Das Türenspiel
von
Nicht zur Nachahmung!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen.
Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzumachen.
Es könnten Türen geöffnet werden, die lieber verschlossen bleiben sollten.
Damila lehnte mit der Schläfe am Fenster und betrachtete die Regentropfen, die dem Fahrtwind wie freche Kinder trotzten. Manche hielten länger stand als andere. Aber am Ende hatten auch sie keine Chance und fanden ihren holprigen Weg hinab.
»Hey, träumst du?«, rief Niam.
Seufzend blickte sie auf. »Ich schwelge in Erinnerungen. Hab Sehnsucht nach unserer Zeltstelle.«
»Jetzt schon? Wir sind vor nicht einmal einer Stunde losgefahren.«
»Ja, Niam hat recht«, mischte sich Armand ein. »Wenn du deinen Kopf aus dem Fenster streckst, kannst du die Berge noch sehen. So schön es auch war, aber ich freue mich auf eine heiße Dusche.« Armand lächelte und legte strahlendweiße Zähne frei, um die Damila ihn immer schon beneidete. Darauf hatte er stets geantwortet, dass das an seinen afroamerikanischen Genen läge. Als er noch ein Zwinkern hinzulegte, verblasste die Sehnsucht.
Eigentlich war die Zeltstelle nichts ohne ihre Freunde. Ganz egal, wie es ihr ging oder wo sie mit den Gedanken war, sie schafften es auf Anhieb, den Nebel zu vertreiben.
»Wisst ihr, was ich an diesen alten Zügen so mag?«, fragte Niam und reichte eine offene Tüte Chips herum. »Diese Abteile. Wenn wir wollten, könnten wir hier drin eine Orgie feiern und niemand würde es bemerken.«
Kichernd meldete sich Nora zu Wort: »Stellt euch mal das Gesicht des Schaffners vor, wenn er die Türen schwungvoll öffnet.«
In Damilas Kopf entstanden Bilder: Der Schaffner stand in der Tür und wusste nicht recht, wo er zuerst hinsehen sollte. Sabber hing ihm aus dem Mundwinkel und er streckte seine Hand nach Noras nacktem Hintern aus. Diese Bilder würde sie so schnell nicht loswerden.
Just in dem Moment, als der Schaffner in ihrem Kino das Abteil stürmte, zog jemand die Türen auseinander. Eine Frau trat durch den zugezogenen Vorhang und musterte die Gesichter der Freunde. Sie war in einen grauen Trenchcoat gehüllt und trug darüber ein durchsichtiges Regencape. Ein breiter Gürtel war fest um ihre Hüfte geschnürt. Ziemlich altmodisch, wie Damila fand.
»Wer sind Sie?«, fragte Nora. Zwischen ihren Brauen lag eine Furche, die Damila lange nicht mehr bei ihr beobachtet hatte. Sie wirkte wie eine Amazone im Kampfmodus, obwohl Nora das absolute Gegenteil davon war.
»Bitte verzeiht meine Aufdringlichkeit«, sagte die Frau und zog die nasse Kapuze des Regencapes vom Kopf. Blonde Locken sprangen hervor, in die sich einige ergraute Strähnen verirrt hatten. »Mein Name ist Agatha.«
Die Luft knisterte vor Anspannung. Sie trug kein Gepäck bei sich. War sie auf der Suche nach jemandem? Vielleicht war Agatha von der Polizei und steckte mitten in einer Ermittlung – oder sogar Verfolgungsjagd.
Damila rieb die Hände an der Hose ab. Sie war nervös, obwohl sie nichts zu verbergen hatte. Zumindest nichts, was die Polizei nicht wissen dürfte. Wenn Agatha ihr im Zuge der Ermittlung gleich Fragen stellen würde, könnte sie reinen Gewissens antworten. Doch vielleicht war die Frau gar nicht von der Polizei. Je mehr sie darüber nachdachte, umso heftiger spürte sie ihr Herz schlagen. Diese Frau weckte etwas in ihr, das ihrem inneren Kind Angst einflößte. Damila berührte mit jedem Finger ihren Daumen. Normalerweise festigte das ihren Geist. Doch egal, wie oft sie das Fingertippen wiederholte, ihre Aufregung blieb. Es schien, als wollte ihr Unterbewusstsein sie warnen. Aber wovor?
Aufmerksam beobachtete Damila jede Handbewegung, jede Geste und jegliche noch so kleine Zuckung in der Miene der Frau. Nichts deutete auf eine Bedrohung hin.
Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich, zog die Vorhänge wieder zu und betrachtete die Fahrkarte in ihrer Hand.
Da fiel es Damila wie Schuppen von den Augen. »Sie suchen Ihren Sitzplatz«, murmelte sie.
Agatha setzte sich auf den Platz neben der Tür und ließ ihren Blick über die Gesichter der Freunde schweifen. »Was denn sonst?«
Ein ganzer Felsen löste sich von Damilas Herz und mit ihm fiel auch die Anspannung.
Armand senkte den Kopf, aber seine Augen blieben auf Damila gerichtet. Ein zartes Lächeln klopfte an, schaffte es aber nicht in den Vordergrund. Damila wusste, dass es ihn erhebliche Mühen kostete, es zu unterdrücken. Aber warum tat er das?
»Also, eigentlich wollten wir gerade eine Orgie feiern«, warf Niam mit ernstem Ausdruck ein.
Sie richtete ihren erstaunten Blick auf Niam, der noch immer keine Miene verzog. Doch die Frau schien über seine Aussage ernsthaft nachzudenken.
Damilas Fuß zuckte und sie verpasste ihrem Gegenüber einen Tritt.
»Ich meine ja nur«, fuhr er fort. »Wollten wir doch!«
»Hören Sie nicht auf ihn. Er ist manchmal etwas albern«, sagte Damila, um den aufkommenden Unfrieden im Keim zu ersticken.
»Ach, schon gut. Auch wenn man es heute kaum glauben kann, aber ich war auch mal jung und habe mit Leuten aus meinem Bekanntenkreis Spiele gespielt«, erwiderte Agatha und hielt einen Moment inne. Sie sah jeden Einzelnen von ihnen mit ihren großen wasserblauen Augen an und fuhr fort: »Ihr spielt doch Spiele – oder?«
Niam rieb sich den Nacken und grinste. »Kommt darauf an, was für Spiele. Fesselspiele, SM, Rollenspiele, wir sind für alles offen.«
Diesmal kassierte er einen Seitenhieb von Nora, die links von ihm saß und seine Anspielung offenbar ebenso unlustig fand wie Damila.
Er beschwerte sich mit einem lauten »Autsch« und rückte etwas von Nora ab.
Agatha schmunzelte. »Ach ja, die Jugend ist ein Geschenk des Himmels. Ich war auch mal in eurem Alter«, sinnierte sie vor sich hin.
Und alles andere als die Unschuld vom Lande, dachte Damila, als sie sich die Dame genauer ansah. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie zum persönlichen Vergnügen mit den Kerlen gespielt hatte. Wie eine Katze mit ihrer Beute. Im Sekundenbruchteil hinderte sie sich daran, diesen Gedanken laut auszusprechen.
»Manche Spiele setzen Vertrauen voraus. Ihr vertraut euch doch, oder?«
»Sonst würden wir ja wohl kaum gemeinsam verreisen«, antwortete Nora schnippisch.
»Das ist schön. Ein Trip mit den Freunden. Ach, das waren noch Zeiten« Agatha hörte sich wie eine 100-Jährige an.
»Wann waren denn diese Zeiten?«, fragte Niam.
»Das mein Junge, das war in einem anderen Leben.«
»Und was machen Sie so in diesem Leben? Offenbar keine Trips mit Freunden«, setzte er seine Fragerei fort.
Für einen winzigen Augenblick meinte Damila, eine Düsternis in Agathas Augen zu erkennen. Ihre Alarmglocken schrillten. Die Frau sah nicht gerade wie eine gefährliche Irre aus. Dennoch riet ihr eine innere Stimme, sie nicht zu verärgern.
Was mit ihr nicht stimmte, wollte sich Damila nicht offenbaren. Auf ihr Bauchgefühl konnte sie sich sonst immer verlassen. Doch das hier war anders und es brachte sie vollkommen durcheinander.
»Ich reise umher. Sehe mir jede Stadt an und versuche alle Information in mich aufzusaugen, die mir diese wundervolle Welt bietet.«
»Und das tun Sie allein, weil ...?«
Merkte er denn nicht, dass seine Fragerei zu tief ging? Was ging es Niam denn an, warum sie alleine unterwegs war? Das musste Damila unterbinden. »Jetzt lass es gut sein!«
Agatha drehte sich Damila zu und lächelte. Ein Lächeln, das wie auf einer Maske aufsaß. Sie sagte nichts mehr, senkte den Kopf und versuchte, sich dem Blick dieser unheimlichen Frau zu entziehen.
»Sie reisen ganz ohne Gepäck«, warf Niam erneut ein.
»Ich brauche kein Gepäck«, erwiderte sie.
Doch Niam gab einfach keine Ruhe. Er schüttelte den Kopf und sagte geradeheraus: »Das glaube ich nicht! Jeder braucht Gepäck!«
»Vertrauen!«, antwortete Agatha. »Ich brauche nur Vertrauen. Das ist der Schlüssel zu allem.«
Damila wandte sich dem Fenster zu und betrachtete die Monotonie der vorbeiziehenden Bäume, die hier und da von Feldern oder Büschen unterbrochen wurde. Wie ein Morsecode: Lang – lang – kurz, lang – kurz – lang, lang. Beiläufig bekam sie das Gespräch zwischen Agatha und Niam mit.
»Es tut mir leid, wenn ich euch auf irgendeine mir unbekannte Weise zu nahe getreten bin. Ich bin nur eine alte Frau auf Reisen und ihr seid im Vorteil«, sagte sie.
Der einzige Vorzug, den Damila erkannte, war der körperliche. Zu viert war sie leicht zu überwältigen. Doch diese Überlegung fühlte sich falsch an.
Agatha hielt inne und betrachtete sie eingehend. Jeden Einzelnen von ihnen musterte sie, als könnte sie in ihren Gesichtern lesen wie in einem offenen Buch. »Ihr kennt meinen Namen. Ich allerdings weiß nicht, mit wem ich es zu tun habe.«
»Verzeihung«, meldete sich Armand zu Wort. »Ich bin Armand, das sind Nora, Damila und Niam.«
»Vielen Dank.«
Damila sah sie nicht an. Stattdessen starrte sie hinaus. Sie bemerkte, wie die Frau aufstand und ihre Kleidung straffte. »Kennt ihr das Türenspiel rote Tür, gelbe Tür?«
»Das Türenspiel?«, fragte Niam.
»Es ist ein harmloses Vertrauensspiel.«
Es raschelte, was Damila dazu bewegte, nachzusehen, was die Frau tat.
Sie sortierte einige Zettel, die sie aus der Manteltasche gezogen hatte und hielt Niam ein klein gefaltetes Papier hin. »Hier steht alles drauf. Es ist ganz harmlos. Aber spielt es nur, wenn ihr euch wirklich vertraut.«
»Okay«, sagte er verwundert und nahm das Papier an sich.
»Ich muss hier raus. Es hat mich gefreut, euch kennenzulernen.«
»Dito«, erwiderte er.
Dito? Manchmal erkannte sie ihn nicht wieder. Seine Manieren fuhren in letzter Zeit immer öfter Achterbahn.
Genauso schnell wie Agatha gekommen war, verschwand sie aus dem Abteil. Mit ihr ging Damilas Verwirrung. Sie atmete erleichtert durch.
»Was war das denn?«, meinte Armand.
Noras Schultern sanken ab, ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Die war schräg, oder?«
Sie fuhren in einen Bahnhof ein. »Hof«, las Damila vor. Der Zug quietschte qualvoll und hielt. Damila rasterte die nahezu leere Bahnstation. »Wo ist sie? Ich kann sie nicht entdecken.«
»Was kümmert sie dich?«, meinte Armand. »Ich bin froh, dass sie weg ist. Ihr wisst, dass ich nicht so leicht zu erschrecken bin, aber die Madame hat mir kalte Schauer über den Rücken gejagt.«
Das war genau, was Damila empfunden hatte. Als der Zug wieder ins Rollen kam, lehnte sie sich zurück. Beim Verlassen der Station erregte eine Gestalt ihre Aufmerksamkeit. Sie sah genauer hin und da war sie. Agatha! Sie stand in ihrem grauen Trenchcoat und mit einem seidenen Kopftuch da und winkte dem abfahrenden Zug.
»Die ist echt gruselig«, sagte sie leise und schloss fingertippend die Augen, um ihre innere Balance wiederzuerlangen.
In altbekannter Eintönigkeit zog Damila die Gegenstände über den Kassensensor. Ihre Gedanken waren bei der Alten im Zug. Agatha hatte mit der Erwähnung dieses Spiels einen Samen in Damilas Kopf gepflanzt, aus dem sich unaufhaltsam ein kraftstrotzender Keim entwickelte.
Eine grelle Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. »Hallo? Sind sie noch da?«
»Verzeihung«, sagte sie und warf einen Blick auf das Display. »38,44€ bitte.«
»Ich zahle mit Karte«, erwiderte die Kundin. Sie wartete darauf, dass Damila das Lesegerät freigab, zahlte und schob kopfschüttelnd den Einkaufswagen zum Ausgang.
»Mach mal eine Pause«, meldete sich Martin leise. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und hauchte ihr ins Ohr: »Ich bin für dich da, wenn du reden willst.«
In seiner Gegenwart fühlte sie sich unwohler als in einer Schlangengrube. Der blasse Mittdreißiger ließ keine Gelegenheit aus, sie zu berühren. »Schon gut. Ich hab nichts.«
Eine Kundin war ihre Rettung. Sie vertrieb ihn mit ihrem Erscheinen an der Kasse.
Der Arbeitstag zog sich wie Kaugummi hin. Zum Feierabend beeilte sie sich, vor Martin aus dem Geschäft zu kommen. Damila hasste es, von ihm angegraben zu werden. Wenn sie nicht schnell genug aus seiner Sichtweite verschwand, kannte er kein Erbarmen. Er baggerte unermüdlich weiter.
Endlich zu Hause streifte sie die Klamotten ab und wusch den Tag unter einer warmen Dusche vom Körper. Aber ihre Gedanken waren nicht zu bremsen. Immer wieder glitt sie in die Erinnerung an Agatha und dieses Spiel ab. Von dem Türenspiel hatte sie nie gehört.
In ein Badehandtuch gehüllt öffnete sie das MacBook und starrte das Display an. Sie wollte gerade etwas in das Feld der Suchmaschine eintippen, da klingelte das Handy.
Ihr entfuhr ein Seufzen, als sie sich meldete. »Hallo?«
»Damila?«
Armand klang aufgeregt, wenn nicht gehetzt.
»Was ist los? Ist was passiert?«
»Ich muss dich sehen.«
Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. »Du weißt schon, dass es gleich 22 Uhr ist?«
»Bitte!«, hauchte er.
Das klang gar nicht nach dem Armand, den sie kannte. Er wirkte verängstigt, was wiederum Damila weiche Knie verursachte.
»Kann ich kommen?«, fragte er leise.
Zwar musste sie morgen wieder in aller Herrgottsfrühe aufstehen, aber stehen lassen konnte sie ihn auch nicht. Also sagte sie: »Klar. Bin zu Hause.«
Sie schlüpfte rasch in eine Jogginghose und streifte ein Shirt über. Während Damila ihr feuchtes Haar zurechtzupfte, klopfte es wild an der Tür. War er das etwa schon? Es musste etwas passiert sein, denn Armand war sonst die Ruhe selbst. Wenn man auf jemanden warten musste, dann auf ihn. Nur, wenn er in Panik geriet, entfesselte sich eine Hektik, die ihm die Sinne vernebelte. Mit bebendem Herzen öffnete sie die Tür.
Er huschte hinein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dana Müller
Bildmaterialien: Pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: A. Müller
Korrektorat: A. Müller
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8554-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
WARNUNG!
Die Legenden basieren meist auf mündlichen Überlieferungen. Es ist nicht ratsam, die darin enthaltenen Rituale nachzuahmen. Es könnten Türen geöffnet werden, die besser verschlossen blieben!