Chupacabra
Ein Roman von
Dana Müller
Nicht zur Nachahmung!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen.
Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzumachen.
Es könnten Türen geöffnet werden, die lieber verschlossen bleiben sollten.
Wehmütig betrachtete Mary das Foto in ihrer Hand. Gerne erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie und ihr Zwillingsbruder John mit den Geschwistern Catalina und Rosita ihre Freizeit verbrachten. Das Leben steckte damals für das Quartett voller Möglichkeiten. Sie waren ein eingeschworenes Team.
Mary seufzte. »Ihr fehlt mir jeden Tag!«
»Was machst du da?«, ertönte Johns Stimme. Er betrat ohne Vorwarnung ihr Zimmer. Normalerweise war dieser Raum Sperrzone für ihren Bruder, aber in diesem Augenblick empfand es Mary erleichternd, nicht alleine zu sein.
»Weißt du noch, wie wir letzten Sommer gemeinsam den Hundedieb hochgenommen haben?«
John stellte sich hinter seine Schwester und warf einen Blick auf das Foto. »Ja. Ich erinnere mich auch an die Kackeszene.« Er lachte. »Ein Bild für die Götter, wie die kleine Catalina von dem großen Hund umgerissen und durch den frischen Haufen Hundescheiße gezerrt wurde.«
Daran erinnerte sich Mary auch. Sie schmunzelte. »Sie hat die Leine aber auch dummerweise um ihren Oberkörper gebunden. Obwohl wir ihr alle davon abgeraten haben.«
»Ja, das haben wir. Schade, dass sie nicht mehr hier sind.« Er nahm das Bild aus Marys Hand und schaute es sich intensiv an. »Kaum zu glauben, dass zwischen ihnen nur ein Jahr liegt. Rosita wirkte immer so viel erwachsener als Catalina. Ob sie sich wohl sehr verändert haben?«
Mary dachte an Catalinas Tollpatschigkeit und Rositas Reaktion darauf. Immerzu hatte sie sich über ihre jüngere Schwester geärgert. Mary konnte das bis heute nicht verstehen, denn sie und John hatten ihren Spaß an Catalinas Tölpelei.
John legte das Bild auf den Schreibtisch. »Ist jetzt fast ein Jahr her, dass sie nach Texas gezogen sind.«
»Und so plötzlich. Dabei war Rosita Jahrgangsbeste. Verstehe das alles nicht«, erwiderte Mary und seufzte.
»Wer soll sowas auch verstehen. Und jetzt räumen sie Bullenkacke weg.« John tätschelte ihre Schulter. »Pizza?«
Nach Essen war Mary nun wirklich nicht. »Für mich nicht, danke.«
Doch so einfach ließ sich John nicht abschütteln. »Komm schon. Alleine essen Macht keinen Spaß. Solange Mom und Dad verreist sind, musst du mir Gesellschaft leisten. Salami mit Käserand oder Margherita?«
»Eine ganze Pizza? Ne du! Wenn, dann nehme ich ein Stück von deiner. Will nicht den Sommer über durch die Gegend rollen. Oder du bestellst mir einfach einen Tunfischsalat.«
Die Türklingel schrillte auf. John grinste. »Zu spät. Das hättest du aber auch früher ansagen können. Hab schon beide bestellt.«
»John!«, rief sie ihm anklagend hinterher. Das schien ihn nicht zu kümmern. Er eilte aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit zwei großen Pizzakartons wieder.
Der Duft verteilte sich im Raum, als er den Deckel hob. »Das hier ist Margherita.« Er stellte den geöffneten Karton auf Marys Schreibtisch ab und setzte sich mit dem anderen auf ihr Bett.
»Dir ist hoffentlich klar, dass du mindestens die Hälfte von meiner essen musst.« Sie nahm sich ein Stück heraus und angelte mit der Zunge einen Käsefaden, der der Schwerkraft beim Herausheben nachgab.
»Und? Geil oder?«
Mary biss ab und nickte kauend, schloss die Augen und genoss das Gaumenwunder.
»Erinnerst du dich an unsere Pizzaparty?«, fragte er mit halbvollem Mund.
»Klar. Wir sind fast geplatzt und Catalina hatte solche Bauchschmerzen, dass ihre Eltern mit ihr in die Notaufnahme sind, weil sie dachten, es wäre ein Blinddarmdurchbruch.«
John schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, Ananas gehört ja auch nicht auf Pizza.«
Auch, wenn sie viele Gemeinsamkeiten mit ihrem Bruder teilte, diese Einstellung gehörte nicht dazu. »Schmeckt aber. Selbst wenn mich jeder Italiener für diese Aussage vierteilen würde.«
»Wenigstens weißt du, was dich erwartet, wenn du mal in Italien essen gehst«, scherzte er und stopfte sich den Mund voll.
Marys Blick schweifte über die Bilder, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Catalina lachte ihr entgegen. Ihre Fröhlichkeit war auf dem Foto für die Ewigkeit festgehalten worden. Die schwarzen Löckchen rahmten ihr zierliches Gesicht und die großen braunen Augen strahlten, als trügen sie all das Glück dieser Welt in sich. Schlagartig war die Leichtigkeit an jenem Tag aus ihrem Wesen verschwunden, an dem sie von dem Umzug nach Texas erfahren hatte. Die folgenden Wochen hatte sich eine Schwermut über sie gelegt, die sie bis zuletzt nicht losgeworden war. Selbst in ihren späteren Telefonaten hatte Mary Catalinas Fröhlichkeit vermisst.
»Wir sollten sie anrufen«, schlug John vor und rülpste in die Faust. »Vielleicht haben sie ja Lust, zu verreisen. Ein bisschen Abstand von den Rindern würde ihnen bestimmt guttun.«
»Ich glaube nicht, dass sie da so einfach weg können. Erinnerst du dich denn nicht an das letzte Mal, als sie im Januar kommen wollten und es doch nicht ging, weil ihre Familie sie brauchte?«
»Einen Versuch ist es doch wert.« Er schloss den Pizzakarton und schob ihn beiseite. »Ich bin gleich mit Dean und Stella verabredet. Komm doch mit. Wir ziehen ein bisschen um die Häuser und lassen es uns gutgehen.«
Ausgerechnet diese beiden! Mary fühlte sich in deren Gesellschaft vollkommen fehl am Platz. Es gab wohl nicht eine Pille, die Dean nicht schon einmal genommen hatte und zu allem Übel spülte er die Dinger auch noch mit Alkohol runter. Ein Wunder, dass John noch nicht auf die schiefe Bahn geraten war. »Ich hoffe, du hast nicht vor, Dads SUV zu nehmen. Dean und Stella sind nicht gerade für ihre Abstinenz bekannt. Wollte er nicht letzten Monat noch in eine Entzugsklinik gehen?«
»Sei nicht so streng mit ihm. Er gibt sich wirklich Mühe.«
»Womit? Mit dem Absturz? Ach warte, er ist ja schon auf den Hund gekommen. Tiefer sinken kann er wohl kaum.« Sie hörte die Worte aus ihrem Mund kommen. Eigentlich wollte sie nie so abwertend über Johns Freude reden. Aber bei diesen beiden platzte ihr einfach der Kragen.
»Also erstens: Ich muss den SUV nehmen, weil Deans Wagen einen Totalschaden hat – und zweitens siehst du sie in einem vollkommen falschen Licht. Was mich wiederum zu der Annahme bringt, dass du zu wenig Zeit mit ihnen verbringst, um dir ein eigenes Bild zu machen. Ich will dich zu deinem Glück aber nicht zwingen. Muss los«, sagte er, stand auf und ging zur Tür. »Falls du es dir überlegst, ruf an. Wir holen dich dann ab. Du musst wirklich ein bisschen lockerer werden.«
Mary schwieg und wartete darauf, dass er ging. Erst, als sie den Wagen aus der Ausfahrt fahren hörte, stand sie auf, sammelte die Pizzakartons ein und brachte sie in die Küche. »Ich bin locker, Idiot!«, ärgerte sie sich. »So ein Armleuchter!«
Mary lag in ihrem Bett. Sie war noch nicht ganz wach, da klingelte das Handy. Schlaftrunken tastete sie unter ihrem Kopfkissen nach dem Gerät und nahm das Gespräch an, ohne vorher nachzusehen, wer sie so früh anrief.
Ein müdes »Hallo«, war alles, was sie herausbrachte.
»Mary, Schatz. Hier ist Mom«, trällerte ihre Mutter gut gelaunt.
Träge drehte sie sich auf den Rücken. »Ist was passiert?«
»Nein. Alles in Ordnung. Sag mal, schläfst du etwa noch?«
Noch? Ihr Blick wanderte zur Digitaluhr, die 11 Uhr 45 anzeigte. »Ähm, nein. Ich bin nur noch nicht aufgestanden.«
Ein herzliches Lachen dröhnte aus dem Lautsprecher. »Ich habe vergessen, dass heute der Tischler kommt, um sich das Dachfenster im Büro anzusehen. Bitte sei um 14 Uhr zu Hause, ja?«
Eigentlich wollte sie heute zum See. Der Handwerker würde ihr bestimmt den ganzen Tag rauben. »Klar, Mom. Ich bin hier.«
»Dein Bruder schläft auch noch?«
Woher sollte sie das denn wissen? Mary war noch nicht einmal richtig wach, da sollte sie bereits Fragen beantworten. »Keine Ahnung. Warum?«
Ihre Mutter seufzte. »Er geht nicht ans Handy. Ich habe mindestens fünf oder sechs Mal angerufen.«
»Der war gestern unterwegs«, antwortete Mary. Nur langsam kamen ihre Gedanken in Gang. Unterwegs war er – mit Dean und Stella – mit Dads SUV. Das behielt sie lieber für sich.
»Wie auch immer. Richte ihm aus, dass er mich anrufen soll, wenn er wieder unter den Lebenden weilt.«
»Mach ich.«
»Oh, ich muss auflegen. Der Hummer wird serviert. Hab dich lieb«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Mary setzte sich auf. John war mit diesen Gestalten unterwegs und ging nicht ans Handy. Sie musste nach ihm sehen. Also drückte sie sich aus der weichen Matratze und schleppte ihren müden Körper durch den Flur zu seinem Zimmer. Die Tür stand offen, was ungewöhnlich war. Vorsichtig warf sie einen Blick hinein. Das Bett war dürftig gemacht. Aber es sah nicht aus, als hätte er darin geschlafen.
»John, du Idiot«, verselbstständigten sich ihre Gedanken. »Wo bist du nur?« Sie wollte die Vorstellung nicht zulassen, dass ihm etwas passiert sein könnte. Immerhin war er in keiner guten Gesellschaft. Gerade, als sie durchzudrehen drohte, fuhr ein Wagen in die Einfahrt. Sofort eilte sie zur Tür und riss sie auf. Mary traute ihren Augen nicht. Fette Schrammen zierten die Motorhaube des SUVs und das rechte Vorderlicht war eingeschlagen.
»Was zum Teufel hast du mit Dads Auto angestellt?«, keifte sie ihn an.
Er kratzte sich am Hinterkopf und sah sie vom Fahrersitz aus entschuldigend an. »Bleib ruhig! Ich bekomm das wieder hin.«
»Bist du jetzt unter die Magier gegangen? Das bekommst du ganz bestimmt nicht hin. Da muss ein Profi ran und der kostet. Dad wird dich köpfen. Wie hast du das überhaupt hinbekommen?«
Er stieg aus und senkte den Blick, rieb sich den Nacken und drückte die Tür so vorsichtig zu, als könnte der Wagen bei der kleinsten Kraftaufwendung in sich zusammenbrechen. »Das war ich gar nicht. Das war diese bescheuerte Motorradgang. Wir wollten nur Billard spielen. Aber irgendwie war einer von denen der Meinung, dass Dean bescheißt ...«
»Okay, das reicht!«, unterbrach sie ihn. Marys Pulsfrequenz stieg unvermittelt an. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich wie Mom klinge, aber ich habe dir gesagt, dass Dean nur Ärger bringt. Und Stella ist auch nicht besser. Im Team sind die beiden unschlagbar. Aber egal – hör einfach nicht auf mich – oder auf Mom. Hör einfach auf niemanden und mach dein Ding. Ist ja nur dein Kopf, der dir abgerissen wird. Nur, weißt du, was du immer vergisst? Wenn du Mist baust, bekomme ich einen Teil des Ärgers ab, weil ich dich nicht verpetzt habe. Danke – Bruder!« Sie war wütend wie selten zuvor. Auf dem Absatz drehte sich Mary um und stapfte ins Haus zurück. »Idiot!«
»Jetzt warte doch mal«, rief er und holte sie ein. John packte ihren Arm, Aber Mary riss sich los.
»Hör zu. Erinnerst du dich, als ich das Rücklicht letzten Sommer kaputtgemacht habe?«
»Das hier ist ein bisschen schlimmer«, erinnerte sie ihn.
»Ja, du hast recht. Aber weißt du noch? Dad hat das gar nicht mitbekommen, weil ich mich darum gekümmert habe.« Er wartete ihre Reaktion ab.
Aber Mary war viel zu ungeduldig. »Und?«
»Na ja, letzten Sommer hat Pedro das ganz einfach repariert. Pedro – der Cousin?«
Entfernt erinnerte sie sich daran, dass sie Hilfe von ihren Freundinnen bekamen und während sie Stockbrot über der Feuertonne grillten, hatte sich Pedro um das Licht gekümmert. »Du meinst den Pedro von Rosita und Catalina?«
Er nickte eifrig. »Wir rufen die beiden gleich an und fragen nach der Nummer. Was sagst du?«
Langsam beruhigte sich Mary wieder, denn die Idee fand sie gar nicht übel. Dennoch zügelte sie ihre Begeisterung. Sollte er ruhig merken, wie sauer sie auf ihn war. »Okay, aber fahr den Wagen vorher in die Garage. Um 14 Uhr kommt der Tischler. Dass er hier nach dem Rechten sehen und Mom und Dad Bericht erstatten wird, ist dir klar, oder?«
John hatte den SUV wie besprochen in der Garage geparkt. Henk, der Tischler war pünktlich auf die Minute und hatte im Handumdrehen das Dachfenster eingestellt. Wie erwartet, machte er einen langen Erkundungsgang durch die Zimmer. »Kaum zu glauben, dass es schon 17 Jahre her ist. Ich kann mich erinnern, dass eure Mutter mit einer dicken Kugel in der Tür gestanden hatte, als ich zum ersten Mal hier war. Ja, so lange kümmere ich mich schon um eure Fenster und Türen. Die Küche habe ich auch eingebaut. Und es gab nie Beschwerden.« Henk legte eine Pause ein und vergewisserte sich: »Gab es doch nicht, oder?«
»Nein, Sir«, bestätigte John.
Er sah abwechselnd zu Mary und John. »Und, was habt ihr heute noch so vor?«
»Wir fahren zum See«, schoss es über Marys Lippen. »Solange die Sonne noch draußen ist.« Sie hoffte, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl verstand.
Er nickte. »Dann will ich euch nicht länger aufhalten. Grüßt eure Eltern.«
»Machen wir«, versicherte John und schloss die Tür, kaum war Henk hinausgetreten. »Grüßt eure Eltern«, äffte er ihn leise
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay, com
Cover: Dana Müller
Lektorat: R. Schwartz/Wortschatz – Berliner Autorenzirkel
Korrektorat: A. Müller/ Wortschatz – Berliner Autorenzirkel
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0968-7
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