ihr dem Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Dass sie bei der Gelegenheit nach Vanessa sehen konnten, wollte sie ihm noch nicht vorschlagen – das würde sich ergeben, dachte sie. Da Sheriff
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: Berliner Autorenzirkel
Korrektorat: A. Müller, R. Schwartz
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2022
ISBN: 978-3-7554-2675-2
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